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Christian Wahnschaffe

 

Jakob Wassermann

 

 

 

Inhalt:

 

Jakob Wassermann – Biografie und Bibliografie

 

Christian Wahnschaffe

 

Erster Band: Eva

Crammon ohne Furcht und Tadel

Christiansruh

Der Globus auf den Fingerspitzen einer Elfe

Auf jedem Pfahl eine Eule

Eh der Silberstrick reißt

Die nackten Füße

Karen Engelschall

 

Zweiter Band: Ruth

 

Gespräche in der Nacht

Ruth und Johanna

Inquisition

Legende

 

 

 

 

Christian Wahnschaffe, Jakob Wassermann

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

 

ISBN: 9783849619312

 

www.jazzybee-verlag.de

admin@jazzybee-verlag.de

 

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

 



 

 

Jakob Wassermann – Biografie und Bibliografie

 

Schriftsteller, geb. 10. März 1873 in Fürth, gestorben am 01.01.1934 in Altaussee/Steiermark. Wassermann machte nach Absolvierung der Realschule notreiche Wanderjahre durch und lebte lange in Wien, dem Kreise Schnitzlers und Hofmannsthals nahe stehend. Er schrieb die Romane: »Melusine« (Münch. 1896), »Die Juden von Zirndorf« (das. 1897, neubearbeitete Ausg. 1906), »Die Geschichte der jungen Renate Fuchs« (Berl. 1900, 9. Aufl. 1906), »Der Moloch« (das. 1902), »Alexander in Babylon« (das. 1904) und »Caspar Hauser« (Stuttg. 1908); ferner die Novellen: »Schläfst du, Mutter?« (Münch. 1897), »Die Schaffnerin« u. a. (das. 1897). »Der niegeküßte Mund. Hilperich« (das. 1903), »Die Schwestern« (Berl. 1906) und die theoretische Schrift »Die Kunst der Erzählung« (das. 1904). Weitere Werke sind z.B. "Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens" (Roman, 1908), "Das Gänsemännchen" (Roman, 1915), "Christian Wahnschaffe" (Roman, 1919),  "Laudin und die Seinen" (Roman, 1925) und "Der Fall Maurizius" (Roman, 1928). W. zeichnet sich durch moderne Auffassung und scharfe Beobachtung des Lebens aus.

 

Wichtigste Werke:

 

 

Christian Wahnschaffe

 

 

Erster Band: Eva

 

 

Crammon ohne Furcht und Tadel

 

1

 

Crammon, ein Wanderer auf Wegen des Behagens und Vergnügens, war seit seinen Jünglingsjahren beständig unterwegs, von einer Hauptstadt Europas zur andern, von einem Landsitz seiner Freunde zum andern.

 

Er stammte aus einem österreichischen Geschlecht, das in Mähren begütert war. Mit seinem vollen Namen hieß er Bernhard Gervasius Crammon von Weißenfels.

 

In Wien besaß er ein schön eingerichtetes kleines Haus. Zwei ehelose alte Damen betreuten es, Fräulein Aglaja und Fräulein Konstantine. Es waren entfernte Verwandte von ihm, aber er hing an ihnen, wie an leiblichen Schwestern. Sie ihrerseits liebten ihn mit nicht geringerer Zärtlichkeit.

 

Eines Nachmittags im Mai saßen sie beide am offenen Fenster und blickten sehnsüchtig die Straße hinab. Er hatte seine Ankunft brieflich gemeldet, und es war schon der vierte Tag, daß sie ihn vergeblich erwarteten. Sooft ein Wagen um die Ecke bog, streckten sie gleichzeitig die Hälse über das Sims.

 

Als es dämmerte, schlossen sie das Fenster und seufzten. Konstantine faßte Aglaja unter den Arm, und so gingen sie durch die geschmückten Räume, die in blinkende Bereitschaft gesetzt waren.

 

Sie betrachteten sinnend die Gegenstände, die an ihn gemahnten und von denen ihm jeder einzelne teuer war, weil ihn ein Erlebnis oder eine Erinnerung damit verband.

 

Da war der ziselierte Pokal aus dem fünfzehnten Jahrhundert, den ihm der Marquis d'Autichamps geschenkt hatte; da die Achatschale, Vermächtnis der Gräfin Ortenburg; da waren die farbigen Kupferstiche aus dem Nachlaß der Herzogin von Kingsborough; da die kostbare Schreibtischgarnitur, die er vom alten Baron Regamey bekommen; da die Tanagrafigürchen, die ihm Felix Imhof aus Griechenland mitgebracht, da sein Porträt, welches der englische Maler Lavery im Auftrag von Sir Macnamara angefertigt hatte.

 

Sie kannten diese Dinge genau und schätzten sie. Vor dem Bildnis blieben sie stehen, wie sie gern zu tun pflegten.

 

Es zeigte ein vollwangiges Gesicht von einigermaßen strengem, ja finsterm Ausdruck. Aber der Ausdruck mußte täuschen, denn um die glattrasierten Lippen zuckten verräterische Lichter von Weltlust, Spott und Schelmerei.

 

Am Abend erhielten die beiden Damen ein Telegramm des Inhalts, daß Crammon die geplante Heimreise um vier Wochen verschieben müsse. Sie zündeten kein Licht mehr an und gingen traurig zu Bett.

 

 

2

 

 

Es geschah, daß Crammon mit einigen Freunden in Baden-Baden soupierte. Da er aus Schottland kam, wo er bei dem berühmten Forellenfischer Macpherson gewesen war und eine lange Eisenbahnfahrt hinter sich hatte, legte er sich nach dem Essen ermüdet auf ein Sofa und schlief ein.

 

Die Freunde unterhielten sich eine Weile, bis Crammons lautes Schnarchen ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenkte; sie beschlossen, sich einen Scherz mit ihm zu machen.

 

Einer ging hin, rüttelte den Schläfer an der Schulter und fragte, als Crammon die Augen aufschlug: »Sag mal, Bernhard, was ist eigentlich mit Lord James Darlington los? Wo ist er? Warum hört man nichts von ihm?«

 

Crammon, ohne sich eine Sekunde zu besinnen, antwortete mit klarer Stimme und feierlichem Ernst: »Lord James befindet sich auf seiner Jacht im Ligurischen Meerbusen, zwischen Livorno und Nizza. Wieviel Uhr habt ihr? Drei Uhr nachts – da nimmt er die nervenberuhigenden Pulver, die ihm der Doktor Magliano, sein italienischer Arzt, zubereitet und verordnet hat.«

 

Damit legte er sich auf die andre Seite und schlief weiter.

 

»Er flunkert,« sagte einer aus der Gesellschaft, der Crammon nur oberflächlich kannte. Die andern erklärten dem Zweifler, daß Crammon niemals flunkere, und sie sprachen leise, um den Schlummernden nicht zu stören.

 

 

3

 

 

Einmal war Crammon auf einem Gut in Ungarn als Gast und verabredete sich mit mehreren jungen Leuten, die auf einem andern Gut weilten, zu einem Gelage in der nahegelegenen Stadt. Der Morgen graute, als sie auseinandergingen; mit benommenem Sinn schritt Crammon allein dahin und sehnte sich nach dem Bett, das noch eine halbe Stunde Wegs von ihm entfernt war. Zufällig geriet er auf den Viehmarkt, wo eine Menge Bauern versammelt waren, die ihre Ochsen, Kühe und Kälber aus den Dörfern hereingetrieben hatten.

 

Im Gewühle mußte er stehenbleiben und hörte, wie ein Stier zum Verkauf ausgeboten wurde. »Fünfzig Kronen zum ersten!« rief der Auktionar, und die Bauern schwiegen und überlegten.

 

Fünfzig Kronen für einen ganzen Stier? Nicht übel, dachte Crammon in seiner Halbtrunkenheit und bot sogleich fünf Kronen mehr. Die Bauern machten ihm respektvoll Platz, einer schlug noch um eine Krone auf, er überbot um zwei Kronen, zum ersten, zum zweiten, zum dritten, niemand bot höher, der Stier wurde Crammon zugesprochen.

 

Ein stattliches Vieh, sagte er sich und war mit seinem Kauf zufrieden.

 

Als es aber zum Zahlen kam, erfuhr er, daß die achtundfünfzig Kronen der Preis für den Zentner waren, und da das Tier zwölfeinhalb Zentner wog, sollte er siebenhundertfünfundzwanzig Kronen erlegen.

 

Er weigerte sich und schimpfte; es entstand ein Geschrei, kein Einspruch half, der Stier war sein Eigentum. Da er nicht Geld genug bei sich hatte, mußte er einen Knecht mieten, der ihn mit dem erhandelten Vieh auf das Gut begleitete.

 

Er schritt verdrossen voran, dann folgte der Knecht, der wieder an einem Strick das Vieh hinter sich her zog, das bösartig bockte.

 

Der Gutsherr, sein Gastfreund, half ihm aus der Verlegenheit und kaufte ihm den Stier ab, wurde aber vor Lachen über die Geschichte beinahe krank.

 

 

4

 

 

Crammon liebte das Theater und alles, was mit dem Theater zusammenhing. Als die große Wolter starb, schloß er sich acht Tage lang in seinem Hause ein und trauerte wie über einen persönlichen Verlust.

 

Während eines Aufenthaltes in Berlin drang der junge Ruhm Edgar Lorms zu ihm. Er sah ihn als Hamlet, und als er das Theater verließ, umarmte er auf der Straße einen wildfremden Mann und rief: »Ich bin glücklich.« Es entstand ein kleiner Zusammenlauf von Menschen.

 

Er hatte drei Tage in Berlin bleiben gewollt und blieb drei Monate. Seine Beziehungen machten es ihm leicht, Edgar Lorm kennenzulernen. Er überhäufte ihn mit Geschenken, kostbaren Dosen, schönen Büchern und seltenen Leckerbissen.

 

Jeden Morgen, wenn sich Edgar Lorm vom Schlaf erhob, fand sich Crammon ein und schaute still versunken zu, wie sich der Schauspieler wusch, rasierte und seine Leibesübungen machte. Er bewunderte seinen schlanken Wuchs, seine edlen Gebärden, seine sprechende Mimik und die Vollkommenheit seiner Stimme.

 

Er schrieb Briefe für ihn, fertigte Agenten ab und hielt ihm lästige Verehrer und Verehrerinnen vom Hals. Er stellte Zeitungskritiker zur Rede und schleuderte im Theater giftige Blicke, wenn der Beifall nach seiner Meinung zu lau war. »Das Pack hat zu rasen,« sagte er, und bei der Szene in Richard dem Zweiten, wo der König von den Mauern der Burg herunter zu den Lords spricht, besonders bei der Stelle: Herab, herab komm' ich wie Phaeton, geriet er in solchen Enthusiasmus, daß seine Freundin, die Prinzessin Uchnina, die mit ihm in der Loge saß, ihren Fächer vor das Gesicht hielt, um sich den Augen des Publikums zu entziehen.

 

Für ihn war Lorm der königliche Richard, der schwermütige Hamlet, der liebende Romeo und Fiesko der Rebell. Er glaubte dem Schauspieler, ganz und gar; er nahm ihn wörtlich, ganz und gar. Er erfüllte ihn mit dem Geiste Beaumarchais', mit der Beredsamkeit des Mark Anton, mit dem Sarkasmus Mephistos und mit der Dämonie Franz Moors. Als er sich von ihm trennen mußte, verbarg er seinen Kummer nicht, und aus der Ferne schrieb er ihm von Zeit zu Zeit eine überschwengliche Epistel.

 

Der Schauspieler nahm diese Anbetung als einen Tribut entgegen, der sich von den Durchschnittshuldigungen, von denen er satt zu werden begann, wesentlich unterschied.

 

 

5

 

 

Lola Hesekiel, die gefeierte Schönheit, hatte Crammon ihr Glück zu verdanken. Crammon hatte sie erzogen, Crammon hatte ihr Platz und Anerkennung in der Welt verschafft.

 

Als sie noch ein unerhebliches kleines Mädchen war, machte Crammon mit ihr eine Reise nach Sylt. Dort trafen sie Franz Lothar von Westemach, Crammons Freund. Lola verliebte sich in den hübschen jungen Aristokraten, und eines Abends, nach einer zärtlichen Stunde, gestand sie Crammon ihre Liebe zu dem andern. Da erhob sich Crammon vom Lager, kleidete sich an, ging in das Zimmer Franz Lothars und brachte den Schüchternen, schüchtern Lächelnden herüber. »Meine Kinder,« sagte er gütig, »ich gebe euch zusammen, seid glücklich miteinander, genießt eure Jugend.« Mit diesen Worten ließ er die beiden allein, die lange Zeit nicht wußten, wie sie sich in die ungewöhnliche Lage schicken sollten.

 

 

6

 

 

Eine sonderbare Begebenheit war die mit der Gräfin Ortenburg und der Achatschale.

 

Die Gräfin Ortenburg, eine siebzigjährige Matrone, lebte zurückgezogen auf ihrem Schloß bei Bregenz. Crammon, der eine große Zuneigung für alte Damen von Würde und Welt hegte, besuchte sie fast jedes Jahr einmal, um sie zu erheitern und mit ihr von der Vergangenheit zu plaudern.

 

Die Gräfin war ihm für diese Anhänglichkeit dankbar und hatte beschlossen, ihn zu belohnen. Eines Tages zeigte sie ihm eine goldmontierte Achatschale, ein altes Erbstück der Familie, und sagte, die Schale sei ihm nach ihrem Tode zugedacht, die testamentarische Verfügung sei bereits getroffen.

 

Crammon wurde vor Freude rot und küßte der Gräfin zärtlich die Hand. Bei jedem Besuch verlangte er die Schale zu sehen, weidete sich an dem Anblick und genoß den Besitz im voraus.

 

Die Gräfin starb; Crammon wurde alsbald, wie zu erwarten war, von dem Vermächtnis benachrichtigt. Die Schale wurde ihm zugesendet, sie war höchst behutsam in einer Kiste verpackt. Als er sie aber aus den Hüllen befreit hatte, sah er zu seiner Bestürzung, daß er betrogen worden war. Was er in Händen hielt, war eine Imitation, geschickt und genau angefertigt, jedoch aus falschem Material; nur die Fassung war aus Gold nachgeahmt.

 

Erbittert ging er mit sich zu Rate. Wen durfte er beschuldigen? Wodurch konnte er beweisen, daß die echte Schale überhaupt vorhanden war?

 

Die Erben der Gräfin waren drei Neffen gleichen Namens. Der älteste von ihnen, Graf Leopold, war verrufen als ein geldgieriger Mensch, der sich und andern nicht das Brot gönnte. War der es, der ihm den Streich gespielt, so war die Schale längst vertan.

 

Leicht bot sich ein Vorwand, den Grafen Leopold in Salzburg zu besuchen. Er zeichnete sich durch Frömmigkeit aus und war Gnadenperson am bischöflichen Hof. Crammon glaubte in seinen Augen einen Schimmer von Verlegenheit zu entdecken. Er hielt Umschau wie ein Luchs; vergeblich.

 

Nun aber kannte er alle bedeutenden Antiquare auf dem Kontinent und begab sich auf die Suche. Zweieinhalb Monate lang reiste er von Stadt zu Stadt, ging von Händler zu Händler, fragte, forschte, spähte. Die gefälschte Schale hatte er stets bei sich und wies sie vor; den Händlern waren solche von einem Gegenstand besessene Liebhaber vertraute Erscheinungen; sie antworteten bereitwillig und schickten ihn dahin und dorthin.

 

Er verzweifelte schon, da wurde ihm in Aachen ein Brüsseler Händler genannt, der die Schale erworben haben sollte. Es hatte seine Richtigkeit, in Brüssel fand er die Schale. Crammon erfuhr den Namen des Verkäufers; es war ein Mann, von dem er wußte, daß er in geschäftlicher Verbindung mit dem Grafen Leopold stand. Der Händler forderte zwanzigtausend Franken für die Schale. Crammon erlegte sofort tausend Franken und sagte, den Rest werde er in acht Tagen bezahlen und die Schale dann mitnehmen. Zu feilschen unterließ er, und er bemerkte wohl die Verwunderung des Händlers darüber; aber er dachte in seiner Bosheit: der Dieb ist in der Schlinge, weshalb ihm die Schurkerei verbilligen?

 

Zwei Tage später trat er in das Zimmer des Grafen, begleitet von einem Hoteldiener, der das Kistchen mit der falschen Schale auf den Tisch stellte und verschwand. Der Graf saß allein beim Frühstück; er erhob sich und runzelte die Brauen.

 

Crammon öffnete schweigend das Kistchen, nahm die falsche Schale heraus, putzte sie eine Weile sorgfältig mit dem Taschentuch, behielt sie dann in der Hand und machte ein bekümmertes Gesicht.

 

»Was solls?« fragte der Graf erbleichend.

 

Crammon erzählte, wie er zufällig bei einem Händler in Brüssel die Schale aufgefunden habe, die seines Wissens jahrhundertelang im Besitz der gräflichen Familie gewesen sei. Es habe nicht erst der wehmütigen Erinnerung an seine verehrte hingegangene Freundin bedurft, um ihn zu bewegen, das kostbare Stück wieder für den Ortenburgschen Tresor zu retten und in Sicherheit zu bringen. Er erachte es für ein wahres Glück, daß er es sei, der von dieser pietätlosen Verschacherung zuerst Kenntnis gewonnen; was für ein Skandal hätte gedroht, wenn ein derartiges Verfahren von müßigen Mäulern aufgeschnappt worden wäre. Er habe dem Antiquar zwanzigtausend Franken gezahlt, die Quittung vorzulegen sei er bereit, hier sei die Schale, er erstatte sie dem Haus Ortenburg treulich zurück, der Graf habe seinerseits nichts weiter zu tun, als eine Anweisung auf die Bank zu schreiben.

 

Nichts von dem Testament, keine Silbe von dem Vermächtnis, kein Sterbenswort darüber, daß man ihm eine Schale, wennschon die falsche, gegeben hatte. Der Graf verstand. Er sah die falsche Schale an, die auf dem Tisch lag, und erkannte sie als die falsche. Er hatte nicht den Mut zu Einwänden. Er schluckte seinen Grimm hinunter. Er setzte sich hin und füllte einen Scheck aus. Seine Kinnbacken schlotterten in stiller Wut. Crammon strahlte. Die falsche Schale ließ er, wo sie war, fuhr am selbigen Tag nach Brüssel und holte sich die echte.

 

 

7

 

 

Drei Dinge haßte Crammon aus Herzensgrund: Zeitungen, allgemeine Bildung und Steuern. Namentlich, was die Steuerpflicht betraf, konnte er nicht einsehen, daß auch seine Person ihr unterworfen sein sollte.

 

Einst war er vorgeladen worden, um seine Einnahmen zu bekennen. Er sagte, er befinde sich den größten Teil des Jahres auf den Schlössern und Gütern seiner Freunde als Gast.

 

Der Beamte hielt ihm entgegen, daß er doch ein recht luxuriöses Leben führe und daher irgendwelche festen Einkünfte haben müsse.

 

»Gewiß,« log Crammon zynisch, »diese Einkünfte bestehen aus dürftigen Spielgewinsten in mehreren internationalen Badeorten. Ein derartiger Erwerb unterliegt meines Wissens keiner Besteuerung.«

 

Der Beamte staunte und schüttelte den Kopf; dann verließ er das Zimmer, um sich über den Fall mit seinem Vorgesetzten zu beraten. Crammon sah sich allein. Wutbebend hielt er Umschau, nahm ein Bündel Akten aus einem Regal und schob sie hinter den Ständer an die Mauer, wo sie aller Voraussicht nach im Laufe der Jahre vermodern mußten und in ungesetzlicher Verborgenheit als Spender von Steuerbefreiungen wirksam waren.

 

Sooft er sich dieser Untat erinnerte, überließ er sich einem sanften und erquickenden Gelächter.

 

 

8

 

 

Die Prinzessin Uchnina hatte Crammon auf einem der Esterhazyschen Schlösser in Ungarn kennengelernt. Schon zu jener Zeit hatte ihre ungebundene Lebensführung Anstoß erregt, später hatte sich ihre Familie deswegen von ihr losgesagt.

 

In einem Hotel in Kairo begegnete er ihr wieder. Da sie reich war, mußte er nicht fürchten, ausgebeutet zu werden. Er hatte für die blutsaugerischen Frauen nicht viel übrig, und die Herrschaft über seine Sinne hatte er noch nie verloren. Es gab keine Leidenschaft, die ihn verhindern konnte, um zehn Uhr im Bett zu liegen und zehn Stunden zu schlafen wie ein Bär.

 

Die Uchnina lachte gern, Crammon bot ihr Stoff dazu, er war zufrieden, wenn sie sich amüsierte. Er wünschte nicht, daß man übermäßig verliebt in ihn sei, sondern er legte Wert auf eine anständige Behandlung und kameradschaftliche Leichtigkeit. Ihn verlangte nicht nach Liebe mit den üblichen Zutaten von Romantik und Unruhe, von Eifersucht und Sklaverei, sondern er wollte genießen, und zwar möglichst greif- und spürbar genießen. Er machte sich weniger aus der Flamme als aus dem Braten, der darauf zubereitet wurde; er fragte nicht viel nach der Seele, sondern hielt sich allezeit an den Leib.

 

Auf dem Schiff, das ihn und die Prinzessin nach Brindisi brachte, befand sich eine strohblonde Dänin mit Augen wie Kornblumen. Er ging zu der Einsamen und wußte sie zu bestricken. Sie fuhren zu dreien nach Neapel, dort hatte die Dänin ihr Zimmer näher bei dem Crammons als die Prinzessin. Die Prinzessin aber lachte.

 

Sie kamen nach Florenz. Vor dem Baptisterium traf Crammon eine traurige junge Person, und als er sie genauer anschaute, entdeckte er, daß es eine Badebekanntschaft aus Ostende war, die Tochter eines Mainzer Fabrikanten. Sie hatte vor kurzem geheiratet, aber ihr Mann hatte in Monte Carlo ihre Mitgift verspielt und war nach Amerika entflohen. Crammon führte sie zu seinen Gefährtinnen und gab sie, der Dänin wegen, die argwöhnisch war und alles für sich allein haben wollte, für seine Cousine aus. Nicht lange, so entstand auch Zank zwischen den beiden, und Crammon war vollauf beschäftigt, Frieden und Versöhnlichkeit zu predigen.

 

Die Prinzessin lachte.

 

Crammon sagte: »Ich will doch sehen, wie viele man auf einmal beisammen haben kann, ohne daß sie sich einander die Köpfe abbeißen.« Er wettete um hundert Mark mit der Prinzessin, daß er es bis auf fünf bringen werde, sie natürlich ausgenommen.

 

Im Mailänder Bahnhof wurde er mit hellen Freudenbezeigungen von einem reizenden Wesen begrüßt; es war eine Artistin, die vor Jahren einen seiner Freunde ruiniert hatte. Sie war nach Petersburg engagiert und war im Begriff, die Reise anzutreten. Sie gefiel Crammon so gut, daß er die Dänin und die Mainzerin über ihr vernachlässigte. Obwohl er es an List nicht fehlen ließ, mehrten sich die Zeichen, die eine Palastrevolution verkündigten. Sie brach in München aus. Harte Worte wurden gewechselt, Tränen wurden vergossen, Koffer wurden gepackt, und sie stoben nach allen Himmelsrichtungen auseinander: die Dänin nach Norden, die Mainzerin nach Westen, die Artistin nach Osten.

 

Crammon war betrübt; er hatte seine Wette verloren. Die kleine Prinzessin lachte. Sie blieb noch bei ihm, bis eine andre Lockung stärker war, dann feierten sie vergnügten Abschied.

 

 

9

 

 

Als junger Mann von dreiundzwanzig Jahren war Crammon einmal beim Grafen Sinsheim zur Jagd eingeladen. Unter den Gästen befand sich ein Herr von Febronius, der ihm durch seine Schweigsamkeit auffiel, und nicht minder dadurch, daß er häufig Crammons Nähe suchte, während er sich von der übrigen Gesellschaft absonderte.

 

Eines Tages forderte ihn Herr von Febronius mit ungewöhnlicher Dringlichkeit auf, er möge ihn besuchen.

 

Herr von Febronius war Besitzer eines ausgedehnten Majorats an der schlesisch-polnischen Grenze. Er war der Letzte seines Stammes und Namens, und alle Welt wußte, daß er darüber unglücklich war. Vor neun Jahren hatte er ein Mädchen aus einer Breslauer Bürgerfamilie geheiratet, und trotz des Altersunterschiedes waren sie einander noch mit großer Liebe zugetan; die Frau war dreißig, der Mann um die Fünfzig. Aber die Ehe war kinderlos, und daß dieses sich jemals ändern würde, war nicht zu hoffen.

 

Crammon versprach zu kommen, und einige Wochen später, an einem Maiabend, traf er auf dem Gut ein. Herr von Febronius war entzückt, ihn bei sich zu sehen, die Frau aber, die hübsch und fein war, zeigte ein auffallend frostiges Benehmen, und wenn sie Crammon ansehen mußte, wechselte sie immer kaum merklich die Farbe.

 

Am andern Morgen führte ihn Herr von Febronius durch das ganze Gut, durch den Park, die Felder und Wälder, die Ställe und Meiereien. Es war ein kleines Königreich, und Crammon äußerte Bewunderung. Aber Herr von Febronius seufzte. Er sagte, der Segen sei ihm vergällt, jedes Stück Vieh schaue ihn mit vorwurfsvollen Augen an, all das Land und das Gedeihen darauf sei ihm nichts wert, er habe den Tod über sein Geschlecht gebracht, die Fruchtbarkeit der Natur beschäme ihn bloß, da er selbst, da sein Blut zur Unfruchtbarkeit verdammt sei.

 

Hiermit schwieg er und ging stumm an Crammons Seite weiter, dem allerlei verwegene und kitzlige Gedanken durch den Kopf flogen.

 

Nach dem Mittagessen saßen sie mit Frau von Febronius auf der Terrasse, da wurde der Gutsherr hinausgerufen, kehrte aber nach kurzer Zeit zurück, ein Telegramm in der Hand, und sagte, er habe eine wichtige Nachricht erhalten, die ihn zwinge, zu verreisen. Crammon erhob sich in einer Art, die ausdrückte, daß dann seines Bleibens natürlich nicht länger wäre. Aber Herr von Febronius bat ihn fast erschrocken, er möge doch seiner Frau Gesellschaft leisten, es handle sich höchstens um zwei Tage, sie werde ihm sicherlich Dank dafür wissen.

 

Bei diesen hervorgestammelten Worten erblaßte er. Frau von Febronius hatte ihr Gesicht über den Stickrahmen gebeugt, und Crammon sah, wie ihre Finger zitterten. Da wußte er genug. Er reichte dem Mann die Hand und wußte auch, daß sie sich im Leben nicht mehr begegnen würden und begegnen durften.

 

Allein mit der Frau, fand er sie scheuer, als er erwartet hatte. Ihre Gebärde war Widerstreben, ihr Blick Angst, wenn seine Sprache kühner wurde, loderten Scham und Empörung in ihren Augen. Sie floh seine Nähe, suchte sie wieder, am Abend wandelten sie im Park, da beschwor sie ihn, am andern Tag zu reisen, und sie gingen in die Kutscherwohnung, um den Wagen zu bestellen. Wie sie ihn so willig sah, veränderte sich ihr Wesen, Qual und Härte schmolzen. Nach Mitternacht kam sie plötzlich in sein Zimmer, abwehrend und mit sich ringend, trotzig und gedemütigt, in der ersten Hingabe noch bitter, in der Zärtlichkeit fremd.

 

Früh am Morgen stand der Wagen vor dem Haus, der ihn zur Bahnstation brachte.

 

Die wunderbare Nacht schwand aus seiner Erinnerung wie tausend andre, minder wunderbare, zuvor; das seelenhafte Erlebnis mischte sich mit tausend andern nachher, die nicht so schmerzlichen Duft hatten.

 

 

10

 

 

Sechzehn Jahre später führte ihn der Zufall wieder in jene Gegend.

 

Er erkundigte sich nach Herrn von Febronius und erfuhr, daß dieser schon seit zehn Jahren tot sei. Sein Charakter habe sich in den letzten Jahren seines Lebens durchaus verändert. Er sei zum Verschwender geworden, die greuliche Mißwirtschaft, die er auf dem Gute habe eintreten lassen, habe seine Verhältnisse zerrüttet, Betrüger und falsche Freunde hätten ausschließliche Macht über ihn gewonnen, und die Frau, die mit ihrer einzigen Tochter noch auf dem Gut lebe, könne sich nur mit Mühe dort halten; bedrängt von wucherischen Gläubigem und einer anwachsenden Schuldenlast, habe sie keine frohe Stunde mehr, der völlige Ruin sei nur noch eine Frage der Zeit.

 

Crammon fuhr hinüber nach Klein-Deussen; so hieß das Gut. Er ließ sich unter einem falschen Namen melden, Frau von Febronius kam. Sie war noch immer reizvoll; die Haare waren noch braun, die Züge eigentümlich unalt, doch war etwas Erschrecktes und Mißtrauisches an ihr.

 

Sie fragte, woher sie die Ehre habe, von ihm gekannt zu sein. Crammon betrachtete sie eine Weile, auch sie blickte ihn aufmerksam an; auf einmal stieß sie einen Schrei aus und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Nachdem sie ihre Bewegung niedergerungen hatte, reichte sie ihm die Hand, dann ging sie aus dem Zimmer und kehrte nach einigen Minuten mit einem jungen Mädchen von großer Anmut zurück.

 

»Das ist sie,« sagte Frau von Febronius.

 

Das Mädchen lächelte. Ihre Lippen wölbten sich dabei, als schmolle sie, und ihre Zähne zeigten die glitzernde Feuchtigkeit von Muscheln, an denen noch Meerwasser haftet.

 

Sie sprach von dem schönen Tag und daß sie in der Sonne gelegen. Die gebrochene Altstimme überraschte bei einem so jugendlichen Geschöpf. In ihren weitgeschnittenen braunen Augen strahlte unbändige Lust.

 

Crammon sagte geschmeichelt zu sich selbst: Wenn unser Herrgott ein Frauenzimmer aus mir gemacht hätte, wäre ich vielleicht so geworden. Er fragte nach ihrem Namen. Sie hieß Lätizia.

 

Frau von Febronius hing mit jedem Blick an ihr.

 

Lätizia brachte einen Fruchtkorb voll gelber Birnen und sah darauf nieder, begehrlich und der Begehrlichkeit spottend bewußt.

 

Sie schnitt eine Birne auf; es war ein Wurm drinnen, da ekelte ihr, und sie beklagte sich bitter.

 

Crammon fragte sie, was sie am meisten liebe; sie antwortete: »Schmuck.«

 

Die Mutter warf ihr vor, daß sie einen kostbaren Ring erst unlängst verloren habe. »Sie achtet nicht, was sie hat,« sagte Frau von Febronius.

 

»Gebt mir nur etwas zu lieben,« erwiderte Lätizia und streichelte eine weiße Katze, die schnurrend auf ihren Schoß sprang, »dann werd ichs schon festhalten.«

 

Beim Abschied versprach Crammon zu schreiben, und Lätizia versprach, ihm ihr Bild zu schicken.

 

Ein paar Wochen später teilte ihm Frau von Febronius mit, daß sie Lätizia nach Weimar zu ihrer Schwester, der Gräfin Brainitz, gebracht habe.

 

 

11

 

 

Als Crammon vierzig Jahre alt wurde, erhielt er von sieben Freunden, die ihre Namen daruntergesetzt hatten, ein mit kunstvollen Lettern in der Art und Weise eines Diploms verfertigtes Schriftstück, das folgenden Wortlaut hatte:

 

Crammon! Du Freund der Freunde, Verehrer der Frauen, Verächter des Weibes, Feind der Ehe, Muster der Weltleute, Verteidiger des Herkommens, Hort des Adels, Gast aller Edlen, Finder des Echten, Schmecker des Guten, Volksfreund und Menschenhasser, Langschläfer und Rebell, Bernhard Gervasius, heil dir!

 

Leuchtend in stolzer Genugtuung hing Crammon das schöngerahmte Pergament an der Wand neben seinem Bett auf. Sodann machte er in Begleitung seiner beiden Hausdamen eine Promenade in den Prater.

 

Fräulein Aglaja ging rechts von ihm, Fräulein Konstantine links, beide waren sonntäglich, wenn auch nach einer veralteten Mode, gekleidet, und ihre Gesichter waren die glücklichsten, die man sehen konnte.

 

 

Christiansruh

 

 

1

 

Die Vierzig seien eine kritische Zeit für einen Mann, fand Crammon; da halte er inneres Gericht; er ziehe die Summe seines Daseins und finde Rechenfehler über Rechenfehler.

 

Die moralischen Beschwerden beeinflußten seine Haltung und Führung nur wenig. Der Lebensappetit wuchs, und das Alleinsein war ihm noch lästiger als früher. Es kam, wenn er allein war, etwas über ihn, was er die Melancholie des halbierten Zustands nannte.

 

In Paris wurde er von diesem Schicksal betroffen. Er hatte sich mit Felix Imhof und Franz Lothar von Westernach verabredet. Beide ließen ihn im Stich. Imhof war durch eins seiner Börsen- und Gründergeschäfte in Frankfurt zurückgehalten worden und hatte telegraphiert, er wolle später kommen. Franz Lothar war mit seinem Bruder Konrad und dem Grafen Prosper Madruzzi in der Schweiz geblieben.

 

Aus Verdruß brachte Crammon fast den größten Teil des Tages im Bett zu. Entweder las er unwürdige Schmöker, oder er maulte laut vor sich hin. Aus Verdruß ließ er sich vierzehn Paar Stiefel machen bei den drei oder vier Meistern der Zunft, die nur für Auserwählte arbeiten und ohne bedeutende Empfehlung sich zu keinem neuen Kunden entschließen.

 

Er hätte den September bei der Familie Wahnschaffe auf deren Gut im Odenwald verbringen sollen. Den jungen Wolfgang Wahnschaffe hatte er im letzten Sommer während des Tennisturniers in Homburg kennengelernt und seine Einladung angenommen. Aus Verdruß über die beiden Treulosen sagte er ab.

 

Eines Abends traf er auf dem Montmartre den Maler Weikhardt, den er aus München kannte. Sie gingen eine Weile miteinander, und Weikhardt ermunterte Crammon, ihn in ein nahegelegenes Saaltheater zu begleiten, es trete dort, seit einer Woche etwa, eine blutjunge Tänzerin auf; mehrere seiner französischen Kollegen hätten ihm dringend geraten, hinzugehen.

 

Crammon war einverstanden.

 

Weikhardt führte ihn durch ein Gewirr verdächtiger Gäßchen zu einem Haus, das nicht minder verdächtig aussah. Es war das Theater Sapajou. Ein phantastisch gekleideter Knabe öffnete ihnen die Tür eines mäßig großen, halbverdunkelten Raums mit purpurroten Wänden und einer Holzgalerie. Ungefähr fünfzig Menschen, meist Maler und Literaten mit ihren Frauen, saßen einer winzigen Bühne gegenüber. Die Vorstellung hatte schon begonnen.

 

Zwei Geigen und eine Klarinette machten Musik.

 

Und Crammon sah Eva Sorel tanzen.

 

 

2

 

 

Nun grollte er Franz Lothar und Felix Imhof nicht mehr; er war froh, daß sie nicht da waren.

 

Er fürchtete sich, einem seiner vielen Pariser Bekannten zu begegnen, und schlich mit gesenkten Augen durch die Straßen. Es war ihm widerwärtig, zu denken, daß er mit ihnen von Eva Sorel hätte reden müssen und daß sie dann eine gleichgültige oder neugierige Miene zeigen würden, ohne zu fühlen, was er fühlte.

 

Den Maler Weikhardt mied er, denn sein Anblick riß ihn aus der Illusion, daß er, Crammon, Eva Sorel entdeckt habe und daß sie vorläufig nur in seinem Bewußtsein als das Wunder lebte, das er in ihr sah.

 

Er ging umher wie ein verkannter Reicher und bekümmert wie ein Geizhals, der seinen Schatz von Dieben belauert weiß. Alle, die ein geschwätziges Entzücken aus dem Theater Sapajou in die Welt hinaustrugen, waren Diebe in seinen Augen, denn sie drohten die Schar der Dummen und Banalen hinter sich her zu ziehen, die das Große in den Staub schleifen, indem sie es zur Mode machen.

 

Es war sein Traum, die Tänzerin auf eine verlassene Insel im Ozean zu entführen. Er hätte sich dann begnügt, sie anzubeten, ohne ihr mit einem Wunsch zu nahen.

 

So wie er für Lorm, den Schauspieler, Beifall verlangt hatte, haßte er den Beifall, den die Tänzerin gewann. Nicht weil sie ein Weib war, nicht aus Männereifersucht. Er betrachtete sie gar nicht wie ein Weib. Sie war ihm als Wesen die Erfüllung dunkler Ahnungen und Gesichte; sie war das Leichte im Gegensatz zum Schweren, das in ihm und allen andern lastete; das Schwebende im Gegensatz zum Kriechenden, das Geheimnis im Gegensatz zum Wissen, die Figur im Gegensatz zum Wirrsal.

 

Er sagte: »Dieses berühmte zwanzigste Jahrhundert, so jung es ist, geht mir auf die Nerven, die Menschheit wälzt sich wie ein häßlicher, plumper Wurm über die Erde. Sie will von ihrer Wurmhaftigkeit befreit werden, und in ihrer Sehnsucht nach Entpuppung entsteht in ihr die Lust zu hüpfen. Es ist der Gipfel barbarischer Komik.«

 

Das Leben, das er führte, war ihm als herausfordernde Störung seiner schweißtriefenden Mitmenschen wohl bewußt. Er schwärmte von Zeiten, in denen die herrschende Klasse wirklich geherrscht, wo ein geistlicher Fürst unter den Angestellten seines Hofstaats einen Kapaunenstopfer gehabt und irgendein unbedeutender Reichsgraf eine Armee besoldet hatte, die aus einem General, sechs Obersten, vier Trommlern und zwei Gemeinen bestand.

 

Daß ihn die Tänzerin aus der Zeit riß, ganz anders noch als der Komödiant, das war es, was er ihr dankte.

 

Er schuf sich ein Idol, denn es kamen die Jahre, wo er dessen bedurfte, ein satter Gieriger, lüstern nach Vogelflug.

 

 

3

 

 

Eva Sorel hatte eine Gesellschafterin und Behüterin, Susanne Rappard; einen häßlichen Irrwisch, schwarz gekleidet und zerstreut. Sie war aus der unbekannten Vergangenheit Evas mit aufgetaucht, und sie rieb sich noch die Finsternis aus den Augen, als sich für die achtzehnjährige Eva die Lichtbahn öffnete. Sie spielte vortrefflich Klavier und war dadurch die Helferin Evas bei deren Übungen.

 

Crammon hatte ihr einige Artigkeiten erwiesen, und der Ton, mit dem er über ihre Herrin sprach, gewann ihm ihre Sympathie. Sie bewog Eva, ihn zu empfangen. »Bringen Sie ihr Blumen,« raunte sie ihm zu, »das mag sie gern.«

 

Eva und Susanne Rappard bewohnten zwei Zimmer in einem kleinen Hotel. Crammon brachte Rosen in solcher Menge, daß die muffigen Korridore stundenlang voll Duft waren.

 

Eintretend gewahrte er Eva vor dem Spiegel, auf einem Armstuhl. Susanne kämmte ihr die Haare, die die Farbe des Honigs hatten.

 

Auf dem Teppich kniete ein junger Mensch, siebzehn Jahre alt, sehr blaß, mit Tränenspuren im Gesicht. Er hatte ihr erklärt, daß er sie liebe. Er mochte nicht aufstehen, auch als der Fremde kam; seine unglückliche Leidenschaft machte ihn blind.

 

Crammon blieb an der Tür stehen.

 

»Susanne, du tust mir weh,« sagte Eva. Susanne warf den Kamm erschrocken auf den Boden.

 

Eva streckte Crammon die Hand entgegen. Er ging hin und beugte sich nieder, um die Hand zu küssen.

 

»Der Arme,« sagte sie lächelnd und deutete auf den Knaben, »er quält sich so, er ist so töricht.«

 

Der Knabe preßte die Stirn an die Lehne ihres Sessels. »Ich werde mich töten,« flüsterte er. Da schlug Eva die Hände zusammen und näherte ihr Gesicht, das spöttische Betrübnis zeigte, dem des Knaben.

 

Welche Bewegung! mußte Crammon denken; wie durchgebildet, wie zart, wie neu! Und wie sich das Augenlid hob und der Stern des Auges energischesten Glanz aufwies und in der Neigung des Kopfes das Kinn ein wenig sank und ein unerwartetes Lächeln in den Mienen war, halb darbend, halb süß, halb verschlagen, halb kindlich.

 

»Wo ist mein Goldreif, Susanne?« fragte Eva und stand auf.

 

Susanne antwortete, sie habe ihn auf den Tisch gelegt. Sie suchte dort umsonst, sie flatterte hin und her, ein schwarzer Riesenfalter, machte Laden auf und wieder zu, schüttelte den Kopf und drückte besinnend die Hand an die Stirn, endlich fand sich der Reif unter dem geschlossenen Klavierdeckel, neben einigen Hundertfrankscheinen.

 

»So ist es immer,« seufzte Eva und steckte den Reif ins Haar, »wir finden alles, aber wir müssen lange suchen.«

 

»Was für eine Art Französisch sprechen Sie eigentlich?« fragte Crammon, der vollkommen Pariserisch sprach.

 

»Ich weiß nicht,« erwiderte sie; »vielleicht ein spanisches, ich bin lange in Spanien gewesen, vielleicht ein deutsches. Ich bin in Deutschland geboren und habe bis zu meinem zwölften Jahr dort gelebt.« Ihr Blick verdunkelte sich ein wenig.

 

 

4

 

 

Der verliebte Knabe war fortgegangen, Eva schien ihn vergessen zu haben, kein Schatten war in ihrem braunblassen Gesicht. Sie setzte sich wieder, und nach einigen Worten und Fragen erzählte sie Crammon ein Erlebnis, das sie gehabt.

 

Der Grund, weshalb sie es erzählte, lag in Verbindung von Gedanken, die sie nicht äußerte. Ihre Blicke ruhten still im Unbegrenzten, für ihre Augen gab es eigentlich keine Wände, und niemand konnte behaupten, daß sie ihn ansah, sie schaute bloß.

 

Susanne Rappard saß im Ofenwinkel, das Kinn auf die Arme gestützt, während die Finger über die zerfurchten Wangen hinauf sich in die leicht ergrauten Haare gewühlt hatten.

 

In Arles in der Provence war häufig ein junger Mönch zu Eva Sorel gekommen, Bruder Leotade. Er war nicht älter als fünfundzwanzig Jahre, kräftig, von südländischem Gepräge, ziemlich schweigsam.

 

Er liebte das Land, er kannte die alten Burgen. Einmal sprach er von einem Turm, der, eine Meile von der Stadt entfernt, auf einem Felsenhügel stand; er rühmte den Ausblick, den man von der Höhe des Turmes genoß, mit Worten, die Eva begierig machten. Bruder Leotade wollte sie führen; sie verabredeten den Tag und die Stunde.

 

Der Turm hatte eine verschlossene eiserne Tür, der Schlüssel war bei einem Weinbauern verwahrt. Es war spät am Nachmittag, als sie sich auf den Weg begaben, aber es war noch heiß auf der baumlosen Straße. Vor Einbruch der Nacht wollten sie zurück sein, deshalb wanderten sie rasch, doch als sie zum Turm kamen, war die Sonne bereits hinter die Hügel gesunken.

 

Bruder Leotade öffnete die eiserne Tür, und man sah eine enggewundene Steintreppe. Sie waren schon mehrere Stufen hinaufgestiegen, da kehrte der Mönch plötzlich um, sperrte die Tür ab und steckte den Schlüssel in die Tasche seiner Kutte. Eva fragte ihn, weshalb er dies täte; er entgegnete, es geschehe der Sicherheit halber.

 

Es war dunkel in dem Turmgewölbe, und Eva sah die Augen des Mönches verderblich blitzen. Sie ließ ihn vorangehen, aber auf einem Treppenabsatz wandte er sich und griff nach ihr. Er war stumm; sie spürte seine Finger. Sie entglitt ihm, ebenfalls stumm, und lief wieder voraus, so schnell sie konnte. Sie hörte keine Schritte hinter sich im Dunkeln; die Treppe schien unendlich. Sie lief empor, der Atem verging, sie lechzte nach dem Licht. Da leuchtete die grüne Himmelsglocke in den Schacht, der Kreis, je mehr sie stieg, erweiterte sich bis zum Scharlach des Westens, und als sie auf der letzten Stufe angelangt war, als sie auf die Plattform trat, aus dem Moder in die Balsamkühle, in die hundertfache Farbenpracht von Luft und Erde, schien die Gefahr überstanden.

 

Sie wartete und bewachte das schwarze Treppenloch. Der Mönch kam nicht herauf. Seine tückische Verborgenheit spannte ihre Nerven qualvoll. Die kurze Dämmerung schwand; es wurde Abend, es wurde Nacht; kein Schritt, kein Laut. Spät erst fiel ihr ein, daß sie rufen konnte; sie rief ins Land hinab, aber sie sah, daß die Gegend öde war und ohne menschliche Wohnungen. Und als ihr schwacher Schrei verklungen war, zeigte sich die Gestalt des Bruders Leotade über der Treppe.

 

Der Ausdruck seines Gesichts flößte ihr noch größeres Entsetzen ein als vorher. Er murmelte etwas und streckte die Arme nach ihr aus. Sie prallte zurück, mit den Händen hinter sich tastend. Er folgte ihr, sie schwang sich auf die Brüstung, kauerte sich in die Zinne, hielt sich am äußersten Rand der Mauer, Haupt und Schulter über dem Abgrund schon. Der Wind erfaßte den Schleier, den sie um den Kopf trug und ließ ihn wehen wie eine Fahne. Der Mönch blieb stehen, ihr Auge bannte ihn. Sein Blick war ununterbrochen auf sie geheftet, doch wagte er sich nicht zu rühren, denn ihre Miene verkündete ihren Entschluß: bei der ersten Bewegung, die er gegen sie machte, gab es für sie nur noch den Sturz in die Tiefe.

 

Trotzdem loderte in seinen Augen das wütendste Verlangen.

 

Stunde auf Stunde verfloß. Der Mönch stand da wie aus Erz, und sie kauerte auf der Zinne mit wehendem Schleier und sonst regungslos und hielt ihn fest im Auge gleich einem Wolf. Der Himmel bedeckte sich mit Sternen; von Zeit zu Zeit sandte sie einen sekundenschnellen Blick hinauf ins Firmament. So nah war sie dem ewigen Feuer nie gewesen; sie hörte die Millionen Welten melodisch in ihrer Bahn schwingen; mit gelähmten Gliedern flog sie; die Hände, die um den Stein geklammert waren, trugen die diamantene Decke des Kosmos, und da unten war die Kreatur, erfüllt von ihrer Leidenschaft, die blinde Kreatur, einem Gott verdungen, den sie belog.

 

Allmählich erhellte sich der Rand des Himmels, und Vögel flatterten auf. Da warf sich Bruder Leotade zur Erde und fing an laut zu beten. Und je lichter der Osten wurde, je lauter betete er. Auf dem Bauche kroch er zur Treppe hin, dann richtete er sich auf und verschwand.

 

Sie sah ihn unten aus der Pforte treten, und mit dem ersten Schein der Sonne verlor er sich zwischen den Weinbergen. Eva lag noch lange matt und betäubt unten im Gras, bevor sie fähig war, zur Stadt zu gehen.

 

»Es hätte sein können,« so schloß sie ihre Erzählung, »daß mir einer vom Sirius her zugeschaut hat, einer, der bald kommt und vielleicht mein Freund sein wird.« Sie lächelte.

 

»Vom Sirius?« ließ sich Susannes Stimme vernehmen; »und woher wird er Perlen haben und Diademe? Und welche Kronen wird er dir anbieten, welche Provinzen? Wir wollen uns nicht mit Habenichtsen einlassen, nicht einmal, wenn sie vom Himmel kommen.«

 

»Still, du Sancho Pansa,« wehrte Eva ab; »er muß wunderbar lachen können, das ist alles, was ich verlange. Er muß lachen können wie jener junge Eseltreiber in Cordova, erinnerst du dich? Er muß so lachen können, daß ich meinen Ehrgeiz vergesse.«

 

Da ist eine Tugend, die nicht um Pfennige betteln geht, dachte Crammon und beschloß, auf der Hut zu sein und sich beizeiten in Sicherheit zu bringen. Denn in seiner Brust verspürte er ein neues, unbekanntes, trauriges Brennen, und er wußte, daß er keineswegs imstande war, zu lachen wie die jungen Eseltreiber in Cordova; keineswegs so, daß eine Ehrgeizige ihren Ehrgeiz vergaß.

 

 

5

 

 

Felix Imhof kam und mit ihm Wolfgang Wahnschaffe, ein hochaufgeschossener junger Mann von zweiundzwanzig Jahren. Er trat mit der Eleganz auf, die ihm seine fast unbeschränkten Mittel erlaubten. Sein Vater war einer der großen Maschinenindustriellen Deutschlands.

 

Crammons Absage hatte ihn verdrossen, und er wollte sich seiner versichern. Es war die Art der Wahnschaffes, daß sie gerade das am stärksten begehrten, was sich ihnen entzog.

 

Sie gingen ins Theater Sapajou, und Felix Imhof fand die Tänzerin unvergleichlich. Sofort spritzten Pläne aus seinem Hirn wie Funken aus glühendem Eisen, das man hämmert. Er wollte eine Akademie der Tanzkunst gründen, einen Impresario zu einer Reise durch Europa dingen, eine Pantomime verfassen, alles womöglich zwischen morgen und übermorgen.

 

Sie saßen zusammen und tranken viel; zuerst Wein, dann Sekt, dann Ale, dann Whisky, dann Kaffee, dann wieder Wein. Auf Imhof übte das Zechen nicht die mindeste Wirkung; er war schon im nüchternen Zustand so wie andre Menschen, wenn sie berauscht sind.

 

Er schwärmte von Gauguin, von Schiller, von Balzac und entwickelte das Projekt einer Menschenzuchtschule; die erlesensten Exemplare von Männern und Weibern sollten verheiratet werden und ein arkadisches Geschlecht erzeugen.

 

Dazwischen zitierte er Verse von Keats und Stellen aus Rabelais, mischte Schnäpse auf zehnerlei Arten und erzählte ein Dutzend saftige Anekdoten aus seiner Lebemannserfahrung. Sein Mund mit den sinnlichen Lippen barst von Superlativen, seine hervorquellenden Negeraugen sprühten Geist und Laune, und der hagere, sehnige Körper litt, wenn er für einige Minuten zur Unbeweglichkeit verurteilt war.

 

Den beiden andern fielen vor Müdigkeit die Augen zu, er aber wurde immer munterer, immer lärmender, fuchtelte mit den Händen, schlug auf den Tisch, schlürfte begeistert die verräucherte Luft ein und lachte mit dem Baß eines Riesen.

 

So ging es fünf Nächte hintereinander, da wurde es Crammon zu viel, und er beschloß abzureisen. Wolfgang Wahnschaffe hatte ihn aufgefordert, ihn zur Jagd nach Waldleiningen zu begleiten.

 

Es war vormittags um elf Uhr, als Felix Imhof zu Crammon kam. In der Mitte des Zimmers stand der große Reisekoffer mit offenem Deckel. Wäsche, Kleider, Bücher, Schuhe, Krawatten waren auf dem Boden verstreut wie aus einer Feuersbrunst gerettete Habseligkeiten. Vor den Fenstern wogten gelbflammend die Baumwipfel des Parks Monceau.

 

Crammon saß nackt, nur mit ein Paar langen Strümpfen an den Beinen, in einem Lehnstuhl. Er hatte nackt gefrühstückt und schaute düster vor sich hin. Der viereckige, gotische Kopf und der breitgebaute, muskulöse Rumpf waren wie aus Bronze.

 

Felix Imhof hatte den Tag zuvor die Bekanntschaft Cardillacs gemacht, des Pariser Börsenkönigs, und war jetzt wieder auf dem Weg zu ihm. Er wollte sich an einer der Unternehmungen Cardillacs mit zwei Millionen beteiligen und fragte Crammon im Vorübergehen, ob er nicht auch Lust habe, eine Summe zu wagen; eine Kleinigkeit genüge, fünfzigtausend Franken; unter den Händen des Zauberers verdoppelten sie sich in drei Tagen, dann habe man den Genuß von Einsatz und Erwartung gehabt.

 

Er sagte: »Dieser Cardillac ist ein Phänomen. Der Mann hat als Laufbursche in einem Bahnhofshotel begonnen, jetzt ist er Hauptaktionär von siebenunddreißig Aktiengesellschaften, Gründer der spanisch-französischen Bank, Besitzer der Zinkminen von La Nere, Gebieter eines ganzen Stocks von Zeitungen und Herr eines Vermögens von Hunderten von Millionen.«

 

Crammon erhob sich, zog aus dem Kleiderhaufen auf dem Boden einen violettfarbenen Schlafrock und hüllte sich fröstelnd darein. Nun sah er aus wie ein Kardinal.

 

»Ist dir vielleicht zufällig bekannt,« fragte er schläfrig sinnend, »oder hast du einmal gesehen, wie die jungen Eseltreiber in Cordova lachen?«

 

Imhofs Gesicht wurde vor Erstaunen dumm. Er wußte nichts zu antworten.

 

Crammon nahm einen faustgroßen Pfirsich von einem Teller und biß hinein. Der Saft träufelte ihm aus den Mundwinkeln.

 

»Es wird nichts andres übrigbleiben, ich werde selbst nach Cordova gehen müssen,« sagte er und seufzte bekümmert.

 

 

6

 

 

Wolfgang Wahnschaffe erzählte unterwegs von seinen Angehörigen; von Judith, seiner Schwester, von seinem älteren Bruder Christian; von seiner Mutter, die die schönsten Perlen in Europa besaß; »in ihrem Schmuck sieht sie aus wie eine indische Göttin,« sagte er; von seinem Vater, den er einen liebenswürdigen Mann mit Hintergründen nannte.

 

Crammon hätte gern Einleuchtenderes erfahren über das Leben und die Vorgeschichte einer dieser reichgewordenen Bürgerfamilien, die der alten Aristokratie den Rang abliefen. Es interessierte ihn als ein Stück Neuland, eine Welt, die noch in Knospen stand und die zu fürchten war.