Ina Brandt

Eulenzauber

Ein goldenes Geheimnis

Mit Illustrationen von
Irene Mohr

Image

 

In der Reihe Eulenzauber von Ina Brandt
sind im Arena Verlag erschienen:

Eulenzauber. Ein goldenes Geheimnis (Band 1)
Eulenzauber. Rettung für Silberpfote (Band 2)

Ina Brandt
arbeitete nach dem Germanistikstudium einige Jahre als
Lektorin, bevor sie sich als Autorin selbstständig machte.
Seitdem hat sie zahlreiche Kinderbücher veröffentlicht. Mit
»Eulenzauber« erfüllt sie sich einen lang gehegten Traum,
den ihr ein kleiner Waldkauz in vielen Nächten aus dem
Garten zugerufen hat. Die Autorin lebt mit ihrem Mann
und ihren beiden Töchtern in der Nähe von Stuttgart.

Irene Mohr
wurde in Hamburg geboren und hat dort an der
Fachhochschule für Gestaltung Grafikdesign studiert.
Seitdem arbeitet sie als Illustratorin und Grafikerin für
verschiedene Kinderbuchverlage. In ihrem Atelier hat sie
eine Malschule gegründet und dort viele Jahre Kurse für
Kinder und Erwachsene gegeben. Wenn sie keine Bücher
illustriert, ist sie am liebsten in der freien Natur – zwar
ohne Eule, aber dafür gerne mit Pinsel und Staffelei.

 

Für alle, die mich dabei
unterstützt haben, dass die
kleine Eule nun fliegen darf.

Image

1. Auflage 2015
© 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag- und Innenillustration: Irene Mohr
Covergestaltung: Max Meinzold
ISBN 978-3-401-80595-5

www.arena-verlag.de

Image

Diese Zeilen hinterlasse ich dem Menschen, der daran glaubt, dass es Zaubereulen wirklich gibt! Dem, der bereit ist, ihr Geheimnis zu wahren und ihre Kräfte weise zu nutzen. Dem, der seine Eule gefunden hat, die bloß er verwandeln kann. Nur wenn die beiden wirklich füreinander bestimmt sind, wird das Wunder wahr.

Image

 

Image

Image

1

Die Faltins ziehen um

Flora saß auf der Rückbank des alten Kombis und ließ die Landschaft an sich vorüberziehen. Es war schon einige Zeit her, seit sie das letzte Dorf passiert hatten. Seitdem gab es nichts als Obstwiesen und Getreidefelder. Flora stöhnte. Sie würde eingehen vor Langeweile!

Auf der Rückseite des großen Möbelwagens vor ihnen prangte in roter Schrift: »Umzüge mit Herbig-Fröhlich! Fröhlich und bequem in Ihr neues Zuhause!«

Image

So ein Quatsch!, dachte Flora grimmig. »Bequem« war es die letzten Wochen wirklich nicht gewesen. Tagelang hatte Floras Mutter Kartons gepackt, die dann überall in der Wohnung herumstanden und den Weg versperrten. Zum Schluss hatte Flora drei Tage dieselbe blöde Jeans anziehen müssen, die sie sowieso hasste. Aber alles andere steckte schon in irgendeiner Kiste. Das einzig Gute war gewesen, dass irgendwann auch alle Töpfe und Pfannen eingepackt waren. Zum Mittagessen hatte es dann immer leckere Pizza oder Schnitzelbrötchen gegeben. Aber »Fröhlich und bequem in Ihr neues Zuhause« konnte man deswegen trotzdem nicht sagen. Flora hätte viel lieber weiter in der Stadt gewohnt. Bei ihrer besten Freundin Zoe, die sie schon jetzt vermisste.

»Ich muss mal«, unterbrach Felix, Floras jüngerer Bruder, ihre Gedanken.

Floras Mutter fuhr herum. Ihre hellblauen Augen funkelten hinter den Gläsern ihrer eckigen Hornbrille. »Das geht jetzt auf keinen Fall«, erklärte sie entschieden. »Wir müssen hinter dem Möbelwagen bleiben. Du warst doch auf der Toilette, bevor wir abgefahren sind. Das ist nicht mal eine Stunde her.«

»Ich muss aber trotzdem«, maulte Felix. Floras Mutter seufzte. So war es immer mit Felix. Kaum saß er im Auto, musste er aufs Klo. Oder ihm wurde schlecht.

»Wir sind ja bald da«, versuchte Frau Faltin, ihn zu beruhigen. Und tatsächlich tauchte bereits das gelbe Ortsschild mit der Aufschrift »Tannenbach« auf. Der Möbelwagen drosselte das Tempo. Vor ihnen schmiegten sich die Häuser des Dorfes aneinander. Es war in ein Tal von sanft ansteigenden Wiesen und Wäldern eingebettet. Rote Dachziegel glänzten in der Sonne und in der Ferne stach die Spitze eines Kirchturms in den blauen Himmel.

Floras Blick blieb am Bild eines Eulenkopfes auf einem riesigen Hinweisschild hängen. »Greifvogelpark Federstein« stand darauf.

Image

»Ach, hier geht’s also nach Federstein«, murmelte ihre Mutter und schaute der schmalen Straße hinterher, die rechts von ihnen abzweigte.

»Woher kennst du Federstein?«, wollte Flora wissen.

»Hab ich in einer Broschüre gelesen. Dort gibt’s einen der größten Wildparks mit Greifvögeln und Eulen«, erklärte Frau Faltin.

»Können wir da mal hin?«, fragte Flora. Das klang spannend!

»Jetzt lass uns erst mal ankommen«, erwiderte Frau Faltin, während sie versuchte, ihre wilden braunen Locken in einem Pferdeschwanz zu bändigen.

Sie fuhren durch einen Kreisverkehr, bogen rechts ab, dann zweimal links und hielten schließlich vor einem großen, alten Bauernhaus. Neben der roten Eingangstür prangte das Schild: »Tierarztpraxis Doktor Schellhammer«. Darunter stand ein Blumenkübel mit Margeriten, deren Köpfe traurig nach unten hingen.

»Die brauchen dringend Wasser«, stellte Floras Mutter fest, während sie sich abschnallte.

»Und ich brauch dringend ein Klo«, meldete sich Felix erneut von der Rückbank.

»Dann immer rein in unser neues Heim«, meinte Doktor Faltin, Floras Vater, gut gelaunt und schnappte sich den Schlüssel, der auf der Mittelkonsole lag. Normalerweise fand Flora seine selbst erdachten Reime ziemlich witzig, aber nicht heute. Sie hatte keine Lust auf dieses »neue Heim«. Als sie mit ihren Eltern vor ein paar Wochen mal kurz hier gewesen war, hatte es überall im Haus ganz komisch gerochen.

Zögernd folgte Flora ihrer Mutter in den ersten Stock. Im Erdgeschoss befand sich die Praxis, die Floras Vater nun übernehmen würde. Damit erfüllte er sich einen Herzenswunsch, denn er hatte schon immer Landtierarzt werden wollen. Aber irgendwie war er in der Kleintierpraxis in der Stadt hängen geblieben. Bis er die Anzeige von Doktor Schellhammer gesehen hatte, der einen Nachfolger suchte. Dreißig Jahre hatte er hier als Tierarzt gearbeitet, und mindestens so alt war auch die Einrichtung der Praxis, meinte Floras Vater. Er hatte viel Geld für moderne Geräte ausgegeben, einen neuen Computer für die Anmeldung gekauft, den Fußboden erneuern lassen und das Wartezimmer schick eingerichtet. Deswegen war auch kein Geld für die Wohnung im ersten Stock mehr übrig gewesen. Sie war nur frisch gestrichen worden. Die Wände empfingen sie nun strahlend weiß. Es roch nach Farbe, und das war immerhin besser als der muffige Geruch bei ihrem letzten Besuch.

Image

»Wo ist Kinderzimmer eins?«, ertönte da die Stimme eines Möbelpackers hinter Flora.

»Das bist du, Flora«, rief ihre Mutter strahlend, als ob in der Kiste ein Riesengeschenk steckte. »Hier entlang, bitte.«

Kopfschüttelnd folgte Flora ihrer Mutter.

»Super, wie viel Platz du jetzt hast, oder?«, fragte Frau Faltin und strich ihrer Tochter liebevoll ein paar besonders widerspenstige Locken aus dem Gesicht. Die hatte Flora von ihr geerbt, nur waren Floras Locken blond. Aber mit ihren katzenartigen grünen Augen und den vielen Sommersprossen auf der Nase sah sie ihrer Mutter sonst eigentlich gar nicht ähnlich.

»Hmm«, grummelte Flora. Tatsächlich wirkte der leere Raum größer als ihr altes Kinderzimmer, aber trotzdem konnte sich Flora nicht darüber freuen.

»Und schau mal, unser Garten!«, fuhr ihre Mutter fort und öffnete das Fenster. Sie sog tief die Luft ein. »Herrlich, wie gut es hier riecht, nicht wahr?«

Flora nickte mühsam. Früher hatte sie auf die Straße geblickt, in der ein paar Häuser weiter ihre Freundin Zoe wohnte. Für Flora gab es keine schönere Aussicht als diese!

»Wo soll das hin?« Zwei weitere Männer standen mit einem Regal im Zimmer und schauten Floras Mutter fragend an.

»Das kommt an diese Wand«, entschied sie. »Und den Schreibtisch stellen wir vor das Fenster. Dort hast du genug Licht bei den Hausaufgaben, Flora.«

Floras Magen krampfte sich zusammen. Hausaufgaben! Das erinnerte sie daran, dass in zwei Wochen die großen Ferien zu Ende waren und sie in die neue Klasse kam. Schon bei dem Gedanken daran wurde ihr ganz schlecht. Ach, wenn das alles doch nur ein Traum wäre und sie gleich wieder in ihrem alten Zimmer aufwachen würde! Das Kreischen einer Bohrmaschine riss Flora aus ihren Gedanken. Nein, das war kein Traum. Sie waren angekommen!

Image

2

Fast wie im Urlaub

Am nächsten Morgen wurde Flora von lautem Glockenläuten geweckt. Verschlafen blickte sie sich um. Was war das für ein Lärm? Wo war sie? Schlagartig fiel es ihr wieder ein. Die erste Nacht in ihrem neuen Zuhause! Na prima, wenn hier jeden Sonntag so ein Krach war. Das war’s dann wohl mit Ausschlafen. Müde tappte sie zum Fenster und öffnete es. Rechts in der Ferne glänzten die goldenen Zeiger der Kirchturmuhr in der Sonne. Es war bereits neun! Unter ihr sah sie eine Katze durch das hohe Gras schleichen, bis sie zwischen den Tannen im hinteren Teil des Gartens verschwand. Vielleicht wollte sie von dort weiter in den Wald, der sich gleich an die Obstwiesen anschloss? Flora gähnte und streckte sich. Ihr Bauch fühlte sich wie ein einziges, großes Loch an. Sie hatte Hunger!

Als sie in die Küche kam, wühlte ihre Mutter gerade kopfüber in einer Umzugskiste.

»Wo habe ich nur das Kaffeepulver hin?«, hörte Flora sie murmeln.

»Da ist es doch«, schaltete sich Flora ein und deutete auf die goldene Packung, die neben dem Spülbecken stand.

»Super! Ich wusste, dass ich es schon in der Hand hatte«, antwortete ihre Mutter erleichtert. »Guten Morgen, Flora!«

»Morgen«, murmelte Flora und setzte sich an den großen Küchentisch. »Hast du das Müsli auch schon gefunden?«

Image

»Ja, hab ich!«, erwiderte ihre Mutter und hielt ihr strahlend die Packung hin. Flora fragte sich, warum ihre Mutter so gut aufgelegt war. In der Wohnung herrschte das reinste Chaos. Nur die Küche wirkte mit den hellen Holzmöbeln und den rot getupften Vorhängen schon recht gemütlich. Im Gang dagegen stapelten sich unzählige Kartons. Normalerweise bekam Frau Faltin bei Unordnung immer schlechte Laune. Aber heute schien sie das kein bisschen zu stören.

Floras Vater kam mit Felix pfeifend aus dem Bad. Seine dunklen Locken klebten nass am Kopf und sein Gesicht glänzte frisch rasiert.

»Also, wir Männer sehen heute Morgen bedeutend besser aus als ihr«, bemerkte er mit einem Blick auf Flora und ihre Mutter, die beide noch im Schlafanzug steckten.

»Warte nur ab, das wird sich nach dem Frühstück gleich ändern«, versprach Floras Mutter lachend. »Aber jetzt brauch ich erst einmal einen Kaffee.«