Immer mehr Menschen fragen nach Sinn. Aber warum ist das so? Und was sind die möglichen Antworten darauf? Bestsellerautor Wilhelm Schmid geht von der Beobachtung aus, dass viele Menschen Sinn in der Liebe erfahren, Sinnlosigkeit aber, wenn sie zerbricht. Ist das ein Indiz dafür, wo Sinn zu finden ist? Warum dann aber alles vom Gelingen einer einzigen Liebe abhängig machen? Sollte es die Liebe nicht besser im Plural geben?
Viele mögliche Lieben und ihr Sinnpotenzial rücken in diesem Buch ins Licht: Die Liebe in der Familie und zwischen Freunden, die Liebe zu Tieren und zur Natur, zur Kunst und Kultur, zu Ideen und Dingen, zum Geld, zur Heimat, zum Leben, zum Tod und zu einem möglichen Darüberhinaus, zu Gott. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Feindesliebe: Ist es denkbar, sie vom christlichen Ideal abzulösen und auch der Feindschaft eine Rolle bei der Sinngebung fürs Leben zuzugestehen?
Deutlich wird in diesem Buch, wie vielfältig und abgründig Sinn sein kann. Wer sich fragt, was Sinn ist und was sich im eigenen Leben dafür tun lässt, findet hier eine Fülle von Anregungen.
Wilhelm Schmid, geboren 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Umfangreiche Vortragstätigkeit, seit 2010 auch in China. 2012 wurde ihm der deutsche Meckatzer-Philosophie-Preis für besondere Verdienste bei der Vermittlung von Philosophie verliehen, 2013 der schweizerische Egnér-Preis für sein bisheriges Werk zur Lebenskunst.
Zuletzt sind von ihm erschienen: Vom Glück der Freundschaft (2014), Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden (2014), Unglücklich sein – Eine Ermutigung (2012) und Die Liebe atmen lassen. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen (st 4419).
Dem Leben Sinn geben
Von der Lebenskunst im Umgang
mit Anderen und der Welt
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4570
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
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Umschlagabbildung:
Pablo Picasso, Fleur, Studie zu Le Chant des Fleurs, 1955,
Privatsammlung, © Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2014
Foto: The Bridgeman Art Library
eISBN 978-3-518-73167-3
www.suhrkamp.de
Vorwort
Von der Liebe in der Familie
Ist die Ehe noch zu retten?
Familie als experimentelle Lebensform
Die Liebe zwischen Eltern und Kindern
Liebe und Erziehung:
Anleitung zu einem sinnerfüllten Leben
Geschwisterliebe, Geschwisterhass
Besonderheiten der Liebe zwischen
Großeltern und Enkeln
Und wenn Kinder Liebe entbehren müssen?
Von der Liebe zu Freunden
Von der Bedeutung der Freundschaft
Beste Freundin, bester Freund: Was ist Freundschaft?
Das Glück, das in der Freundschaft zu finden ist
Die Probleme, mit denen die Freundschaft
konfrontiert ist
Kann es eine erotische Freundschaft geben?
Gute Freunde: Kameraden, Kumpel und Kollegen
Menschenliebe, Nächstenliebe und Gastfreundschaft
Von der Liebe zu Feinden
Feindesliebe und Selbstliebe:
Was es heißt, seine Feinde zu lieben
Von der Bewahrung der Feindschaft:
Was Feinde nützen können
Von der Notwendigkeit der Feindschaft:
Bedürfen Menschen des Bösen?
Von den Freuden der Bosheit:
Die Kunst, sich Feinde zu machen
Vom Umgang mit Konflikten:
Rache üben, Rache ist süß
Von der Sinnlosigkeit, siegen zu wollen
Von der Kunst, das Weite zu suchen
Von der Liebe zu Wesen und Dingen, zur Welt
Die Liebe zu Tieren und
ihre Bedeutung für Menschen
Die Liebe zur Natur und das grüne Glück
Die Liebe zu Dingen, materiellen und ideellen
Die Liebe zum Geld. Macht Geld glücklich?
Die Liebe zu Kunst und Kultur
als Element der Lebenskunst
Die Liebe zum Essen und Trinken,
zu Sport, Spiel und Technik
Die Liebe zur Heimat, zur Welt
Von der Liebe zum Leben
und zu einem Darüberhinaus
Liebe zum Leben, zum Schicksal
Die Frage nach dem Sinn und
die möglichen Antworten darauf
Liebe zum Tod, Liebe bis in den Tod
Liebe über den Tod hinaus:
Von einem möglichen Leben nach dem Tod
Was kann Menschen trösten?
Die mögliche Liebe Gottes
und die wirkliche Liebe zu Gott
Leidenschaft und Alltag der Gottesliebe:
Aurelius und Isidor
Zum Autor
Ein paar Schritte nur, der Tag war anstrengend. Tausend Dinge gehen mir noch durch den Kopf, ich kann mich jetzt nicht einfach ins Bett legen. Nicht weit von meiner Wohnung strecke ich mich auf einer Wiese aus, in der grünen Stadt Berlin ist das möglich. Die vielen Lichter trüben den Blick in den Nachthimmel, und doch ist es dieser Blick, der mich beruhigt. Schon als kleiner Junge habe ich ihn geliebt, als mein Vater mir die Sterne zeigte, den Großen Wagen beispielsweise, der immer dort oben steht, als wäre er unverrückbar, obwohl jeder einzelne Stern mit unvorstellbarer Geschwindigkeit auf seiner eigenen Bahn durch die endlose Weite rast. Wer bin ich angesichts dieser Dimensionen? Wer sind wir Menschen?
Wir leben auf einem Planeten, der uns als große, weite Welt erscheint, aber aus der Perspektive der Sterne ist er nur ein verschwindend kleiner Punkt in der unendlichen Schwärze des Alls, wir selbst sind völlig unsichtbar. Das Leben, das jeder Einzelne in dieser Welt, auf der Erde, in diesem Land, an diesem Ort, in seinem persönlichen Alltag lebt, ist für den Gang der Sterne belanglos. Was ist der Sinn unserer Existenz?
Unter den eigenartigen Wesen, die die Evolution auf dem Planeten Erde im Laufe langer Zeiten hervorgebracht hat, erscheint dieses als das eigenartigste: Der Mensch ist ein Wesen, das darüber nachdenkt, was ein Mensch ist, kein anderes Wesen macht so etwas. Endgültige Resultate liegen nicht vor, aber provisorische Auffassungen sind möglich: Ein Mensch ist ein Körper mit all seiner Sinnlichkeit, eine Seele mit gefühlten Energien, ein Geist mit einigem Reichtum an Gedanken. Eine Frage ist stets von Neuem, ob und wie Körper, Seele und Geist zu unterscheiden sind, wann genau das Menschsein beginnt, wann es endet. Nicht jeder Mensch ist fähig zur Reflexion und Selbstreflexion, vielmehr sind Ungeborene, Demente und Menschen mit geistiger Behinderung dazu eingeschränkt oder nur potenziell in der Lage. Aber jeder muss mit sich und seinem Leben irgendwie zurechtkommen, kein Anderer kann ihm dies abnehmen. Jeder lebt auf irgendeine Weise mit Anderen, und sei es auf Distanz, und muss auch diese Herausforderung meistern. Jeder ist in soziale und ökologische Zusammenhänge eingebunden, die er nicht beliebig verändern kann, darüber hinaus in eine kosmische und vielleicht transzendente Welt, die er nicht wirklich durchschaut.
Schon der Blick in die Sterne, den Menschen in allen Kulturen und zu allen Zeiten pflegen, lässt darauf schließen, dass es sie fasziniert, über das hinauszublicken, was vor ihren Füßen liegt, um sich in einem größeren Horizont wahrzunehmen. Es interessiert sie, immer wieder ihre momentane Wirklichkeit zu überschreiten (transcendere im Lateinischen) und ins Offene zu gelangen; seit ihren urzeitlichen Anfängen scheint ihnen das eigen zu sein: In diesem Sinne ist der Mensch von Grund auf ein transzendentes Wesen, jeder einzelne, unabhängig davon, ob er sich in irgendeiner Weise als religiös versteht. Transzendent ist sein Blick, sein Glaube, sein Traum, seine Sehnsucht, seine Hoffnung, seine Vision und Utopie, sogar noch seine Melancholie, dieser diffuse Schmerz über die Begrenztheit des Lebens auf diesem Planeten. Transzendent ist sein Bestreben, Wissen über alle möglichen Zusammenhänge zu gewinnen und sich anstelle ihres Soseins ein Anderssein im Denken vorzustellen, nie nur Wirklichkeit, immer auch Möglichkeiten zu sehen und auf ihre Verwirklichung hinzuarbeiten.
Der Mensch ist überhaupt, so lässt sich sagen, ein Wesen der Möglichkeiten. Mit ihm als Gattung und mit jedem Einzelnen wird eine Möglichkeit des Lebens wirklich. Jeder kann für sich selbst weitere Möglichkeiten finden, erfinden und erproben, und wo er nicht weiterweiß, kann er Versuche anstellen und Experimente wagen. Die gesamte Existenz des Menschen lässt sich als Experiment verstehen, das die Evolution anstellt und das jeder Einzelne noch forcieren kann: »Wir sind Experimente«, meinte schon Nietzsche (Morgenröthe, 1881, 453), »wollen wir es auch sein!« Und welches Experiment bin ich, welches will ich sein? Welche Möglichkeit ist meine eigene, mit der ich zur Welt gekommen bin? Welche Möglichkeiten kann ich selbst entdecken und erkunden? Wie kann ich werden, was ich sein kann?
Gleichförmigkeit ist jedenfalls kein Beitrag zur Evolution. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass der Mensch auch das Wesen ist, das Probleme macht, um sich an ihrer Lösung zu versuchen. Eigentlich hätte er ausreichend mit den Schwierigkeiten zu tun, die ihm die Bedingungen seines Lebens bereiten. Aber immer wieder stellt er haarsträubende Dinge an und überschreitet sämtliche Normen, Formen und Grenzen, vermutlich, um auch auf diese Weise Möglichkeiten des Lebens aufzutun und Unmöglichkeiten kennenzulernen. Für den Blick von außen auf den Menschen tritt diese Eigenart des Einzelnen und der Gattung deutlich hervor: Der Mensch akzeptiert nur Grenzen, die er selbst als solche erfährt, mag er dabei auch bittere Erfahrungen machen. Seinen Eigensinn, die ihm auferlegten und von ihm selbst gesetzten Grenzen stets von Neuem in Frage zu stellen, nennt er Freiheit. Die Epoche ihrer umfangreichsten Verwirklichung nennt er Moderne.
Eigenartigerweise geht der Gewinn von Freiheit jedoch mit einem Verlust von Sinn einher. Dabei scheint der Mensch das Wesen zu sein, das Sinn braucht, um leben zu können. Sinnlos frei, beginnen Menschen erneut nach Sinn zu suchen, und der kosmische Beobachter kann bei genauerem Hinsehen aus ihrer Bewegung auf der Erdoberfläche schließen, wo sie fündig werden: Es scheint das Zueinanderhin zu sein, das Menschen mit Sinn erfüllt, das Voneinanderweg ruft Klagen über Sinnlosigkeit hervor. Wenn das als Indiz gelten kann, dann ergibt sich Sinn daraus, in Beziehung zu sein, sich zu kontaktieren, Handlungen miteinander und aneinander zu vollziehen. Dem Leben Sinn zu geben, erfordert dann, gegen die moderne Zerstörung von Beziehungen anzuleben, Beziehungen jeder Art zu gründen, zu pflegen und zu bewahren: Ein sinnerfülltes Leben ist ein Leben in Beziehung. Vom eisigen Kosmos aus gesehen ist klar, warum: Menschen suchen nach Wärme, und im Austausch und in der Reibung mit Anderen, körperlich, seelisch und geistig, ist sie am ehesten zu finden. Jede Erfahrung von Sinn eröffnet einen Zugang zu Energien, mit denen Menschen erstaunlich viel fühlen und denken, tun und ertragen können.
Ein immenses Potenzial an Sinn und somit Energie bietet das, was Menschen Liebe nennen. Für viele ist sie von solcher Bedeutung, dass sie sich, um nur ja nichts auszulassen, in ein Liebesleben verstricken, das komplizierter und widersprüchlicher kaum sein könnte. Sie suchen nach Liebe und nehmen jede Gelegenheit dazu wahr, fliehen sie wieder und zerstören sie, um sie im Verlust neu schätzen zu lernen und erneut nach ihr zu suchen. Die größte Sinnlosigkeit wird erfahrbar, wenn die Liebe geht und wenn sie fehlt. Auch aus diesem Grund sollte es die Liebe besser im Plural geben, statt alles vom Gelingen einer einzigen Liebe zwischen zweien abhängig zu machen: Viele Lieben sind nötig, um dem Leben Sinn zu geben. Über die Liebe im engeren Sinne hinaus kommen damit viele weitere Beziehungen der Zuwendung und Zuneigung in den Blick: Zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln, Geschwistern, Freunden, Kollegen, »Nächsten« aller Art und sogar Feinden. Und nicht nur Menschen können geliebt werden, sondern auch Tiere und Pflanzen, Dinge der Natur und Kultur, das Leben und die Welt insgesamt und darüber hinaus das, was viele Menschen Gott nennen.
Die Liebe scheint ein durchgängiges Phänomen zu sein: In jeder Einzelliebe wird das gesamte Kontinuum erfahrbar, jeder Teil steht für das Ganze, pars pro toto. Bei allen Arten von Liebe zeigen sich ähnliche Elemente in variablen Arrangements: Meist treibt eine Sehnsucht Menschen um, häufig verbergen sich ganz unterschiedliche Auffassungen unter dem einen Wort »Liebe«, immer prägt Polarität auch wider Willen das gemeinsame Leben zwischen Freude und Ärger, Vertrauen und Misstrauen, Gewissheit und Eifersucht, Treue und Verrat. Hartnäckig halten sich Unterschiede in den Wahrnehmungen von Männern und Frauen, die sich dazu jedoch ungern bekennen wollen. Oft sind mehrere Ebenen der Sinngebung möglich, sinnlich, seelisch, geistig, transzendent, aber selten bewegen die Liebenden sich auf derselben Ebene. Durchweg sind sie mit dem Alltag, mit Fragen von Macht, Recht und Gerechtigkeit konfrontiert, und immer wieder flammt die Angst vor dem Ende der Liebe auf. Jede Liebe, nicht nur die zwischen zweien, eröffnet neue Möglichkeiten, mündet jedoch zum Verdruss aller in eine Wirklichkeit, die den Möglichkeiten nur teilweise entspricht. Sollte aber eine Verwirklichung gescheut werden, kommt auch keine Möglichkeit zum Zug.
Wenn trotz allem der Liebe sehr viel Sinn zu verdanken ist, dann heißt dem Leben Sinn geben von Grund auf, für die Liebe zu leben. Diese Sinngebung ist nicht an eine letzte Klärung der Frage gebunden, ob »das Leben an sich« irgendwelchen Sinn hat. Und sie hängt nicht so sehr von aufwallenden Leidenschaften ab, sondern von einer willentlichen Entscheidung. Das Potenzial des Liebens für die Sinngebung so vollständig wie möglich in den Blick zu bekommen, ist das Anliegen dieses Buches, dem bereits eines über die Liebe zwischen zweien vorausging.1 Beide Bücher sind Teil des Projekts, eine umfassende Kunst des Liebens zu begründen, als deren Basis die Selbstbeziehung und Freundschaft mit sich selbst gelten darf.2 Die Kunst des Liebens als gekonnter Umgang mit sich, mit Anderen und der Welt ist das Grundelement jeder Lebenskunst. Eine Voraussetzung der Kunst aber ist, die Wirklichkeiten und Schwierigkeiten der Liebe möglichst gut zu erfassen, um auch ihre Möglichkeiten besser sehen zu können. Der vorliegende Versuch dazu hat keine letzten Wahrheiten zu verkünden, sondern will dem Einzelnen behilflich sein, diejenige Wahrheit für sich zu finden, die ihm ein sinnerfülltes Leben und Lieben ermöglicht.
Leitend ist dabei die Idee, die Liebe nicht in Auffassungen zu ersticken, die dem Reichtum ihrer Möglichkeiten nicht gerecht werden können. Jede Liebe soll atmen können zwischen einem romantischen Grund, der von intensiven Gefühlen geprägt ist, und einer pragmatischen Anstrengung, die auch mit den Zeiten zurechtkommt, in denen die Gefühle ausbleiben oder ins Negative kippen. Unendlichkeitsgefühle sind mit alltäglichen Endlichkeitserfordernissen in Einklang zu bringen. Gangbare Wege sind zu erkunden zwischen den Hoffnungen auf vertraute Nähe und den Ansprüchen auf persönliche Freiheit, von denen moderne Menschen auch dann nicht lassen wollen, wenn dies eine unromantische Entzweiung zur Folge hat. Für alle, die lieber mit sich allein bleiben, stehen neben der Selbstfreundschaft viele andere Arten von Liebe zur Verfügung, die dem Leben Sinn geben können, die Freundschaft mit Anderen beispielsweise. Wer aber eine besondere Herausforderung sucht, findet sie in alten und neuen Formen des familiären Zusammenlebens, das in Zeiten der Diskontinuität geradezu zum Akt des Widerstands wird, um an einer neuerlichen Kontinuität zu arbeiten. Vielleicht ist mit einer neuen Anstrengung sogar die meistbedrohte Art der Liebe in moderner Zeit zu retten, die Ehe, vorausgesetzt, es interessiert sich noch jemand für ihre Rettung.
Familie ist, wo mehr als einer ist, wenigstens zwei, die zusammenbleiben wollen, gleich welchen Geschlechts und aus welchen Gründen auch immer. Sie fühlen sich zueinander hingezogen, wollen nicht einsam sein, suchen den gedanklichen Austausch, den körperlichen Verkehr, die materielle Absicherung: Nur sie selbst entscheiden, was den Ausschlag gibt. Und nicht nur Paare können Familien sein, mit oder ohne Kinder, sondern ebenso Alleinerziehende und alle, die in Wohngemeinschaften oder sonstwie zusammenleben. Bei einem Paar, das zusammenbleiben will, kann von einer Ehe gesprochen werden, mit einem ausdrücklichen oder unausgesprochenen Ja zueinander, mit oder ohne Trauschein, mit einiger Verbindlichkeit und einigen psychologischen, womöglich auch juristischen Konsequenzen. Mit der offenen oder stillen Bekundung, sich zu vertrauen, wird die Trauung im wörtlichen Sinne vollzogen, unabhängig davon, ob sie rituell ausgeschmückt und formell dokumentiert wird.
Andere fragen sich: Ist es wahre Liebe oder kalte Berechnung? Und nach einer Weile: Lieben sie sich noch? Die Frau haucht ein Yes. Der Mann zieht es vor, philosophisch zu antworten: Whatever love means ... Ihm liegt offenbar an den unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten von Liebe und Ehe, die außer einer gefühlvollen Liebesehe auch eine kalkulierte Vernunftehe zulassen, bei der die Gefühle Dritten gehören können. Diejenigen, die so delikat antworteten, waren Lady Diana und Charles, Prince of Wales. Bereits am Tag ihrer Verlobung, zum Zeitpunkt der Pressekonferenz, auf der es zu dieser Szene kam, waren ihre Differenzen nicht zu überhören. 1981 feierten sie die »Hochzeit des Jahrhunderts«. Zwei Kinder und eine Scheidung später, auf die 1997 der tragische Unfalltod Dianas folgte, legalisierte Charles 2005 dann in einer vergleichsweise bescheidenen Zeremonie seine Beziehung zu der Anderen, Camilla, mit der er schon seit 1971 sämtliche Wirrnisse überstanden hatte. Was beide veranlasste, offizielle Ehen mit Anderen zu schließen, selbst aber eine heimliche Ehe miteinander zu führen, behielten sie für sich. Vielleicht trauten sie ihren Gefühlen nicht, oder sie hielten es für ihre Pflicht, der Vernunft zu folgen, jedenfalls der Vernunft dessen, was ihre Familien für richtig hielten. Nun, nach so langer Zeit, war ihre Liebesehe kein Risiko mehr: Wie sich ein Zusammenleben pragmatisch einrichten lässt, das die Romantik zu bewahren versteht, musste ihnen niemand mehr erklären.
In der Geschichte der Ehe, die eng mit der Menschheitsgeschichte verwoben ist, spielte die formelle Ehe lange keine Rolle. Prägend war vielmehr die in jeder Hinsicht wilde Ehe, eine im Zweifelsfall erzwungene Verbindung zwischen Männern und Frauen ganzer Sippen zum Zweck des Überlebens und der Fortpflanzung, der Suche nach Nahrung und ihrer Zubereitung, der Aufzucht von Kindern und der Absicherung gegen Gefahren. Eine große Rolle spielte womöglich die Erfindung des Kochens mit der darauf folgenden »Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern«: Frauen sammeln und kochen, Männer jagen und beschützen (Richard Wrangham, Feuer fangen. Wie uns das Kochen zum Menschen machte, 2009, 140).
Eine Unterart der wilden Ehe war die Raubehe, die gewaltsame Aneignung von Frauen durch Männer, wie sie in der Erzählung vom »Raub der Sabinerinnen« in der Frühzeit Roms Niederschlag fand und selbst im 21. Jahrhundert noch in manchen Regionen der Welt, etwa in Kirgisien, praktiziert wird. Von der Idee, Regeln für das Zusammenleben der Geschlechter zu formulieren und eine formelle Ehe zu begründen, zeugen erstmals gesetzliche Bestimmungen im babylonischen Codex Hammurabi um 1750 v. Chr., wonach eine Frau per Eheschließung zum Eigentum eines Mannes wird, sowie ägyptische Verträge ab dem 9. Jahrhundert v. Chr., in denen Frauen eigene Rechte zugesprochen werden. Manche Kulturen bewahren Reste archaischer Traditionen in der Form der Polygamie auf, die meist als Vielehe eines Mannes mit mehr als einer Frau verstanden wird. Andere Kulturen mühen sich weiter mit der Monogamie ab, der Einehe zwischen zweien. Beide Varianten sind keine Naturerscheinungen, sondern kulturelle Festlegungen, deren Bewährungsprobe in der Praxis fortdauert (Marie-Luise Schwarz-Schilling, Die Ehe – Seitensprung der Geschichte, 2004).
Außenstehende haben in die Binnenverhältnisse einer Ehe wenig Einblick; umso größer ist die Neugierde, schon in antiker Zeit war das so, auch bei Philosophen: Sokrates gestand, sich Geschichten darüber mit größerer Lust anzuhören, »als wenn du von dem besten Zweikampf oder dem schönsten Reitturnier erzählen wolltest« (Xenophon, Oikonomikos, VI, 9 ff.). Xenophons Darstellung eines Gesprächs über die Ehe, das Sokrates geführt haben soll, stammt aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. und ist ein Beleg für die frühe Unzufriedenheit mit der Realität der Ehe zwischen zweien: Männer vergnügten sich oft mit ihresgleichen und mit Knaben, auch mit Hetären (Freundinnen, Geliebten) und Dirnen.
Schon im 7./6. Jahrhundert v. Chr. hatte Solon die Männer in Athen per Gesetz darauf verpflichtet, wenigstens dreimal im Monat sexuelle Beziehungen zur eigenen Ehefrau zu unterhalten. Sokrates unternimmt nun erstmals den Versuch, eine philosophische Idee der Ehe zu entwickeln, um ihrer Realität neue Impulse zu geben. Er erörtert mit seinen Gesprächspartnern die Frage, wie Eheleute miteinander umgehen sollten, damit die Frauen nicht länger »wie Mägde« behandelt werden und sie umgekehrt ihren Männern keinen »großen Schaden« mehr verursachen. Ein besonderes Vertrauensverhältnis sollten beide zueinander unterhalten, die notwendigen Arbeiten (Hausarbeit, Feldarbeit, politische Arbeit) untereinander aufteilen, bei aller Kooperation auch miteinander konkurrieren, nämlich um das jeweils beste Können, die Exzellenz (arete).
Sokrates konnte seiner eigenen Ehe mit Xanthippe damit wohl nicht weiterhelfen, aber die Grundidee blieb fortan im Spiel, nämlich mithilfe von Reflexion immer wieder die Realität der Ehe zu durchbrechen und sich zu fragen: Ist es das, was wir uns vorgestellt haben? Wer hat überhaupt welche Vorstellung? Welche andere Vorstellung ist möglich? Wie ist sie zu realisieren? Die Ehe individuell reflektieren und definieren zu können, eröffnet Möglichkeiten über die natürlichen Bedingungen und kulturellen Konventionen hinaus. Auch wenn Natur und Kultur ihre Bedeutung nie verlieren, kann von nun an eine bestehende Definition in Frage gestellt und eine Veränderung zum Besseren angestrebt werden. Die ideale Vorstellung nimmt Einfluss auf die reale Rollenverteilung: Lange nach Sokrates präsentiert ein weiterer Philosoph, Plutarch, im 1. Jahrhundert n. Chr. in seiner Schrift Erotikos die revolutionäre Idee einer Ehe, die auf charis, Freude und Wohlwollen, beruht. Anders als Sokrates konnte er mit seiner Frau ein solches Verständnis der Ehe wohl auch verwirklichen, in der außerdem das erotische Begehren mitsamt Befriedigung beheimatet sein kann, denn »Eros ohne Aphrodite ist wie ein Rausch ohne Wein« (Moralia, 752 b; Auswahlband Die Kunst zu leben, 2000).
Just zur selben Zeit gewinnt die christliche Idee der Ehe Konturen, die auf ihre Weise eine stärkere Einbindung der Lüste erreichen will, wenngleich mit ganz anderer Begründung: Jeder Mann solle eine Ehefrau, jede Frau einen Ehemann haben, um »Unzuchtsünden zu vermeiden«, formuliert Paulus im ersten Korintherbrief. Grundsätzlich tue ein Mann gut daran, keine Frau zu berühren; aber wenn ihm die Kraft zur Enthaltsamkeit fehle, solle er lieber heiraten. Und um keine Zweifel über die innerehelichen Verhältnisse aufkommen zu lassen, stellt Paulus im Epheserbrief klar, dass jeder Mann seine Frau genauso liebhaben solle wie sich selbst, »die Frau aber fürchte den Mann«.
Die Ausführungsbestimmungen dazu entwirft der Kirchenvater Clemens von Alexandrien im 2. Jahrhundert n. Chr. in seinem viel gelesenen Buch Paidagogos, in dem er zugesteht, dass beide Geschlechter Kinder Gottes seien. Bei der Frau aber, der Nachfolgerin der Eva, die Adam verführte, müsse »schon das Bewusstsein des eigenen Wesens Schamgefühl hervorrufen«. Den ehelichen Akt zu vollziehen, sei legitim, aber nur »auf geordnete Weise« (kosmios, II, 33, 5), um eine »Enthüllung des Körpers« und »sinnlose Töne« zu vermeiden. Es sei kein Problem, die an der körperlichen Vereinigung (synousia) beteiligten Glieder beim Namen zu nennen, die zwar des Schamgefühls würdig, aber »keine Schande« seien. Hässlich sei allein der unsachgemäße Gebrauch der Glieder, der den Samen auf »naturwidrige Wege« bringe.
Im Laufe der Geschichte machten sich jedoch in der Christenheit selbst wieder Zustände der wilden Ehe breit, im Klerus wurde die geforderte Ehelosigkeit vom Dorfpfarrer bis zum Papst untergraben (Ludwig Schmugge, Ehen vor Gericht. Paare der Renaissance vor dem Papst, 2008). Ein Anliegen der Reformation im 16. Jahrhundert war folgerichtig die Reformulierung der christlichen Idee der Ehe: Martin Luther sah ihren gottgegebenen Zweck weiterhin in der Zeugung, legitimierte aber das Gefühl der Liebe als Grund der Ehe gegen die von Eltern arrangierte Zwangsehe (Vom ehelichen Leben, 1522). Für die neuzeitliche Idee der Ehe spielten Gefühle dennoch keine tragende Rolle: Die standesgemäße Vernunftehe diente neben der Fortpflanzung der materiellen Absicherung und dem sozialen Aufstieg der Ehepartner, der Wahrung und Mehrung ihres Besitzstandes. Zeugungsakte waren Pflicht, bahnte sich aber in den oft freudlosen Ehen das sexuelle Begehren des Mannes andere Wege, durfte er in der sozialen Umwelt auf eine Nachsicht hoffen, die seiner Frau nicht zuteilwurde. Für weitere Jahrhunderte war die Ehe keine selbstbestimmte Angelegenheit der Beteiligten, sondern eine fremdbestimmte der familiären Heiratspolitik, kirchlich als »Wille Gottes« abgesegnet.
Dermaßen weltlich war diese Beziehung, dass konsequenterweise die Idee entstand, sie von religiösen Bezügen gänzlich abzulösen. Auf die entsprechende Diskussion über die Ehe als bürgerlicher Rechtsform, die keiner kirchlichen Legitimation mehr bedarf, bezog sich Immanuel Kants folgenreicher Aufsatz von 1784, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«. Weit über den unmittelbaren Anlass hinaus forderte Kant jeden und jede (»das ganze schöne Geschlecht«) zur Eigenverantwortung auf: Niemand solle sich weiterhin auf das berufen, was Seelsorger und Andere für richtig halten. Einen Beitrag zur Aufklärung der besonderen Art leistete auch seine berühmt-berüchtigte Definition der Ehe als Verbindung zweier Personen »zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften« (Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 24). Mit den Geschlechtseigenschaften war nicht zuletzt die Sexualität gemeint, für die ausgerechnet Kant, der Junggeselle, ungewöhnlich für seine Zeit, auf Wechselseitigkeit pochte, unter mutmaßlich bewusstem Verzicht auf den üblichen Zusatz der christlichen Tradition, dass dies nur »zum Zweck der Zeugung« geschehen dürfe.
Eine ausgearbeitete, aufgeklärte Idee der Ehe vertritt zu dieser Zeit Adolph Freiherr Knigge in seinem 1788 erstmals erschienenen, viele Male neu aufgelegten Buch Über den Umgang mit Menschen (Zweiter Teil, Kapitel 3): Die Ehe ist in seinen Augen eine Beziehung der freien Wahl, zu der junge Menschen zwar mangels Erfahrung weniger gut gerüstet seien, aber eher fähig, sich einander anzupassen. Der Mann bleibt fraglos das »Haupt«, schwerer als die bloße Pflichterfüllung wiegt jetzt jedoch die Idee des Lustgewinns: Das »Glück der Ehe« bestehe darin, sich wechselseitig »das Leben süß und leicht zu machen«. Unterschiede in Temperament, Neigung, Denkweise, Fähigkeit und Geschmack könnten, wenn sie nicht allzu groß würden, sogar »mehr Glück gewähren«.
Um im alltäglichen Umgang nicht gleichgültig gegeneinander zu werden, sei es wichtig, immer neue Mittel gegen »Ekel und Abneigung« zu erfinden, bei aller Vertraulichkeit auch die Höflichkeit nicht zu vergessen und sich äußerlich nicht gehen zu lassen, ja, alles zu vermeiden, was den Anderen »zurückscheuchen könnte«. Nie solle man sich auf das Versprechen am Altar verlassen, vielmehr sich Achtung und Zuneigung des Anderen immer neu verdienen, am besten dadurch, »dass Du alle Kräfte aufbietest, besser zu sein als andre!« (sic!). Neuen Reiz erhält die Gemeinsamkeit durch »kleine Abwesenheiten, Reisen in Geschäften und dergleichen«. Zartfühlend spricht Knigge das Problem an, dass einer in der Ehe manchmal »die Vorzüge andrer Leute sehr lebhaft fühlen« könne. Die Versuchung sei groß, die Rückkehr früher oder später jedoch »süß«. Auch das Respektieren von Geheimnissen gehöre zur guten Ehe, statt dem je Anderen misstrauisch hinterherzuforschen. Freundschaften sollten nach der Eheschließung weiter bestehen: Nichts sei »läppischer«, meint Knigge, als wenn Eheleute glaubten, nur noch füreinander da sein zu dürfen und für Freunde »tot« sein zu müssen. Sollten Schwierigkeiten entstehen, sind Freunde wichtig, um bei ihnen neue Kraft sammeln zu können. Um welche Freunde es sich dabei handle, müsse jedem selbst überlassen bleiben.
Parallel zu diesen Gedanken entwickeln junge Menschen zudem die romantische Idee der Ehe. Die Frühromantiker verabscheuen die lieblose Vernunftehe nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Was Friedrich Schlegel im Roman Lucinde von 1799 entwirft, verwirklicht er selbst in der neuen Form einer wilden Ehe, einer Ehe ohne Trauschein, mit der noch anderweitig verheirateten Dorothea Veit, Tochter von Fromet und Moses Mendelssohn. Das ist nun endlich eine Beziehung wie ein Sommernachtstraum – dieses Stück William Shakespeares verehren die Romantiker nicht von ungefähr am meisten. Um der bürgerlichen Vernunftehe zu widersprechen, gehen Bettine Brentano und Achim von Arnim eine romantische Liebesehe ein, die sie auch formell besiegeln.
Historisch gesehen handelt es sich hier im Wortsinne um eine Perversion, eine Verkehrung der Verhältnisse: Gefühlt wurde traditionell außerehelich, allenfalls in Ausnahmefällen wurde den Gefühlen, erst recht den leidenschaftlichen Gefühlen, die eheliche Bindung anvertraut. In Gefühlen den wichtigsten Grund für ein gemeinsames Leben zu sehen, avanciert im Laufe der Moderne jedoch zum Inbegriff der Ehe mit und ohne Trauschein, ein Experiment mit Folgen: »Wo die Ehe sich wandelt, wo aus der Arbeitsgemeinschaft die Gefühlsgemeinschaft entsteht, da werden die Gefühle zur Arbeit« (Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 1990, 132). Und wo die Gefühle so grundlegend sind, wird ihr Schwinden zum Anlass für die Auflösung der Beziehung. Arien von Treueschwüren lösen sich fortan mit Orgien von Enttäuschungen ab, und glühend wie der Glaube an die Liebe lodert der Hass auf, wenn sie zerbricht. Bestand die Tragik der Ehe einst darin, dass nicht zueinander durfte, was zueinander gehörte, so nun darin, dass die, die zueinander gehören, es im praktischen Leben nicht miteinander aushalten. Da sie die Beziehung selbst wählten, müssen sie aber die Folgen, die einst dem Schicksal, den Eltern und Gott zuzuschreiben waren, auch selbst verantworten.
Die romantische Idee der Ehe, die auf eine Gefühlsbindung setzt, steht in scharfem Kontrast zur Realität der Ehe in moderner Zeit, in der die Gefühle häufig abhandenkommen. Zerbrach in vormoderner Zeit das Gefühl an der Norm, die Vorrang hatte, so in moderner Zeit die Norm am Gefühl, das kommt und geht, wie es will. Wie eine Beschwörung klingt, was der Soziologe Georg Simmel 1908 über »Die Gesellschaft zu zweien« sagt: »Was auch die Ehe sein mag, sie ist immer und überall mehr als der sexuelle Verkehr« (Individualismus der modernen Zeit, Sammelband, 2008, 157). In der Realität aber ist sie oft weniger, kenntlich an deprimierten Frauen, die in der Abspeisung ihrer Männer mit Essen und Sex keine Erfüllung finden, und deprimierten Männern, die im Zwang zur materiellen Versorgung ihrer Familien keinen Lebenszweck sehen (Caroline Arni, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, 2004). Während Männer sich, wenn möglich, in außereheliche Beziehungen flüchten, haben Frauen dazu weniger Gelegenheit: Selbst im 20. Jahrhundert sind sie noch lange ans Haus gebunden, die Ehe wird für sie zur Endstation Sehnsucht, ungeschönt dargestellt im 1947 uraufgeführten, 1951 verfilmten Drama A Streetcar Named Desire von Tennessee Williams.
Aus guten Gründen wird der Prozess der fortschreitenden Moderne von immer neuen Aufständen gegen die Ehe begleitet, von der Lebensreformbewegung des Monte Veritá bis zur Bewegung der sexuellen Befreiung und darüber hinaus. Die augenblickliche Aufwallung der Gefühle erscheint auch dann, wenn sie nicht vorhält, weit attraktiver als die eheliche »Pflicht zur Lebensgemeinschaft«. Die lustvoll gelebte Sexualität steht gegen die lustlose Erfüllung »ehelicher Pflichten«. In die freie Liebe soll sich keine Kirche, kein Staat, keine Gesellschaft mehr einmischen. Zusammengekommen aufgrund freier Wahl, hält moderne Individuen nichts mehr davon ab, sich jederzeit auch wieder voneinander zu befreien, sobald ihnen danach zumute ist. Freiheit ist, den Anderen wieder los zu sein, mit dem man mal so innig verbunden war. Die bürgerliche Gesetzgebung gibt schließlich nach und ermöglicht für die formelle Ehe die Abwahl so rasch wie die Wahl, nichts leichter als sich zu trennen, und so trennen sich zwei auch weit eher voneinander als von ihrer romantischen Idee der Ehe.
Ist die Ehe also zu einer sinnlosen Institution geworden? Kann sie »mit einem neuen Sinn versehen werden« (Marie-Odile Métral, Die Ehe – Analyse einer Institution, 1981, 19)? Niemand bedarf noch einer Ehe, um auf staatlich anerkannte Weise sein Begehren zu bändigen. Niemand muss heiraten, um vorzeitige Früchte der Liebe zu legitimieren. Der Sinn der Ehe ist nicht mehr aus früheren Vorgaben zu beziehen, vielmehr wird es zur Aufgabe der Beteiligten selbst, ihr Sinn zu geben, mit ihr wiederum dem Leben: Beispielsweise, um im Anderssein, das einer für den Anderen ist, eine größere Spannweite des Lebens zu erfahren, sich wechselseitig eine Ressource, eine immer neue Quelle von Kraft zu sein, ein Schutz, um mit den Stärken des Einen die Schwächen des Anderen abzuschirmen, ein Ansporn, um sich weiterzuentwickeln und Dinge gemeinsam zu verwirklichen, ein Ärgernis, um negative Energien beieinander loszuwerden, ein Anlass zu Auseinandersetzungen, die den eigenen Kern berühren und ihn damit spürbar machen, eine frei gewählte Schicksalsgemeinschaft, um den Weg durchs Leben nicht allein zu gehen. Sogar der Spötter Honoré de Balzac sah in dem Vorgang, dass zwei Wesen sich zusammentun, um gemeinsam die Schwierigkeiten des Lebens zu bewältigen, »etwas Rührendes« (Physiologie der Ehe, 1829, »Der Gegenstand«).
Lange Zeit in der Geschichte war in Form von Normen vorgegeben, was Ehe ist. Nie in der Geschichte mussten Menschen lernen, sich individuell selbst Formen zu geben, etwa mit einer Ethik der Ehe, um selbst die Werte festzulegen, an denen sie ihre Lebensführung orientieren können, und mit einer ehelichen Lebenskunst sie auch zu realisieren. In der Zeit ihrer größten Gefährdung wird die Ehe endgültig zur gewagten Lebensform, zum Experiment, befreit von Vorgaben der Religion (wie Gott es den Menschen befiehlt), der Tradition (wie es immer schon gemacht worden ist), der Konvention (wie alle es machen), und der Natur (die den Menschen die Fortpflanzung auferlegt hat).
Eine andersmoderne Idee der Ehe kann sich daran versuchen, Romantik und Pragmatik besser miteinander zu vereinbaren, um romantische Vorstellungen und die Realität der Ehe nicht weiter auseinanderdriften zu lassen. Das Experiment einer pragmatischen Romantik bedeutet für die Lebensform der Ehe, auf gefühlvolle Anteile nicht zu verzichten, aber die Einrichtung des Lebens, auf die es im Alltag ankommt, eher der nüchternen Überlegung anzuvertrauen. Weiterhin können die Beteiligten darauf hören, was ihre Gefühle sagen, aber sie können sich mit nüchternen Überlegungen von vornherein auch um eine stabilere Basis bemühen, für den Fall, dass ihre Gefühle ins Wanken geraten. Was Vernunftehe war und zur Liebesehe wurde, kann zur vernünftigen Liebesehe werden, die auf die wiederkehrenden alltäglichen Fragen zwischen zweien (Geldfrage, Sexfrage, Sockenfrage, Machtfrage) und die ewige Unruhe über eine gerechte Verteilung von Gütern und Lasten mit pragmatischen Lösungen zu antworten sucht. Die Romantik ist der Reiz der Ehe, der nicht verlorengehen soll, aber die Pragmatik sichert die Voraussetzungen dafür und verleiht dem freieren Zusammensein festere Formen. Sie stellt den äußeren Rahmen bereit, der den romantischen Inhalt erst ermöglicht, der wiederum dafür sorgt, dass die pragmatische Bewältigung des Lebens nicht nur ein leeres Getriebe bleibt.
Bei allen Befreiungen stand einem praktikablen Umgang mit der Freiheit die romantische Idee im Weg, alle endlichen Probleme mit der unendlichen Kraft der Gefühle lösen zu können. Das aber hat sich in der Praxis nicht bewahrheitet, sodass es darauf ankommt, ein eigenes Können dafür zu entwickeln, nicht nur mit den Segnungen, sondern auch mit den Schwierigkeiten der Freiheit zurechtzukommen. Das kann heißen, schon auf dem Weg zur Liebe nüchterner als zu romantischen Zeiten den passenden Anderen zu suchen, vielleicht unterstützt von Internet-Partnerbörsen, um Erwartungen aneinander vorweg elektronisch abzugleichen. Das mag nicht sehr romantisch sein, kann sich in der Praxis aber dazu eignen, mit größerer Wahrscheinlichkeit die Richtige, den Richtigen zu finden. Antworten auf neuralgische Fragen wie die, ob der Andere sich Kinder wünscht, müssen nicht mehr in einem jahrelangen Prozess erst sondiert werden, um irgendwann einsehen zu müssen, dass nichts zusammengeht. Letztlich sind allerdings so viele Gründe und Motive an der Entscheidung beteiligt, dass eine aufrichtige Antwort auf die verfänglich einfache Frage bei der formellen Eheschließung, »Ist es Ihr freier Wille?«, eigentlich etwas umfangreicher ausfallen müsste.
Mehr als je zuvor können Menschen in einer anderen Moderne sich daranmachen, die möglichen Formen der Ehe zu erkunden. Gefragt sind Ideen, sodann aber deren Erprobung, denn nur in der Praxis zeigen sich ihre Stärken und Schwächen. Auch aus einem Scheitern ist viel zu lernen über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Lebens und der Liebe und des eigenen Selbst im Umgang mit Anderen. Nur experimentell können Menschen ihre besondere Form der Ehe finden, auch aus anderen Arten von Beziehung können sie hierfür Elemente übernehmen, die ihnen brauchbar erscheinen, um die Ehe möglichst tief atmen zu lassen zwischen Gemeinsamkeiten und der immer neuen Besinnung des Einzelnen auf sich selbst, widersprüchlichen Gefühlen und wechselnden Phasen einer aufflammenden Leidenschaft, ruhigeren Freundschaft, nüchternen Kooperation und gelegentlichen Konfrontation.
Eine Möglichkeit in zugespitzter Form bleibt weiterhin die leidenschaftliche Ehe mit den Licht- und Schattenseiten heftiger Gefühle, wie sie Clara und Robert Schumann in ihrer romantischen Künstlerehe durchlebten. Sollte es einen »unabwendbaren Konflikt zwischen Leidenschaft und Ehe« geben (Denis de Rougemont, Die Liebe und das Abendland, 1939, deutsch 1966, Vorwort), muss das dennoch niemanden davon abhalten, sich an einer solchen Liaison zu versuchen und ein Scheitern billigend in Kauf zu nehmen; wertvoll sind die Erfahrungen in jedem Fall. Unvereinbar ist die Ehe wohl nur mit der Vollzeitleidenschaft, deren Energieniveau nicht durchzuhalten ist, leicht vereinbar aber mit der Teilzeitleidenschaft, die phasenweise gelebt werden kann. Sie erlaubt das Leben damit, dass die Leidenschaft pausiert, wenn Alltag vorherrscht, und wieder aufflammt, wenn ihr Gelegenheit dazu gegeben wird. Sie ist der schönste Grund des Zusammenseins, aber im Alltag drängen andere Dinge sich vor, Unzulänglichkeiten und unaufhebbare Widersprüche, die besser von vornherein mit einbezogen werden, statt unaufhörlich an dieser Störung der Harmonie zu verzweifeln.
In andersmoderner Zeit könnte die freundschaftliche Ehe an Bedeutung gewinnen, in der gemäßigte Gefühle den Verzicht darauf erleichtern, den Anderen zu sehr einzuhegen. Freiheit und Bindung können eine glücklichere Verbindung miteinander eingehen, Auszeiten der Gefühle lassen sich besser überstehen. Möglich ist außerdem die kollegiale Ehe, die nüchterne Partnerschaft auf der Basis eines wechselseitigen Mögens, mit einer guten Zusammenarbeit wie unter Kollegen am Arbeitsplatz. Und diese verschiedenen Arten von Ehe können auf unterschiedliche Weise experimentell variiert werden: Eine Variante bleibt die konventionelle Ehe mit flexibler oder immer noch traditioneller Rollenverteilung, für die in frühromantischer Zeit die Verbindung Friedrich Schleiermachers mit der zwei Jahrzehnte jüngeren Henriette von Willich Pate stand.
Eine zweite Variante, die in geschwätziger Zeit an Reiz gewinnt, ist die stumme Ehe, das Zusammenleben in schweigsamer Form, wenn zwei das wollen: Der Musiker Frank Zappa, bis zu seinem Tod 1993 verheiratet mit Gail Zappa, mit der er vier Kinder hatte, soll auf die Frage, was seine Ehe so haltbar mache, lapidar geantwortet haben, das liege daran, »dass wir praktisch nie miteinander reden«. Eine beinahe schon konventionell gewordene dritte Variante ist die offene Ehe, offen für Zusatzbeziehungen, die den Kern der Ehe nicht antasten, ähnlich dem »Liebespakt«, den Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir schlossen. Eine vierte Variante in übersexualisierter Zeit ist die keusche Ehe, der Verzicht auf jede Sexualität, wie Lou Andreas-Salomé und Friedrich Carl Andreas dies praktizierten. Eine fünfte Variante könnte die anderskeusche Ehe sein, der willentliche Verzicht auf Andere, wenn bei dem Einen schon sexuelle Befriedigung zu finden ist; überschüssige Energien lassen sich umso mehr in Arbeit und Kunst investieren, Paul Klee machte davon Gebrauch: »Die Ehe faßte ich als sexuelle Kur auf« (Tagebücher, Eintrag Nr. 958 von 1915).
Der leidenschaftlichen, freundschaftlichen und kollegialen Ehe mit ihren Varianten stehen andere Arten gegenüber: Spätmoderne Menschen bevorzugen zuweilen die funktionale Ehe, eine Vertragsehe als verschärfte Form der Vernunftehe, um Abmachungen in Rechtsform zu gießen, Rollen festzuschreiben und bei der irgendwann anstehenden Trennung Streit zu vermeiden; auch die »Scheinehe« hat hier ihren Platz. Manche versuchen vor ihrem Tod noch, dem verbleibenden Partner Rentenansprüche zu sichern; bei einer Ehedauer von weniger als einem Jahr gilt diese Verbindung aber zumindest in Deutschland als »Versorgungsehe«, die nicht zählt.
Von einer beständigen Konfrontation zeugt die streitbare Kampfehe, wie Sofja Behrs und Lew Tolstoi sie vorführten (Eine Ehe in Briefen, 2010), Jahrzehnte später auch Liz Taylor und Richard Burton, nicht etwa nur im Film Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (Regie Mike Nichols, USA 1966, nach einem Bühnenstück von Edward Albee). In einer solchen Ehe wird der Streit zum Lebenselixier, wohl als notwendiger Gegenpol zu einer starken erotischen Anziehung. In der Mobbingehe wiederum wird der einseitige oder wechselseitige Ausschluss des je Anderen aus dem eigenen Leben bereits im Verlauf des Ehelebens selbst realisiert.
Den Verhältnissen des 21. Jahrhunderts kann aber wohl vor allem eine Ehe auf Distanz Rechnung tragen, mit einer gefühlten Gemeinsamkeit in realer Getrenntheit, mit leidenschaftlichen, freundschaftlichen, kollegialen, funktionalen oder streitbaren Komponenten. Das kann in der virtuellen Form der Tele-Ehe geschehen, einer Fernverbindung, die sich der jeweils aktuellen Medien der Telekommunikation bedient – eine Aktualisierung der einstigen Briefehe mit gelegentlichen persönlichen Begegnungen, wie sie Rainer Maria Rilke und Clara Westhoff, auch Anton Tschechow und Olga Knipper (Mein ferner lieber Mensch, Liebesbriefe, 1998) im frühen 20. Jahrhundert pflegten. Denkbar wäre ebenso eine Leoparden-Ehe, benannt nach den edlen Einzelgängern im Tierreich, die sich zwar selten aufsuchen, dann aber ausgiebig paaren, in drei Tagen bis zu hundertmal, bevor sie wieder ihrer Wege gehen. Die Distanz würde auch eine Anbetungsehe möglich machen, bei der einer den Anderen verklärt.
Eine Möglichkeit wäre darüber hinaus die Ehe auf Zeit, die nicht nur eine »Genussehe« gegen Geld wäre, wie sie im Iran geläufig ist und eine Stunde oder auch Jahre dauert (Im Bazar der Geschlechter, Regie Sudabeh Mortezai, Österreich/Iran 2010). Die Zeitehe brächte reizvolle Bedingungen mit sich, denn bevor das Verfallsdatum wirksam werden würde, müssten gegebenenfalls Anstrengungen zur Verlängerung und Erneuerung unternommen werden. Das könnte die Beziehungspflege intensivieren, die Trennungsquote würde wohl kaum höher ausfallen als bei der Festlegung auf Lebenszeit. Sorge wäre dafür zu tragen, wie bei allen Trennungen, dass derjenige, der für den Anderen und gemeinsame Kinder eigene Vorhaben zurückstellt, keine materiellen Nachteile davonträgt. Eine freie Vereinbarung dieser Art ist jederzeit möglich, wünschenswert wäre jedoch auch eine gesetzliche Basis als Alternative zur Ehe auf unbestimmte Zeit. »Gebt uns eine Frist und kleine Ehe, dass wir zusehn, ob wir zur grossen Ehe taugen!« So sprach schon Friedrich Nietzsche in Also sprach Zarathustra (»Von alten und neuen Tafeln«, 24, sic!), denn: »Es ist ein grosses Ding, immer zu Zwein sein!«
Nie sollte dabei in Vergessenheit geraten, was Novalis für die Grundlage jeder Ehe hielt: Die Ehe mit sich selbst. »Nur insofern der Mensch also mit sich selbst eine glückliche Ehe führt – und eine schöne Familie ausmacht, ist er überhaupt Ehe und Familienfähig« (sic!, Novalis, Über die Liebe, Sammelband, 2001, 55 f.). Manche nehmen das wörtlich: Chen Wei Yi, Angestellte in Taiwan, gab sich Presseberichten zufolge 2010 vor einer Festversammlung selbst das Jawort, nachdem sie in erster Ehe lange mit ihrem Büro verheiratet war.
Eine gute Beziehung zu sich erleichtert auch in der Beziehung zu Anderen die Atmung zwischen einer großen Nähe mit frivoler Sinnlichkeit, starken Gefühlen und spannenden Gesprächen sowie einer erholsamen Distanz, in der jeder seinem eigenen Leben nachgehen kann. Die bejahende Selbstbeziehung kann ihrerseits leidenschaftlich sein, wenngleich sich dabei die Frage aufdrängt, wo da noch Platz für Andere bleibt. Sie kann freundschaftlich sein, sodass das Selbst sich aus ruhiger Selbstgewissheit heraus offenhalten kann für Andere. Und sie kann kollegial sein, ein einfaches Mögen seiner selbst, sodass auch Andere gemocht werden können. Wenn jeder in einer Beziehung gut mit sich selbst umgehen kann, muss keiner danach suchen, mit einem Anderen gänzlich zu verschmelzen, wie dies die romantische Idee des »Einsseins« vorsieht. Jeder kann ein Leben für sich behalten und steht für den Fall, dass die Beziehung schwierig oder unmöglich werden sollte, nicht im Nichts. Wenn aber alles nur noch gemeinsam erlebt werden darf, haben zwei sich bald nichts mehr zu sagen.
Wer eine große Herausforderung im Leben sucht, ist mit der Ehe gut bedient. In jeder Form, in der sie eingegangen wird, ist sie ein ontologischer Übergang von einer Weise des Seins (griechisch on) zu einer anderen, ein Übergang zunächst von der begrenzten Wirklichkeit des Selbst zu den vielfältigen Möglichkeiten des Lebens mit dem Anderen, sodann zurück von diesen Möglichkeiten zur begrenzten Wirklichkeit mit diesem Menschen. Der erste Übergang wird besiegelt vom Ritual der Eheschließung, das nicht selten etwas über den zweiten Übergang verrät: Je pompöser der Auftakt, desto größer die Gefahr des Scheiterns. Da muss womöglich etwas beschworen werden, dessen sich die Beteiligten nicht so ganz sicher sind. Zweifel sind zu überwinden, in der Hoffnung, mit dem festlichen Auftakt sei das Wesentliche schon getan. In himmlische Höhen werden die Erwartungen geschraubt, aber Ehen werden nicht nur im Himmel geschlossen, sondern dort auch geschieden, spottete schon Oscar Wilde (Ernst sein ist allessic!Also sprach Zarathustra