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Edgar Wallace

Das indische Tuch

Kriminal-Roman

Edgar Wallace

Das indische Tuch

Kriminal-Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Hans Herdegen
2. Auflage, ISBN 978-3-954182-25-1

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Inhaltsverzeichnis

Ka­pi­tel 1

Ka­pi­tel 2

Ka­pi­tel 3

Ka­pi­tel 4

Ka­pi­tel 5

Ka­pi­tel 6

Ka­pi­tel 7

Ka­pi­tel 8

Ka­pi­tel 9

Ka­pi­tel 10

Ka­pi­tel 11

Ka­pi­tel 12

Ka­pi­tel 13

Ka­pi­tel 14

Ka­pi­tel 15

Ka­pi­tel 16

Ka­pi­tel 17

Ka­pi­tel 18

Ka­pi­tel 19

Ka­pi­tel 20

Ka­pi­tel 21

Ka­pi­tel 22

Ka­pi­tel 23

Ka­pi­tel 24

Ka­pi­tel 25

Ka­pi­tel 26

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Kapitel 1

Ein ame­ri­ka­ni­scher Die­ner ist an sich ein Wi­der­spruch. Selbst Brooks gab das dem But­ler Kel­ver ge­gen­über zu, ob­wohl er da­durch sei­ne ei­ge­ne Exis­tenz­be­rech­ti­gung ver­nein­te. Sei­ne große, kräf­ti­ge Ge­stalt kam in der schmu­cken Li­vree gut zur Gel­tung; sein Haar war grau und dünn. Aus sei­ner Wes­ten­ta­sche schau­te stets ein an­ge­bro­che­nes Pa­ket Kau­gum­mi her­vor.

Auch sein Kol­le­ge Gil­der paß­te nicht zu dem Haus­halt des Schlos­ses Marks Prio­ry. Die bei­den wa­ren für ih­ren Be­ruf nicht be­son­ders be­gabt und lern­ten an­schei­nend auch nichts dazu. Trotz­dem wa­ren sie net­te Leu­te und be­nah­men sich den an­de­ren Dienst­bo­ten ge­gen­über im­mer sehr höf­lich.

Man hat­te sie im all­ge­mei­nen gern, wenn man Gil­der auch ein we­nig fürch­te­te. Sei­ne ha­ge­re Er­schei­nung mit dem ein­ge­fal­le­nen, durch­furch­ten Ge­sicht wirk­te et­was düs­ter, au­ßer­dem be­saß er un­heim­li­che Kör­per­kräf­te.

John Til­ling, ei­ner der Park­wäch­ter, be­kam das zu spü­ren. Auch er war groß und statt­lich, aber rot­blond und von jäh­zor­ni­gem Tem­pe­ra­ment. Wil­de Ei­fer­sucht be­herrsch­te ihn, denn sei­ne hüb­sche jun­ge Frau ging gern ihre ei­ge­nen Wege.

Mrs. Til­ling hat­te zum Bei­spiel einen Pfer­de­knecht aus dem Dorf ken­nen­ge­lernt, der ein ro­tes, gro­bes Ge­sicht hat­te, nach Stall und Bier roch und sie auf sei­ne plum­pe Art lieb­te. Aber in ih­rer Phan­ta­sie wur­de er zu ei­nem ver­wun­sche­nen Prin­zen und sie zu ei­ner be­frei­ten Prin­zes­sin. Das war je­doch ein al­ter Skan­dal. Spä­ter ent­wi­ckel­te sie grö­ße­ren Ehr­geiz und ließ sich mit hö­her­ge­stell­ten Leu­ten ein; al­ler­dings wuß­te ihr Mann nichts von al­le­dem.

Ei­nes Nach­mit­tags hielt er Gil­der an, der ge­ra­de von dem al­ten Klos­ter­feld her­über­kam.

»Ent­schul­di­gen Sie!« sag­te Til­ling höf­lich, aber mit ei­nem dro­hen­den Un­ter­ton in sei­ner Stim­me. »Sie sind in letz­ter Zeit ei­ni­ge Male in mei­nem Haus ge­we­sen, wäh­rend ich un­ter­wegs in Hor­se­ham war.«

Er frag­te nicht, er stell­te eine Tat­sa­che fest.

»Ge­wiß«, er­wi­der­te der Ame­ri­ka­ner lang­sam. »Myla­dy gab mir den Auf­trag, we­gen der letz­ten Eier­sen­dung nach­zu­fra­gen, die ihr in Rech­nung ge­stellt wur­de. Sie wa­ren da­mals nicht zu Hau­se, des­halb kam ich am nächs­ten Tag noch ein­mal.«

»Und da war ich wie­der nicht da«, ent­geg­ne­te Til­ling, des­sen Ge­sicht sich rö­te­te.

Gil­der sah ihn nur lä­chelnd an. Er ahn­te nichts von den Lie­bes­aben­teu­ern der Mrs. Til­ling, denn der Dorf­klatsch in­ter­es­sier­te ihn nicht.

»Das stimmt. Sie wa­ren ir­gend­wo im Wald.«

»Aber mei­ne Frau ha­ben Sie ge­trof­fen und mit ihr Tee ge­trun­ken!«

Gil­der wur­de är­ger­lich. Er lä­chel­te jetzt nicht mehr, und sein Blick wur­de hart.

»Worauf wol­len Sie hin­aus?«

Plötz­lich pack­te ihn der Park­wäch­ter am Rock.

»Blei­ben Sie von mei­nem Haus fort –«

Wei­ter kam Til­ling nicht, denn der ame­ri­ka­ni­sche Die­ner nahm ihn be­hut­sam am Hand­ge­lenk, dreh­te sei­ne Hand und mach­te sich frei.

Wäre Til­ling ein schwa­ches Kind ge­we­sen, so hät­te er nicht we­ni­ger Wi­der­stand leis­ten kön­nen.

»Tun Sie das nicht wie­der. Ja, ich habe Ihre Frau ge­se­hen und habe auch Tee mit ihr ge­trun­ken. Für Sie mag sie eine schö­ne Frau sein, aber für mich be­steht sie nur aus zwei hüb­schen Au­gen und ei­ner Nase. Mer­ken Sie sich das!«

Er bog Til­lings Un­ter­arm mit ei­nem Jiu-Jit­su-Griff leicht nach hin­ten.

Der Park­wäch­ter tau­mel­te zu­rück, und es mach­te ihm große Mühe, sich auf den Bei­nen zu hal­ten. Er war ein lang­sam den­ken­der Mann, den un­mög­lich zwei Ge­müts­be­we­gun­gen zu glei­cher Zeit be­herr­schen konn­ten. Des­halb zeig­te er sich in die­sem Au­gen­blick nur er­staunt.

»Sie ken­nen Ihre Frau bes­ser als ich«, er­klär­te Gil­der, wäh­rend er sich zu sei­ner vol­len Grö­ße auf­rich­te­te. »Vi­el­leicht be­ur­tei­len Sie ih­ren Cha­rak­ter rich­tig, aber wenn Sie Ver­dacht auf mich ha­ben, dann täu­schen Sie sich ge­wal­tig.«

Als er nach ei­ner Be­sor­gung beim Apo­the­ker vom Dorf zu­rück­kam, fand er Til­ling bei­na­he an der­sel­ben Stel­le, an der er ihn vor­her ver­las­sen hat­te.

Der Park­wäch­ter war nicht mehr auf­säs­sig und mach­te Gil­der kei­ne wei­te­ren Vor­wür­fe, in ge­wis­ser Wei­se ver­such­te er so­gar, sich bei dem Ame­ri­ka­ner zu ent­schul­di­gen. Man sag­te Gil­der nach, daß er Ein­fluß auf die Schloß­her­rin hät­te.

»Es wäre mir lieb, Mr. Gil­der, wenn Sie die Ge­schich­te ver­ges­sen woll­ten. Ich habe eine klei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit mei­ner Frau ge­habt und bin sehr auf­ge­regt. Es kom­men so vie­le Leu­te in mein Haus, aber ich glau­be, daß Sie als ver­hei­ra­te­ter Mann –«

»Das stimmt schon wie­der nicht. Ich bin nicht ver­hei­ra­tet, aber ich bin häus­lich ver­an­lagt. Und jetzt wol­len wir nicht mehr über die Sa­che re­den.«

Spä­ter er­zähl­te er Brooks den Vor­fall, und der kor­pu­len­te Mann hör­te ru­hig zu, wäh­rend er sei­nen Kau­gum­mi be­ar­bei­te­te.

»Ha­ben Sie schon ein­mal von Mes­sa­li­na ge­hört, Gil­der?« frag­te er dann. »Sie war eine Ita­li­e­ne­rin, die Frau von Ju­li­us Cäsar oder so ei­nem ähn­li­chen Kerl.«

Brooks las viel, und er hat­te auch ein Ge­dächt­nis für Na­men.

Kapitel 2

Der Her­ren­sitz Marks Prio­ry war schon zur Zeit der Sach­sen ge­grün­det wor­den, und der West­turm hat­te ein ho­hes Al­ter. Die an­de­ren Tei­le des Ge­bäu­des stamm­ten aus den ver­schie­dens­ten Zei­ten. Lord Wil­lie Le­ba­non, der Herr von Marks Prio­ry, är­ger­te sich über das Haus, ob­wohl ihn der Auf­ent­halt hier in ge­wis­ser Wei­se be­ru­hig­te. Dr. Amers­ham hielt es für ein Ge­fäng­nis, in dem er eine un­an­ge­neh­me Pf­licht zu er­fül­len hat­te, und nur Lady Le­ba­non sah dar­in den Stamm­sitz ih­res ur­al­ten Ge­schlechts.

Lady Le­ba­non war schlank und nicht all­zu groß, aber ihre ta­del­lo­se Fi­gur wirk­te we­der klein noch un­be­deu­tend. Das rei­che, schwar­ze Haar, das dem fein­ge­schnit­te­nen Ge­sicht einen reiz­vol­len Rah­men gab, trug sie in der Mit­te ge­schei­telt. Von Zeit zu Zeit leuch­te­ten ihre dunklen Au­gen auf und ver­rie­ten einen fa­na­ti­schen Cha­rak­ter, ob­wohl sie sonst in ih­rem We­sen fest, kühl und klar war. Im­mer schi­en sie sich be­wußt zu sein, daß sie als Ari­sto­kra­tin die Pf­licht hat­te, zu re­prä­sen­tie­ren; der Geist der neu­en Zeit hat­te sie nicht be­rührt. Sie hat­te einen Vet­ter ge­hei­ra­tet und war er­füllt von der Be­deu­tung des al­ten Ge­schlechts der Le­ba­non.

Ihr Sohn Wil­lie fand we­nig Freu­de an dem Le­ben, das er auf Marks Prio­ry füh­ren muß­te, und lang­weil­te sich. Ob­wohl er ver­hält­nis­mä­ßig schwäch­lich war, hat­te er mit Er­folg die Mi­li­tär­aka­de­mie in Sand­hurst be­sucht. Da­rauf tat er als Leut­nant zwei Jah­re Dienst in In­di­en, was einen sehr gu­ten Ein­fluß auf sei­nen Ge­sund­heits­zu­stand hat­te. Schließ­lich be­kam er je­doch einen schwe­ren Fie­ber­an­fall und wur­de da­durch et­was ner­vös und un­ru­hig. Lady Le­ba­non er­zähl­te das ih­ren Gäs­ten, wenn sie sich über­haupt zu ei­ner Er­klä­rung her­beiließ. Un­vor­ein­ge­nom­me­ne Beo­b­ach­ter hät­ten viel­leicht einen an­de­ren Grund für die Ner­vo­si­tät des Lords fin­den kön­nen.

Lang­sam stieg er eben die große Wen­del­trep­pe in dem run­den Turm von Marks Prio­ry hin­un­ter, die in die große Hal­le führ­te. Er war fest ent­schlos­sen, end­lich mit sei­ner Mut­ter ins rei­ne zu kom­men. Schon oft hat­te er die­sen Ent­schluß ge­faßt, aber bis­her nie­mals den Mut und die Ener­gie auf­ge­bracht, sei­ne Ab­sicht tat­säch­lich aus­zu­füh­ren.

Sie saß ge­ra­de an ih­rem Schreib­tisch und las ihre Brie­fe. Als er in die Hal­le trat, sah sie ihn lan­ge und durch­drin­gend an und brach­te ihn al­lein da­durch schon in Ver­le­gen­heit.

»Gu­ten Mor­gen, Wil­lie.«

Ihre Stim­me klang an­ge­nehm, aber es lag eine ge­wis­se Här­te dar­in, die auf den jun­gen Lord einen un­an­ge­neh­men Ein­druck mach­te.

»Kann ich ein­mal mit dir spre­chen?« frag­te er schließ­lich.

Er ver­such­te, sich zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, was er ihr sa­gen woll­te. Er war das Haupt der Fa­mi­lie… er war der Herr von Marks Prio­ry in der Graf­schaft Sus­sex… er hat­te zu be­feh­len und an­zu­ord­nen!

»Ja, was wünschst du, Wil­lie?«

Sie lehn­te sich in ih­ren Ses­sel zu­rück und fal­te­te die schön­ge­form­ten Hän­de.

»Ich habe Gil­der ent­las­sen«, er­wi­der­te er un­si­cher. »Er be­nimmt sich ge­ra­de­zu un­ver­schäm­t… es ist über­haupt lä­cher­lich, daß man Ame­ri­ka­ner im Schloß dul­det, die nicht wis­sen, wie sie sich zu be­tra­gen ha­ben. Es gibt doch ge­nug eng­li­sche Dienst­bo­ten, die du en­ga­gie­ren könn­test. Brooks ist min­des­tens eben­so schlim­m…«

Hier ging ihm der Atem aus, aber sie war­te­te ge­dul­dig. Wenn sie doch nur et­was ge­sagt hät­te oder är­ger­lich ge­wor­den wäre! Er war doch tat­säch­lich Herr im Hau­se! Un­glaub­lich, daß er nicht ein­mal einen Dienst­bo­ten ent­las­sen konn­te, wenn er woll­te. Er hat­te doch eine gan­ze Schwa­dron kom­man­diert, al­ler­dings nur in Ver­tre­tung des Ritt­meis­ters, der auf Ur­laub war. Aber der Re­gi­ments­kom­man­deur hat­te lo­bend an­er­kannt, daß Wil­lie trotz sei­ner Ju­gend sei­ne Auf­ga­be aus­ge­zeich­net durch­ge­führt hat­te und mit den Leu­ten fer­tig ge­wor­den war.

Der jun­ge Lord räus­per­te sich.

»Es macht mich doch vor den Leu­ten lä­cher­lich«, fuhr er fort. »Ich mei­ne, die Lage, in der ich mich hier be­fin­de. Im Wirts­haus re­den die Bau­ern dar­über, und man hat mir ge­sagt, daß im Dorf alle dar­über spre­chen.«

»Wer hat dir das ge­sagt?«

Sei­ne Mut­ter sprach sehr ener­gisch, und bei dem me­tal­li­schen Klang ih­rer Stim­me fuhr er er­schro­cken zu­sam­men.

»Nun, die Leu­te er­zäh­len, daß ich mich wie ein klei­ner Jun­ge be­neh­me, der im­mer an der Schür­ze sei­ner Mut­ter hängt, und so wei­ter.«

»Wer hat das ge­sagt?« frag­te sie wie­der. »Etwa Studd?«

Er wur­de rot, denn sie hat­te das Rich­ti­ge ge­trof­fen. Aber er muß­te dem Chauf­feur ge­gen­über sein Wort hal­ten und durf­te ihn nicht ver­ra­ten.

»Studd? Um Him­mels wil­len, nein! Ich wür­de doch der­glei­chen nicht mit ei­nem An­ge­stell­ten be­spre­chen. Nein, ich habe es hin­ten­her­um ge­hört, und auf je­den Fall habe ich Gil­der ent­las­sen.«

»Es tut mir leid, daß ich ohne Gil­der nicht aus­kom­men kann. Au­ßer­dem ist es nicht an­ge­bracht, daß du einen Dienst­bo­ten ent­läßt, ohne dich vor­her mit mir in Ver­bin­dung zu set­zen.«

Er zog einen Ses­sel an die an­de­re Sei­te des Schreib­ti­sches und ließ sich ihr ge­gen­über nie­der. Dann mach­te er einen ener­gi­schen Ver­such, ihr in die Au­gen zu schau­en, aber er starr­te doch nur den sil­ber­nen Leuch­ter an, der et­was seit­wärts in glei­cher Höhe mit ih­rem Kopf stand.

»Al­len Leu­ten ist es auf­ge­fal­len, wie sich die­se bei­den be­neh­men«, sag­te er hart­nä­ckig. »Sie den­ken gar nicht dar­an, mich mit Myl­ord an­zu­re­den. Da­ran liegt mir al­ler­dings auch nicht viel, denn wir le­ben in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Zeit. Aber sie tun nichts im Hau­se, sie sind voll­kom­men un­nütz und ste­hen nur her­um. Ich habe doch recht, Mut­ter!«

Sie lehn­te sich et­was vor.

»Du hast un­recht, Wil­lie. Ich brau­che die bei­den hier, und du hast kei­ne Ur­sa­che, vor­ein­ge­nom­men ge­gen sie zu sein, nur weil sie Ame­ri­ka­ner sind.«

»Ich habe kei­ne Vor­ur­tei­le ge­gen sie –«

»Bit­te, un­ter­brich mich nicht, wenn ich spre­che, mein lie­ber Jun­ge. Du mußt nicht auf die Ge­schich­ten hö­ren, die Studd dir er­zählt. Er ist ein net­ter, um­gäng­li­cher Mensch, aber ich weiß nicht, ob er der rich­ti­ge Chauf­feur für Marks Prio­ry ist.«

»Du willst ihn doch nicht etwa ent­las­sen?« pro­tes­tier­te er. »Ver­dammt noch mal, ich habe drei gute Kam­mer­die­ner ge­habt, und je­des­mal sag­test du, sie wä­ren nicht die rich­ti­gen Leu­te für mich, ob­wohl ich sehr gut mit ih­nen aus­kam!« Er nahm al­len Mut zu­sam­men. »Ich glau­be, daß sie nur Amers­ham nicht paß­ten!«

Sie warf den Kopf leicht zu­rück.

»Ich rich­te mich nie nach Dr. Amers­hams An­sicht, ich fra­ge ihn nicht um Rat und las­se mich auch nicht durch ihn lei­ten«, er­wi­der­te sie scharf.

Er gab sich die größ­te Mühe, ih­ren Blick aus­zu­hal­ten.

»Was macht der Dok­tor über­haupt im Schloß?« frag­te er. »Er lebt hier in Marks Prio­ry, ob­wohl er mir un­aus­steh­lich ist. Wenn ich dir er­zähl­te, was ich al­les von ihm ge­hört habe –«

Er brach plötz­lich ab, denn die bei­den ab­ge­zir­kel­ten, ro­ten Fle­cke auf ih­ren Wan­gen wa­ren ein Sturm­si­gnal, das er nur zu gut kann­te.

Zu sei­ner größ­ten Er­leich­te­rung kam Isla Cra­ne in die Hal­le. Sie hielt ei­ni­ge Brie­fe in der Hand, als sie aber Mut­ter und Sohn im Ge­spräch sah, zö­ger­te sie. Dann woll­te sie sich schnell zu­rück­zie­hen, aber Lady Le­ba­non rief sie her­bei.

Isla war vier­und­zwan­zig Jah­re alt. Sie hat­te dunkle Haa­re, dunkle Au­gen und eine schlan­ke, an­mu­ti­ge Ge­stalt.

Wil­lie Le­ba­non grüß­te sie mit ei­nem Lä­cheln, denn Isla ge­fiel ihm. Ein­mal hat­te er über sie mit sei­ner Mut­ter ge­spro­chen, und zu sei­nem größ­ten Er­stau­nen hat­te sie ihm kei­ne Vor­hal­tun­gen ge­macht. Isla war eine ent­fern­te Ku­si­ne von ihm und ar­bei­te­te als Se­kre­tä­rin bei Lady Le­ba­non. Auch auf Dr. Amers­ham mach­te sie tie­fen Ein­druck. Aber da­von wuß­te Lady Le­ba­non nichts.

Isla leg­te die Brie­fe auf den Tisch und war zu­frie­den, als Myla­dy sie nicht zu­rück­hielt.

»Fin­dest du nicht, daß sie sehr schön ist?« frag­te Lady Le­ba­non, als die Se­kre­tä­rin ge­gan­gen war.

Eine son­der­ba­re Fra­ge, denn sei­ne Mut­ter lob­te nur sel­ten an­de­re Men­schen. Er glaub­te da­her, daß sie der Un­ter­hal­tung eine an­de­re Wen­dung ge­ben woll­te, und das war ihm nur recht, da sein Mut und sei­ne Ener­gie er­schöpft wa­ren.

»Ja, sie ist fa­bel­haft«, ent­geg­ne­te er nicht sehr be­geis­tert, war aber ge­spannt, was sie nun sa­gen wür­de.

»Es ist mein Wunsch, daß du sie hei­ra­test«, er­klär­te sie ganz ru­hig.

Er starr­te sie an.

»Wa­rum soll ich denn Isla hei­ra­ten?« frag­te er be­stürzt.

»Sie ist doch ein Mit­glied un­se­rer Fa­mi­lie. Ihr Ur­groß­va­ter war der jün­ge­re Bru­der dei­nes Ur­groß­va­ters.«

»Aber ich will doch gar nicht hei­ra­ten –«

»Rede nicht so al­bern, Wil­lie. Du mußt hei­ra­ten, und Isla ist in je­der Be­zie­hung eine gute Par­tie. Geld hat sie zwar nicht, aber dar­auf kommt es auch nicht an. Sie ist aus gu­ter Fa­mi­lie, das ist die Haupt­sa­che.«

Er sah sie im­mer noch ent­setzt an.

»Hei­ra­ten? Ich habe doch nie dar­an ge­dacht. Nein, der Ge­dan­ke ist mir schreck­lich. Sie ist zwar sehr nett, aber –«

»Ich wün­sche, daß du dei­nen ei­ge­nen Haus­halt führst.«

Er dach­te bei sich, daß er das schon längst tun wür­de, wenn sie ihn nur schal­ten und wal­ten lie­ße.

»Wenn die Leu­te dar­über re­den, daß du dich an die Schür­ze dei­ner Mut­ter hängst, muß dir die­ser Vor­schlag doch will­kom­men sein. Ich möch­te nicht dei­net­we­gen mein gan­zes Le­ben hier in Marks Prio­ry ver­brin­gen.«

Das war al­ler­dings eine ver­lo­cken­de Aus­sicht. Wil­lie Le­ba­non at­me­te tief auf, dann er­hob er sich.

»Na­tür­lich muß ich ein­mal hei­ra­ten, aber es ist furcht­bar schwer…« Er zö­ger­te, be­vor er wei­ter­sprach. Wie wür­de sie sein Ge­ständ­nis auf­neh­men? »Ich habe ver­sucht, mich ein we­nig mit ihr an­zu­freun­den – ja, ich habe sie vor etwa vier Wo­chen so­gar ein­mal ge­küßt, aber sie war ent­setz­lich wi­der­spens­tig!«

»Das war auch nicht recht von dir, sie ein­fach zu küs­sen!«

Gil­der kam in Sicht, und Wil­lie war froh, daß die Un­ter­hal­tung un­ter­bro­chen wur­de.

Gil­ders Li­vree war von ei­nem gu­ten Lon­do­ner Schnei­der an­ge­fer­tigt wor­den, aber der Ame­ri­ka­ner hat­te eine un­glück­li­che Fi­gur.

Lord Le­ba­non war­te­te auf die Vor­wür­fe sei­ner Mut­ter, die sei­ner Er­fah­rung nach nicht aus­blei­ben konn­ten, aber sie sag­te nichts über das ver­nach­läs­sig­te Aus­se­hen des Die­ners, sie frag­te nicht ein­mal, wie er dazu käme, sie ohne wei­te­res zu stö­ren.

»Wün­schen Sie et­was, Myla­dy?« er­kun­dig­te sich Gil­der.

Als sie den Kopf schüt­tel­te, ver­ließ er lang­sam die Hal­le.

»Wenn du ihn nur ge­fragt hät­test, was, zum Teu­fel, er ei­gent­lich woll­te –«

»Den­ke an das, was ich dir über Isla ge­sagt habe«, un­ter­brach sie ihn, ohne sich um sei­nen Pro­test zu küm­mern. »Sie ist ent­zückend – und sie stammt aus un­se­rer Fa­mi­lie. Ich wer­de ihr mit­tei­len, daß ich eine Hei­rat zwi­schen euch bei­den wün­sche!«

Er schau­te sie ver­blüfft an.

»Weiß sie denn noch nichts da­von?«

»Und was nun Studd an­geht –«, sie run­zel­te die Stirn.

»Du wirst ihn doch nicht ent­las­sen? Er ist wirk­lich ein sehr gu­ter Kerl, und er hat mir auch gar nichts er­zählt.«

Spä­ter traf Lord Le­ba­non den Chauf­feur in der Ga­ra­ge.

»Ich fürch­te, daß ich Ih­nen kei­nen gu­ten Dienst er­wie­sen habe«, er­klär­te er schuld­be­wußt. »Ich sag­te heu­te zu mei­ner Mut­ter, daß die Leu­te über mich klat­schen…«

Studd rich­te­te sich grin­send auf.

»Ach, dar­auf kommt es mir nicht an, Myl­ord.«

Der etwa fünf­und­drei­ßig­jäh­ri­ge Mann hat­te ein fri­sches, ge­sun­des Aus­se­hen. Frü­her war er Sol­dat ge­we­sen und hat­te in In­di­en ge­dient.

»Ich gebe die Stel­lung hier nicht gern auf, aber ich glau­be nicht, daß ich noch lan­ge blei­ben kann. Ge­gen Myla­dy habe ich nichts, sie ist im­mer sehr höf­lich und wohl­wol­lend zu mir. Da­ge­gen wer­den Sie wie ein Skla­ve von ihr be­han­delt. Ich gehe nur we­gen die­ses ge­mei­nen Kerls.«

Lord Le­ba­non seufz­te. Er brauch­te nicht erst zu fra­gen, wer die­ser ge­mei­ne Kerl wäre.

»Wenn Myla­dy eben­so­viel von ihm wüß­te wie ich«, sag­te Studd ge­heim­nis­voll, »dann wür­de sie ihm das Haus ver­bie­ten!«

»Was wis­sen Sie denn?« er­wi­der­te Le­ba­non neu­gie­rig.

Er hat­te die­se Fra­ge schon frü­her ge­stellt, aber nie eine ge­naue Ant­wort dar­auf er­hal­ten.

»Wenn die Zeit kommt, wer­de ich auch ein paar Wor­te zu re­den ha­ben. Er war doch in In­di­en?«

»Selbst­ver­ständ­lich. Er fuhr hin, um mich nach Hau­se zu brin­gen, und in frü­he­ren Jah­ren war er drü­ben Re­gie­rungs­arzt. Wis­sen Sie et­was über ihn – ich mei­ne über sei­ne Af­fä­ren in In­di­en?«

»Im rech­ten Au­gen­blick mel­de ich mich schon und sage, was ich über ihn den­ke«, er­wi­der­te Studd düs­ter.

Er zeig­te auf einen An­bau an der Ga­ra­ge. Dort stand ein neu­er Wa­gen, den Wil­lie noch nie ge­se­hen hat­te.

»Die Kar­re ge­hört ihm. Wo kriegt er nur das Geld her, daß er sich so einen Wa­gen an­schaf­fen kann? Der kos­tet doch ein paar tau­send Pfund. Und als ich den Mann da­mals kann­te, war er plei­te. Ich möch­te nur wis­sen, wo­her er das Geld nimmt.«

Wil­lie Le­ba­non hat­te sei­ner Mut­ter schon oft die­sel­be Fra­ge vor­ge­legt, ohne eine Ant­wort dar­auf zu er­hal­ten.

Der jun­ge Lord haß­te Dr. Amers­ham; alle Leu­te mit Aus­nah­me sei­ner Mut­ter und der bei­den ame­ri­ka­ni­schen Die­ner haß­ten den klei­nen, ener­gi­schen Herrn, der sich et­was zu auf­fäl­lig klei­de­te und zu­viel Par­füm ge­brauch­te. Über­all ver­such­te Dr. Amers­ham sich Gel­tung zu ver­schaf­fen, und wenn man dem Dorf­klatsch trau­en konn­te, war er auch ein Schür­zen­jä­ger. Aus un­be­kann­ten Grün­den flos­sen ihm plötz­lich reich­li­che Mit­tel zu; er be­saß eine schö­ne Woh­nung in der De­v­ons­hi­re Street in Lon­don, hat­te drei Renn­pfer­de und leb­te auch sonst auf großem Fuß. Häu­fig war er in Marks Prio­ry; er kam zu je­der Ta­ges­zeit mit sei­nem Auto von Lon­don und brach­te dann ein bis zwei Stun­den im Her­ren­hau­se zu. Und so­bald er er­schi­en, war es, als ob er nur zu be­feh­len hät­te.

*

Der Arzt stieg die Trep­pe her­un­ter, auf der er schon ei­ni­ge Zeit ge­stan­den und ge­lauscht hat­te. Eine Se­kun­de, nach­dem Wil­lie ge­gan­gen war, kam er nä­her und zog einen Stuhl an den Schreib­tisch, an dem Lady Le­ba­non saß. Er nahm eine Zi­ga­ret­te aus sei­nem gol­de­nen Etui und steck­te sie an, ohne um Er­laub­nis zu fra­gen.

Dr. Amers­ham blies einen Rauch­ring in die Luft und sah Lady Le­ba­non an.

»Was ist das für eine neue Idee, daß Wil­lie Isla hei­ra­ten soll?«

»Sie ha­ben wohl auf der Trep­pe ge­lauscht?«

»Ja. Da ich nichts er­fah­re, muß ich al­les selbst her­aus­fin­den. Isla soll also den Jun­gen hei­ra­ten?«

»Wa­rum nicht?« frag­te sie scharf.

Sei­ne Au­gen wa­ren rot und ent­zün­det, und sei­ne Hand zit­ter­te, als er die Zi­ga­ret­te aus dem Mund nahm. Er hat­te eine Ge­sell­schaft in sei­ner Woh­nung ge­ge­ben und nur we­nig ge­schla­fen.

»Ha­ben Sie mich des­halb ge­ru­fen? Bei­na­he wäre ich über­haupt nicht ge­kom­men. Ich hat­te eine schlaflo­se Nacht, ein Pa­ti­ent –«

»Sie ha­ben kei­nen Pa­ti­en­ten ge­habt«, er­klär­te sie ru­hig. »Ich be­zweifle, daß je­mand in Lon­don so un­ver­nünf­tig ist, Sie als Arzt zu neh­men!«

Er lä­chel­te.

»Sie selbst ha­ben mich doch en­ga­giert – das ge­nügt voll­kom­men. Ei­nen so gu­ten Pa­ti­en­ten fin­det man so bald nicht wie­der.«

Er lach­te über die­sen Scherz, aber Lady Le­ba­n­ons Ge­sichts­aus­druck blieb starr.

»Ihr Chauf­feur ist wirk­lich nicht viel wert. Der Kerl ist ziem­lich un­ver­schämt; er hat­te doch die Frech­heit, mich zu fra­gen, warum ich mir nicht mei­nen ei­ge­nen Chauf­feur mit­brin­ge! Au­ßer­dem steht er auch auf et­was zu ver­trau­tem Fuß mit Wil­lie!«

»Wer hat Ih­nen das ge­sagt?« frag­te sie schnell.

»Das habe ich ge­hört. Es gibt ge­nug Leu­te in der Nähe, die mir mit­tei­len, was hier pas­siert.« Er lä­chel­te be­frie­digt, denn er hat­te wirk­lich zwei sehr gute Freun­de in Marks Prio­ry; au­ßer­dem war da die hüb­sche Mrs. Til­ling. An­de­rer­seits ver­ehr­te die Frau des Park­wäch­ters auch den Chauf­feur Studd, was Dr. Amers­ham zu sei­nem größ­ten Miß­ver­gnü­gen ent­deckt hat­te.

»Und was sagt Isla zu der Hei­rat?«

»Ich habe noch nicht mit ihr ge­spro­chen.«

»Kei­ne schlech­te Idee. Merk­wür­di­ger­wei­se ist mir der Ge­dan­ke noch nie ge­kom­men. Is­la… ja, eine au­ßer­or­dent­lich gute Idee.«

Wenn sie über sei­ne Wor­te er­staunt war, so zeig­te sie es je­den­falls nicht.

»Au­ßer­dem ist sie eine Bluts­ver­wand­te der Le­ba­n­ons. Ist es nicht schon ein­mal in der Ge­schich­te der Fa­mi­lie vor­ge­kom­men, daß Vet­ter und Ku­si­ne ein­an­der un­ter ähn­li­chen Um­stän­den ge­hei­ra­tet ha­ben?« Er sah zu den dunklen Bil­dern auf, die an den ho­hen Wän­den hin­gen. »Ich habe ein gu­tes Ge­dächt­nis und ken­ne die Ge­schich­te der Le­ba­n­ons fast eben­so­gut wie Sie.« Um­ständ­lich zog er sei­ne Uhr her­aus. »Ich woll­te bald wie­der zu­rück­fah­ren nach Lon­don –«

»Ich möch­te aber, daß Sie blei­ben«, er­klär­te sie kurz.

»Ich habe eine Kon­fe­renz heu­te nach­mit­tag –«

»Trotz­dem blei­ben Sie. Ich habe ein Zim­mer für Sie rich­ten las­sen. Studd muß na­tür­lich ent­las­sen wer­den; er hat Wil­lie von dem Dorf­klatsch er­zählt.«

Er rich­te­te sich plötz­lich auf. Hat­te am Ende Mrs. Til­ling et­was ge­sagt?

»War es et­was über mich?« frag­te er schnell.

»Was soll­ten die Leu­te im Dorf denn über Sie re­den?«

Er lach­te ein we­nig ver­wirrt.

Sie wuß­te, daß sei­ne Hei­ter­keit nur vor­ge­täuscht war, aber sie mach­te kei­ne Be­mer­kung dar­über.

Dr. Amers­ham füg­te sich. Er murr­te zwar noch et­was, fand aber kei­ne wei­te­re Aus­re­de.

Er hat­te auch gar nicht die Ab­sicht, zur Stadt zu­rück­zu­keh­ren; er woll­te die Nacht in ei­nem klei­nen Haus in der Nähe ver­brin­gen, das er sich von ei­nem jun­gen Lon­do­ner In­nen­ar­chi­tek­ten hat­te aus­stat­ten las­sen. Dort hat­te er eine Verab­re­dung. Aber von al­le­dem ahn­te Lady Le­ba­non na­tür­lich nichts.

»Ha­ben Sie üb­ri­gens Studd ein­mal in In­di­en ge­trof­fen?« frag­te sie un­ver­mit­telt, als er sich zum Ge­hen wand­te. »Er hat in Puna ge­dient.«

Er dreh­te sich rasch um; sein Ge­sichts­aus­druck hat­te sich voll­stän­dig ver­än­dert.

»In Puna?« frag­te er scharf. »Wann war das?«

»Das weiß ich nicht. Aber er hat an­de­ren Leu­ten er­zählt, daß er Sie dort kann­te. Das wäre eine wei­te­re Ver­an­las­sung, ihm zu kün­di­gen.«

Dr. Amers­ham woll­te Studd noch aus ei­nem an­de­ren Grund von Marks Prio­ry ent­fer­nen, aber dar­über schwieg er selbst­ver­ständ­lich.

Kapitel 3

Mr. Kel­ver, der But­ler von Marks Prio­ry, ver­brach­te abends gern eine Stun­de vor dem Ne­ben­ein­gang und be­trach­te­te von dort aus die Ge­gend. Wie schon oft über­leg­te er ge­ra­de wie­der, ob es mit sei­ner Wür­de ver­ein­bar wäre, je­den Abend schon um neun Uhr von sei­ner Herr­schaft ge­trennt zu wer­den. Genau um die­se Stun­de schloß Lady ne­ben­an näm­lich die große Ei­chen­tür zu, die den Nord­ost­flü­gel des Her­ren­hau­ses von den an­de­ren Räu­men ab­grenz­te.

Die Quar­tie­re der Die­ner­schaft wa­ren sehr ge­räu­mig und be­hag­lich ein­ge­rich­tet, und mit Er­laub­nis Mr. Kel­vers konn­ten die An­ge­stell­ten ein- und aus­ge­hen, wann und wie sie woll­ten. Sie be­nutz­ten dann den Fuß­weg, der am Wald ent­lang zum Dorf hin­un­ter­führ­te. Aber er emp­fand es doch als star­ke Zu­rück­set­zung, fast als Be­lei­di­gung, daß er selbst, der in hoch­ad­li­gen Häu­sern ge­dient hat­te, auch mit den an­de­ren Dienst­bo­ten vom Her­ren­haus aus­ge­schlos­sen wur­de.

Die Tür, vor der er stand, lag im Nord­ost­flü­gel und war in ge­wis­ser Wei­se ein Pri­vatein­gang für ihn selbst. Die an­de­ren An­ge­stell­ten gin­gen wie die Kauf­leu­te und Lie­fe­ran­ten durch die klei­ne Ein­gangs­hal­le.

Studd ge­gen­über sprach er sich manch­mal aus, wenn er auch die­sem höf­li­chen und er­fah­re­nen Mann nie­mals sein vol­les Ver­trau­en schenk­te.

Der Chauf­feur war ge­ra­de auf dem Weg zur Ga­ra­ge, bog um einen der bei­den großen Eck­tür­me des Schlos­ses und blieb bei Kel­ver ste­hen. Da er et­was er­hitzt aus­sah, dach­te Kel­ver zu­erst, Studd hät­te zu­viel ge­trun­ken.

»Ich habe die­sem Dr. Amers­ham end­lich ein­mal die Mei­nung ge­sagt«, be­gann Studd und zeig­te mit dem Dau­men über die Schul­ter. »Das will nun ein großer Herr und ein Dok­tor sein! Wenn Myla­dy wüß­te, was ich weiß, blie­be der Kerl kei­ne fünf Mi­nu­ten län­ger im Haus! Der war bei der in­di­schen Ar­mee! Na, ich könn­te et­was er­zäh­len, wenn man mich frag­te!«

»Um was han­delt es sich denn?« er­kun­dig­te sich Mr. Kel­ver höf­lich. Er tat im­mer so, als ob er Klatsch nicht hö­ren woll­te, ob­wohl er sehr be­gie­rig dar­auf war, das Neues­te zu er­fah­ren.

»Es ist merk­wür­dig. Ich habe im Dorf einen ko­mi­schen Mann ge­trof­fen, der mir er­zähl­te, daß er frü­her in In­di­en ge­we­sen wäre. Da­rauf lud ich ihn zu ei­nem Glas Bier ins Wirts­haus ein. Bei der Un­ter­hal­tung habe ich nicht viel ge­sagt, son­dern nur zu­ge­hört, aber es ist ganz klar, daß er tat­säch­lich dort war.«

Kel­ver hob den er­grau­ten Kopf und sah den klei­nen Chauf­feur von oben her­ab an.

»Hat Dr. Amers­ham sich über et­was be­klagt?« frag­te er.

Studd wur­de da­durch wie­der an sei­nen Är­ger er­in­nert.

»Es ist et­was an sei­ner Kar­re pas­siert, und ich soll­te die Sa­che in fünf Mi­nu­ten re­pa­rie­ren. Dazu braucht man aber min­des­tens zwei Tage. Er meint, er hät­te hier al­les zu sa­gen, aber wir wis­sen doch ge­nau, daß er nicht der Herr im Schloß ist. Was mei­nen Sie?«

Der But­ler lach­te ge­heim­nis­voll.

»Es gibt al­ler­hand Leu­te auf der Welt«, ent­geg­ne­te er.

»Ich weiß nicht, ob man mit ei­ner so flau­en An­sicht durch­kommt«, er­wi­der­te der Chauf­feur et­was un­si­cher. »Die­ser Her­ren­sitz ge­hört Lord Le­ba­non – dar­über sind wir uns doch we­nigs­tens ei­nig?« Er hob die Hand und zähl­te an den Fin­gern ab. »Nun hö­ren Sie ein­mal zu, wer hier et­was zu sa­gen hat: Zu­erst die­ser blö­de Dr. Amers­ham, der al­les kon­trol­lie­ren will. Zwei­tens Lady Le­ba­non. Drit­tens« – er zö­ger­te – »nen­nen wir ein­mal Miss Cra­ne. Aber ge­gen die habe ich nicht das min­des­te. Und als letz­ter kommt Lord Le­ba­non!«

»Myl­ord ist noch jung«, er­klär­te Mr. Kel­ver höf­lich.

Er hat­te die­sel­be Mei­nung wie Studd, aber sei­ne Stel­lung leg­te ihm Pf­lich­ten auf, an die er sich ge­bun­den fühl­te. Mr. Kel­ver hat­te bei dem Her­zog von Col­broo­ke ge­dient, und schon seit vie­len Ge­ne­ra­tio­nen hat­ten sei­ne Vor­fah­ren große Her­ren be­treut. Da­her wuß­te er ge­nau, daß es ihm nicht zu­stand, sei­ne Herr­schaft zu kri­ti­sie­ren.

Plötz­lich hör­ten die bei­den schnel­le Schrit­te auf dem Kies­weg, und gleich dar­auf er­schi­en Dr. Amers­ham.

»Nun, Studd, ha­ben Sie mei­nen Wa­gen fer­tig­ge­macht?«

Der Dok­tor hat­te eine schar­fe, un­an­ge­neh­me Stim­me, und sein gan­zes Auf­tre­ten reiz­te zum Wi­der­spruch.

»Nein«, ent­geg­ne­te der Chauf­feur hef­tig. »Und ich ma­che ihn auch nicht fer­tig – ich gehe heu­te abend aus!«

Amers­ham wur­de bleich vor Är­ger.

»Wer hat Ih­nen die Er­laub­nis dazu ge­ge­ben?«

»Der ein­zi­ge, der mir hier im Haus die Er­laub­nis ge­ben kann«, er­wi­der­te Studd laut. »Lord Le­ba­non selbst.«

»Sie kön­nen sich eine an­de­re Stel­le su­chen«, er­klär­te der Dok­tor wild.

»So, ich soll mir eine an­de­re Stel­le su­chen?« frag­te Studd wü­tend. »Mei­nen Sie viel­leicht, ich wür­de an­de­rer Leu­te Na­men un­ter Schecks schrei­ben?« Dr. Amers­ham sah plötz­lich ver­stört aus. »Wenn ich mir eine an­de­re Stel­le su­che, wird es je­den­falls eine ehr­li­che Be­schäf­ti­gung sein! Auf kei­nen Fall be­steh­le ich einen Ka­me­ra­den – mer­ken Sie sich das, Dok­tor! Und was ich auch un­ter­neh­me, ich wer­de nicht ab­ge­faßt und ver­haf­tet, ich kom­me nicht vor Ge­richt, und mich stößt man auch nicht aus der Ar­mee aus!«

Studd hat­te dro­hend ge­spro­chen, und der Arzt konn­te den Blick des Man­nes nicht er­tra­gen. Er woll­te ihm hart ent­geg­nen, aber was er vor­brach­te, war ei­gent­lich kei­ne Er­wi­de­rung auf die schwe­ren An­kla­gen.

»Sie wis­sen zu­viel!«

Amers­ham wand­te sich rasch ab und ent­fern­te sich.

Mr. Kel­ver hör­te die Wor­te, konn­te aber den Zu­sam­men­hang nicht ver­ste­hen. Er war be­stürzt über das Be­neh­men Studds und frag­te sich, ob er nicht hät­te ver­mit­teln sol­len. Aber fast schi­en es ihm, als ob Dr. Amers­ham sei­ne An­we­sen­heit gar nicht be­merkt hät­te.

»So, dem habe ich es or­dent­lich ge­ge­ben«, er­klär­te Studd tri­um­phie­rend. »Ha­ben Sie ge­se­hen, wie er sich ver­färb­te? Da­bei be­haup­tet der Kerl, er wird mich ent­las­sen!«

»Ich hät­te aber doch nicht in die­sem Ton mit ihm ge­re­det, Studd«, sag­te der But­ler mit lei­sem Vor­wurf.

Aber der Chauf­feur war jetzt in Fahrt und ach­te­te nicht auf Kel­vers Mah­nung.

»Jetzt hat er we­nigs­tens be­grif­fen, daß ich ihn von frü­her her ge­nau ken­ne. Ach, ich hät­te ihm noch ganz an­de­re Din­ge an den Kopf wer­fen kön­nen!«

Am Abend fand im Dorf ein Mas­ken­ball zu ir­gend­ei­nem wohl­tä­ti­gen Zweck statt, und als die Däm­me­rung her­ein­ge­bro­chen war, fuhr vom Her­ren­haus ein Wa­gen mit ei­nem Pier­rot, ei­ner Pier­ret­te, ei­ner Zi­geu­ne­rin und ei­nem In­der zu dem Fest hin­un­ter. Das far­ben­präch­ti­ge in­di­sche Ko­stüm hat­te Studd ge­wählt, dem Mr. Kel­ver vor der Ab­fahrt noch einen vä­ter­li­chen Rat gab.

»An Ih­rer Stel­le wür­de ich mor­gen früh mit Dr. Amers­ham spre­chen und mich ent­schul­di­gen. Wenn Sie im Recht sind, kön­nen Sie groß­zü­gig sein, und im an­de­ren Fall ist es selbst­ver­ständ­lich, daß Sie sich ent­schul­di­gen.«

Dann ging Kel­ver in die Hal­le und mach­te noch einen letz­ten Rund­gang, be­vor er sich in den Teil des Hau­ses zu­rück­zog, den die An­ge­stell­ten be­wohn­ten. Hier und dort rück­te er ein Kis­sen zu­recht; er nahm auch das lee­re Glas fort, das al­lem An­schein nach Dr. Amers­ham auf Myla­dys Schreib­tisch hat­te ste­hen­las­sen.

Spä­ter sah er ihn in ei­ner der großen Fens­ter­ni­schen des Haupt­gan­ges bei den ame­ri­ka­ni­schen Die­nern Brooks und Gil­der. Sie spra­chen lei­se mit­ein­an­der und hat­ten die Köp­fe ge­senkt. Aber nicht nur Kel­ver sah sie, son­dern auch Lord Le­ba­non, der in der of­fe­nen Tür sei­nes Zim­mers lehn­te. Er sag­te Kel­ver gute Nacht, als die­ser vor­bei­ging, aber kurz dar­auf rief er ihn zu­rück.

»Steht da un­ten nicht der Dok­tor?« frag­te er, da er ein we­nig kurz­sich­tig war.

»Ja, Myl­ord. Er un­ter­hält sich mit Gil­der und Brooks.«

»Zum Teu­fel, wor­über ha­ben die so­viel mit­ein­an­der zu re­den? Kel­ver, sind Sie nicht auch der Mei­nung, daß dies ein son­der­ba­res Haus ist?«

Kel­ver war zu höf­lich und kann­te sei­ne Stel­lung zu gut, um die­se Fra­ge zu be­ja­hen. In Wirk­lich­keit hielt er den gan­zen Haus­halt für son­der­bar ge­nug, vor al­lem die bei­den ame­ri­ka­ni­schen Die­ner. Von An­fang an war ihm klar­ge­macht wor­den, daß er ih­nen nichts zu sa­gen hät­te. Au­ßer­dem brauch­ten die bei­den nach neun Uhr nicht die Wohn­räu­me der Herr­schaft zu ver­las­sen, son­dern konn­ten sich frei im gan­zen Haus be­we­gen.

»Ich sage ja im­mer, daß es alle mög­li­chen Leu­te auf der Welt gibt.«

Wil­lie Le­ba­non lä­chel­te.

»Das stimmt, Mr. Kel­ver«, er­wi­der­te er lie­bens­wür­dig und klopf­te dem al­ten Mann auf die Schul­ter.

Der But­ler wur­de ein we­nig ver­le­gen, denn so ver­trau­lich hat­te sich der Lord ihm ge­gen­über noch nie be­nom­men.

Kapitel 4

Ein ge­wis­ser Zi­bri­ski hat­te sich den et­was hoch­tra­ben­den Na­men Mont Mo­ren­cy zu­ge­legt. Im all­ge­mei­nen ga­ben ihm die Leu­te we­ni­ger gut­klin­gen­de Na­men, wenn sie plötz­lich Geld­schei­ne be­sa­ßen, die in ei­ner Ge­heim­dru­cke­rei die­ses Hoch­stap­lers her­ge­stellt wur­den. Da die Bank­no­ten au­ßer­or­dent­lich gut und täu­schend nach­ge­ahmt wa­ren, mach­te er ein aus­ge­zeich­ne­tes Ge­schäft.

Er selbst ver­teil­te die ge­fälsch­ten Schei­ne nicht, er be­trieb das Ge­schäft nur im großen. Meh­re­re Dru­cke­rei­en ar­bei­te­ten für ihn, eine in Lu­xem­burg, eine an­de­re in den Hin­ter­ge­bäu­den ei­nes klei­nen Ho­tels in Os­ten­de.

Mr. Briggs, ei­ner der Agen­ten Zi­bris­kis, war schon oft ver­ur­teilt wor­den, weil er glaub­te, man könn­te sich durch un­ehr­li­che Hand­lun­gen ein sor­gen­frei­es Le­ben ver­schaf­fen. Seit ei­ner Wo­che hat­te er sich in dem Gast­haus des Dor­fes Marks Thorn­ton ein­quar­tiert und war­te­te dar­auf, daß Zi­bri­ski mit sei­nem schnit­ti­gen Wa­gen vor­fah­ren und ihm vier Pa­ke­te Bank­no­ten über­ge­ben wür­de. Er zahl­te da­für in ba­rem Geld und ver­teil­te dann die Schei­ne an an­de­re Leu­te, wo­bei er mehr als hun­dert Pro­zent ver­dien­te. Hät­te er den Mut ge­habt, das Pa­pier­geld di­rekt un­ters Pub­li­kum zu brin­gen, so hät­te sich sein Ge­winn ver­vier­facht.

Zur sel­ben Zeit, als er nach Marks Thorn­ton kam, er­schie­nen in ei­nem Nach­bar­dorf zwei un­auf­fäl­lig aus­se­hen­de Frem­de, die sich we­ni­ger für Briggs als für Zi­bri­ski in­ter­es­sier­ten.

»Ich bin ihm bis nach Marks Thorn­ton ge­folgt«, er­klär­te De­tek­tivser­geant Tot­ty. »Mei­ner Mei­nung nach wird dort aber nichts ge­sche­hen.«

»Ihre Mei­nung«, ent­geg­ne­te Che­f­in­spek­tor Tan­ner, »ist so un­wich­tig und ne­ben­säch­lich, daß ich sie kaum höre. Au­ßer­dem habe ich das schon selbst ge­sagt, Sie re­den es mir nur nach.«

»Wa­rum ver­haf­ten wir Briggs nicht?«

Tot­ty war ver­hält­nis­mä­ßig klein, hielt aber viel von sich und war auch mu­tig und tüch­tig. Tan­ner, ein au­ßer­ge­wöhn­lich statt­li­cher und großer Mann, schau­te sei­nen As­sis­ten­ten mit ei­nem Seuf­zer an.

»Wel­che An­kla­ge sol­len wir denn ge­gen ihn er­he­ben?« frag­te er. »Nicht ein­mal nach dem Ge­setz zur Ver­hü­tung von Ver­bre­chen könn­ten wir ihn in Schutz­haft neh­men. Au­ßer­dem liegt mir an Briggs gar nichts – ich will Zi­bri­ski fas­sen. Sooft ich ihn in den Zei­tun­gen ab­ge­bil­det sehe, wie er in Niz­za schö­nen Frau­en Ro­sen ver­ehrt, be­kom­me ich Leib­schmer­zen. Er ist fast al­len Po­li­zei­di­rek­tio­nen der Welt als ei­ner der größ­ten Falsch­geld­händ­ler be­kannt, und trotz­dem ist er nicht ein ein­zi­ges Mal ver­ur­teilt wor­den. Heu­te abend wol­len wir ein­mal auf Er­kun­di­gung aus­ge­hen, Tot­ty.«

»Marks Thorn­ton ist ein ganz net­tes Dorf. Bei­na­he hät­te ich ein Zim­mer im Gast­haus dort ge­nom­men. Ein großes, al­tes Schloß liegt auch in der Nähe.«

Tan­ner nick­te.

»Marks Prio­ry – Lord Le­ba­non wohnt dort.«

»Sieht sehr alt­mo­disch aus.«

»Das ist nicht wei­ter ver­wun­der­lich.«

Ihre Er­kun­dun­gen füh­ren nicht zum Ziel. In kei­nem der Dör­fer, die sie be­such­ten, fan­den sie eine Spur von Zi­bri­ski. Auch am nächs­ten und über­nächs­ten Tag kam der Mann nicht, und am Ende der Wo­che kehr­te der Che­f­in­spek­tor nach Lon­don zu­rück. Er er­hielt Nach­rich­ten über den Ver­bleib der ein­zel­nen Ver­bre­cher und er­fuhr, daß Zi­bri­ski von der An­we­sen­heit der Be­am­ten auf dem Land er­fah­ren und des­halb sei­nen Plan ge­än­dert hät­te. Aber das war nicht rich­tig.

Gera­de an dem Abend des Ko­stüm­bal­les traf Zi­bri­ski ein und er­schi­en in dem Zim­mer sei­nes Agen­ten. In kür­zes­ter Zeit war der Han­del ab­ge­schlos­sen. Briggs ver­pack­te die falschen Bank­no­ten in sei­nem Kof­fer und ging dann noch aus.

Von dem Tanz­ver­gnü­gen hat­te er er­fah­ren, und er hör­te auch die Mu­sik. Er stieg den Hü­gel hin­auf, setz­te sich an ei­nem Zaun­durch­gang nie­der, stopf­te sei­ne Pfei­fe und dach­te ver­gnügt an das gute Ge­schäft, das er mit den Bank­no­ten ma­chen wür­de. Zi­bri­ski-No­ten wa­ren ein be­gehr­ter Ar­ti­kel.

Plötz­lich sah er einen Mann die Stra­ße her­auf­kom­men, der ein wei­tes Ge­wand und einen Tur­­­­­­­­­­­­­­­­­