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Dieter Bauer

Johannes Bertholdys Weg über den Eisernen Steg

Roman

© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2013

Alle Rechte vorbehalten

Konzept Design

Gottschalk+Ash Int’l

Umschlaggestaltung

Julia Borgwardt, borgwardt design

© Foto: Amelie von Oppen / cognosco.de

Foto Dieter Bauer

© Michael Utz

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

image isbn 978-3-86337-058-9

weissbooks.com

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Dieter Bauer

Johannes Bertholdys Weg über den Eisernen Steg
Roman

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Die wichtigsten Personen dieses Romans sind:

Johannes Bertholdy Vorsitzender h.c. des »Quintette amical«. Hoteldetektiv des »Grand Hotel« in Frankfurt, engagierter Gourmet und Amateurkoch. Zu später Stunde gerät er auf dem Eisernen Steg in eine Schießerei, die einige Spuren in seinem Leben hinterlässt.

Lydia Haffner Generalgouvernante im »Grand Hotel«, Bertholdy als leidenschaftliche Köchin in vielerlei Hinsicht verbunden, einem anderen aber leider auch.

Andreas Seibold Bertholdys ehemaliger Freund, ein Mann mit wechselnden Frauen, Berufen, Wohnorten und ungeklärten Familienverhältnissen.

Klara Seibold Andreas Mutter, eine schwer einzuordnende Dame aus Zürich, finanziell erfolgreiche Ehefrau zweier verstorbener Männer. Mit unterschiedlicher Zuneigung zu ihren Kindern.

Siegfried Hansen Kriminalrat und Leiter der Mordkommission Frankfurt, ein Kollege von Bertholdy aus dessen Zeit als Kripobeamter in Düsseldorf. Schenkt diesem Mordfall mehr Aufmerksamkeit als Bertholdy recht ist.

Franz Olbrich Kriminaldirektor im BKA, dem höchsten Organ der Verbrechensbekämpfung in der Republik. Mehr kann über ihn nicht gesagt werden, denn er ist natürlich ein Geheimnisträger.

Dr. Martin Leuenberger Rechtsanwalt und Notar in Vaduz, Liechtenstein, Stammgast des »Grand Hotel«, ein Mann mit vielen Verbindungen, auch undurchsichtigen.

Margarethe Bieger Dr. Leuenbergers schöne und zugleich clevere Assistentin, nicht ganz unschuldig am Verlauf der Ereignisse, denn sie drückt auf den Auslöser der ganzen Geschichte.

Franco Buonamici genannt »il tiratore«, kommt aus Nizza, der Mörder vom Eisernen Steg. Er verändert Bertholdys Leben erheblich, verliert aber dabei das seine.

Francesco Pittoni er betritt die Bühne in der Rolle eines Priesters, in kurzlebiger Freundschaft Bertholdy verbunden.

Madeleine Piccoboni Eigentümerin des Restaurants »Pescadou« in Nizza, den Männern stürmisch zugeneigt, vor vielen Jahren auch Bertholdy.

Domenico Sieger Bertholdys pensionierter Kollege aus dem »Baur au Lac« in Zürich, unternehmungslustiger Waffenfreak und Bertholdy in langjähriger Freundschaft verbunden.

James King Generaldirektor des »Grand Hotel« in Frankfurt, ein Beau, eleganter als seine Gäste. Ist sehr auf das Renommee seines Hauses bedacht – und noch mehr auf sein eigenes. Bertholdy kann sich nicht zu seinen Favoriten zählen.

Hans Carolus Mitglied des »Quintette amical«, als Chefportier ist er für Gäste die Institution des Hauses. Hat alle Generaldirektoren der letzten vierzig Jahre überdauert. Erfüllt die ungewöhnlichsten Wünsche seiner Gäste, ohne seine Freundlichkeit zu verlieren.

Mehmet Köprülü Mitglied des »Quintette amical«. Sein Reich sind die Halle und die Autorenbar im »Grand Hotel«. Betreut seine Gäste, besonders die der Buchmesse, auf eine sehr persönliche Art. Verbindet die Gewandtheit eines osmanischen Kaufmanns mit angeheirateter deutscher Ordnungsliebe.

Patrick der Chef Mitglied des »Quintette amical«. Läuft Marathon, hat als Einziger im »Grand Hotel« lange Haare und kocht wie ein Weltmeister.

Marco Galliano Mitglied des «Quintette amical”. Der dienstälteste Volontär der Hotelbranche. Seit Jahren der gute Geist des »Grand Hotel«, geliebt von allen Gästen, besonders den weiblichen. Genießt nicht nur als Kollege, sondern auch als Freund das besondere Vertrauen des Hausdetektivs. Wird im hohen Alter zum Literaturkritiker und Kommentator dieses Buches.

Vorbemerkung

Wem bringt schon die Post ein Buchmanuskript ins Haus, ohne Absender, ohne Namen des Autors, ohne Begleitbrief, aus dem eine Anweisung, eine Bitte ersichtlich wäre, was mit dem beschriebenen Papier geschehen soll?

Mir wurde das Paket vom Postboten überreicht, obgleich ich weder Verleger noch Zeitungsredakteur bin. Ich bin Marco Galliano, den Gästen des »Grand Hotel« in Frankfurt bestens bekannt. »Ein alter, leicht gebrechlicher Kellner, bei den Gästen seit vielen Jahren sehr beliebt wegen seiner Freundlichkeit, seiner Zuvorkommenheit«, so haben sie mich im Lokalteil der Zeitung beschrieben, als das 100jährige Jubiläum meines geliebten Hotels gefeiert wurde.

Ich habe mich entschlossen, eine Vorbemerkung zu diesem Bericht und bisweilen ergänzende Kommentare zu schreiben, in der Absicht, die oft einseitige Perspektive des Autors bei der Beurteilung von Menschen und freudiger wie niederschmetternder Ereignisse zu erweitern. Dazu fühle ich mich berechtigt, weil ich die wichtigsten handelnden Personen kenne. Und außerdem spielte ich im Ablauf der Geschehnisse eine nicht ganz unbedeutende Rolle.

Die Hauptrolle im Bericht über die Ereignisse, welche durch ein Verbrechen auf dem Eisernen Steg ausgelöst wurden, spielte aber nicht ich, sondern mein Freund Johannes Bertholdy. Er war der Hausdetektiv oder, wie heute gesagt wird, der Security Officer des »Grand Hotel« in Frankfurt.

Als ich das Manuskript gelesen hatte, war mir klar, es konnte nur von ihm verfasst worden sein. Er hatte sich die Enttäuschungen, die schmerzlichen Erkenntnisse, die mit den Ereignissen des Jahres 2000 verbunden waren, von der Seele geschrieben. Es war das erste und bisher einzige Zeichen, das ich von ihm nach seinem Verschwinden in ein neues Leben erhielt.

Warum er sich dann nicht als Autor zu erkennen gab, warum er es mir eingepackt in Anonymität zuschickte? Es muss mit seinem Untertauchen zusammenhängen, seinem Plan, als Unerkannter im Unbekannten zu verschwinden. Er wollte sein Leben ändern, das durch Personen gefährdet war, die in dem Bericht als Täter, Opfer und Betrachter auftreten.

1.

Ein weißer Wintertag, von der Sonne verzaubert. Kaum vorstellbar in Frankfurt, der Stadt am Main. Aber an diesem zweiten Samstag im Januar begrüßte ein strahlend blauer Himmel Johannes Bertholdy, den Hausdetektiv des »Grand Hotel«, als der Page das schwere Portal zu diesem ungewöhnlichen Winterszenario aufgerissen hatte. »Ein guter Anfang für das erste Jahr im neuen Jahrtausend«, dachte er.

»Bonne journée, Monsieur«, rief ihm Franz, der Page, nach. Wie alle im Hotel kannte er Bertholdys Neigung, sich der französischen Sprache zu bedienen, wann immer das möglich war, denn Frankreich war des Detektivs große Liebe. Bertholdy hörte es gern, mit Monsieur angesprochen zu werden, waren ihm doch die meisten Erlebnisse während seines mehrjährigen Aufenthalts an der Côte d’Azur in angenehmer Erinnerung geblieben. Und außerdem hatte er sich schon als Jugendlicher für Sprache und Kultur der westlichen Nachbarn begeistert.

»Merci, François«, antwortete Bertholdy und lief mit großen Schritten in Richtung Main. Der Eiserne Steg war sein erstes Ziel.

Hoteldetektive sind eine besondere Spezies. Von denen, die sich von Amts wegen mit der Verfolgung von Verbrechen oder mit der Sicherheit potentieller Opfer beschäftigen, werden sie nicht für voll genommen. Nach deren Meinung sind sie Feigenblätter, die eine kaum beherrschbare Sicherheitslage in den großen Luxushotels nur notdürftig abdecken. Ein solches Feigenblatt war Johannes Bertholdy.

Vor mehr als zehn Jahren war er als Hoteldetektiv angestellt worden, eine Aufgabe, für die er durch eine mehrjährige, dann aber jäh unterbrochene Tätigkeit als Beamter der Kriminalpolizei prädestiniert war. Ausschlaggebend für sein Engagement in Frankfurts weltberühmtem Hotel war jedoch die persönliche Empfehlung des Polizeidirektors der Stadt, der ihn dem Eigentümer des Hauses als idealen Bewerber vorstellte. Dieser gab die Empfehlung mit entsprechendem Nachdruck an den Generaldirektor des Hotels weiter.

Im Auf und Ab der Hotelkonjunktur führte diese Empfehlung von höchster Stelle dazu, dass Bertholdy in Zeiten schwacher Nachfrage von den Auswirkungen der Personalkostenanpassung verschont blieb. Böswillige ließen das Gerücht kursieren, er habe mit dem Eigentümer eine gemeinsame Leiche im Keller gehabt. Nach dessen Tod verstünden die Erben und die jeweiligen Generaldirektoren diese Saga als eine Art von Kündigungsschutz, so munkelte man. Bertholdy kannte dieses Gerücht, hielt es pfleglich am Köcheln, wohl wissend, dass in seinem und seines Gönners Keller keine Leichen lagen, sondern köstliche Weine, die darauf warteten, ihrem Endzweck zugeführt zu werden.

Während Bertholdys Weinsortiment rasch umgeschlagen wurde, staubten die Flaschen im Keller seines verstorbenen Patrons leise vor sich hin, was besonders den Weißweinen nicht sonderlich bekam, einigen Grands Crus aus dem Bordeaux aber umso besser. Die Witwe hatte nur ein begrenztes Interesse an Weinen und veränderte ihre Bestände kaum. Sie hatte Bertholdy die Betreuung und Weiterführung der Kochbuchsammlung ihres verstorbenen Gemahls übertragen. Als Dank dafür beschenkte sie Bertholdy von Zeit zu Zeit mit einer alten Flasche Rotwein bester Provenienz aus ihrem Keller. Bertholdy, der Bibliothekar, das war für ihn sein dritter Job und kam seinen Interessen sehr entgegenkam. Denn bereits kurze Zeit nach Beginn seiner Tätigkeit als Sicherheitsbeauftragter war ihm als weitere Funktion die des Bankettmanagers im »Grand« übertragen worden, wie das Hotel, liebevoll abgekürzt, von Gästen wie von Mitarbeitern genannt wurde.

Dem damaligen Generaldirektor des Hauses war nicht nur seine gute Kontaktfähigkeit gegenüber den Gästen aufgefallen, sondern auch sein Interesse an der klassischen Hotelküche und ganz besonders sein umfangreiches Wissen über die Weine der berühmten Anbaugebiete. Diese Kenntnisse hatte er sich in Frankreich, genauer gesagt: in Nizza, angeeignet. Dort war er nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst mehrere Jahre in einem Zwei-Sterne-Restaurant zuerst als Sommelier, dann als Restaurantleiter tätig gewesen. Gewiss ein nicht alltäglicher Karrierewechsel!

Die wohlmeinenden Mitarbeiter des Hauses und die von Zeit zu Zeit wechselnden Generaldirektoren sahen in ihm einen »Rocher de Bronze« in der Hektik des Betriebsablaufes, wobei seine Aufgabe, für die Sicherheit im »Grand« zu sorgen, etwas in den Hintergrund trat. Er hatte sich zu einem Bankett- und Veranstaltungsverkäufer entwickelt, dessen kulinarische Kenntnisse Gäste wie Mitarbeiter beeindruckten. Auf seiner Visitenkarte aber stand »Security Officer«.

Sein Äußeres und sein unauffälliges, aber formvollendetes Benehmen trugen eher der Rolle des Gastronomen als der eines Detektivs Rechnung. Er war immer in dunkelgrauen, fast schwarzen, einreihigen Anzügen gekleidet, deren weit geschnittene Jacken die Konturen des Pistolenhalfters nicht ganz verdeckten. Da seine Figur zur Fülle neigte, fiel die Ausbuchtung, die seine Dienstpistole verursachte, kaum auf. Nur bei Abendveranstaltungen wich er von seinem uniformen Kleiderstil ab und nahm dafür seinen Smoking aus dem Schrank. Die Walther 9 mm behielt jedoch auch bei diesen Gelegenheiten ihren Platz. Die Waffe schien nicht nur für sein Selbstverständnis als Hausdetektiv notwendig zu sein, obwohl er sie im Hotel noch nie benutzt hatte, sie unterstrich zugleich die Glaubwürdigkeit seiner Visitenkarte.

Das einzige auffällige Kleidungsstück, das er trug und das er in der Helligkeit der Farbe den Jahreszeiten anpasste, waren die Krawatten, die er zu seinen leicht gestärkten, weißen Hemden trug. Alle Binder waren aus dem gleichen Material gefertigt, einer matt glänzenden, fast samtartig dicken Seide, die dem Knoten ein beachtliches Volumen gab. Die Farben, es war immer ein Uni, ohne jedes Muster, waren leuchtend, vom frühlingshaften Pastellton bis zu kräftigen, herbstlichen Farben, wobei jede Farbe des Spektrums zum Zuge kam. Das verlieh seiner Erscheinung den kleinen Kick, der ihn von einem Berater eines Bestattungsunternehmens unterschied.

An diesem kalten, aber sonnigen Januarmorgen verließ Bertholdy kurz nach dem Frühstück sein »Grand Hotel«. Hätten ihn bei seinen Ausflügen in das Wochenende Gäste, ja selbst langjährige Stammgäste, gesehen, wäre er wohl unerkannt geblieben. Denn am Morgen eines jeden Samstags trug er eine Kleidung, die nach seiner und der Vorstellung ihrer Designer mit kräftigen Farbtönen »Freizeit« signalisierte. Selbst Bluejeans erlaubte er sich an warmen Tagen, und gegen die Sonnenstrahlen setzte er sich einen kessen blauen Leinenhut auf sein bereits etwas gelichtetes, graues Haar. Für alle, die ihn kannten, war es eine Wochenendverkleidung.

Ziel seines morgendlichen Ausgangs war, wie an jedem Samstag, eine Wohnung in einem der Hochhäuser auf dem Sachsenhäuser Berg. Sie war sein Wochenendrefugium. Hier war die Welt für ihn überschaubar und geordnet, hier fühlte er sich immer wohl, ja glücklich, wozu in nicht geringem Maß die Eigentümerin dieser Wohnung beitrug. Er ahnte an diesem Morgen nicht, dass sein Wohlbehagen an diesem Wochenende sehr gestört werden würde.

Meistens ging er über den Eisernen Steg nach Sachsenhausen, das auf der anderen Mainseite lag. »Steg« wurde er genannt, trotz seines Namens eine massive Stahlrahmenkonstruktion, die eher den Begriff »Brücke« verdient hätte. Seit Generationen ein Wahrzeichen der Stadt, war er ein Symbol der Solidität und bürgerlichen Tradition Frankfurts.

Der andere Steg über den Main, genannt »Holbeinsteg«, war der jüngere, elegantere, schwingende Bruder der behäbigen Stahlkonstruktion. Er verband das Bankenviertel mit Frankfurts ältestem Museum, dem »Städel. Die Entscheidung, welcher Weg zu nehmen, welche Brücke über den Main zu benutzen sei, hing weniger von den Wetterverhältnissen als vom Flohmarkt auf der Uferstraße der Sachsenhäuser Seite ab, der zweimal im Monat stattfand. Bertholdy war kein Freund dieser Veranstaltung. Heute war der Eiserne Steg dran, denn die Wegstrecke durch das Gewühl des Marktes war kürzer.

Er hatte sich, wie immer, sorgfältig auf das Wochenende vorbereitet, in dessen Mittelpunkt die Zubereitung eines außergewöhnlichen Abendessens stand. Dieses wurde, begleitet von edlen Weinen, gemeinsam mit seiner langjährigen Freundin Lydia gekocht, zelebriert und genossen. Unter der Woche stellte er mit großer Sorgfalt ein saisonal geprägtes Menü zusammen. Seine umfangreiche Kochbuch- und Rezeptsammlung gaben ihm dabei Anregungen. Bisweilen erfand er aber auch phantasiereiche, eigene Kreationen.

Auch die dicken Alben mit Menükarten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie die vielbändige Sammlung gastronomischer Literatur seines früh verstorbenen Gönners spielten dabei eine Rolle, besonders, wenn ein Ausflug in die klassische französische Küche angesagt war. Sein Patron hatte ihn auch deswegen schätzen gelernt, weil Bertholdy ihm eine bedeutende Speisekartensammlung eines längst verblichenen deutschstämmigen Küchenchefs aus Chicago vermittelt hatte. Dieser hatte, bevor er auswanderte, auch einige Jahre im »Grand« gearbeitet. Sie enthielt Festmenüs berühmter Hotels und Restaurants für amerikanische Senatoren und Präsidenten, für das Österreichische und das Deutsche Kaiserhaus und den deutschen und europäischen Hochadel bis zu den Speisekarten des Grand Hotels für Veranstaltungen des jüdischen Geldadels in Frankfurt und seines zu Wohlstand gekommenen Bürgertums.

Die ganze Sammlung hatte er im Auftrag der Familie zu pflegen und zu archivieren, eine Aufgabe, für die er besonders dankbar war. Gab sie doch Gelegenheit, den für den Bestand seines Weinkellers wichtigen Kontakt zur Witwe des Gründers der Gesellschaft zu erhalten und sich mit gutem Grund von Zeit zu Zeit in die Stille ihrer Privatbibliothek zurückziehen zu können.

Als Bertholdy an diesem Wintermorgen das »Grand Hotel« verließ, hatte er die sorgfältig vorbereitete Einkaufsliste für das Menu dieses Wochenendes in der Brusttasche seines pelzgefütterten Anoraks. Die zu den Gerichten passenden Flaschen Wein, in Isoliertüten verpackt, denn die Temperatur wies trotz des Sonnenscheins zweistellige Grade unter Null aus, lagen bruchsicher in dem Rollkoffer, den er hinter sich her zog. Er hatte die Auswahl des Weiß- und des Rotweins mit Herrn Messer, dem kenntnisreichen Chef des hauseigenen Weingeschäfts, ausführlich besprochen und die Flaschen zu einem günstigen Personalpreis erstanden.

Für das Abendessen, das an diesem Samstag auf dem Programm stand, wählte er aus Kochbüchern der 80er Jahre Rezepte aus, die seine Vorliebe für von ihm besonders geschätzte Küchenchefs und Autoren berücksichtigten und die besonders gut zu der kalten Jahreszeit passten:

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Scampi in Schnittlauchvinaigrette

(Marianne Kaltenbach)

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Kartoffelsuppe mit Brunnenkresse und Muscheln

(Anton Mosimann)

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Ente gekocht mit Wurzelgemüse, Meerrettichsahne

und Kartoffel-Gnocchi

(Prof. Dr. Heinz Maier-Leibnitz)

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Brillat-Savarin und Vacherin Mont d’Or

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Gewürznelken-Soufflé mit Rumsahne

(Heinz Winkler)

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Die Schweizerin Marianne Kaltenbach, eine zweifache Begabung als gastronomische Journalistin wie als kreative Köchin, hatte ein bemerkenswertes Fischkochbuch, »Meine Fischküche«, geschrieben, das Bertholdy immer wieder zu Rate zog. Sie beschränkt sich, wie viele ihrer Kollegen, nicht darauf, lapidar ein Rezept aufzuschreiben, das wenig mehr als die Zutaten und die Abfolge der Herstellung enthält. Vielmehr gibt sie wichtige Hinweise für die Vorbereitung, Tipps für den Kochvorgang und die notwendige Brat- und Garzeit. Selbst der zeitliche Arbeitsaufwand wird dem Gericht zugeordnet. Bertholdy schätzte ihre klaren Angaben und ihre fachkundigen Erläuterungen.

Ihre Methode, die frischen Kaisergranaten, so die deutsche Bezeichnung für Scampi, in einem mit Olivenöl ausgepinselten Sieb über Wasserdampf zu garen, hatte er bisher noch nicht gekannt. Ob das fast dunkelgrüne Öl, das er normalerweise für seine Salate verwendete, nicht zu kräftig sein und den Eigengeschmack der Schalentiere beeinträchtigen würde? Und die Menge Schnittlauch, die der Salatsoße beigegeben werden sollte, durfte auch nicht zu reichlich bemessen werden, damit die lauwarmen Schalentiere noch immer nach Meer schmeckten.

Anton Mosimann nur mit einer Suppe zu ehren, erscheint auf den ersten Blick nicht seiner Bedeutung angemessen. Hat sich doch der Schweizer Künstler auf einem gastronomisch unterentwickelten Eiland als bedeutender Entwicklungshelfer betätigt, zuerst als Küchenchef des berühmten »Dorchester« in London, später mit seinem eigenen Restaurant.

In seinem Buch »Cuisine Naturelle« gab Mosimann zwar den Suppenbrühen den Vorzug vor den gebundenen Suppen, nicht so aber bei dieser Kartoffelsuppe. Hier werden die zusammen mit Lauch, Brunnenkresse, Schalotten und einer Knoblauchzehe gedünsteten Kartoffeln mit einer Mischung aus Fisch- und Kalbsfond aufgekocht und dann püriert. Die separat angeschwitzten Muscheln lässt man in einem Fischfond ziehen, bis sie sich öffnen. Dann werden sie ausgelöst, der Kartoffelsuppe zugegeben, und das Suppengedicht wird mit den Blättern der Brunnenkresse garniert. Gewiss kein ganz leichtes Zwischengericht, aber den winterlichen Temperaturen des Tages angepasst.

Enten sind nach Bertholdys Erfahrung schwierige Vögel. Bleiben sie zu lange in der Backröhre, werden sie zu zähen Ludern, sind sie aber zu kurz im Ofen, verwandelt das auslaufende Blut den Teller in ein Schlachtfeld. Normalerweise überließ Bertholdy diese schwierige Herausforderung seiner Mitköchin, die ihn im Kochtechnischen hin und wieder um Längen schlug.

Das alles bedenkend, hatte Bertholdy an diesem Tag auf ein Rezept eines Wissenschaftlers zurückgegriffen. Heinz Maier-Leibnitz war Professor für Physik, vielfacher Ehrendoktor – und eben auch ein Jünger der Kochkunst. In seinem »Kochbuch für Füchse« macht er einen Vorschlag, der elegant den Einsatz einer Bratröhre umgeht. Vielmehr wird die Ente in einem gemischten Fond aus Wein und Geflügel mit den üblichen Zutaten wie Lorbeerblatt, Lauch und Zwiebel mit aufgesteckten Gewürznelken ca. eine Stunde gekocht. Dass das Rezept fast wie eine naturwissenschaftliche Versuchsanordnung beschrieben ist, verwundert bei diesem Autor nicht.

Bei der Auswahl der Käse verließ sich Bertholdy auf seine auf diesem Gebiet recht umfangreichen Kenntnisse und in Zweifelsfällen auf Pierre Androuet und seinen »Guide du Fromage«. Dieser Führer durch die Käsewelt – und diesen Begriff konnte man nach Bertholdys Ansicht im Wesentlichen auf Frankreich, die Schweiz und in Maßen auf Italien reduzieren – war zwar schon sehr alt, aber die neuen »Käsekreationen« der Milchindustrie hatten darin so gut wie nichts verloren.

Besonders freute sich Bertholdy auf den Vacherin Mont d’Or, wobei er keinen Unterschied zwischen dem schweizer Vacherin aus dem Kanton Vaud und seinem französischen Bruder aus der Franche-Comté machte. Wenn der sehr cremige, duftende Käse mit dem Löffel von der Spanschachtel auf den Teller gelegt wird, dann lacht das Herz eines jeden Käseliebhabers. Der Brillat-Savarin, ein weicher Frischkäse mit hohem Fettanteil, war der Lieblingskäse seiner, vor allem in der Küche, unverzichtbaren Kollegin.

Und schließlich das Dessert, eine Kreation des von Bertholdy sehr geschätzten Heinz Winkler, berühmt geworden als Chef des »Tantris« in München. Das Rezept dafür hatte er dessen Buch »Drei-Sterne-Küche für zu Hause« entnommen.

Da sich Bertholdy bei den Festessen in Lydias Wohnung auf die Herstellung des Desserts spezialisiert hatte, sah er diesem Abend mit etwas Zagen entgegen, denn ein Soufflé hat so seine Launen. Und wenn es schlecht gelaunt ist, geht es nicht auf wie eine Blüte, sondern fällt kläglich in sich zusammen. Eine solche Katastrophe könnte den ganzen Abend verderben und seinem Ruf als Koch aus Leidenschaft ruinieren.

Zur Begleitung der Scampi hatte Bertholdy einen Pouilly Fumé vorgesehen, seinen Liebling von der Loire. Die Ente und die Käseauswahl sollten von einem Brunello di Montalcino aus dem Hause Frescobaldi gekrönt werden. Und sollte der Käse schließlich nach einem anderen Rotwein verlangen oder der Frescobaldi gar geleert sein, so lagerte im Rotweinschrank noch eine acht Jahre alte Flasche »Beaune Clos des Mouches« Premier Cru, ein kräftiger Begleiter aus dem renommierten Hause Drouhin.

Die für das Abendessen erforderliche Einkaufsliste war eingeteilt nach der Lage der Läden auf seinem Weg zu seinem Wochenendrefugium. Nur Fisch und Krustentiere sowie die benötigten Fonds ließ er sich vom Küchenchef des Hotels besorgen. Den Käse pflegte er am Vorabend in der Kleinmarkthalle zu kaufen, da in seiner normalen Einkaufszone in Altsachsenhausen kein Laden zu finden war, der seinen besonders hohen Ansprüchen hinsichtlich eines reifen und der Jahreszeit entsprechenden Rohmilchkäses genügt hätte.

Bertholdy genoss das Sonnenlicht, das die Eiskristalle auf den grünen Brückenteilen und auf den Platanen zum Glitzern brachte.

Der erste Laden auf seinem Weg war die Bäckerei Hanss in der Brückenstraße. Allein der Duft des frisch gebackenen Brotes war einen Besuch wert. Zur Frühstückszeit bildeten sich im Sommer Schlangen von anstehenden Kunden bis auf den Bürgersteig hinaus. Im Winter drängte sich die Schlange in mehreren Windungen im warmen Laden. Bertholdy ließ sich ein Graubrot mit Namen »Ausgehobenes« und ein Baguette einpacken sowie die Brötchen für das Sonntagsfrühstück. Er wechselte mit Frau Kramer, der stattlichen blonden Herrin über die Backwaren, einige Worte über Ferienziele im Süden, die Frau Kramer besonders im Winter interessierten.

Von der Bäckerei war es nicht weit zur Metzgerei Bumb in der Textorstraße, die Bertholdys strengen Qualitätsansprüchen an Fleisch- und Wurstwaren gerecht wurde. Außerdem hatte die ebenfalls blonde, aber zarte und doch energische Chefin neben beachtlichen Fachkenntnissen eine freundliche Ausstrahlung, die auf ihre Angestellten hinter der Verkaufstheke überging. Ihr Mann, der Metzgermeister, war ein Frankfurter Original mit entsprechendem Mundwerk und ein Handwerker, der sehr auf Qualität achtete. Bertholdy war ansonsten beim Einkaufen eher mundfaul. Hier aber fiel ihm ein kleines Gespräch leicht. Die angebotene Ente entsprach seinen Vorstellungen und der Schinken und die Wurstwaren waren bereits vorbereitet, denn Bertholdy variierte deren Auswahl sehr selten. Er wurde wie ein Freund des Hauses verabschiedet.

Dritte Anlaufstation war der Gemüseladen von Frau Rappelt. Er lag auf halber Höhe des Sachsenhäuser Bergs und war eine Institution im Viertel. Wenn man den Laden betrat, konnte man meinen, die Zeit sei in den 50er Jahren stehen geblieben. Es war ein »Tante-Emma-Laden«, einfach eingerichtet und mit einer nostalgischen, reich verzierten Ladenkasse versehen. Frau Rappelt und ihre Tochter Anja boten Obst und Gemüse an, »unbehandelt«, wie auf den handgeschriebenen Zetteln stand, aus eigener Gärtnerei. Diese lag ebenfalls auf dem Berg, nicht weit vom Geschäft entfernt. Dazu kamen Blumen und Gartenpflanzen, frische Eier und selbst gekochte Marmeladen, die eine Spezialität der Tochter waren. Und in der Weihnachtszeit Tannenbäume von untadeligem Wuchs.

Schnell waren die winterlichen Gemüse gekauft, die er für das kleine Festmenü benötigte, und nun waren es nur noch wenige Minuten zum eigentlichen Ziel seiner fast zweistündigen morgendlichen Wanderung. Die Wohnung lag im zwölften Stock eines Hochhauses in der Nähe der Darmstädter Landstraße. Ein hässlicher Bau, nicht nur aufgrund seiner ungepflegten Betonfassade, sondern auch wegen der langweiligen Gliederung des Baukörpers. Die Wohnung selbst war dagegen mit Liebe und Geschmackssicherheit eingerichtet. Sie hatte eine große Terrasse, die im Sommer ein idealer Gartenersatz war. In dieser Wohnung wartete Lydia auf ihn. Sie pflegten seit Jahren eine Wochenend-Lebensgemeinschaft.

Ihr persönliches Verhältnis genauer zu erläutern, wäre wohl beiden nicht leicht gefallen – vielleicht hätten sie es so beschrieben: Vertrauen zu einander, fast kameradschaftliche Zuneigung, ja in manchen Situationen wohl auch Liebe, aber gleichzeitig auch der Wunsch nach Beibehaltung eines privaten Freiraums. Dazu passte ihre Entscheidung, nicht zusammen in die Ferien zu fahren. Und Bertholdy kam dies gelegen, denn ein Zusammensein für längere Zeit, selbst für drei Ferienwochen, erschien ihm ein »zu viel« an Bindung. Und davor hatte er Angst. Sicher fühlte er sich eher, wenn er allein war. Dann hatte er aber nach einiger Zeit auch wieder Sehnsucht nach Zweisamkeit.

Sie hatten sich im »Grand Hotel« kennengelernt, als Lydia Haffner dort einen Vertrag als Erste Gouvernante erhalten hatte. Dieser Beruf kam, so schien es Bertholdy, ihren Fähigkeiten sehr entgegen. Sie war von einer geradezu peniblen Ordnungsliebe, hatte ein beachtliches Organisationstalent und konnte die Schar der ihr unterstehenden dienstbaren Geister nicht nur führen, sondern auch motivieren.

Bertholdy war schon bei ihrem ersten Zusammentreffen von ihrer kühlen, damenhaften Schönheit beeindruckt gewesen. Ihre dunkle Stimme klang geheimnisvoll und die braunen Augen signalisierten Temperament, gezügeltes Temperament. Mit diesen Eigenschaften versehen, schien sie besser dem Niveau der »High Society« angepasst zu sein als dem des Hotelpersonals.

Lydia gefiel die respektvolle Art, mit der Bertholdy ihr begegnete, und sie bemerkte sehr bald, dass ihr Kollege immer häufiger das persönliche Gespräch mit ihr suchte. Er schien das Hotel zu seinem Lebensmittelpunkt gewählt zu haben, denn er verließ es nur, wenn er dringend etwas besorgen musste. Freunde hatte er in dieser Stadt oder, besser gesagt, außerhalb des Hotels offensichtlich nicht.

Als es auf Weihnachten zuging, es war im ersten Jahr ihrer Tätigkeit im »Grand«, richtete Lydia am Nikolaus-Abend eine Schale mit Obst, Nüssen und Gebäck, das sie selbst gebacken hatte, klopfte an die Türe seines Zimmers, eines der wenigen verblieben Personalzimmer im Zwischenstock des Hotels. Es lag neben seinem Büro und war mit diesem verbunden. Als das »Herein« ertönte, trat Lydia Haffner ein.

Der vorher wohlüberlegte Satz blieb ihr im Hals stecken, denn das geräumige Zimmer war in einem geradezu chaotischen Zustand. Das hatte sie nicht erwartet, widersprach das Chaos doch Bertholdys gepflegtem Auftritt und der vorbildlichen Organisation der von ihm betreuten Veranstaltungen und Bankette. Tische und Teile des Bodens waren mit Büchern und Zeitschriften geradezu überflutet. Auf den Rückenlehnen der Stühle hingen mehr Kleidungsstücke als im offen stehenden Schrank. Eine Ecke des großen Tisches war für eine Weinprobe hergerichtet, die wohl von Musik begleitet werden sollte, denn neben den Flaschen und Gläsern stapelten sich CDS.

»Ich liebe das kreative Chaos«, sagte Bertholdy, der ihren entsetzten Blick gesehen hatte. Eilig räumte er einen Sessel frei, machte die Schranktüre zu und schloss die noch geöffnete Zimmertüre, um jeden Fluchtversuch zu verhindern. Sein Dank für die Gabe des Nikolaus fiel besonders wortreich aus.

Lydia erwachte aus ihrer Erstarrung. Sie lächelte ihn an. Ohne Widerspruch ließ sie sich ein Glas Rotwein einschenken, nahm eines der Bücher zur Hand und fing ein Gespräch über italienische Pastagerichte an, denn diese waren der Titel des Buches, das vor ihr auf dem großen Tisch lag.

Lydia und Bertholdy hatten damit einen Meinungsaustausch über das Kochen begonnen, der in den Folgejahren fortgesetzt und immer intensiver werden sollte. Essen und Trinken, das war beider Thema. Und sehr bald nach diesem Schockerlebnis in Bertholdys Zimmer traf man sich in Lydias Wohnung zu gemeinsamen Kochexperimenten.

Dabei stellte sich im Laufe der Zeit heraus, dass Lydia in ihren handwerklichen Fähigkeiten Bertholdy bei weitem übertraf, was sie in seiner Anwesenheit aber nicht erkennen ließ. Sie kochte mit großer Leidenschaft und gewohnter Präzision, er lieferte den »philosophischen« Unterbau, sein beachtliches angelesenes und »angegessenes« kulinarisches Wissen, und arbeitete ihr zu. Das führte dazu, dass Bertholdy im Laufe der Jahre tatsächlich kochen lernte, wenn er auch in seinen Fähigkeiten hinter seiner Lehrmeisterin zurückblieb.

Die gegenseitige Begrüßung an diesem Samstag war wie immer zurückhaltend, liebevoll in Blick und Gesten und von einem dreifachen Kuss auf die Wangen begleitet.

»Was hast du alles erlebt auf deiner Einkaufstour?«, fragte Lydia und sprach das vertraute Du aus, das sie sich im Hotel nicht erlaubten. Seinen Vornamen Johannes benutzte sie nie, sondern sagte Bertholdy zu ihm. Dieser Name gefiel ihr besser und er hatte nichts dagegen einzuwenden, sprachen ihn doch alle seine Freunde mit seinem Nachnamen an.

Sie hatten beide lange Zeit geglaubt, die Mitarbeiter im Hotel und die Direktion würden ihre persönliche Beziehung nicht bemerken. Dabei hätten sie von Anfang an wissen müssen, dass Geheimnisse im Hotel eine sehr kurze Lebensdauer haben. Doch auch als es die Kollegen alle wussten, blieben sie dabei, sich im »Grand Hotel« mit »Sie« anzusprechen. Zumal in Gegenwart von Gästen hielten sie es nicht für angemessen, sich zu duzen. Den Kollegen galten beide als stockkonservativ.

Bertholdy berichtete von seinen morgendlichen Erlebnissen, die sich an den vielen Wochenenden, die er bei Lydia verbrachte, nur durch die vom Flohmarkt beeinflusste Wegführung und das Wetter unterschieden. Dennoch wollte Lydia sie hören, es war fast schon ein Eröffnungsritual für das gemeinsame Wochenende.

Dann folgte eine Frage, die ebenfalls jeden Samstag gestellt wurde: »Welches Geschirr passt deiner Ansicht nach zu unserem abendlichen Essen, lieber Bertholdy?«

Lydia und Bertholdy hatten eine weitere Schwäche gemeinsam: Der Tisch musste passend zum Menu eingedeckt werden. Sie hatten im Lauf der Zeit mehrere Geschirre gekauft, unterschiedlich in Stilrichtungen und Provenienz, alle von bedeutenden europäischen Manufakturen. Von klassisch-elegant über ländlich, von biedermeierlich bis zum modernen Design, von reich dekoriert bis formorientiert ohne jede Verzierung. Da es sich meistens um ein Dîner à deux handelte, waren nur wenige Geschirrteile notwendig. Nur Marco Galliano, ein gemeinsamer Freund und Kollege, saß ab und zu mit am Tisch. Andere Gäste waren nie geladen.

Zum klassischen Geschirr der Staatlichen Porzellanmanufaktur Berlin gab es Einzelgläser von Baccarat und von der Glashütte Poschinger, die Bertholdy auf Versteigerungen und in Antiquitätengeschäften einzeln oder in geringer Stückzahl erworben hatte. Zu modernem Design und zu ländlichen Tellern und Schüsseln wurden die Gläser des Schweizers Roberto Niederer oder die voluminösen und doch zarten Riedelgläser aufgedeckt. Das »Tafelsilber« war eine Kollektion von ausgesuchten Einzelstücken, die Bertholdy besonders preiswert in Frankfurter Auktionshäusern ersteigert hatte.

»Suppe und die gekochte Ente mit dem Wurzelgemüse verlangen heute ein ländliches Geschirr«, sagte Bertholdy nach einigem Nachdenken. »Wir nehmen heute Abend das ›Lunéville‹ von Spode«. Es war mit ländlichen Blumen im Stil alter Straßburger Keramik dekoriert und nicht nur seines Namens wegen von französischer Anmutung. Dazu passten die von Roberto Niederer entworfenen mundgeblasenen, wuchtigen Weingläser.

Die Auswahl der Tischdecke war Lydias Sache und ihr Sammelgebiet. Sie hielt für das »Lunéville« eine hellblaue Decke mit Rocaillenmuster aus der Provence für die beste Unterlage. Dazu dunkelblaue Kerzen in den gläsernen Leuchtern, die Lydia von einer Schwedenreise mitgebracht hatte.

Als diese wichtigen Entscheidungen getroffen waren, stand nur noch der Kauf eines Blumenstraußes bei der nahe gelegenen Gärtnerei Schmidt auf dem Programm. Bertholdy liebte es, einen Strauß auf dem Esstisch zu haben, der mit der Tischdecke und dem Geschirr harmonierte. Deshalb suchte er die Blumen selbst aus und ließ sie von den charmanten und kenntnisreichen Gärtnerinnen kunstvoll binden. Schließlich waren sie eine Aufmerksamkeit für die Dame des Hauses, mit der er seine Dankbarkeit ausdrücken wollte.

Nachdem Bertholdy den Blumengruß überreicht hatte, gab es wie immer zur Einstimmung auf das Wochenende ein Glas Champagner, der ja am Vormittag besonders bekömmlich ist und zum Plaudern verführt.

Das Mittagessen war einfach und von Lydia bereits am Vorabend gekocht worden. Je nach Jahreszeit gab es einen Eintopf oder eine kalte Suppe, auf die sich Bertholdy schon die ganze Woche gefreut hatte. Wie an jedem Samstagmorgen hatte seine Lieblingsköchin noch einen Kuchen gebacken, der als Dessert und nachmittägliche Stärkung zum Einsatz kam.

Letztere war auch notwendig, weil bereits am frühen Nachmittag mit den Vorbereitungen für das festliche Abendessen begonnen wurde. Die Arbeit begleitete symphonische Musik, deren Entstehungszeit sich im Laufe des Tages immer früheren Perioden näherte, bis schließlich zu Beginn des Mahles barocke Tafelmusik ertönte, die das ganze Essen begleitete. Sie hatte für beide etwas Triumphales und entsprach ihrem Stolz als Meister ihres Faches, die auf ein gelungenes Werk blicken konnten.

Das Abendessen erstreckte sich über drei, bisweilen vier Stunden. Lydia und Bertholdy liebten auch die Pausen zwischen den Gängen, die nicht nur mit Kommentaren zum eben Genossenen und gegenseitigen Komplimenten gefüllt waren, sondern auch dem Austausch der Erlebnisse der vergangenen Woche dienten.

Damit der restliche Abend nicht im Abwasch unterging, hatten sie es sich angewöhnt, Töpfe, Pfannen und Küchenutensilien, die nicht in die Spülmaschine wanderten, sofort nach Gebrauch von Hand zu spülen, so dass nach dem Dessert nur wenige Handgriffe genügten, das abendliche Schlachtfeld zu säubern. Zu den Spätnachrichten trank Lydia noch einen Espresso und Bertholdy schwenkte sein Cognacglas. Dann ging man zu Bett, erschöpft vom guten Essen, etwas schläfrig vom Rotwein. Die erotische Seite des temporären Ehelebens wurde auf den nächsten Morgen verschoben. Diese Einteilung hatte sich bewährt.

Das Abendessen dieses Wochenendes war aus der Sicht der beiden besonders gut gelungen. Bertholdys Soufflé hätte leichter, lockerer nicht sein können. Geradezu prachtvoll war es aufgegangen. Komplimente wurden gewechselt, der Gutenachtkuss besiegelte das Glück.

Bertholdy hatte sich im Laufe der Jahre so sehr an diese behagliche Zweisamkeit gewöhnt, dass er nie auf die Idee kam, sie könnte durch Außenstehende gestört werden. In dieser Nacht aber unterbrach lautes Läuten des Telefons ihren Schlaf. Ein Blick auf den Wecker sagte Bertholdy, dass sie vor gerade einmal zwei Stunden zu Bett gegangen.

»Wer kann das denn sein?«, fragte verstört Lydia.

Bertholdy hob den Hörer ab und meldete sich mit »Hallo«. Der Anrufer hatte ihn dennoch an seiner Stimme erkannt. »Bertholdy, alter Freund, ich muss dich dringend sehen.« Die Stimme hätte der Angesprochene unter Hunderten herausgehört. Es war Andreas Seibold, ein ehemaliger Freund, ein ganz spezieller Freund aus gemeinsamen Tagen in Nizza, zu dem der Kontakt aus ebenso speziellem Anlass abgebrochen war.

»Woher kennst du diese Nummer? Und von wem weißt du denn, dass ich heute unter dieser Nummer zu erreichen bin?«

»Das werde ich dir später erklären, dazu ist jetzt keine Zeit«, entgegnete Seibold, »ich muss dich sofort, noch in dieser Nacht, treffen. Sag nicht, du hättest keine Zeit, ich bin in großen Schwierigkeiten, ja in Lebensgefahr, ich brauche deine Hilfe, sofort, bitte!«

»Wo kann ich dich treffen oder willst du hierher kommen?«, wollte Bertholdy wissen.

»Nein, ich kann nicht kommen, wir treffen uns besser auf dem Eisernen Steg, in der Mitte der Brücke. Da sind wir um diese Nachtzeit allein und können nicht abgehört werden. Wann kannst du dort sein?«

»In dreißig Minuten«, sagte Bertholdy und legte auf.

Lydia blickte ihn verstört an. »Was soll denn das Ganze, du willst doch nicht etwa zu dieser Nachtzeit und bei dieser Kälte irgendjemanden treffen? Es ist kurz nach Zwei!«

»Es war nicht irgendjemand, sondern ein Freund, dem ich verpflichtet bin. Er hat viel für mich getan. Ich werde dir das morgen erzählen. Schlaf weiter.«

Bertholdy stand auf und begann sich anzukleiden. Da ihn in dieser klaren Winternacht eisige Kälte erwarten würde, holte er sich aus dem Schrank, in dem ein Teil seiner legeren Kleidung für das Wochenende untergebracht war, seinen dicksten Pullover, zog seine Winterstiefel an und griff nach dem pelzgefütterten Anorak. Zuvor legte er seine alte Dienstpistole an, die in einem Schulterhalfter steckte.

Es war das gleiche Modell, das er in seinen Tagen als Kriminalpolizist getragen hatte. Auch wenn diese Waffe ihn daran erinnerte, dass er damals zu schnell geschossen hatte, wollte er nicht auf sie verzichten, denn er war sie gewohnt, sie lag gut in seiner Hand. Und ohne Pistole zu leben, hätte ihn verunsichert.

Lydia schaute ihm kopfschüttelnd zu, halb belustigt, halb sorgenvoll. »Gib bitte auf dich Acht. Spiel nicht den Helden!«

Bertholdy machte sich auf den Weg, zu Fuß, denn Lydias Wagen war in der Reparatur und am nahe gelegenen »Holiday Inn« stand kein Taxi. Außerdem hatte er so Zeit, auf seinem Fußmarsch zum Mainufer seine Gedanken zu ordnen.

Andreas Seibold hatte vor 20 Jahren in Nizza nicht nur sein Leben gerettet, als er in der Altstadt in eine Schlägerei geraten war, bei der auch die Messer gezogen wurden. Bertholdy hatte drei gegen sich und Andreas kam ihm zu Hilfe. Seine Karatekenntnisse waren beeindruckend, die Rabauken flüchteten.

Er hatte ihm die Frau weggenommen oder besser gesagt: Madeleine Piccoboni fand es wieder mal an der Zeit, ihren Liebhaber zu wechseln. So verlor Bertholdy seine feurige, mal launische, mal zärtliche Partnerin, die Inhaberin des renommierten Restaurants »Au Pescadou«. Da er nicht mit aufgesetzten Hörnern herumlaufen wollte, verlor er auch seinen Job als Chef de Restaurant. So klang sein Job als Liebhaber und Gastronom nach fünf Jahren nicht gerade harmonisch aus.

Zu der Stellung als Sommelier im Pescadou war er gekommen, weil er für diese Position Kenntnisse mitbrachte, die er schon in jungen Jahren erworben hatte. Er stillte seinen Wissensdurst über Weine nicht nur aus den Kommentaren seines geliebten und verehrten Großvaters und mit Proben aus dessen Keller, sondern studierte auch entsprechende Literatur, die er in Antiquariaten und Fachzeitschriften fand. Auch als er noch in Düsseldorf Polizeibeamter war, baute er dieses Wissen aus, das zu seinem Hobby wurde.

Nach kurzer Zeit wurde er Madelaine Piccobonis rechte Hand und damit Chef de Service. Sie und ihre Gäste wussten seine Fähigkeit zu schätzen, den bisweilen sehr herben Charme der Inhaberin des Pescadou auszugleichen. Sie unterschied sich als eine der seltenen weiblichen Chefs de Cuisine der damaligen Zeit in dieser Hinsicht in nichts von ihren männlichen Kollegen.

Oder wäre es angebrachter zu sagen, Madeleine sei dem Charme von Andreas erlegen, denn sein Charme schien, gemessen an den Reaktionen der Damen, unwiderstehlich zu sein. Er war immer guter Laune, hatte für jede ein kleines Kompliment bereit und sein männliches, gut geschnittenes Gesicht sowie seine sportliche Figur ließen ihn wie einen Filmstar erscheinen. Ein Beau, und dazu noch ein sympathischer. Außerdem ein Mann mit schwarzem Karategürtel, den Bertholdy in jener gewalttätigen Nacht schätzen gelernt hatte.

Andreas war ein glänzender Unterhalter, der aber niemals über sich und seine Herkunft sprach. Niemand wusste etwas über seine Tätigkeit, seinen Beruf. Wie er zu dem Geld kam, das er großzügig ausgab, ohne dabei anzugeben, war ebenso wenig zu durchschauen wie seine vielfältigen Geschäftsbeziehungen. Seine guten Manieren ließen auf ein kultiviertes Elternhaus schließen, das wohl in der Schweiz lag, wie seine leicht dialektgefärbte deutsche Sprache verriet, nicht so sein sehr gepflegtes, akzentfreies Französisch.

Was war nur geschehen, das Andreas zu diesem Hilferuf trieb? Die Stimme hatte Angst signalisiert, ein Gefühl, das Bertholdy bei ihm nie vermutet hätte. Warum hatte er sich ausgerechnet an ihn gewendet, wo sie sich doch vor fast 15 Jahren zwar nicht im Streit oder in Feindschaft, aber doch in zerbrochener Freundschaft getrennt hatten. Seit dieser Zeit hatten sie keinen Kontakt mehr miteinander gehabt.

Und wer hatte Andreas gesagt, er sei an Wochenenden unter Lydias Nummer zu erreichen? Hatte er doch der Portierloge und der Telefonzentrale seine Handynummer mit der strikten Anweisung gegeben, ihn nur in äußersten Notfällen, bei Brand, bei Delikten, bei denen Hausgäste zu Schaden kamen, oder bei der Identifizierung von Zechprellern, in seinem Weekend zu stören. Und selbstverständlich auch, falls der Generaldirektor oder die Familienaktionäre ihn dringend zu sprechen wünschten.

Andreas hatte aber die Festnetznummer von Lydia angerufen. Wer hatte sie ihm wohl gegeben?