»Ich will dir erzählen, was aus uns geworden ist, nachdem du fort warst.« Mit diesen Worten richtet sich Isabel Allende in Das Siegel der Tage an ihre verstorbene Tochter Paula. Heitere, traurige, oft unglaubliche und doch immer tröstliche Geschichten, die sich nach dem schmerzhaften Verlust ihrer Tochter im Kreise des Allende-Clans zugetragen haben, hat die chilenische Erfolgsautorin hier aufgeschrieben.
Mit lebenskluger Wärme erzählt sie von unverhofften Begegnungen, Liebschaften, Trennungen und Versöhnungen; von den beiden lesbischen buddhistischen Nonnen, die sich wie selbstverständlich eines elternlosen Säuglings annehmen, oder von dem stoischen Buchhalter, der sich auf Befehl seiner chinesischen Mutter auf die Suche nach einer Ehefrau macht. Und schließlich lesen wir von der schicksalhaften Liebe zwischen zwei reifen Menschen, die gemeinsam alle Stromschnellen und Untiefen des Lebens gemeistert haben.
»Mit viel Verve und südamerikanischem Temperament komponiert Isabel Allende ein Kapitel der Geschichte ihrer Sippe.«
Dresdner Neueste Nachrichten
Isabel Allende, 1942 geboren, hat ab ihrem achtzehnten Lebensjahr als Journalistin in Chile gearbeitet. Nach Pinochets Militärputsch am 11. September 1973 ging sie ins Exil, wo sie ihren Weltbestseller Das Geisterhaus schrieb. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Kalifornien. Ihr Werk erscheint auf deutsch im Suhrkamp Verlag.
Das Siegel der Tage
Aus dem Spanischen von
Svenja Becker
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
La suma de los días
bei Random House Mondadori, S. A., Barcelona.
© Isabel Allende, 2007
Umschlagfoto: Allende Archives
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-73555-8
www.suhrkamp.de
Meinem Leben fehlt es nicht an Dramatik, zirkusreifes Material, über das ich schreiben könnte, findet sich mehr als genug, und doch weiß ich am 7. Januar nicht, wohin mit mir. Letzte Nacht habe ich kein Auge zugetan, draußen tobte das Unwetter, der Wind brüllte in den Eichen und rüttelte an den Fenstern, die Sintflut der letzten Wochen hatte ihren Höhepunkt erreicht. Einige Wohngebiete im County standen bereits unter Wasser, die Feuerwehr hatte alle Hände voll zu tun, des gigantischen Desasters Herr zu werden, und die Leute verließen ihre Häuser und wateten bis zur Hüfte durch die Fluten, um zu retten, was zu retten war. Möbel trieben durch die Hauptstraßen, und auf den Verdecks versunkener Autos hockte manches verstörte Haustier und hoffte auf das rettende Herrchen, während die Presse aus dem Hubschrauber die Bilder von einem kalifornischen Winter einfing, der eher an einen Hurrikan in Louisiana erinnerte. Manche Viertel waren für zwei Tage ganz von der Außenwelt abgeschnitten, und als man endlich wieder hinkam und das Ausmaß der Schäden zutage trat, karrte man Trupps lateinamerikanischer Einwanderer herbei, die sich daranmachten, das Wasser mit Pumpen und die Trümmer von Hand wegzuschaffen. Unser Haus, hoch oben auf einem Hügel, ist dem peitschenden Wind ausgesetzt, der die Palmen niederdrückt und Bäume, die zu stolz sind, ihr Haupt zu beugen, zuweilen mitsamt der Wurzel ausreißt, aber von Überschwemmungen bleibt es verschont. Hin und wieder bauen sich während der heftigsten Sturmtage launische Brecher auf, die den einzigen Weg zu uns herauf unpassierbar machen; dann schauen wir, gefangen, von oben hinab auf das ungewohnte Schauspiel der wutschäumenden Bucht.
Ich mag den erzwungenen Rückzug im Winter. Ich lebe im Marin County, nördlich von San Francisco, zwanzig Minuten von der Golden Gate Bridge entfernt, zwischen Hügeln, die sich im Sommer golden und im Winter smaragdfarben kleiden, am Westufer der weiten Bucht. An klaren Tagen können wir in der Ferne noch zwei andere Brücken sehen, außerdem die verschwommene Silhouette der Häfen von Oakland und San Francisco, die schweren Containerschiffe, viele hundert Segelboote und darüber die Möwen wie weiße Papiertaschentücher. Im Mai tauchen die ersten Tollkühnen auf, die an bunten Gleitschirmen über das Wasser flitzen und die Ruhe der alten Asiaten stören, die am Abend auf den Felsen ihre Angeln auswerfen. Vom offenen Pazifik aus ist die schmale Einfahrt zur Bucht, die sich bei Tagesanbruch in Nebel hüllt, nicht zu sehen, und die ersten Seefahrer segelten daran vorbei, ohne zu ahnen, welche Schönheit sich hier verbirgt. Heute ist die Einfahrt von der schlanken Golden Gate Bridge mit den prächtigen roten Pfeilern gekrönt. Wasser, Himmel, Hügel und Wald – das ist meine Landschaft.
Nicht die Weltuntergangsböen waren es und auch nicht das Prasseln der Hagelkörner auf dem Dach, was mich letzte Nacht um den Schlaf brachte, sondern meine Unruhe, weil unvermeidlich der 8. Januar anbrechen würde. Seit fünfundzwanzig Jahren beginne ich an diesem Tag mit dem Schreiben, mehr aus Aberglauben als aus Disziplin: Ich fürchte, das Buch werde scheitern, sollte ich an einem anderen Tag anfangen, und daß ich den Rest des Jahres nicht werde schreiben können, wenn ich nicht am 8. Januar damit beginne. Anfang Januar liegen einige Monate hinter mir, in denen ich nicht geschrieben, sondern nach außen gekehrt, im Tumult der Welt gelebt habe, auf Reisen war, meine Bücher vorgestellt, Vorträge gehalten habe, immer von Menschen umgeben war, zu viel geredet habe. Trubel und Radau. Mehr als alles fürchte ich dann, taub geworden zu sein, die Stille nicht mehr zu hören. Ohne Stille bin ich aufgeschmissen.
Unter allerlei Vorwänden stand ich in der Nacht etliche Male auf, schlüpfte in Willies alte Kaschmirjacke, die mir zur zweiten Haut geworden ist, lief mit immer neuen Tassen heißer Schokolade in der Hand durch die Zimmer und wälzte dabei in meinem Kopf die Gedanken an das, was ich in ein paar Stunden schreiben würde, bis die Kälte mich ins Bett zurücktrieb, in dem Willie, gesegnet sei er, ungerührt schnarchte. Ich machte an seinem nackten Rücken fest, schob meine eisigen Füße zwischen seine langen, sehnigen Beine und atmete seinen überraschend jungen Geruch ein, der sich im Verlauf der Jahre nicht verändert hat. Nie wird er wach, wenn ich mich an ihn kuschle, nur wenn ich mich von ihm löse; er ist an meine Berührung gewöhnt, an meine Schlaflosigkeit und meine schweren Träume. Und wenn ich noch so viel nachts umherwandere, Olivia, die auf einer Bank am Fußende des Bettes schläft, wird auch nicht wach. Nichts vermag den Schlaf dieser dusseligen Hundedame zu stören, die Hausmäuse nicht, die sich manchmal aus ihren Löchern wagen, nicht das Odeur der Skunks bei der Paarung, nicht das Wispern der rastlosen Seelen im Dunkeln. Würde ein wahnsinniger Axtmörder bei uns einbrechen, sie wäre die letzte, die es mitkriegte. Sie ist über die Humane Society zu uns gekommen, ein mitleiderregendes Geschöpf mit einem gebrochenen Bein und mehreren angeknacksten Rippen, das man auf einer Müllkippe aufgelesen hatte. Einen Monat kauerte sie zitternd im Wandschrank zwischen meinen Schuhen, erholte sich aber nach und nach von den erlittenen Mißhandlungen, und als sie schließlich mit hängenden Ohren und niedergedrücktem Schwanz aus ihrem Versteck schlich, wurde uns klar, daß sie als Wachhund nicht zu gebrauchen ist: Sie schläft wie ein Stein.
Endlich legte sich der Zorn des Sturms, und mit dem ersten hellen Schimmer im Fenster stand ich auf, duschte und zog mich an, während Willie in seinem Morgenmantel eines übernächtigten Scheichs in der Küche verschwand. Der Duft frisch gemahlenen Kaffees war wie ein Streicheln für mich – Aromatherapie. Unsere tägliche Routine schafft mehr Nähe zwischen uns als der Taumel der Leidenschaft; sind wir getrennt voneinander, ist es dieser behutsame Tanz, der uns am meisten fehlt. Wir brauchen das Gefühl, daß der andere bei uns ist, in diesem geschützten Raum, der allein uns gehört. Ein kühler Morgen, Kaffee mit Toastbrot, Zeit zum Schreiben, eine Hündin, die mit dem Schwanz wedelt, und mein Liebster: Besser könnte das Leben nicht sein. Danach nahm Willie mich zum Abschied in die Arme, denn ich brach zu einer langen Reise auf. »Viel Glück«, wünschte er mir leise wie jedes Jahr an diesem Tag, und ich ging mit Mantel und Regenschirm sechs Stufen vorm Eingang hinunter, am Pool entlang, siebzehn Meter durch den Garten und betrat das Häuschen, in dem ich schreibe, meinen Bau. Und hier bin ich jetzt.
Kaum hatte ich die Kerze angezündet, die mir beim Schreiben stets leuchtet, als meine Agentin Carmen Balcells aus Santa Fe anrief, diesem Dorf der verrückten Bergziegen südlich von Barcelona, aus dem sie stammt. Dort will sie ihre reifen Jahre in Frieden verbringen, weil sie aber nicht weiß, wohin mit ihrer Energie, kauft sie Haus für Haus den Ort auf.
»Lies mir den ersten Satz vor«, bat mich diese Übermutter.
Einmal mehr erklärte ich ihr, daß zwischen Kalifornien und Spanien neun Stunden Zeitdifferenz liegen. Von einem ersten Satz konnte die Rede noch nicht sein.
»Schreib über dein Leben, Isabel.«
»Das habe ich doch schon getan, weißt du das nicht mehr?«
»Das ist dreizehn Jahre her.«
»Meine Familie sieht sich nicht gern an die Öffentlichkeit gezerrt, Carmen.«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Schick mir einen Brief von zwei-, dreihundert Seiten und laß den Rest meine Sorge sein. Wenn man sich zwischen einer Geschichte und der beleidigten Verwandtschaft zu entscheiden hat, wählt jeder professionelle Schriftsteller die Geschichte.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
In der zweiten Dezemberwoche des Jahres 1992, als es eben zu regnen aufgehört hatte, brachen wir im Kreis der Familie auf, um deine Asche auszustreuen, wie du, Paula, das, lange bevor du krank geworden warst, in einem Brief verfügt hattest. Dein Mann Ernesto war aus New Jersey, dein Vater aus Chile angereist, kaum daß wir sie über das Geschehene benachrichtigt hatten. Sie trafen rechtzeitig ein, um von dir Abschied zu nehmen – du lagst aufgebahrt unter einem weißen Laken –, ehe man dich zur Einäscherung brachte. Danach versammelten wir uns in einer Kirche, hörten die Messe und weinten miteinander. Dein Vater hätte eigentlich nach Chile zurückgemußt, wartete jedoch, daß der Regen nachließ, und als sich zwei Tage später schließlich die ersten zaghaften Sonnenstrahlen zeigten, fuhr die ganze Familie in drei Autos zu einem Wald. Dein Vater saß im ersten Wagen und führte uns. Er kennt sich hier nicht aus, hatte die Gegend aber in den Tagen zuvor durchstreift und nach dem Ort gesucht, der dir der liebste gewesen wäre. Es gibt hier viele Stellen, die man hätte wählen können, die Natur ist verschwenderisch, doch durch eine dieser Fügungen, die schon üblich sind bei allem, was dich betrifft, Tochter, führte er uns in ebenden Wald, durch den ich häufig gewandert war, wenn ich meinen Zorn und Kummer lindern wollte, als du krank lagst, in den Willie mich zum Picknick ausgeführt hatte, als wir uns gerade kennengelernt hatten, in dem Ernesto und du Hand in Hand spazierengingt, wenn ihr bei uns in Kalifornien zu Besuch wart. Dein Vater fuhr ein Stück in den Nationalpark hinein, stellte das Auto ab und winkte uns, ihm zu folgen. Er brachte uns geradewegs zu der Stelle, die auch ich gewählt hätte, denn hier war ich häufig gewesen, um für dich zu beten: ein Bachlauf, gesäumt von hohen Sequoien, deren Kronen die Kuppel einer grünen Kathedrale bilden. Ein dünner Nebel hing in der Luft und ließ alle Konturen der Wirklichkeit verschwimmen; kaum ein Sonnenstrahl drang durch die Baumwipfel, aber die Blätter im Unterholz schimmerten winterfeucht. Der Boden roch würzig nach Humus und Dill. Dort, wo der Bach eine Biegung machte und das Wasser sich an Felsen und umgestürzten Stämmen etwas staute, blieben wir stehen. Ernst, mit bleichen Wangen, doch ohne eine Träne, denn die hatte er alle schon geweint, hielt Ernesto die Keramikurne mit deiner Asche in den Händen. Ein klein wenig davon hatte ich in einem Porzellankästchen verwahrt, um es immer auf meinem Altar zu haben. Nico hielt deinen kleinen Neffen Alejandro im Arm, und deine Schwägerin Celia hatte Andrea, die noch ein Säugling war, in Wollschals gewickelt an der Brust. Ich hatte einen Strauß Rosen mitgebracht, die ich, eine nach der anderen, ins Wasser warf. Danach nahmen wir alle, auch Alejandro mit seinen drei Jahren, eine Handvoll Asche aus der Urne und streuten sie ins Wasser. Einige Flocken trieben kurz zwischen den Rosen, doch die meisten sanken wie weißer Sand auf den Grund.
»Was ist das?« wollte Alejandro wissen.
»Deine Tante Paula«, sagte meine Mutter schluchzend.
»Sieht gar nicht so aus«, bemerkte er verwirrt.
Ich will dir erzählen, was seit 1993 aus uns geworden ist, nachdem du fort warst, und werde mich auf die Familie beschränken, weil die dich interessiert. Zwei von Willies Söhnen müssen dabei unerwähnt bleiben: Lindsay, weil ich ihn kaum kenne, wir uns nur etwa ein dutzendmal gesehen haben und über erste Höflichkeitsfloskeln nie hinausgekommen sind, und Scott, der auf diesen Seiten nicht auftauchen möchte. Du hattest ihn sehr gern, diesen hageren, einzelgängerischen Jungen mit der dicken Brille und den Wuschelhaaren. Heute ist er ein Mann von achtundzwanzig, sieht Willie ähnlich und nennt sich Harleigh; »Scott« hatte er sich mit fünf Jahren selber ausgesucht, weil ihm der Name gefiel, und er hat ihn lange benutzt, als Teenager aber schließlich den eigenen wieder für sich entdeckt.
Die erste, zu der meine Gedanken und Gefühle wandern, ist Jennifer, Willies einzige Tochter, die zu Beginn jenes Jahres zum dritten Mal aus der Klinik weglief, in der ihre geschundenen Knochen wegen einer der vielen Infektionen gelandet waren, die sie in ihrem kurzen Leben schon hatte durchstehen müssen. Die Polizei gab nicht einmal vor, nach ihr zu suchen, ihr Fall war nur einer unter vielen, und diesmal halfen auch Willies juristische Kontakte nicht weiter. Der Arzt, ein großgewachsener, zurückhaltender Philippine, der ihr durch schiere Hartnäckigkeit das Leben gerettet hatte, als sie fieberschlotternd in die Klinik eingeliefert wurde, und der sie bereits kannte, weil er sie die beiden vorangegangenen Male behandelt hatte, erklärte Willie, er müsse seine Tochter umgehend finden oder sie werde sterben. Wenn sie über Wochen massive Gaben von Antibiotika bekäme, könne sie durchkommen, sagte er, aber einen Rückfall werde sie wohl nicht überleben. Wir saßen in einem gelbgestrichenen Wartezimmer mit Plastikstühlen, Plakaten zu Mammographie und Aidstests an den Wänden und voller Patienten, die dringend darauf warteten, behandelt zu werden. Der Arzt nahm seine Nickelbrille ab, wischte sie mit einem Papiertuch sauber und antwortete nur zögernd auf unsere Fragen. Er hatte weder für Willie noch für mich viel übrig, hielt mich vielleicht für Jennifers Mutter. In seinen Augen waren wir schuld, hatten Jennifer vernachlässigt und kamen jetzt, zu spät, reuig zu ihm. Er vermied es, uns Einzelheiten zu nennen, weil die unter die Schweigepflicht fielen, aber Willie erfuhr doch, daß die zu Spänen gewordenen Knochen und die vielfältigen Infektionen seiner Tochter nicht alles waren, sondern ihr Herz nicht mehr lange mitmachen würde. Seit neun Jahren spielte Jennifer nun schon mit dem Tod Katz und Maus.
Wir hatten sie in den Wochen zuvor in der Klinik gesehen, an den Handgelenken fixiert, damit sie sich im Fieber nicht die Schläuche aus der Haut riß. Sie war süchtig nach nahezu allen bekannten Drogen, von Tabak bis Heroin; mir ist unbegreiflich, wie ihr Körper diesem Mißbrauch standhalten konnte. Weil man keine gesunde Vene fand, um ihr die Medikamente zu verabreichen, wurde ihr eine Sonde an eine Arterie der Brust gelegt. Nach einer Woche kam sie von der Intensivstation in ein Dreibettzimmer, das sie mit anderen Patienten teilte, war nicht mehr festgeschnallt und wurde weniger streng überwacht als zuvor. Von da an besuchte ich sie täglich und brachte ihr, was sie sich wünschte, Parfüm, Nachthemden, Musik, aber alles verschwand sofort wieder. Wahrscheinlich kamen ihre miesen Freunde außerhalb der Besuchszeiten vorbei und versorgten sie mit Drogen, die sie, weil sie kein Geld hatte, mit meinen Geschenken bezahlte. Als Teil der Behandlung bekam sie Methadon, das ihr helfen sollte, den Entzug durchzustehen, aber daneben verabreichte sie sich über die Sonde, was immer ihre Lieferanten ihr ins Krankenhaus schmuggelten. Ein paarmal war es an mir, sie zu waschen. Ihre Knöchel und Füße waren geschwollen, ihr Körper von Schrammen und Schrunden gezeichnet, von den Spuren infizierter Nadeln, von Narben und einem Piratenschmiß quer über den Rücken. »Von einem Messer«, war alles, was sie dazu sagte.
Willies Tochter war ein blondes Mädchen gewesen, mit großen blauen Augen wie ihr Vater, aber aus jener Zeit waren nur wenige Fotos geblieben, und niemand erinnerte sich mehr daran, wie sie gewesen war, die Klassenbeste, brav und adrett. Auf den Bildern hatte sie etwas Ätherisches. Ich lernte sie 1988 kennen, kurz nachdem ich nach Kalifornien gekommen war, um mit Willie zu leben, und damals war sie noch hübsch, auch wenn ihr Blick bereits ausweichend war und diese nebelhafte Unaufrichtigkeit sie umgab wie ein dunkler Schatten. Im Überschwang meiner frischen Liebe zu Willie wunderte ich mich nicht weiter, als er mich eines Sonntags im Winter in ein Gefängnis im Osten der Bucht von San Francisco mitnahm. Lange standen wir in einem unwirtlichen Hof in einer Schlange mit anderen Besuchern, fast ausschließlich Schwarzen oder Latinos, bis das Gittertor geöffnet wurde und man uns in ein düsteres Gebäude ließ. Die wenigen Männer wurden von den vielen Frauen und Kindern getrennt. Ich weiß nicht, was Willie erlebte, mir jedenfalls nahm eine uniformierte Matrone die Handtasche ab, schob mich hinter einen Vorhang und versenkte ihre Hände an Stellen, an die sich noch niemand gewagt hatte, das alles schroffer als nötig, vielleicht weil mein Akzent mich verdächtig machte. In der Besucherschlange hatte mich eine Bauersfrau aus El Salvador zum Glück vorgewarnt und gesagt, ich solle keine Scherereien machen, weil es dann noch viel übler würde. Endlich trafen Willie und ich uns in einem Trailer wieder, der für die Besuche der Gefangenen hergerichtet war, ein langer, schmaler Schlauch mit einer Trennwand aus Hasendraht, hinter der Jennifer saß. Sie war seit zwei Monaten im Gefängnis; sauber und gut genährt, wirkte sie, verglichen mit ihren vierschrötigen Mitgefangenen, wie ein Schulmädchen am Sonntag. Ihren Vater begrüßte sie unendlich niedergeschlagen. In den Jahren danach lernte ich, daß sie immer weinte, wenn sie mit Willie zusammen war, ich weiß nicht, ob aus Scham oder aus Groll. Willie stellte mich kurz als eine »Freundin« vor, obwohl wir schon seit einer Weile zusammenlebten, und blieb mit verschränkten Armen und trotzig gesenktem Blick vor dem Hasendraht stehen. Ich hielt mich etwas abseits und beobachtete die beiden, hörte durch das Gewirr der anderen Stimmen Fetzen ihres Gesprächs mit.
»Weshalb diesmal?«
»Was soll die Frage? Das weißt du doch. Hol mich hier raus, Papa.«
»Kann ich nicht.«
»Bist du Anwalt oder was?«
»Das letzte Mal habe ich dir gesagt, daß ich dir nicht noch einmal helfe. Du hast dich für dieses Leben entschieden, also bezahl auch dafür.«
Sie wischte sich die Tränen mit dem Ärmel fort, aber sie rannen immer weiter über ihre Wangen, während sie nach ihren Brüdern und ihrer Mutter fragte. Kurz darauf verabschiedeten sich die beiden, und sie wurde von derselben Frau in Uniform fortgebracht, die meine Handtasche durchwühlt hatte. Damals besaß Jennifer noch einen letzten Rest Unschuld, doch als sie Jahre später aus der Obhut dieses philippinischen Arztes aus der Klinik davonlief, war von dem Mädchen, das ich seinerzeit im Gefängnis kennengelernt hatte, nichts mehr geblieben. Mit sechsundzwanzig Jahren sah sie aus wie eine Frau von sechzig.
Als wir das Gefängnis verließen, regnete es, und durchnäßt rannten Willie und ich die zwei Straßen bis zu dem Parkplatz, auf dem unser Auto stand. Ich fragte ihn, warum er so kalt mit seiner Tochter umging, nicht dafür sorgte, daß sie einen Entzug machte, und sie statt dessen hinter Gittern ließ.
»Weil sie dort sicherer ist«, sagte er.
»Kannst du denn nichts tun? Es muß doch irgendeine Behandlung geben!«
»Es bringt nichts, sie hat sich nie helfen lassen wollen, und ich kann sie nicht mehr zwingen, sie ist volljährig.«
»Wenn sie meine Tochter wäre, ich würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um sie zu retten.«
»Sie ist nicht deine Tochter«, sagte er mit einer Art dumpfem Groll in der Stimme.
Damals scharwenzelte ein junger Christ um Jennifer herum, einer dieser Trinker, die durch die frohe Botschaft erlöst worden sind und sich nun der Religion ebenso inbrünstig widmen wie zuvor der Flasche. Wir sahen ihn manchmal an den Besuchstagen im Gefängnis, stets mit der Bibel in der Hand und dem beseelten Lächeln der von Gott Auserwählten auf den Lippen. Immer begrüßte er uns mit der Mitleidsmiene, die den verirrten Schäfchen Gottes vorbehalten war, und das machte Willie rasend, erzielte bei mir indes die erwünschte Wirkung: Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Es braucht sehr wenig, damit ich mich schuldig fühle. Hin und wieder nahm der Beseelte mich beiseite, und während er das Neue Testament bemühte – »Aber Jesus sprach zu denen, die die Ehebrecherin steinigen wollten: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie« –, sah ich fasziniert auf seine schlechten Zähne und versuchte dem Niesel seiner feuchten Aussprache zu entgehen. Ich habe keine Ahnung, wie alt er war. Solange er den Mund hielt, wirkte er mit seinem pickligen Milchgesicht sehr jung, aber dieser Eindruck war sofort dahin, wenn er mit schriller Stimme und großer Geste zu predigen anhob. Anfangs versuchte er Jennifer durch die Logik seines Glaubens in die Reihen der Gerechten zu locken, biß damit aber bei ihr auf Granit. Dann entschied er sich für bescheidene Geschenke, die bessere Ergebnisse zeitigten: Für eine Handvoll Zigaretten ließ Jennifer auch eine Weile evangelikale Belehrungen über sich ergehen. Als sie entlassen wurde, erwartete er sie in einem sauberen Hemd und einer Parfümwolke vor dem Tor. Er pflegte uns zu nachtschlafener Zeit anzurufen, um uns von seinem Schützling zu berichten und Willie daran zu gemahnen, daß er seine Sünden bereuen und dem Herrn sein Herz aufschließen müsse, weil er dann die Taufe der Auserwählten erhalten und unter dem Schirm der göttlichen Liebe erneut zu seiner Tochter finden könne. Er wußte nicht, mit wem er es zu tun hatte: Willie ist der Sohn eines ausgeflippten Predigers, er ist in einem Zelt aufgewachsen, in dem sein Vater mit einer dicken zahmen Schlange um die Hüften den Gläubigen seine erfundene Religion verkündete; sobald etwas nur nach Predigt riecht, sieht Willie zu, daß er fortkommt. Dieser kleine Evangelikale war nach Jennifer verrückt, von ihr geblendet wie eine Motte vom Licht. Er war hin- und hergerissen zwischen mystischer Inbrunst und fleischlicher Begierde, dem Wunsch, die Seele dieser Magdalena zu retten, und dem Verlangen nach ihrem Körper, der zwar ein wenig beschädigt, aber doch immer noch erregend sei, wie er uns einmal derart treuherzig gestand, daß wir uns nicht über ihn lustig machen konnten. »Ich werde dem Rausch der Wollust nicht verfallen, ich werde sie heiraten«, versicherte er uns und ließ gleich darauf einen Sermon über die Keuschheit in der Ehe vom Stapel, daß uns die Spucke wegblieb. »Der Typ ist dumm oder schwul«, war Willies Kommentar dazu, doch klammerte er sich dennoch an diese Heiratsidee, weil der schräge Vogel mit den guten Absichten seine Tochter vielleicht retten würde. Als er Jennifer allerdings auf Knien seinen Antrag machte, lachte die ihn nur aus. Der kleine Prediger wurde in einer Spelunke am Hafen totgeschlagen, als er einmal abends die friedvolle Botschaft Jesu unter Seeleuten und Zuhältern verkünden wollte, die nicht gut aufs Christentum zu sprechen waren. Wir wurden nie mehr um Mitternacht von seinen messianischen Anrufen geweckt.
Jennifer hatte als Kind immer abseits gestanden, war übergangen worden, während ihr zwei Jahre älterer Bruder Lindsay alle Aufmerksamkeit der Erwachsenen absorbierte, weil er nicht zu bändigen war. Sie war ein Mädchen mit guten Manieren, schwer zu durchschauen, und besaß einen für ihr Alter zu ausgefeilten Humor. Sie lachte über sich selbst, ein helles und ansteckendes Lachen. Niemand ahnte, daß sie sich nachts durch ein Fenster davonstahl, bis sie einmal meilenweit von daheim aufgegriffen wurde, in einer der übelsten Gegenden von San Francisco, wo sich die Polizei nach Einbruch der Dunkelheit nur ungern blicken ließ. Damals war sie fünfzehn. Ihre Eltern waren seit Jahren geschieden; beide führten ihr eigenes Leben, und vielleicht unterschätzten sie die Schwere des Problems. Willie hatte Mühe, in dem Mädchen mit den schwarz geschminkten Augen, das sich weder auf den Beinen halten noch sprechen konnte und schlotternd in einer Arrestzelle lag, seine Tochter zu erkennen. Stunden später, sicher in ihrem Bett und wieder etwas klarer im Kopf, gelobte Jennifer ihrem Vater Besserung und daß sie nie wieder solche Dummheiten machen werde. Er glaubte ihr. Alle Heranwachsenden stolpern mal und fallen; er selbst hatte als Junge ja auch seine Schwierigkeiten mit dem Gesetz gehabt. Das war in Los Angeles gewesen, als er dreizehn war. Er hatte Eiscreme geklaut und mit den mexikanischen Jungs aus dem Viertel Gras geraucht. Mit vierzehn war ihm klargeworden, daß er sich allein aus dem Sumpf ziehen mußte oder darin steckenbleiben würde, weil er niemanden hatte, der ihm half, also ließ er die Straßengangs hinter sich, machte die Schule fertig, arbeitete, um sich das Studium zu finanzieren, und wurde Anwalt.
Daß sie aus der Klinik und der Obhut des philippinischen Arztes davongelaufen war, kostete Jennifer nicht das Leben, denn sie war sehr stark, auch wenn sie nicht so aussah, und längere Zeit hörten wir nichts von ihr. Irgendwann im Winter erreichte uns das vage Gerücht, sie sei schwanger, doch hielten wir das für ausgeschlossen; sie hatte uns selbst gesagt, sie könne keine Kinder bekommen, sie hatte zu viel Schindluder mit ihrem Körper getrieben. Drei Monate später erschien sie in Willies Büro, um ihn um Geld anzugehen, was so gut wie nie vorkam: Lieber schlug sie sich allein durch, dann mußte sie keine Erklärungen abgeben. Ihre Augen suchten verzweifelt nach einem Halt, den sie nicht fanden, und ihre Hände zitterten, aber ihre Stimme klang fest.
»Ich bin schwanger«, verkündete sie ihrem Vater.
»Unmöglich!«
»Das dachte ich auch, aber schau …« Sie knöpfte das Männerhemd auf, das ihr bis zu den Knien reichte, und zeigte ihm eine Wölbung, so groß wie eine Pampelmuse. »Es wird ein Mädchen, und sie kommt im Sommer zur Welt. Ich werde sie Sabrina nennen. Ich habe den Namen immer gemocht.«
Ich verbrachte fast das ganze Jahr 1993 hinter geschlossenen Türen mit meinen Tränen und Erinnerungen und schrieb dabei an dich, Paula, konnte jedoch eine lange Lesereise nicht abwenden, auf der ich in mehreren nordamerikanischen Städten Der unendliche Plan vorstellen sollte, einen Roman, der von Willies Leben inspiriert ist; das Buch war gerade auf englisch erschienen, geschrieben hatte ich es indes bereits zwei Jahre zuvor, und in Europa war es schon in etlichen Sprachen erhältlich. Den Titel hatte ich Willies Vater entwendet, dessen Wanderreligion sich »Der unendliche Plan« nannte. Willie schickte mein Buch als Geschenk an alle seine Freunde und Bekannten, ich schätze, er kaufte die gesamte erste Auflage auf. Er prahlte damit, als handelte es sich um seine Biographie, und ich mußte ihn erinnern, daß es eine fiktive Geschichte war. »Mein Leben ist ein Roman«, entgegnete er. Jedes Leben kann wie ein Roman erzählt werden, wir alle sind die Hauptfigur unserer eigenen Geschichte. Gerade eben, während ich das schreibe, befallen mich Zweifel. Hat sich alles so zugetragen, wie ich mich daran erinnere und davon berichte? Sicher, ich schaue in den Briefwechsel mit meiner Mutter, in dem wir einander jeden Tag mehr oder weniger wahrheitsgetreu von den banalsten wie von der bedeutendsten Ereignissen unseres Lebens berichten, doch was ich hier niederschreibe, bleibt subjektiv. Willie meinte, das Buch sei wie eine Karte seines Lebenswegs, und bedauerte dann, daß Paul Newman schon etwas zu alt für die Hauptrolle war, sollte der Stoff je verfilmt werden. »Dir ist sicher nicht entgangen, daß Paul Newman mir ähnlich sieht«, sagte er, bescheiden wie immer. Bisher hatte ich nicht darauf geachtet, aber ich habe Willie nicht gekannt, als er jung war und die beiden einander gewiß glichen wie ein Ei dem andern.
In den Vereinigten Staaten erschien das Buch zu einem schlechten Zeitpunkt für mich; ich wollte niemanden sehen, und der Gedanke an die Lesereise belastete mich. Ich war krank vor Kummer, besessen von der Vorstellung, was ich hätte tun können und nicht getan hatte, um dich zu retten. Warum hatte ich die Schludrigkeit der Ärzte in diesem Madrider Krankenhaus nicht erkannt? Warum hatte ich dich nicht dort rausgeholt und sofort nach Kalifornien gebracht? Warum, warum … Ich schloß mich in dem Zimmer ein, in dem du deine letzten Tage verbracht hast, aber noch nicht einmal an diesem mir heiligen Ort fand ich so etwas wie Frieden. Es sollten viele Jahre vergehen, ehe du mir zu einer sanften und verläßlichen Gefährtin wurdest. Damals war dein Fehlen ein stechender Schmerz, ein Lanzenstoß in der Brust, der mich manchmal in die Knie zwang.
Auch machte ich mir Sorgen um Nico, weil wir kurz zuvor erfahren hatten, daß auch er an Porphyrie leidet. »Paula ist nicht an Porphyrie gestorben, sondern am Pfusch der Ärzte«, versuchte dein Bruder mich zu beschwichtigen, aber er war selbst beunruhigt, weniger wegen sich als wegen seiner beiden Kinder und dem dritten, das unterwegs war. Womöglich hatte er seinen Kindern dieses verfluchte Erbe mitgegeben; wir würden es erfahren, wenn sie alt genug für die Tests wären. Drei Monate nach deinem Tod hatte Celia uns eröffnet, daß sie erneut schwanger war, was ich bereits vermutet hatte, weil sich um ihre Augen die dunklen Ringe der Schlaflosen zeigten und ich von dem Kind geträumt hatte, wie ich von Alejandro und Andrea geträumt hatte, ehe sie sich im Bauch ihrer Mutter regten. Drei Kinder in fünf Jahren, es war die blanke Unvernunft; Nico und Celia hatten keine feste Arbeit, und ihre Studentenvisa würden bald ablaufen, aber wir feierten die Neuigkeit trotzdem. »Seid unbesorgt, jedes Kind bringt sein Glück mit«, sagte meine Mutter, als sie davon erfuhr. Und so war es auch. Noch in derselben Woche beantragten wir für Nico und seine Familie eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung; ich hatte nach fünf Jahren Wartezeit die Staatsangehörigkeit der USA bekommen und konnte für sie bürgen.
Willie und ich hatten uns 1987 kennengelernt, drei Monate, bevor du Ernesto trafst. Jemand behauptete damals dir gegenüber, ich hätte deinen Vater wegen Willie verlassen, aber ich kann dir versichern, daß das nicht stimmt. Dein Vater und ich hatten neunundzwanzig Jahre miteinander verbracht, ich war fünfzehn, er knapp zwanzig gewesen, als wir uns kennenlernten. Daß ich drei Monate nach unserem Entschluß, uns scheiden zu lassen, Willie finden würde, konnte ich nicht ahnen. Die Literatur führte uns zusammen: Willie hatte meinen zweiten Roman gelesen und war neugierig, mich bei einer Stippvisite im Norden Kaliforniens kennenzulernen. Mein Anblick war ernüchternd, weil ich überhaupt nicht der Typ Frau bin, der ihm gefällt, aber er überspielte das recht gekonnt und schwört heute Stein und Bein, er habe sofort eine »spirituelle Verbindung« gespürt. Keine Ahnung, was das sein soll. Ich wiederum mußte mich sputen, denn auf dieser verrückten Reise hüpfte ich kreuz und quer wie ein Gummiball von Stadt zu Stadt. Ich rief dich an, um deinen Rat zu hören, und du meintest lachend, weshalb ich denn fragte, es stehe doch schon fest, daß ich mich Hals über Kopf in dieses Abenteuer stürzen würde. Ich erzählte es Nico und bekam ein entgeistertes »In deinem Alter, Mama!« zu hören. Ich war fünfundvierzig und stand für ihn wohl bereits mit einem Fuß im Grab. Wenn das so war, dann hatte ich keine Zeit zu verlieren, ich mußte zum Punkt kommen. Meine Eile machte mit Willies verständlicher Vorsicht kurzen Prozeß. Ich brauche hier nicht zu wiederholen, was du schon weißt und was ich schon oft erzählt habe; Willie sagt, ich hätte fünfzig Versionen davon, wie unsere Liebe begann, und alle würden stimmen. Nur so viel: Wenige Tage nach unserem Telefonat ließ ich mein altes Leben hinter mir und landete uneingeladen vor der Haustür des Mannes, für den ich entflammt war. Nico behauptet, ich hätte »meine Kinder im Stich gelassen«, aber du warst zum Studieren in Virginia und er mit seinen einundzwanzig Jahren ein ausgewachsenes Mannsbild und auf die Hätscheleien seiner Mama nicht mehr angewiesen. Als Willie sich von dem Schock erholt hatte, mich mit der Reisetasche über der Schulter vor seiner Tür zu sehen, begannen wir unser gemeinsames Leben mit Enthusiasmus, über die kulturellen Hürden hinweg und trotz der Schwierigkeiten seiner Kinder, mit denen weder er noch ich umzugehen verstand. Willies Leben und seine Familie kamen mir vor wie ein schlechter Film, in dem nichts lief, wie es sollte. Wie oft rief ich bei dir an, um dich um Rat zu fragen? Bestimmt täglich. Und immer war deine Antwort: »Was ist das Großzügigste, was du in diesem Fall tun kannst, Mama?« Acht Monate später heirateten Willie und ich. Nicht auf sein, sondern auf mein Drängen hin. Als ich begriff, daß aus der Leidenschaft der ersten Stunde Liebe zu werden begann und ich wahrscheinlich in Kalifornien bleiben würde, beschloß ich, meine Kinder zu mir zu holen. Um dich und deinen Bruder in meiner Nähe zu haben, brauchte ich die amerikanische Staatsbürgerschaft, also blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Stolz Stolz sein zu lassen und Willie einen Antrag zu machen. Er reagierte nicht trunken vor Glück, wie ich vielleicht zu hoffen gewagt hatte, sondern verschreckt, weil das romantische Lodern in seinem Innern nach mehreren gescheiterten Liebesbeziehungen erloschen war, aber irgendwann hatte ich ihn doch soweit. Also, um ehrlich zu sein, es war nicht weiter schwierig: Ich setzte ihm eine Frist bis um zwölf Uhr am nächsten Tag und begann meine Sachen zu packen. Fünfzehn Minuten vor Ablauf des Ultimatums nahm Willie meinen Antrag an, auch wenn er nie begreifen konnte, weshalb ich so stur darauf bestand, Nico und dich bei mir zu haben, schließlich verlassen in den Vereinigten Staaten die Kinder das Elternhaus, sobald sie mit der Schule fertig sind, und kommen dann nur noch an Weihnachten und Thanksgiving zu Besuch. Die chilenische Sitte, für immer als Clan zusammenzuleben, ist den Amerikanern ein Greuel.
»Zwing mich nicht, mich zwischen den Kindern und dir zu entscheiden!« warnte ich ihn damals.
»Wo denkst du hin. Aber bist du dir sicher, daß sie in deiner Nähe leben wollen?«
»Eine Mutter hat immer das Recht, ihre Kinder zu sich zu rufen.«
Wir wurden von einem Herrn getraut, der seine Berechtigung dazu vermittels einer Zahlung von fünfundzwanzig Dollar mit der Post bekommen hatte, weil Willie – als Anwalt – keinen befreundeten Richter dafür auftreiben konnte. Mir war das nicht geheuer. Es war der heißeste Tag in der Geschichte von Marin County. Die Feier fand in einem italienischen Restaurant ohne Klimaanlage statt, die Torte schmolz restlos, dem Fräulein an der Harfe wurde schwarz vor Augen, und die schweißgebadeten Gäste entledigten sich nach und nach ihrer Kleidung. Am Ende trugen die Männer weder Hemd noch Schuhe, die Frauen weder Strümpfe noch Unterwäsche. Außer deinem Bruder und dir, meiner Mutter und meinem amerikanischen Verleger, die von weither angereist waren, um mir beizustehen, kannte ich keine Menschenseele. Ich bin den Verdacht nie losgeworden, daß diese Heirat nicht vollends legal war, und hoffe, wir ermannen uns eines Tages und heiraten anständig.
Du mußt nicht denken, ich wäre nur aus Berechnung Willies Frau geworden, schließlich hatte er in mir, wie Ernesto in dir, diese romanhafte Wollust geweckt, wegen der die Frauen unserer Sippe alle Vernunft fahren lassen, aber in unserem Alter war es außer wegen der Aufenthaltserlaubnis nicht notwendig zu heiraten. Wären die Umstände andere gewesen, wir hätten ohne Trauschein zusammengelebt, was Willie zweifellos vorgezogen hätte, aber ich war nicht bereit, auf meine Familie zu verzichten, und wenn dieser widerspenstige Liebhaber hundertmal wie Paul Newman aussah. Mit dir und Nico hatte ich während der Militärdiktatur in den siebziger Jahren Chile verlassen, mit euch hatte ich bis Ende der achtziger Jahre in Venezuela gelebt, und zusammen mit euch wollte ich in den neunziger Jahren in die USA einwandern. Ich zweifelte nicht daran, daß es deinem Bruder und dir bei mir in Kalifornien bessergehen würde als über die Welt verstreut, aber mit den juristischen Verzögerungen hatte ich nicht gerechnet. Es vergingen fünf Jahre, lang wie fünf Jahrhunderte, und unterdessen heirateten Nico und Celia in Venezuela und du und Ernesto in Spanien, was ich allerdings nie als ernstzunehmendes Hindernis ansah. Nach einer Weile hatte ich Nico und seine Familie zwei Straßen von uns daheim untergebracht, und hätte der Tod dich nicht so früh von mir fortgerissen, würdest du jetzt auch nebenan wohnen.
Ich brach also 1993 zu dieser Reise durch die Vereinigten Staaten auf, um für meinen neuen Roman zu werben und die Vorträge zu halten, die ich im Jahr zuvor abgesagt hatte, als ich nicht von deiner Seite weichen konnte. Hast du gespürt, daß ich bei dir war, Tochter? Das habe ich mich oft gefragt. Was hast du geträumt in der langen Nacht des Jahres 92? Daß du geträumt hast, weiß ich sicher, denn deine Augen bewegten sich unter den Lidern, und manchmal schrecktest du hoch. Im Koma zu liegen muß sein, wie wenn man im dichten Nebel eines Albtraums gefangen ist. Die Ärzte behaupteten, du nähmst nichts wahr, aber mir fällt es schwer, das zu glauben.
Auf der Reise hatte ich einen Beutel voller Schlaftabletten, Pillen gegen eingebildete Schmerzen, zum Ersticken meines Kummers und gegen die Angst vor dem Alleinsein dabei. Willie konnte mich nicht begleiten, weil er arbeiten mußte; seine Kanzlei war selbst sonntags geöffnet, der Warteraum immer voller Bittsteller, und auf seinem Schreibtisch stapelten sich die anhängigen Fälle. Zu der Zeit hatte er sich in die Tragödie eines mexikanischen Einwanderers verbissen, der aus dem fünften Stock eines Rohbaus in San Francisco in den Tod gestürzt war. Der Mann hieß Jovito Pacheco und war neunundzwanzig Jahre alt gewesen. Offiziell gab es ihn nicht. Das Bauunternehmen tat unschuldig, weil der Name nicht in seinen Personallisten stand. Der Subunternehmer war nicht versichert und behauptete ebenfalls, einen Pacheco nicht zu kennen; er hatte ihn einige Tage zuvor zusammen mit zwanzig weiteren Illegalen von einem Lastwagen herunter angeheuert und zu der Baustelle gekarrt. Jovito Pacheco war Bauer und noch nie auf einem Gerüst gewesen, aber er besaß ein breites Kreuz und wollte unbedingt arbeiten. Niemand sagte ihm, er solle einen Sicherungsgurt benutzen. »Und wenn ich die halbe Welt vor Gericht zerren muß, ich sorge dafür, daß diese arme Familie eine Entschädigung bekommt!« hörte ich tausendmal von Willie. Offenbar war es kein einfacher Fall. Willie hatte ein verblichenes Foto der Familie Pacheco im Büro: Vater, Mutter, Großmutter, drei kleine Kinder und ein Säugling, alle für den Kirchgang zurechtgemacht und in einer Reihe nebeneinander unter der sengenden Sonne auf einem mexikanischen Dorfplatz. Der einzige mit Schuhen an den Füßen war Jovito Pacheco, ein dunkelhäutiger Indio mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen und einem verbeulten Strohhut in der Hand.
Ich war auf meiner Rundreise von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, eine elegante Farbe, wie ich mir einredete, denn noch nicht einmal vor mir selbst wollte ich zugeben, daß ich Trauer trug. »Du siehst aus wie eine chilenische Witwe«, sagte Willie und schenkte mir ein feuerwehrrotes Halstuch. Ich kann mich nicht an die Städte erinnern, in denen ich war, nicht an die Menschen, mit denen ich sprach, nicht an das, was ich tat, und es spielt keine Rolle, nur daß ich mich in New York mit Ernesto traf. Dein Mann war ganz aufgeregt, als ich ihm von dem Buch erzählte, das ich über dich schrieb. Wir weinten zusammen, und unsere gemeinsame Trauer löste einen Hagelsturm über der Stadt aus. »Daß es um die Jahreszeit hagelt, kommt vor«, sagte Nico am Telefon zu mir. Mehrere Wochen verbrachte ich wie hypnotisiert fern von den Meinen. Abends sank ich von Schlaftabletten betäubt in unbekannte Betten, und morgens spülte ich die Albträume mit pechschwarzem Kaffee fort. Ich telefonierte mit den in Kalifornien Gebliebenen und schickte meiner Mutter Briefe per Fax, die mit der Zeit getilgt wurden, weil sie mit lichtempfindlicher Tinte ausgedruckt waren. Viele Ereignisse dieser Zeit sind verloren; ich bin sicher, es ist besser so. Ich zählte die Tage, bis ich wieder nach Hause zurück und mich vor der Welt verkriechen konnte; ich wollte bei Willie schlafen, mit meinen Enkeln spielen und Trost darin finden, in der Werkstatt meiner Freundin Tabra Halsketten zu machen.
Ich hörte, Celia verliere in der Schwangerschaft Gewicht, statt welches zuzulegen, mein Enkel Alejandro gehe schon mit dem Ranzen in den Kindergarten und Andrea müsse an den Augen operiert werden. Meine Enkelin war sehr klein, hatte einen goldenen Flaum auf dem Kopf und schielte zum Gotterbarmen; ihr linkes Auge tat, was es wollte. Sie war zurückhaltend und still, schien immer etwas auszuhecken und hielt sich beim Daumenlutschen an einem Baumwolltuch – ihrem »Tuto« – fest, das sie nie aus der Hand gab. Du hast für Kinder nie etwas übrig gehabt, Paula. Einmal, als du zu Besuch warst und Alejandros Windel wechseln mußtest, gestandst du mir, daß es dich, je mehr du mit deinem Neffen zu tun hattest, desto weniger reizte, Mutter zu sein. Andrea hast du nie kennengelernt, aber in der Nacht, als du starbst, schlief sie zusammen mit ihrem Bruder am Fußende deines Betts.
Im Mai rief mich Willie in New York an mit der Nachricht, daß Jennifer allen wissenschaftlichen Prognosen und den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit zum Trotz ein Mädchen geboren hatte. Die Wehen waren durch eine starke Dosis Rauschgift ausgelöst worden, und Sabrina kam zwei Monate zu früh zur Welt. Jemand hatte einen Krankenwagen gerufen, und der hatte Jennifer in eine katholische Privatklinik gebracht, wo man nie zuvor jemanden in einem solchen Zustand der Vergiftung gesehen hatte. Es war die nächstgelegene Notaufnahme. Das rettete Sabrina das Leben, denn in der staatlichen Klinik des Armenviertels von Oakland, in dem Jennifer wohnte, wäre sie, gezeichnet von den Drogen im Bauch der Mutter, wie Hunderte anderer Kinder sofort nach der Geburt zum Tod verurteilt gewesen; niemand hätte sich lange mit ihr aufgehalten, dieses winzige Persönchen wäre durch das Raster des überforderten Systems öffentlicher Gesundheitsversorgung gerutscht. So aber fingen die geschickten Hände des Stationsarztes sie auf, als sie in diese Welt gespien wurde, und er sollte der erste werden, den der durchdringende Blick der Kleinen bezauberte. »Sie wird schwerlich durchkommen«, urteilte er, nachdem er sie untersucht hatte, war aber bereits von ihren dunklen Augen in Bann geschlagen und ging nach Dienstschluß am Abend nicht nach Hause. Mittlerweile war auch eine Kinderärztin eingetroffen, und gemeinsam verbrachten sie die halbe Nacht neben dem Brutkasten und beratschlagten, wie sie das Neugeborene entgiften könnten, ohne ihm noch mehr zu schaden, und wie es zu ernähren wäre, denn es schluckte nicht. Um die Mutter kümmerten sie sich nicht, sie hatte die Klinik verlassen, kaum daß sie von der Bahre hatte aufstehen können.
Ein dumpfer Schmerz zerriß Jennifers Becken, und sie erinnerte sich nicht genau, was geschehen war, nur an die beängstigende Sirene des Krankenwagens, einen langen Gang mit gleißenden Lichtern und an Gesichter, die ihr Anweisungen zubrüllten. Sie glaubte, daß sie ein Mädchen zur Welt gebracht hatte, konnte aber nicht bleiben, um Genaueres herauszufinden. Man hatte sie zum Ausruhen in ein Zimmer gelegt, nach einer Weile machten sich jedoch die ersten Entzugserscheinungen bemerkbar, sie zitterte vor Übelkeit, war schweißgebadet und fühlte sich am ganzen Körper wie elektrisiert; sie zog sich irgendwie an und stahl sich durch einen Personaleingang davon. Als sie ein paar Tage später von der Geburt etwas erholt und durch Drogen ruhiger geworden war, dachte sie an das Kind, das sie zurückgelassen hatte, und wollte hin, es zu holen, aber es gehörte ihr schon nicht mehr. Die Kinderschutzbehörde hatte sich eingeschaltet, und am Arm des Mädchens war eine Apparatur befestigt, die Alarm auslöste, sobald jemand versuchte, mit ihr das Krankenzimmer zu verlassen.
Ich unterbrach meine Reise in New York und nahm die erste Maschine nach Kalifornien. Willie erwartete mich am Flughafen und fuhr ohne Umweg mit mir in die Klinik; unterwegs erklärte er mir, seine Enkeltochter sei sehr schwach. Jennifer war völlig in ihrer eigenen Hölle gefangen, sie konnte nicht auf sich selbst aufpassen, zu schweigen davon, daß sie sich ihrer Tochter annähme. Sie lebte bei einem Typ, der doppelt so alt war wie sie, seinen Lebensunterhalt mit dubiosen Geschäften verdiente und mehr als einmal hinter Gittern gewesen war. »Bestimmt läßt er Jennifer für sich anschaffen und versorgt sie mit Drogen«, war das erste, was mir dazu einfiel, aber Willie, der viel großherziger ist als ich, war ihm dankbar, daß sie bei ihm wenigstens ein Dach über dem Kopf hatte.
Wir hasteten die Flure der Klinik hinunter bis zu dem Saal, in dem die Frühchen lagen. Die Krankenschwester kannte Willie bereits und deutete mit einem Kopfnicken auf eine kleine Wiege in der Ecke. Es war ein warmer Tag im Mai, als ich Sabrina zum erstenmal in die Arme schloß, ein kleines, in eine Baumwolldecke gewickeltes Paket. Schicht für Schicht öffnete ich das Bündel und fand ganz innen ein Mädchen, zusammengerollt wie eine Schnecke, von den Knien bis zum Hals in einer viel zu großen Windel und mit einer Haube aus Wolle auf dem Kopf. Aus der Windel ragten zwei faltige Beinchen, zwei Ärmchen wie Zahnstocher und ein perfekter Kopf mit feinen Gesichtszügen und großen, mandelförmigen, dunklen Augen, die mir mit kriegerischer Entschlossenheit entgegenblickten. Sie wog nichts, ihre Haut war trocken, sie roch nach Medikamenten, war weich, reine Zuckerwatte. »Sie ist mit offenen Augen zur Welt gekommen«, sagte die Krankenschwester. Sabrina und ich sahen uns lange Minuten hindurch an, lernten uns kennen. Angeblich sind Kinder in diesem Alter ja fast blind, aber sie hatte schon damals diesen konzentrierten Gesichtsausdruck, der sie auch heute noch auszeichnet. Ich streckte einen Finger aus, um ihr über die Wange zu streichen, und ihre winzige Faust schloß sich mit aller Kraft darum. Als ich merkte, daß sie zitterte, hüllte ich sie wieder in die Decke und preßte sie an mich.
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Kind?« fragte eine junge Frau, nachdem sie sich als die Kinderärztin vorgestellt hatte.
»Er ist der Großvater«, sagte ich mit einem Blick auf meinen Mann, der schüchtern an der Tür stand und vor Ergriffenheit keinen Ton herausbrachte.
»Die Untersuchungen zeigen Spuren etlicher Betäubungsmittel im Blutkreislauf der Kleinen. Außerdem ist sie zu früh zur Welt gekommen; ich schätze, im siebten Monat, sie wiegt anderthalb Kilo, und ihr Verdauungsapparat ist nicht vollständig entwickelt.«
»Sollte sie nicht im Brutkasten sein?« fragte Willie vorsichtig.
»Wir haben sie heute herausgeholt, weil ihre Atmung normal ist, aber machen Sie sich keine Hoffnungen. Ich fürchte, ihre Chancen stehen nicht gut …«
»Sie kommt durch!« fiel ihr die Krankenschwester heftig ins Wort, eine majestätische schwarze Frau mit einem Turm aus Zöpfen auf dem Kopf, und dabei entriß sie mir das Kind und begrub es in ihren kräftigen Armen.
»Odilia, bitte!« ermahnte sie die Ärztin, entgeistert über diesen so wenig professionellen Ausbruch.