Bernhard Haber ist zehn, als er 1950 mit seinen Eltern aus Breslau in eine sächsische Kleinstadt kommt, wo man Vertriebene und Ausgebombte lieber heute als morgen wieder abreisen sähe. Sich durchbeißen und immer wieder Schläge einstecken – das erkennt der Junge rasch als den einzigen Weg. Dass Bernhard nach der 8. Klasse wie sein Vater eine Tischlerlehre beginnt, wundert niemanden, eher schon, dass er später zeitweise als Karussellbesitzer sagenhaft viel Geld verdient. Peter Koller, der in einem umgebauten Auto zahlende Fahrgäste nach Westberlin gebracht hat und dafür ein paar Jahre ins Gefängnis muss, weiß genauer, woher Bernhards Wohlstand stammt, aber er verpfeift ihn nicht. Überhaupt hat Haber Glück mit den Leuten um sich herum: mit seiner Frau Friederike, die ihn anhimmelt, mit seiner Schwägerin Katharina, die ihm beigebracht hat, was Liebe ist, mit dem Sägereibesitzer Sigurd, der dafür sorgt, dass Bernhard als Tischlermeister in den Kegelklub aufgenommen wird, wo die Selbständigen sich treffen, um den nötigen Einfluss auf die Politik des Ortes zu nehmen ... vor 1989 und erst recht in den wilden Jahren danach.

»Landnahme ist ein großartiger Roman ... Selten zuvor hat der Autor Hein im Übrigen so komische Episoden und Nebengeschichten zu bieten gehabt, ob das nun die wilde Ballonfahrt eines wunderbar verrückten Alten ist, eine sommerliche Käferplage oder die Mühsal mit der Liebe.« Volker Hage, Der Spiegel

Christoph Hein, geboren 1944 in Heinzendorf/Schlesien, lebt in Berlin. Sein Werk erscheint im Suhrkamp Verlag, zuletzt der Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005).

Christoph Hein

Landnahme

Roman

Suhrkamp

Umschlagfoto: Werner Schinko, Junge mit Hundegespann, 1956

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73295-3

www.suhrkamp.de

Auf dem Podest am Ende der Freitreppe standen vier Männer und lächelten unbeirrt der Menschenmenge zu, die sich auf dem Marktplatz versammelt hatte. Einer von ihnen sah mehrmals auf seine Uhr, dann gab er den Musikern ein Zeichen, und die Kapelle spielte den York’schen Marsch. Wenn die vier Männer miteinander sprachen, lächelten sie nicht, ihre Gesichter wirkten besorgt, sie waren nervös.

»Länger können wir nicht warten«, sagte der Älteste von ihnen. »Was glauben die, wer sie sind? Königliche Hoheiten? Es ist nur das Prinzenpaar.«

»Reg dich nicht auf, Sigurd«, sagte ein kleiner, untersetzter Mann, »ich gehe und hole sie.« Er nickte den anderen zu, wandte sich um, öffnete die schwere Rathaustür und ging hinein.

Der Prinz stand mitten im Flur des Rathauses. Er schwieg und nickte, als der Mann erschien und ihm mitteilte, dass alle auf sie warteten. Dann sah er zu der Prinzessin, die auf der Bank saß und ein Taschentuch vor ihr Gesicht hielt.

»Es ist Zeit, wir müssen jetzt hinausgehen. Wir können es nicht weiter verzögern«, wiederholte der Mann und sah gleichfalls zur Prinzessin, die ihre Wangen betupfte, kurz in einen Handspiegel schaute und aufstand. Sie war auffallend blass und lächelte bemüht, auf ihrem Gesicht waren Tränenspuren unübersehbar. Der Mann ging der Prinzessin entgegen.

»Die halbe Stadt steht auf dem Platz und wartet«, sagte er zu ihr und sah sie beschwörend an.

Er reichte ihr seine Hand und führte sie zu dem Prinzen. Dann ging er zur Tür, öffnete sie und machte mit einem Arm eine große auffordernde Geste, um das Prinzenpaar zum Hinausgehen zu bewegen. Die beiden liefen die wenigen Schritte bis zur Tür und dem Podest der Freitreppe nebeneinander, ohne sich anzusehen oder gar anzufassen.

Die Prinzessin war ganz in Weiß gekleidet und trug eine Krone in dem aufgesteckten Haar. Der Prinz trug einen weißseidenen Anzug, auch er lächelte, presste jedoch dabei grimmig die Lippen aufeinander. Neben ihnen standen die vier Männer, die wie das Prinzenpaar der Menschenmenge vor ihnen auf dem Rathausplatz zuwinkten. Die Blaskapelle, die sich am Fuße der Treppe aufgestellt hatte, spielte nun den Präsentiermarsch.

Auf dem Platz standen mehr als zweihundert Leute, viele von ihnen hatten kleine Kinder mit, sie hielten sie an der Hand oder trugen sie auf den Schultern, damit sie das Prinzenpaar besser sehen konnten. Die Kinder hatten bemalte Gesichter, silberne und rote Sterne klebten auf ihren Wangen, Stirnen und Nasen, einige hatten Papiermützen auf dem Kopf oder Teufelskappen und gefütterte Mützen, auf denen Tiergesichter und Fratzen aufgestickt waren und die man den Kindern weit über die Ohren gezogen hatte, denn es war eisig kalt. Alles starrte zum Prinzenpaar und zu den Männern auf dem Podest, die unermüdlich lächelten und abwechselnd mit der rechten und der linken Hand den Versammelten zuwinkten. Die vier Männer trugen dunkle Anzüge und in einem seltsamen Kontrast dazu glänzende rotgoldene Papierhelme auf dem Kopf. Hinter ihnen standen kostümierte junge Mädchen, die Prinzengarde mit dem Funkenmariechen, fünf stramme Mädchen mit kurzen Röcken und knielangen roten Stiefeln. Sie bewegten sich zur Musik und trampelten mit den Füßen, um sich warm zu halten. Ihre Augen leuchteten vor Stolz, und sie bemühten sich, zwischen den Rücken der Männer hindurch auf den Rathausplatz zu sehen und nach ihren Freundinnen und Bekannten Ausschau zu halten.

Einer der Männer auf dem Podest sah zu dem Dirigenten der Blaskapelle, und als dieser zu ihm blickte, gab er ihm ein Zeichen. Die Musik brach nach wenigen Takten ab. Der kleinere Mann, der das Prinzenpaar aus dem Rathaus begleitet hatte, hielt plötzlich einen übergroßen Schlüssel aus goldbezogener Pappe in der Hand, den er dem Prinzen überreichte. Die Kapelle spielte einen Tusch, dann erklärte der Mann, der als Sigurd angesprochen worden war, über ein aufgestelltes Mikrofon, dass man nun nach der Schlüsselübergabe mit dem Umzug durch die Stadt beginnen werde. Wieder warf er einen Blick zu dem Dirigenten, der den Einsatz für einen weiteren Tusch gab. Der Mann auf dem Podest trat vom Mikrofon zurück, er winkte der Menge zu und strahlte begeistert, während er sich halblaut mit seinem Nachbarn unterhielt.

Die vier Männer waren gleichaltrig, alle waren sie Ende fünfzig und etwas beleibt. Sie schienen selbstbewusst und mit sich zufrieden zu sein, und offensichtlich waren sie gewichtige, einflussreiche Personen der Stadt. Man könnte sie stattliche Erscheinungen nennen, mit ihren spitz zulaufenden, reich geschmückten Karnevalshelmen auf dem Kopf wirkten sie weniger lächerlich als vielmehr abgearbeitet, müde und fett.

Nach dem Ende des Tusches begannen die Musiker das nächste Karnevalslied zu spielen, wobei sie mit erhöhter Lautstärke vereinzelte falsche Töne zu kaschieren suchten. Das Prinzenpaar und die vier Männer traten von der das Podest begrenzenden Mauer zurück, einer der Männer schob die Prinzengarde nach vorn, wobei er scheinbar absichtslos die Taillen und Hintern der Mädchen berührte. Die fünf Mädchen standen für einen Moment still, dann begannen sie nach einem Kommando des Funkenmariechens zu tanzen. Sie rissen abwechselnd ihre Beine hoch, so weit es ihnen möglich war, und warfen unentwegt Kusshände in die Menge auf dem Platz. Gelegentlich kam eins der Mädchen aus dem Takt, weil es das Gleichgewicht zu verlieren drohte, dann stellte es sich rasch in der Grundstellung auf und bemühte sich mit hochrotem Gesicht, wieder Anschluss zu bekommen und noch energischer und begeisterter als zuvor Kusshände zu verteilen. Einige Leute auf dem Platz klatschten im Takt, andere winkten den Mädchen zu und riefen ihre Vornamen, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Da die Mauerbrüstung nur einen eingeschränkten Blick auf die oben stehenden Mädchen und Männer erlaubte, konnten die Leute auf dem Platz wenig von ihren Beinen sehen, und allein an den Bewegungen der Oberkörper waren die Bemühungen der Prinzengarde zu erraten.

Der Prinz winkte unablässig, ohne einen Blick seiner Karnevalsprinzessin zuzuwenden. Diese lächelte tapfer und wirkte in ihrem prächtigen weißgoldenen Kleid hilflos und verloren. Der Sprecher drängte sich wieder zum Mikrofon und rief etwas, das keiner verstehen konnte, denn die Musik war zu laut. Er nahm das Prinzenpaar in die Arme und schob die beiden zur Treppe. Der Prinz und die Prinzessin gingen die Stufen hinunter. Der junge Mann bot der Prinzessin nicht den Arm an, sie gingen nebeneinander, ohne sich anzufassen oder auch nur anzusehen. Hinter ihnen liefen die Mädchen der Prinzengarde die Treppe hinunter, bei jeder Stufe die Beine hochwerfend, ängstlich besorgt, niemanden anzustoßen, aber auch nicht die Treppenstufen zu verfehlen. Das Funkenmariechen kontrollierte überdies die Bewegungen ihrer Kameradinnen, sie warf Blicke nach rechts und links. Bevor sie die letzte Stufe erreichte, riss sie mit dem linken Fuß die angeklebte Mikrofonleitung von dem steinernen Treppengeländer, das Mikrofon wurde von der Brüstung gerissen und fiel mit einem lauten und von den Lautsprechern übertragenen Scheppern zu Boden, bevor es einer der Männer aufheben und in Sicherheit bringen konnte.

Die Kapelle stellte sich für den Umzug auf. Es gab ein wenig Verwirrung, da zwischen den Musikern und der Freitreppe nicht genügend Platz war für das Prinzenpaar und die Garde der Mädchen. Der Kapellmeister musste erst energisch auf seine Bläser einreden, bevor sich diese ein paar Meter weiter neu ordneten. Die vier Männer waren auf dem Podest geblieben, sie sprachen miteinander. Der Redner hielt das Mikrofon in der Hand und untersuchte es missmutig, um festzustellen, ob es beschädigt war.

Ein Herr mit einem kleinen weinenden Mädchen auf dem Arm kam zu der Treppe, ging ein paar Stufen hinauf und sprach jenen Mann an, der das Prinzenpaar aus dem Rathaus geleitet hatte, der schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, im Augenblick für ihn keine Zeit zu haben, da er beschäftigt sei. Der Herr mit dem kleinen Mädchen ließ sich nicht abwimmeln, er ging zwei Stufen höher und erklärte dem Redner, dass das kleine Mädchen seinen Großvater verloren habe und er ihn über das Mikrofon ausrufen möge. Er reichte ihm das Mädchen zu. Der Redner stellte sich mit dem Kind auf dem Arm an die Brüstung, nahm das Mikrofon vor den Mund und rief über den Platz, es werde ein Großvater gesucht, der sich melden möge, um sein Enkelkind abzuholen. Er ließ seinen Blick über die auf dem Platz versammelte Menge gleiten, und da sich niemand bemerkbar machte, fragte er das Kind nach dem Namen des Großvaters. Das Mädchen gab ihm stockend Antwort, und der Mann sagte in das Mikrofon, der Großvater heiße Opa und möge sich bitte umgehend bei ihm melden. Er wandte sich nochmals zu dem Mädchen auf seinem Arm und fragte es, wie es selbst heiße. Da er in Eile war und die verschreckte Kleine zu fordernd und schroff gefragt hatte, presste sie die Lippen aufeinander und verzog das Gesicht, als wolle sie gleich wieder losheulen.

Ein älterer Mann mit einem Kind an der Hand kam auf die Rathaustreppe zu. Er versuchte mit Winken die Aufmerksamkeit des weinerlichen kleinen Mädchens auf sich zu ziehen und so rasch, wie die Trippelschritte des anderen Mädchens, das er an seiner Hand hielt, es ihm erlaubten, zu ihm zu gelangen. Es dauerte einige Augenblicke, ehe die Kleine auf dem Podest ihren herbeieilenden Großvater entdeckte, und mit einem großen Seufzer der Erleichterung begann sie nun hemmungslos zu weinen. Der Redner stellte das Mädchen auf die Füße und schickte, als der Großvater mit dem zweiten Mädchen an der Treppe angelangt war und immerzu besänftigend den Namen des Mädchens rief, das heulende Kind die Treppe hinunter und in die Arme des Großvaters.

Der Herr, der das Kind gebracht hatte, stand auf der Treppe und sah dem Redner zu, der nun das Mikrofonkabel zusammenlegte.

»Guten Tag, Holzwurm«, sagte er schließlich halblaut.

Der Angesprochene sah auf und unterbrach seine Arbeit. Er sah den Fremden prüfend mit zusammengekniffenen Augen an.

»Sprechen Sie mit mir? Wollen Sie etwas von mir?«, fragte er misstrauisch.

Der Mann lächelte ihn freundlich an. Er kam eine weitere Stufe höher und fragte: »Erkennst du mich nicht, Holzwürmchen?«

Der andere sah ihn prüfend an, wandte sich dann wortlos ab, verknotete gemächlich und sorgfältig das Kabel und steckte das Mikrofon zwischen die Schnur. Danach sah er den Mann an und schüttelte leicht den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht. Sie sind nicht von Guldenberg, nicht wahr?«

»Das ist richtig. Aber ich habe hier gelebt. Das ist lange her. Ein paar Jahre. Nein, ein paar Jahrzehnte schon.«

»Ich kann mich an Sie nicht erinnern. Waren wir Schulkameraden?«

»Acht Jahre lang«, sagte der Fremde, »die ganze Grundschule hindurch. Nein, in Wahrheit waren es nur fünf Jahre. Und ein paar Jahre davon haben wir zusammen auf einer Schulbank gesessen.«

Der Mann mit dem Mikrofon in der Hand fasste nach seinem Kopf, um sich über die Haare zu streichen. Als seine Finger die Karnevalskappe berührten, nahm er sie hastig ab, faltete sie zusammen und klemmte sie unter einen Arm. Das schütter gewordene Haar war grau, und tiefe Geheimratsecken hatten die weißliche Kopfhaut entblößt.

»Nein, ich erinnere mich nicht an Sie.«

»Der Pillendreher. Das war mein Spitzname.«

»Sagt mir nichts. Tut mir Leid.«

»Thomas Nicolas heiße ich. Wir waren Banknachbarn.«

»Und wie kommen Sie hierher?«, fragte der Mann, den der andere als Holzwurm angesprochen hatte. Dann korrigierte er sich: »Wie kommst du hierher?«

»Ein Zufall. Ich war auf der Durchfahrt und dachte, ich schaue mir mal an, was aus meinem alten Städtchen geworden ist.«

»Und? Zufrieden? In den letzten Jahren wurde viel gebaut und restauriert.«

»Ja, ich habe es gesehen. Es ist alles kleiner geworden. Die Kirche, das Rathaus, dieser Platz, das war damals alles größer, viel größer.«

Der andere sah ihn verständnislos an, und der Fremde fuhr lächelnd fort: »Oder ich bin größer geworden, vielleicht liegt es daran.«

»Verzeihung, ich habe zu tun. Wir haben Karneval. Der Umzug, die Feiern, ich muss mich darum kümmern. Vielleicht sieht man sich ein andermal.«

Er verschwand für einen Moment hinter der offen stehenden Rathaustür. Als er zurückkam, hatte er sich den Papierhelm wieder aufgesetzt. Er sprach die drei Männer an, die zuvor mit ihm auf dem Podest gestanden und jetzt auf ihn gewartet hatten. Gemeinsam gingen sie eilig die Treppe hinab und stellten sich hinter das Prinzenpaar. Der Dirigent sah kurz zu ihnen und gab dann den Musikern ein Zeichen, die Musik setzte ein, und langsam kam der Zug in Bewegung.

Bevor die Spitze des Festzugs mit der Kapelle, dem Prinzenpaar und den Honoratioren in der Straße hinter dem Rathaus verschwand, warf der als Holzwurm angesprochene Mann einen Blick zurück. Thomas Nicolas, der Fremde, der seiner Heimatstadt einen kurzen Besuch abstattete, stand auf der Rathaustreppe und lächelte ihm zu.

Thomas Nicolas

Das neue Schuljahr hatte bereits begonnen, als Mitte September Fräulein Nitzschke in der dritten Schulstunde mit einem Neuen in der Klasse erschien. Fräulein Nitzschke war die Klassenlehrerin und gab bei uns Deutsch und Heimatkunde. Sie war Ende vierzig und unverheiratet und legte Wert darauf, als Fräulein angesprochen zu werden. Wenn einer der Eltern mit ihr sprach und Frau Nitzschke zu ihr sagte, verbesserte sie ihn mit einem leichten, nachdrücklichen Lächeln, als wäre es für sie von besonderer Bedeutung, nicht verheiratet zu sein. Sie war eine sehr hagere Frau, vorn und hinten ein Brett, wie die älteren Schüler auf dem Schulhof sagten, und hatte stets stark gepuderte Wangen, was sehr ungewöhnlich war und worüber auch die Erwachsenen in der Stadt sprachen. Man vermutete, sie habe eine unreine Haut oder eine Krankheit, Genaues wusste keiner. Wenn sie durch die Bankreihen ging und sich zu den Schülern herunterbeugte, konnten wir den süßlichen Duft des Puders riechen.

Fräulein Nitzschke ging mit dem Neuen nach vorn zum Lehrertisch, setzte sich und wartete, bis Ruhe eingetreten war und alle zu ihr schauten oder vielmehr zu dem Jungen, der neben ihr stand und finster vor sich hin starrte.

»Wir haben einen neuen Mitschüler bekommen«, sagte Fräulein Nitzschke endlich, »er wird sich uns selbst vorstellen.«

Sie sah den Jungen aufmunternd an. Der blickte unbewegt in die Klasse und musterte uns eindringlich.

»Sag uns bitte deinen Namen.«

Der Neue warf einen kurzen Blick zu der Lehrerin, dann murmelte er etwas, ohne jemanden anzusehen.

Die Klasse wurde jetzt unruhig. Er hatte seinen Namen so beiläufig und leise gesagt, dass ihn kaum einer verstand. Einer von uns schrie: »Lauter!«, und andere lachten. Was wir sofort begriffen hatten, war, dass er einen dieser rauhen, ostdeutschen Dialekte sprach. Alle hatten sofort mitbekommen, dass wieder ein aus Pommern oder Schlesien Vertriebener in unsere Schule gekommen war.

Unmittelbar nach dem Krieg war die Stadt mit ihnen überfüllt. Sie waren in Wohnungen eingewiesen worden, deren Besitzer nur unter dem Druck der städtischen Verordnung und der Polizei ein oder zwei Zimmer ausgeräumt hatten, um sie den Fremden widerwillig zu überlassen. Alle hofften, dass diese aus ihrer Heimat Vertriebenen bald weiterziehen würden oder vom Wohnungsamt eine eigene Wohnung zugewiesen bekämen. Wenn auch die Stadt vom Krieg und von den Bombern weniger heimgesucht worden war als die Kreisstadt und drei von den Dörfern in der Nähe, so gab es noch immer Kriegsschäden zu reparieren, und weder die Stadt noch die Leute hatten das Geld, neue Häuser zu bauen. Da es überdies an Baumaterial fehlte, wurden selbst die notwendigsten Reparaturen sehr schleppend ausgeführt.

Jetzt, fünf Jahre nach dem Krieg, wohnten noch immer viele Umsiedler bei uns und schienen in Guldenberg bleiben zu wollen, zumal die neue Grenze im Osten wohl endgültig war und damit die deutschen Provinzen hinter der Oder polnisch bleiben würden und diese Leute nie wieder in ihre Heimat zurückkehren könnten. Auch in unserer Schule gab es genügend Kinder der Vertriebenen. Die meisten von ihnen sprachen inzwischen unseren Dialekt, und nur gelegentlich konnte man an einem ungewöhnlichen und befremdlichen Wort ihre Herkunft erraten oder weil sie die Rachenlaute heiserer als wir aussprachen. Sie waren allesamt ärmlicher gekleidet als die Kinder der Einheimischen, ihre Strümpfe und Joppen waren geflickt, runde Lederstücke waren nicht nur auf den Ellbogen angebracht, und vor allem ihr Schuhwerk war alt und rissig.

»Ja, Bernhard Haber«, sagte Fräulein Nitzschke ungerührt von dem Lärm in der Klasse. Sie sprach den Namen deutlich und betont aus und sagte dann zu dem Neuen: »In der Pause kommst du zu mir, Bernhard, damit ich dich in das Klassenbuch eintragen kann. So, und nun geh und setz dich.«

Bernhard Haber hob den Kopf und ließ seinen Blick über die Bänke gleiten. Auch andere Schüler drehten sich um und vergewisserten sich dessen, was sie ohnehin wussten: alle Klappstühle waren besetzt, es gab keinen einzigen leeren Platz. Als die Lehrerin es bemerkte, stand sie auf und schob ihren Stuhl an die schmale Seite des Lehrertisches.

»Setz dich auf meinen Stuhl, Bernhard. Das werden wir in der Pause regeln. Der Hausmeister wird dir einen Tisch und einen Stuhl geben.«

Sie wandte sich an die Klasse: »Bernhard ist ein Jahr älter als ihr. Er kommt aus Polen und konnte in den letzten Jahren nur unregelmäßig eine Schule besuchen. So hat er einiges versäumt, und ich denke, es ist besser, er kommt in das dritte Schuljahr, jedenfalls vorläufig. Wir werden sehen, was er weiß, und ich denke, ihr werdet ihn alle nach besten Kräften unterstützen.«

»Ein Polacke«, sagte ein Junge aus einer der hinteren Reihen halblaut.

Der Neue war zu dem Stuhl gegangen, den ihm die Lehrerin hingeschoben hatte, er drehte sich zur Klasse und, ohne den Arm zu heben, ballte er eine Faust und hielt sie einen Moment vor seinem Bauch, während er zu uns sah und mit den Augen nach dem Jungen suchte, der die Bemerkung gemacht hatte.

»Das war sehr, sehr hässlich«, sagte Fräulein Nitzschke, »und ich will dieses dumme Wort nie wieder hören. Nie wieder! Habt ihr verstanden? Und Bernhard ist kein Pole, er ist ein Deutscher genauso wie ihr.«

Nach der Hofpause war ein zusätzlicher Stuhl ins Klassenzimmer gestellt worden, der neue Mitschüler musste sich an eine Bank in der ersten Reihe setzen, die beiden Mädchen an diesem Tisch rückten zusammen, um ihm Platz zu machen.

Als Herr Voigt, der Mathematiklehrer, in die Klasse kam, standen alle auf und warteten, bis er nach vorn gegangen war, die Schüler begrüßt und sich gesetzt hatte, bevor sie die beweglichen Sitzbänke laut knallend zurückschnappen ließen und wieder Platz nahmen. Herr Voigt ließ seinen Blick langsam durch die Klasse gleiten, er wirkte dann stets wie ein Greifvogel auf der Suche nach einer Beute. Als er den neuen Schüler bemerkte, betrachtete er ihn amüsiert von oben bis unten.

»Ein Neuer«, stellte er höhnisch fest. »Und wie heißt du?«

Ohne die Antwort abzuwarten, schlug er das Klassenbuch auf und las die dort eingetragenen Bemerkungen über Bernhard Haber laut vor.

»Du bist schon zehn Jahre alt, sososo. Na, wenn man dich in die dritte Klasse steckt, wird es mit deinen Rechenkünsten nicht weit her sein, oder?«

Die ganze Klasse amüsierte sich. Der neue Schüler hatte seine Hände auf das Pult gelegt, sah vor sich hin und erwiderte nichts.

»Steh auf, wenn ich mit dir rede. Und sieh mich an. Bist du mit deinen Eltern hierher gekommen?«

»Ja.«

»Na, wenigstens kein Waisenknabe. Mit denen haben wir ja nichts als Ärger. Hat deine Familie eine Wohnung? Ein Zimmer?«

»Ja.«

»Schön. Und hat dein Vater Arbeit?«

»Nein. Noch nicht.«

»Da lebt ihr also auf Kosten der Stadt. Was hat dein Vater für einen Beruf?«

»Er ist Tischler.«

»Gut. Tischler, das ist gut. Wenn er zupacken kann und nicht gerade zwei linke Hände hat, wird er schnell etwas finden. Tischler werden gebraucht.«

Er machte eine kleine Pause und fuhr dann mit bösem Lächeln fort: »Oder arbeitet er nicht gerne, dein Vater? Das gibts ja auch.«

Der Neue stand mit hängendem Kopf an der Bank, mit beiden Händen hielt er die schräge Schreibfläche umklammert. Er war hochrot im Gesicht, als er erwiderte: »Nein. Mein Vater hat nicht zwei linke Hände. Er hat eine linke Hand.«

»Und woher kommt ihr? Wo bist du geboren, Junge?«

»In Breslau.«

»Was sagst du?«

Herr Voigt starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, dann hielt er eine Hand an sein rechtes Ohr und sagte nochmals: »Was hast du gesagt?«

»Wir kommen aus Breslau.«

Herr Voigt schüttelte den Kopf und sah empört und fassungslos in die Klasse. Dann streckte er die Hand aus und zeigte auf ein Mädchen: »Kathrin, wie heißt die Stadt, aus der der Neue kommt?«

»Wrocław«, sagte das Mädchen, wobei sie sich kurz erhob, so dass der Klappsitz zurückschnellte.

Herr Voigt nickte zufrieden. Dann wandte er sich wieder an den neuen Schüler: »Oder meinst du, in Italien leben heute die Römer? Nein, die Italiener. Merk dir das. Und Istanbul, das nennt ihr in Hinterpommern wohl noch immer Konstantinopel oder Byzanz, wie? Und du kommst aus Wrocław. Hast du das verstanden?«

Bernhard Haber sah Herrn Voigt unverwandt in die Augen. Er war völlig reglos.

»Also, noch einmal. Wo kommst du her?«

»Aus Wrocław.«

»Richtig. Setz dich endlich hin. Wir wollen mit dem Unterricht beginnen.«

Bernhard Haber blieb trotzig neben seinem Stuhl stehen. Bevor er sich hinsetzte, sagte er rasch: »Aber geboren wurde ich in Breslau.«

Herr Voigt hatte sich umgedreht, um etwas an die Wandtafel zu schreiben. Die ausgestreckte Hand mit dem Kreidestück sank langsam herunter. Wie in Zeitlupe drehte er seinen Oberkörper herum und sah den Neuen an. Er schien völlig überrascht zu sein, und für einen Moment glaubten wir alle, er würde anfangen zu brüllen. Er verzog verächtlich den Mund und lächelte Bernhard bedrohlich an.

»Ach was«, sagte er schließlich, und es klang fast anerkennend, »so einer bist du. Aber ich werde dir die Flötentöne noch beibringen, mein lieber Herr Gesangsverein.«

Er wandte sich wieder zur Tafel und schrieb aus dem aufgeschlagenen Buch, das er in der linken Hand hielt, Rechenaufgaben an das dunkelgraue, verschrammte Brett. Bernhard Haber blickte sich aufmerksam in der Klasse um, er wollte wohl sehen, wie seine neuen Mitschüler auf die Auseinandersetzung mit dem Mathematiklehrer reagierten. Es schien, als wolle er sich unsere Gesichter genauestens einprägen. Für einen Moment schauten wir alle zu ihm, und sekundenlang starrten wir uns bewegungslos an, während Herr Voigt die Aufgaben an die Tafel schrieb und dabei halblaut vor sich hin sprach.

Am nächsten Morgen stand im Klassenzimmer eine weitere Schulbank mit zwei Klappsitzen. Der Hausmeister hatte sie direkt unter die Garderobenleiste an der Rückwand des Schulraums gestellt, und der Neue hatte sich dort hingesetzt. In der dritten Stunde, als Fräulein Nitzschke unsere Klasse unterrichtete, musste er sich auf einen Platz in der ersten Reihe setzen, und ein Mädchen bekam die hintere Bank zugewiesen.

Bernhard Haber besaß keinen Schulranzen, sondern einen Stoffbeutel, der aus einem alten Soldatenmantel zusammengenäht war und sich wie ein Rucksack tragen ließ. Der Beutel war zu voluminös, als dass er in das Fach unter der Schreibfläche gepasst hätte, und daher musste er ihn während des Unterrichts neben die Bank legen. Die anderen Schüler, die einen zu dicken Ranzen besaßen, hängten ihn an den Haken der Schulbank, Bernhards Beutel konnte man nicht aufhängen. Er lag als schmuddliger Haufen einfach auf dem geölten Holzfußboden.

Bereits am dritten Tag trat Willy, als er nach vorn gerufen wurde, mit dem Fuß gegen den grauen Stoffbeutel, so dass er zwei Meter durch das Klassenzimmer schoss und gegen das Podest knallte, auf dem der Lehrertisch stand. Die ganze Klasse war begeistert. Willy war nicht nur der Klassenstärkste, er war unser bester Fußballer, und mit Bernhards Beutel hatte er einen guten Schuss hingelegt. Wenn nicht Unterricht gewesen wäre, sondern Pause, hätte sich gewiss jemand gefunden, der ihm den Beutel zurückgeschossen hätte. Fräulein Nitzschke jedoch schoss nicht zurück, sondern fragte Willy, was ihm einfalle, und er beteuerte, es sei unabsichtlich passiert, er sei über den Beutel gestürzt und hätte sich dabei fast ein Bein gebrochen. Keiner in der Klasse glaubte ihm ein Wort und wir kicherten. Fräulein Nitzschke konnte nichts machen und sagte zu Willy, er möge den Beutel zu Bernhard bringen und sich bei ihm entschuldigen. Willy hob den Beutel mit zwei Fingern, als ob er dreckig wäre, brachte ihn Bernhard und murmelte so etwas wie eine Entschuldigung. Bernhard sagte überhaupt nichts und tat, als ob ihn das alles nichts angehe. Er öffnete nicht einmal den zurückgebrachten Beutel um nachzusehen, ob etwas kaputtgegangen war.

In der Pause, nachdem Fräulein Nitzschke das Klassenzimmer verlassen hatte, stand er auf, ging zu Willy, und mit einer einzigen Bewegung griff er ihm in die Haare, riss seinen Kopf herunter und nahm ihn in den Schwitzkasten. Er drückte so lange, bis Willy aufschrie, dann bewegte er rasch und schnell den Arm, mit dem er Willys Kopf fest an seinen Oberkörper gedrückt hatte. Als er ihn freigab, hatte Willy zwei feuerrote Ohren und jammerte. Über Bernhards Schultasche ist nie wieder jemand gestolpert, auch nicht aus Versehen.

Bernhard Haber wohnte mit seinen Eltern auf dem Hof von Bauer Griesel in der Gustav-Adolf-Straße, schräg gegenüber vom alten Friedhof, auf dem seit Jahren keine Beerdigungen mehr stattfanden, denn die Beisetzungen erfolgten seit dem Weltkrieg auf dem Waldfriedhof hinterm Tbc-Krankenhaus. Sein Vater fand als Tischler keine Arbeit in unserer Stadt. Es wurden zwar Tischler gebraucht, und der alte Haber hatte nicht zwei linke Hände, sondern nur eine, aber er besaß keine rechte Hand. Sein rechter Arm war kurz unter dem Schultergelenk amputiert worden. In sowjetischer Kriegsgefangenschaft hatte er in einem Straflager bei Perm im Ural unter Tage arbeiten müssen. Als der alte Haber mit vier anderen Gefangenen Säcke mit Mehl und gesäuerten Rüben in die Vorratshalle trug, hatte ein betrunkener Soldat der Wachmannschaft irrtümlich den Rückwärtsgang seines Lastwagens eingelegt, so dass dieser mit einem Sprung anfuhr und Habers Arm zwischen der Eisenkante der hinteren Wagenklappe und einem Stützpfeiler der Halle einquetschte. Haber wurde sofort in das Lazarett gebracht, die Ärztin konnte den Arm nicht mehr retten. Wäre der Unfall unter Tage in der Grube passiert, er wäre verblutet, bevor man ihn in die Baracke der Ärztin hätte schaffen können. Nach dem Unfall war er im Bergbau nicht mehr zu brauchen gewesen und, nachdem er vier Monate in einer Kolchose gearbeitet hatte und auch dort nicht von Nutzen war, aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden.

Da seine Heimatstadt nach dem Krieg zu Polen gehörte, sollte er in eine deutsche Stadt der sowjetischen Zone entlassen werden. Er erreichte, dass man ihm die Papiere für Wrocław ausstellte, damit er nach seiner Familie suchen könne. Nach vier Wochen fand er sie in einem Dorf vierzig Kilometer nördlich von Wrocław wieder. Seine Frau war mit der Schwiegermutter und ihrem einzigen verbliebenen Sohn, Bernhards Bruder war ein Jahr nach dem Krieg wegen Unterernährung in ein polnisches Krankenhaus eingewiesen worden und dort gestorben, bei einem polnischen Bauern untergekommen, der selbst erst nach Kriegsende umgesiedelt worden war. Der invalide Haber bemühte sich nun bei den polnischen Behörden um eine Ausreiseerlaubnis für seine Familie, die er nach sechs Monaten erhielt.

Nach Bad Guldenberg war er gekommen, weil er bei der Einreise den deutschen Beamten nicht eine einzige Adresse von Verwandten angeben konnte, die ihn und seine Familie hätten aufnehmen können, denn seine gesamte Verwandtschaft hatte bis zum Ende des Krieges in Schlesien gelebt, und ihre neuen Wohnorte kannte er nicht. Schließlich gab man ihm Papiere für unsere Stadt, weil laut einer Liste in Guldenberg Tischler benötigt würden. Es musste eine sehr eigentümliche Liste gewesen sein, von irgendeiner Behörde willkürlich und nach eigenem Gutdünken angefertigt, und obgleich Haber darauf hinwies, dass er als Krüppel in seinem alten Beruf nicht mehr werde arbeiten können, blieb man bei der Entscheidung. Der Beamte an der Grenzstation nickte zwar, als der Mann ihn auf seine Behinderung hinwies, da Haber auf Befragen keinen anderen Beruf anzugeben wusste, stellte er ihm die Papiere für unsere Stadt aus und sagte, man würde ihm vor Ort weiterhelfen. Die Behörden seien unterrichtet und erfahren genug, einem Kriegskrüppel auf die Beine zu helfen.

Im Guldenberger Rathaus war man weder unterrichtet noch übermäßig willens, ihm zu helfen. Man gab ihm lediglich Lebensmittelkarten und wies ihn bei Bauer Griesel ein, wo Haber mit seiner Familie zwei winzige Dachkammern erhielt, von denen eine mit einem aufgestellten Kanonenofen beheizbar war, die andere Kammer war im Winter eiskalt.

Bernhards Mutter half der Bäuerin bei der Hofarbeit und erhielt dafür Lebensmittel für die Familie. Sein Vater hatte auch nach vier Monaten weder eine Arbeit als Tischler gefunden, noch wurde er für irgendwelche anderen Tätigkeiten irgendwo eingestellt. Männer wurden zwar gebraucht, aber als einarmiger Krüppel wurde er überall bedauernd abgewiesen. Für die Arbeit in einem Büro fehlten ihm Geschick und Kenntnisse, er las mühselig und war fast Analphabet, da er weder in seinem Beruf noch im Krieg und der Kriegsgefangenschaft das Lesen und Schreiben gebraucht und es im Laufe der Jahre verlernt hatte. Haber war der einzige Kriegskrüppel in Guldenberg, und sein verlorener Arm erinnerte alle Bewohner an die Niederlage und die Demütigung, den siegreichen Alliierten ausgeliefert zu sein. Der fehlende Arm war der Obelisk, den Guldenberg für den verlorenen Krieg und die sieben toten Soldaten der Stadt nicht errichtet hatte.

Im Januar des darauf folgenden Jahres begann Bauer Griesel seinen Maschinenpark durchzusehen, er wechselte die zerbrochenen und schadhaften Teile aus und schärfte die Schneiden. Er fragte seinen ihm zwangsweise eingewiesenen Untermieter Haber, ob er nicht die Holzarbeiten für ihn übernehmen könne, und der Tischler richtete sich in einem abgetrennten Verschlag der Scheune, neben den abgestellten Leiterwagen und den beiden Kutschen und unter den auf einem Zwischenboden gestapelten Strohballen, eine kleine Werkstatt ein, in der er mit den wenigen ihm zur Verfügung stehenden Werkzeugen die benötigten Hölzer zurechtschnitt, hobelte, bohrte und polierte. An den Nachmittagen, wenn sein Sohn aus der Schule zurück war, half dieser dem Vater bei den Arbeiten, die er nicht allein verrichten konnte, so dass er mit seiner Hilfe auch Grobarbeiten ausführen und Deichseln, Göpelstangen und Speichen anfertigen konnte. Der Bauer war mit seiner Arbeit zufrieden, bezahlte zwar nur mit Naturalien, verschaffte Herrn Haber jedoch weitere Kunden, so dass er sich bald einiges Werkzeug kaufen konnte, das er für einen Neuanfang dringend benötigte.

Im Sommer half der Tischler bei der Ernte. Griesel hatte ihm, da er mit Pferden umgehen konnte, ein Gespann übergeben, und so fuhr er Korn und Stroh von den Feldern zur Mühle, zu den staatlichen Erfassungsstellen und in die Scheuern, packte bei den Säcken mit an und bemühte sich, nicht weniger zu leisten als jeder andere Erntehelfer. Auf Mitleid oder Spott reagierte er nicht, die Bemerkungen über seinen fehlenden Arm schien er nicht zu hören, und schroff reagierte er auf lobende Bemerkungen über seine Geschicklichkeit, alles mit einer Hand zu bewerkstelligen.

Als die Ernte von den Feldern war, richtete er sich die alte Tabakscheune von Griesel als Werkstatt her, da er in der Strohscheune nicht weiter arbeiten konnte, denn inzwischen besaß er elektrische Geräte und von Dieselmotoren betriebene Maschinen, und der Bauer befürchtete, dass Funken das darüber gestapelte Stroh entzünden könnten. Die Scheune, in der bis zum Kriegsende die Tabakblätter getrocknet wurden, stand leer, der Bauer hatte den Tabakanbau aufgeben müssen, da ihm das staatliche Abgabesoll vorschrieb, was er anzupflanzen hatte, und er nicht mehr das kleinste Feldstück für die gewinnträchtigeren Tabakpflanzen nutzen konnte.

Genau achtzehn Monate nach seiner Umsiedlung in unsere Stadt beantragte Tischler Haber einen Gewerbeschein im Rathaus. Er legte alle geretteten Papiere vor und unterzeichnete zwei eidesstattliche Erklärungen, da er nicht alle erforderlichen amtlichen Dokumente der niederschlesischen Behörden präsentieren konnte. In den folgenden Sommern arbeitete er zur Erntezeit auf den Feldern von Griesel, denn die Tischlerei ernährte ihn und seine Familie mangelhaft. Die Einheimischen gingen lieber zu einem der drei einheimischen Tischler, die seit Jahren und zwei von ihnen seit Generationen in der Stadt ansässig waren, als zu der armseligen Werkstatt von Haber, sei es, weil dieser ein Umsiedler war, der sich ungebeten in ihrer Stadt niedergelassen hatte, oder weil man sich nicht von einem Einarmigen, der in einer Notunterkunft und mit lächerlich wenig Werkzeug seinen Beruf auszuüben suchte, einen stabilen Tisch oder einen Schrank bauen lassen wollte.

Drei Jahre lang wohnte die Familie des Tischlers in den beiden Dachkammern auf dem Bauernhof, da die Wohnungsverwaltung der Stadt ihm keine eigene Wohnung zuweisen konnte und Haber sich den Neubau eines Hauses nicht zutraute, denn er machte sich keine Illusionen darüber, was er selbst tun und welche Hilfe er von seinen Nachbarn erwarten konnte. Und bis zu dem Brand arbeitete er in der notdürftig hergerichteten Werkstatt in der alten Tabakscheune.

Bernhard Haber wurde nicht in die vierte Klasse versetzt, in die er eigentlich gehörte, sondern blieb trotz seines Alters in meiner Klasse, denn er hatte Mühe, bei uns mitzuhalten und nicht sitzen zu bleiben und dann zu den noch Jüngeren gesteckt zu werden. Er war nicht unbegabt, und was er einmal verstanden hatte, vergaß er nie, aber er war schwer von Begriff, wie wir sagten, saß minutenlang dumpf brütend über einer Aufgabe und schwitzte. Man kann ihm beim Denken zusehen, sagte Fräulein Nitzschke einmal. Von ihr war es gewiss nicht böse gemeint, doch ihre Bemerkung wurde von der Klasse amüsiert aufgenommen und zu einer ihn kennzeichnenden, oft gebrauchten Redensart, wenn auch keiner von uns es wagte, den Satz laut zu wiederholen.

Nach dem Unterricht musste er seinem Vater in der Tischlerei helfen, so dass er häufig seine schulischen Aufgaben nicht oder sehr mangelhaft erledigte. Völlig hilflos war er, wenn es galt, etwas auswendig zu lernen, ein Lied oder ein Gedicht. Wurde er aufgerufen, stand er wie versteinert neben seiner Bank, den Blick starr in eine Zimmerecke gerichtet, und suchte verzweifelt nach Worten. Wenn wir ihm eine Zeile zuflüsterten, murmelte er sie uns stumpf und verständnislos nach, konnte kein weiteres Wort hinzufügen und wiederholte mehrfach diese eine ihm zugeraunte Zeile, als wollte er mit ihrer Hilfe die weiteren Worte und Strophen aus seinem Gedächtnis fischen, bis sich endlich der Lehrer erbarmte, ihn aufforderte, sich hinzusetzen, und ihm im Klassenbuch eine mangelhafte Leistung bescheinigte.

Völlig trostlos wurde es für ihn, als der fremdsprachliche Unterricht begann. Er vermochte nicht, sich die Vokabeln einzuprägen, zumal ihm zum Lernen daheim die Zeit fehlte und die ungewohnte, andersartige sprachliche Struktur und die ungeläufigen Zeichen ihn verwirrten und lähmten, so dass er selbst bei den einfachsten Aufgaben verzweifelt und stumm den Lehrer ansah und offensichtlich aufhörte nachzudenken und auf eine übernatürliche Eingebung hoffte.

In jedem Schuljahr war er der führende Kandidat für das Sitzenbleiben, doch regelmäßig und Jahr für Jahr verbesserten sich in den letzten entscheidenden Wochen seine Zensuren wundersamer Weise ein wenig, so dass er mit Ach und Krach die gesetzte Hürde übersprang und ins nächste Schuljahr versetzt wurde. Wir wussten alle, dass die Lehrer dabei nachhalfen, denn nicht versetzt zu werden, war nicht nur für uns Schüler eine einschüchternde Drohung, auch den Lehrern war an einem Weiterkommen der Schüler gelegen, denn wenn zu viele von ihnen eine Klasse wiederholen mussten, galt dies als ein Versagen der Lehrkraft und als Zeugnis ihrer mangelhaften pädagogischen Fähigkeiten. Die Lehrer achteten daher darauf, nur den Eltern jener Schüler den gefürchteten Brief zu schicken, bei denen es unumgänglich war, dass sie die Klasse wiederholten, und ansonsten drückten sie ein Auge zu, um nicht vor dem Schuldirektor lange Erklärungen abgeben zu müssen. Da Bernhard ein sehr ruhiger Schüler war, der den Unterricht nicht störte und in den Pausen nicht durch Disziplinlosigkeiten auffiel, entschieden sich jedes Jahr die Klassenlehrerin und die Fachlehrer dafür, ihn weiter mitzuschleppen und stattdessen einen anderen Schüler nicht zu versetzen, der durchaus nicht schlechtere Leistungen vorwies, aber ein Unruhestifter war, in den Stunden dazwischenredete und die Mitschüler vom Lernen abhielt. Auch wird für die Lehrer die Überlegung entscheidend gewesen sein, dass man mit Bernhard keine zukünftige Leuchte der Wissenschaft ausbilde, die fundierte Kenntnisse für das spätere Studium benötige, sondern dass er wohl sein Leben als robuste Hilfskraft im Straßenbau oder auf einem Acker zubringen und kaum mehr von dem Lehrstoff in seinem Leben brauchen werde, als ein normaler Dreiklässler bereits wisse. So wurde Bernhard, der sich kaum mit seinen Mitschülern abgab und außer durch seine beeindruckende Begriffsstutzigkeit den Unterricht in keiner Weise störte, Jahr für Jahr in die nächsthöhere Klasse versetzt, wodurch sich allerdings der unverstandene Wissensstoff bei ihm anhäufte und er in jedem neuen Schuljahr mit einem gewaltigeren Pensum von Unbegreiflichkeiten umzugehen hatte, da selbst all jenes, was er hätte verstehen und erfassen können, auf Voraussetzungen gründete, die sich bei ihm lediglich als tiefe, schwarze Löcher darstellten. Er saß schweigend auf seinem Platz, allezeit bereit, sich seiner Haut zu wehren, und allein seine Augen verrieten sein verzweifeltes Bemühen, etwas zu verstehen, und hatten den stumpfen Glanz der Vergeblichkeit. Sein Weiterkommen verdankte er seinem aussichtslosen, doch redlichen Bemühen, das für seine Lehrer wie Mitschüler fast schmerzhaft sichtbar wurde, wie dem Umstand, dass es in jedem Jahr einen ebenso schlechten Schüler wie ihn gab, den die Lehrer gern loswurden, so dass sie ihm den Versetzungsbescheid verweigerten, um ihn einem ihrer Kollegen zu überlassen.

Bernhard, obwohl er ein ganzes Jahr älter als alle anderen war, gehörte zu den Kleineren in meiner Klasse. Im Sportunterricht, bei dem wir uns nach der Größe aufzustellen hatten, stand er bei den Knirpsen ganz links, wurden jedoch für die Wettkämpfe die Mannschaften zusammengestellt, war er stets einer der Ersten, die man für die eigene benannte. Wenn er den Ball in Besitz bekommen hatte, wagte sich keiner ihm in den Weg zu stellen, denn er lief alle um und schnurstracks mit dem Ball bis zum Torkreis, um ihn dann mit einem mächtigen Wurf ins Tor zu donnern. Beim Fußball war er ebenso begehrt, er ließ sich durch Fouls nicht vom Ball trennen, und die es versuchten, ihm ein Bein zu stellen, saßen danach spielunfähig am Rand des Spielfeldes und rieben sich jammernd ihr Schienbein. Wo Ausdauer und Kraft gefragt waren, nahm es keiner mit ihm auf, doch wenn im Sportunterricht nicht allein Stärke und Mut, sondern zudem eine gewisse Geschicklichkeit gefordert waren, versagte er. Wenn die Barrenholme sich durchbogen und zu brechen drohten, weil Bernhard die fehlende Eleganz und Körperbeherrschung durch eine wilde Kraftanstrengung zu kompensieren suchte, fürchtete selbst der Sportlehrer, dass der Junge sich in seinem berserkerhaften Einsatz verletzen könnte, und schickte den Protestierenden, der keinesfalls aufgeben wollte, auf die Bank zurück. Sein unermüdlicher Eifer und der Entschluss, keinerlei Rücksichten auf sich selbst zu nehmen, brachten ihm trotz einer sehr unbeholfenen Körperbeherrschung stets eine Eins im Fach Sport und Körperertüchtigung ein, und diese Eins nahm sich seltsam verloren auf seinem Zeugnis aus, das ansonsten sehr viel höhere Zahlen aufzuweisen hatte.

In meiner Klasse hatte Bernhard keinen Freund. Auf dem Schulhof unterhielt er sich häufig mit einem älteren Jungen aus einer anderen Klasse, der ebenfalls Umsiedler war und nur seine Mutter und zwei Schwestern hatte, der Vater war gefallen. Dieser Junge und seine Familie waren am Stadtrand untergebracht, in einer der Schnittersiedlungen, die früher einmal zum großen Gutshof gehörten, einer riesigen Anlage, die nach dem Krieg als Staatsgut betrieben und später der Genossenschaft übergeben wurde. Dort wohnten vor dem Krieg Erntehelfer, Saisonkräfte aus Pommern und während des Krieges die russischen und polnischen Fremdarbeiter. Die drei Schnitterkasernen neben dem Gutshof, langgestreckte einstöckige Häuser, bei denen die Eingangstüren dicht nebeneinander lagen und von jeweils zwei winzigen Fenstern unterbrochen wurden, hießen in der Stadt immer noch die Polensiedlung, und wir fanden es daher eigentlich richtig, dass die Vertriebenen dort untergebracht wurden, denn sie kamen schließlich aus Polen und sprachen ein Deutsch, das polnisch klang. Der Junge aus der Polensiedlung war sein Freund, wenigstens sah ich Bernhard nie mit einem anderen Jungen länger zusammenstehen.

In der Klasse jedenfalls gab es niemanden, der mit ihm in den Pausen zusammenstand. Gelegentlich wurden die besseren Schüler von einem Lehrer aufgefordert, den leistungsschwächeren zu helfen, und für Bernhard übernahm ein Mädchen die Patenschaft und verpflichtete sich, mit ihm die Hausaufgaben zu machen. Da Bernhard das Mädchen nie zu sich nach Hause einlud, er schien darauf zu achten, dass keiner der Mitschüler seine Wohnung betrat, und er die vereinbarten Termine vergaß oder absichtlich versäumte, kam diese Hilfe bald ins Stocken und hörte schließlich ganz auf. Gelegentlich ging das Mädchen in den kleinen Pausen, in denen wir nicht auf den Schulhof gehen durften, zu ihm, sah seine Hefte durch, machte ihn auf Fehler aufmerksam oder nannte ihm ein fehlendes Ergebnis, das er dann rasch vor Beginn der Unterrichtsstunde in sein Heft schrieb. Auch dann bedankte er sich lediglich mit einem Kopfnicken, als sei es ihm eigentlich gleichgültig. Wir, seine Klassenkameraden, interessierten ihn nicht, genauso wenig wie die Lehrer oder der Schulstoff. Seine Teilnahmslosigkeit führte dazu, dass unser Interesse an ihm rasch erlahmte, da es kaum Berührungspunkte zwischen uns gab und wir ihm aus dem Weg gingen, zumal er sich rabiat wehrte, wenn er sich angegriffen, bedrängt oder belästigt fühlte.

Sein einziger und wirklicher Freund war sein Hund, ein junger Terriermischling, den er von Bauer Griesel bekommen hatte als Lohn für eine Woche Feldarbeit und dem er den merkwürdigen Namen Tinz gegeben hatte. Er brachte den Hund sogar zum Unterricht mit. Eines Morgens erschien er mit dem Hund auf dem Schulhof. Als es zur Stunde klingelte, band er den Terrier an den niedrigen Lattenzaun, der den Schulhof zur Straße hin begrenzte, und sagte zu ihm, er solle sich hinsetzen und auf ihn warten. Der Hund setzte sich tatsächlich und sah ihn aufmerksam an.

»Sitzen bleiben und nicht bellen«, sagte Bernhard zu ihm. Dann ging er ins Schulgebäude, wobei er sich mehrmals nach dem Tier umwandte, das gehorsam auf dem angewiesenen Platz sitzen blieb und keinen Laut von sich gab.

Bereits in der ersten Schulstunde erschien der Hausmeister in unserer Klasse und fragte Bernhard, nachdem er sich kurz mit der Lehrerin besprochen hatte, ob ihm der Hund auf dem Schulhof gehöre. Als Bernhard schweigend nickte, sagte er, es sei nach der Schulordnung nicht erlaubt, Tiere in die Schule mitzubringen, es sei grober Unfug und Tierquälerei, und er wolle das Vieh nicht noch einmal auf seinem Schulhof sehen.

Am nächsten Morgen brachte Bernhard den Hund wieder mit in die Schule und ebenso am darauf folgenden Tag. Jedes Mal band er ihn an den Zaun und schärfte ihm ein, ruhig zu sitzen und auf ihn zu warten, was das Tier auch tat. In diesen drei Tagen war das Schulleben von Bernhards Terrier bestimmt. In den Hofpausen standen vor allem die Mädchen sämtlicher Klassenstufen in der Nähe des Hundes, redeten auf ihn ein, kauerten vor ihm, küssten ihn und versuchten, mit ihm zu spielen. Und obwohl Bernhard es allen verboten hatte, fütterten sie ihn mit den mitgebrachten Schulbroten, ließen sich von ihm die Hände lecken und wetteiferten untereinander um die Zuneigung des jungen Hundes. Auch während der Unterrichtsstunden fesselte das Tier die Aufmerksamkeit der Schüler, die von ihren Bänken aus oder beim Gang zur Wandtafel einen Blick aus dem Fenster zu werfen suchten. Tinz stellte eine so erhebliche Störung des gewohnten Schulbetriebs dar, dass Bernhard am zweiten Hundetag zum Direktor bestellt wurde. Da diese Unterredung nicht das gewünschte Ergebnis zeigte, sondern Tinz auch am dritten Tag von Bernhard am Zaun angebunden wurde, erschien der Direktor in unserer Klasse und drohte Bernhard die empfindlichsten Strafen an, falls er noch ein einziges Mal seinen Hund in die Schule bringe. Er sagte, er werde ihn dann von der Schule verweisen, obgleich es in ganz Guldenberg nur eine einzige gebe, so dass er dann jeden Tag mit dem Bus in die Nachbargemeinde oder in die Kreisstadt fahren müsse. Dann entschied er, dass Bernhard den Hund sofort heimzubringen habe und den dadurch versäumten Unterricht nach Schulschluss mit einer Strafaufgabe nacharbeiten müsse.

Tinz blieb seitdem daheim auf dem Bauernhof von Griesel. Noch Wochen und Monate später erkundigten sich die Mitschülerinnen bei seinem Besitzer nach ihm, und Bernhard nahm zufrieden zur Kenntnis, dass, von den Lehrern abgesehen, es alle bedauerten, seinen Hund nicht mehr auf dem Schulhof zu sehen.