Der morgendliche Blick durch die Vorhänge zeigt es: Wieder steht das Auto mit den unauffälligen Männern von der Stasi vor der Tür. Die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin aus Ostberlin, weiß sich unter ständiger Beobachtung, in ihrer Wohnung, beim Telefonieren, auf dem Weg zu einer Lesung. Doch am Ende dieses Tages werden sich auch Lücken im System gezeigt haben, die Anlaß zu Hoffnung geben.

»Was bleibt? ... Die Welt, zu der die Welt der Literatur gehört, wäre ärmer ohne Christa Wolf; dies bleibt.« Neue Zürcher Zeitung

Christa Wolf, geboren am 18. März 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), starb am 1. Dezember 2011 in Berlin. Ihr Werk, das im Suhrkamp Verlag erscheint, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Georg-Büchner-Preis und dem Deutschen Bücherpreis für ihr Gesamtwerk. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (st 4275).

Christa Wolf

Was bleibt

Erzählung

Suhrkamp

Die Erstausgabe von Was bleibt erschien 1990 im Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, und zugleich im Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt am Main.

Der Text, der dem 2001 erschienenen Band 10 der von Sonja Hilzinger herausgegebenen Werke in zwölf Bänden folgt, wurde für diese Ausgabe neu durchgesehen und korrigiert.

Umschlagfoto: Helga Paris

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73315-8

www.suhrkamp.de

Nur keine Angst. In jener anderen Sprache, die ich im Ohr, noch nicht auf der Zunge habe, werde ich eines Tages auch darüber reden. Heute, das wußte ich, wäre es noch zu früh. Aber würde ich spüren, wenn es an der Zeit ist? Würde ich meine Sprache je finden? Einmal würde ich alt sein. Und wie würde ich mich dieser Tage dann erinnern? Der Schreck zog etwas in mir zusammen, das sich bei Freude ausdehnt. Wann war ich zuletzt froh gewesen? Das wollte ich jetzt nicht wissen. Wissen wollte ich – es war ein Morgen im März, kühl, grau, auch nicht mehr allzu früh –, wie ich in zehn, zwanzig Jahren an diesen noch frischen, noch nicht abgelebten Tag zurückdenken würde. Alarmiert, als läute in mir eine Glocke Sturm, sprang ich auf und fand mich schon barfuß auf dem schön gemusterten Teppich im Berliner Zimmer, sah mich die Vorhänge zurückreißen, das Fenster zum Hinterhof öffnen, der von überquellenden Mülltonnen und Bauschutt besetzt, aber menschenleer war, wie für immer verlassen von den Kindern mit ihren Fahrrädern und Kofferradios, von den Klempnern und Bauleuten, selbst von Frau G., die später in Kittelschürze und grüner Strickmütze herunterkommen würde, um die Kartons der Samenhandlung, der Parfümerie und des Intershops aus den großen Drahtcontainern zu nehmen, sie platt zu drücken, zu handlichen Ballen zu verschnüren und auf ihrem vierrädrigen Karren zum Altstoffhändler um die Ecke zu bringen. Sie würde laut schimpfen über die Mieter, die ihre leeren Flaschen aus Bequemlichkeit in die Mülltonnen warfen, anstatt sie säuberlich in den bereitgestellten Kisten zu stapeln, über die Spätheimkehrer, die beinahe jede Nacht die vordere Haustür aufbrachen, weil sie immer wieder ihren Schlüssel vergaßen, über die Kommunale Wohnungsverwaltung, die es nicht fertigbrachte, eine Klingelleitung zu legen, am meisten aber über die Betrunkenen aus dem Hotelrestaurant im Nebenhaus, die unverfroren hinter der aufgebrochenen Haustür ihr Wasser abschlugen.

Die kleinen Tricks, die ich mir jeden Morgen erlaubte: ein paar Zeitungen vom Tisch raffen und sie in den Zeitungsständer stecken, Tischdecken im Vorübergehen glattstreichen, Gläser zusammenstellen, ein Lied summen (»Geht nicht, sagten kluge Leute, zweimal zwei ist niemals drei«), wohl wissend, alles, was ich tat, war Vorwand, in Wirklichkeit war ich, wie an der Schnur gezogen, unterwegs zum vorderen Zimmer, zu dem großen Erkerfenster, das auf die Friedrichstraße blickte und durch das zwar keine Morgensonne hereinfiel, denn es war ein sonnenarmes Frühjahr, aber doch Morgenlicht, das ich liebe, und von dem ich mir einen gehörigen Vorrat anlegen wollte, um in finsteren Zeiten davon zu zehren.

Aber das weiß ich doch, daß man durch willentlichen Entschluß keinen Himmelsschatz erwirbt, der sich unter der Hand vermehrt; weiß doch: Alle Nahrung über des Leibes Notdurft hinaus wächst uns zu, ohne daß wir sie Stück um Stück zusammentragen müßten oder dürften, sie sammelt sich von selbst, und ich fürchte ja, alle diese wüsten Tage würden nichts beisteuern zu dieser dauerhaften Wegzehrung und deshalb unaufhaltbar im Strom des Vergessens abtreiben. In heller Angst, in panischer Angst wollte ich mich jetzt an einen dieser dem Untergang geweihten Tage klammern und ihn festhalten, egal, was ich zu fassen kriegen würde, ob er banal sein würde oder schwerwiegend, und ob er sich schnell ergab oder sich sträuben würde bis zuletzt. So stand ich also, wie jeden Morgen, hinter der Gardine, die dazu angebracht worden war, daß ich mich hinter ihr verbergen konnte, und blickte, hoffentlich ungesehen, hinüber zum großen Parkplatz jenseits der Friedrichstraße.

Übrigens standen sie nicht da. Wenn ich recht sah – die Brille hatte ich mir natürlich aufgesetzt –, waren alle Autos in der ersten und auch die in der zweiten Parkreihe leer. Anfangs, zwei Jahre war es her, daran maß ich die Zeit, hatte ich mich ja von den hohen Kopfstützen mancher Kraftfahrzeuge täuschen lassen, hatte sie für Köpfe gehalten und ob ihrer Unbeweglichkeit beklommen bestaunt; nicht, daß mir gar keine Fehler mehr unterliefen, aber über dieses Stadium war ich hinaus. Köpfe sind ungleichmäßig geformt, beweglich, Kopfstützen gleichförmig, abgerundet, steil – ein gewaltiger Unterschied, den ich irgendwann einmal genau beschreiben könnte, in meiner neuen Sprache, die härter sein würde als die, in der ich immer noch denken mußte. Wie hartnäckig die Stimme die Tonhöhe hält, auf die sie sich einmal eingepegelt hat, und welche Anstrengung es kostet, auch nur Nuancen zu ändern. Von den Wörtern gar nicht zu reden, dachte ich, während ich anfing, mich zu duschen – den Wörtern, die, sich beflissen überstürzend, hervorquellen, wenn ich den Mund aufmache, angeschwollen von Überzeugungen, Vorurteilen, Eitelkeit, Zorn, Enttäuschung und Selbstmitleid.

Wissen möchte ich bloß, warum sie gestern bis nach Mitternacht dastanden und heute früh einfach verschwunden sind.

Ich putzte mir die Zähne, kämmte mich, benutzte gedankenlos, doch gewissenhaft verschiedene Sprays, zog mich an, die Sachen von gestern, Hosen, Pullover, ich erwartete keinen Menschen und würde allein sein dürfen, das war die beste Aussicht des Tages. Noch einmal mußte ich schnell zum Fenster laufen, wieder ergebnislos. Eine gewisse Erleichterung war das natürlich auch, sagte ich mir, oder wollte ich etwa behaupten, daß ich auf sie wartete? Möglich, daß ich mich gestern abend lächerlich gemacht hatte; einmal würde es mir wohl peinlich sein, daran zu denken, daß ich mich alle halbe Stunde im dunklen Zimmer zum Fenster vorgetastet und durch den Vorhangspalt gespäht hatte; peinlich, zugegeben. Aber zu welchem Zweck saßen drei junge Herren viele Stunden lang beharrlich in einem weißen Wartburg direkt gegenüber unserem Fenster.

Fragezeichen. Die Zeichensetzung in Zukunft gefälligst ernster nehmen, sagte ich mir. Überhaupt: sich mehr an die harmlosen Übereinkünfte halten. Das ging doch, früher. Wann? Als hinter den Sätzen mehr Ausrufezeichen als Fragezeichen standen? Aber mit simplen Selbstbezichtigungen würde ich diesmal nicht davonkommen. Ich setzte Wasser auf. Das mea culpa überlassen wir mal den Katholiken. Wie auch das pater noster. Lossprechungen sind nicht in Sicht. Weiß, warum in den letzten Tagen ausgerechnet weiß? Warum nicht, wie in den Wochen davor, tomatenrot, stahlblau? Als hätten die Farben irgendeine Bedeutung, oder die verschiedenen Automarken. Als verfolgte der undurchsichtige Plan, nach dem die Fahrzeuge einander ablösten, verschiedene Parklücken in der ersten oder zweiten Autoreihe auf dem Parkplatz besetzten, irgendeinen geheimen Sinn, den ich durch inständiges Bemühen herausfinden könnte; oder als könnte es sich lohnen, darüber nachzudenken, was die Insassen dieser Wagen – zwei, drei kräftige, arbeitsfähige junge Männer in Zivil, die keiner anderen Beschäftigung nachgingen, als im Auto sitzend zu unserem Fenster herüberzublicken – bei uns suchen mochten.

Der Kaffee mußte stark und heiß sein, gefiltert, das Ei nicht zu weich, selbsteingekochte Konfitüre war erwünscht, Schwarzbrot. Luxus! Luxus! dachte ich wie jeden Morgen, als ich das alles beieinanderstehen sah – ein nie sich abnutzendes Schuldgefühl, das uns, die wir den Mangel kennen, einen jeden Genuß durchdringt und erhöht. Die Nachrichten aus dem Westsender (Energiekrise, Hinrichtungen im Iran, Abkommen über die Begrenzung der strategischen Rüstungen: Vergangenheitsthemen!) hörte ich kaum, mein Blick war auf die Eisenstange gefallen, die den zweiten Ausgang unserer Wohnung – jene Tür, die von der Küche über die Hintertreppe zum Hofausgang führt – einbruchsicher verrammelt. Mir fiel ein, in meinem nächtlichen Traum war diese unbenutzte, schmale, verdreckte, mit ausrangierten Möbeln vollgestellte Treppe reinlich gewesen und lebhaft begangen von allerlei dreistem Volk, das ich in meinen Traumgedanken »Gelichter« nannte – ein Wort, das ich diese drahtigen, behenden, lemurenhaften, jeden Schamgefühls baren Männer niemals hören lassen würde, die sich, was ich schon immer so sehr gefürchtet hatte!, durch die todsichere Hintertür Einlaß in unsere Küche verschafft hatten, sich nun auf der Schwelle drängten, sich an die eiserne Stange preßten, die unerschütterlich in ihren Halterungen lag und merkwürdigerweise von jenen Elenden respektiert wurde, die doch leicht unter ihr hätten durchschlüpfen können, statt dessen aber ihre Leiber gegen sie quetschten, während immer neue, von einem mir unsichtbaren Höllenrachen ausgespiene Figuren – ja, sie wirkten wie Pappfiguren, flach – von hinten nachschoben, unglaublich agil und beredt. Was hatten sie eigentlich gesagt. Daß wir uns nur ja nicht stören lassen sollten. Daß wir so tun sollten, als seien sie gar nicht da. Daß es das allerbeste wäre, wir würden sie vollständig vergessen. Sie höhnten nicht, es war ihr Ernst, das erbitterte mich am meisten in meinem Traum. Da man sich einen Traum nicht verbieten, wohl auch nicht vorwerfen kann, lachte ich auf, um mir zu beweisen, daß ich eigentlich schon über den Dingen stand. Das Lachen klang gezwungen.

Keine Angst. Meine andere Sprache, dachte ich, weiter darauf aus, mich zu täuschen, während ich das Geschirr in das Spülbecken stellte, mein Bett machte, ins vordere Zimmer zurückging und endlich am Schreibtisch saß – meine andere Sprache, die in mir zu wachsen begonnen hatte, zu ihrer vollen Ausbildung aber noch nicht gekommen war, würde gelassen das Sichtbare dem Unsichtbaren opfern, würde aufhören, die Gegenstände durch ihr Aussehen zu beschreiben – tomatenrote, weiße Autos, lieber Himmel! – und würde, mehr und