Jutta Voigt
Spätvorstellung
Von den Abenteuern des Älterwerdens
ISBN 978-3-8412-0480-6
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, September 2012
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2012 bei Aufbau, einer Marke
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Prolog
Venedig – das Fest
Der Erdbeerkorb
Aus dem Leben einer älteren Dame – Sylvia
DIE ECHOS – Schwingung und Nachhall
ECHO I
Eine offene Rechnung
Guten Morgen, Klaus Fritz Max!
Manchmal möchte ich mitsterben
Kalter Kuss
Aus dem Leben einer älteren Dame – Immerblond
Der Homo senex – Früher war mehr Lametta
ECHO II
Der Provokateur
Die Jagd nach Liebe hat ein Ende
Flamingo
Schätzchen, welcher Tag ist heute?
Meine Alten
Niemandes Kind mehr
Vom Scheitel bis zur Seele – My Generation
Homo senex – Der Alte da, das bin nicht ich!
ECHO III
Der Preis
Endstation Sehnsucht
Tinas Lächeln
Weißhaariger Verrat
Aus dem Leben einer älteren Dame – Herzensangelegenheiten
ECHO IV
Alte sind Jugendliche mit Überblick
Ich war ein Biest
Ciao Bella
Wie sehen wir denn aus!
Der alte Freund
Venedig – die Toteninsel
ECHO V
Die Jugend, ach, die Jugend!
Schöne Frauen haben es schwer
Aus dem Leben junger Frauen – Mädchenmomente
Aus dem Leben einer älteren Dame – Spätvorstellung
Venedig – la festa
Dank
Für Jimmy und Dschingis
Catch a falling star and
Put it in your pocket
Save it for a rainy day
Perry Como, 1958
Wer alt ist, der ist nicht jung gestorben. Janis Joplin, Sarah Kane und Georg Büchner wurden nicht alt. Mozart, Jimi Hendrix, Fassbinder und Arthur Rimbaud starben früh. Auch Jeanne, die ich kannte. Nicht jung gestorben zu sein, ist ein Hauptgewinn. Der Preis dafür ist das Älterwerden. Von den Nachteilen und Vorzügen dieses Phänomens, seinen Fesseln und Freiheiten wird in diesem Buch die Rede sein. Ich kann keine Ratschläge geben, keine Weisheiten verteilen, nur beobachten, fragen und erzählen. Von denen, die vor mir alt wurden. Von denen, die das Altwerden noch vor sich haben. Von denen, die mit mir alt werden. Von mir.
Vorgeführt werden die Tragikomödien des Alters in einer Spätvorstellung, deren Attraktion die Offenheit ihrer Protagonisten ist. Dieses Stück über Liebe, Tod und Frutti di mare ist eine Collage aus Alltäglichkeiten, buchenswerten Begebenheiten und Absurditäten. Riskant Persönliches und tröstlich Allgemeines in Symbiose. Die Darsteller der Vorstellung sind Laien. Man wird nur einmal alt im Leben, es gibt keine Probe vor der Premiere, das Lampenfieber hält sich in Grenzen. Die Observation des Älterwerdens aus verschiedenen Blickrichtungen hat ein Ziel: Fürchtet euch nicht, denn in Matinee, Nachmittagsvorstellung und Spätvorstellung läuft oft derselbe gute Film.
Jetzt bin ich alt, denkt Sylvie, ab heute kann ich es nicht mehr vergessen. Sie hat keinem von dem Fest erzählt, das sie nachher feiern werden, sie hat auch Konrad verpflichtet, niemandem etwas zu sagen, Wörter schaffen Wirklichkeit. Konni, warum haben wir so früh geheiratet, und warum sind wir so lange zusammen geblieben. Jetzt bin ich alt, spricht sie vor sich hin, alt in Venedig. Der Palazzo Contarini ist schon lange alt, die Seufzerbrücke und San Marco existieren ewig schon als wertvolle, alte Schätze der Weltkultur. Sylvie ist kein wertvoller, alter Schatz der Weltkultur, sie ist erst seit heute alt, seit dieser Tag, seit dieses Fest gekommen ist. Seit dieses Datum von ihr das Geständnis einfordert, alt zu sein; ein Spritz bitte, mit Aperol! Venedig sollte es sein, wo sie ihr Fest feiern, unbedingt Venedig, weil es alt ist und schön. Venedig wird versinken, untergehen, rettungslos, die Zeit, die der Stadt bleibt, ist überschaubar, Schönheit am Rande des Todes, sagt der Philosoph.
Der junge Kellner scherzt mit zwei jungen Frauen, man kann das Meer riechen, das Handy klingelt. Konrad fragt, was er für das Frühstück morgen einkaufen soll, ob Sylvia was Bestimmtes wolle, falls sie heute Abend zu viel trinken würden. Konni liebt Supermärkte, besonders die im Ausland, da fühlt er sich nicht fremd, und doch gibt es fremde Sachen, andere Kekse, anderes Bier, andere Frauen an der Kasse. Anschließend geht er in die Galleria dell’Accademia, Tizians und Tiepolos angucken. Er sucht immer wieder dieselben fünf oder sechs Bilder auf, schon nach dem ersten Frühstück in Venedig ging er los, zur Begrüßung. Ich hab mich bei meinen Freunden sehen lassen, sagte er, alle noch da. Und wie immer, kurz vorm Rausgehn, die riesige Leinwand mit der Jungfrau Maria, wie sie als kleines Mädchen die Stufen zum Tempel emporsteigt. Sie ist immer noch auf derselben Stufe, vermeldete er. Sylvie und Konrad machen nicht alles gemeinsam, sie schätzen Distanz und freuen sich, aufeinander warten zu können.
Der Mann fürs Leben – geht das? Die Frau fürs Leben – kann das sein? Ein einziger Mensch für alles? Sylvie lacht vor sich hin. An der Litfasssäule vor ihrem Wohnhaus in Berlin klebte wochenlang das Porträt eines stadtbekannten Kulturträgers, ein Friseur, dessen große Visage Konrad nicht länger ertragen wollte. Am späten Abend steckte er sich zwei rohe Eier in die Manteltasche, ging runter und warf sie auf das Plakat. Drei Anläufe musste er nehmen, bis er das Gesicht des Friseurs an der richtigen Stelle traf, sechs Eier an drei Abenden gingen drauf dafür. Das erzählte er dem Eierverkäufer vom Markt. Dem ehemaligen Punk gefiel der Eierwurf auf das Coiffeurgesicht so gut, dass er Konrad vier Eier kostenlos überließ.
Eine ältere Dame sitzt allein an einem Kanal in Venedig und lacht über ihren alten Mann, der Eier schmeißt. Ein einziger Mensch, nicht für alles, aber für manches. Konrad neigte immer schon zu Extremen. Als Sechsjähriger hatte er einen Nachbarsjungen, der ein bisschen zurückgeblieben und deshalb gut als Publikum zu gebrauchen war, an einen Stuhl gebunden und ihm Kaspertheater vorgespielt. So hatte er einen Zuschauer, der nicht wegrennen konnte und seiner Vorführung wohl oder übel folgen musste. Am liebsten hätte er das mit einem erwachsenen Publikum später genauso gemacht. Diktatoren fangen klein an.
Sylvie sieht in das sonnige Orange des Cocktails. Das Café hat ein paar Stühle rausgestellt an diesem milden Herbsttag Ende Oktober. Venedig ist dörflich hier, die Sonne scheint mit letzter Kraft. Sylvie überkommt eine bodenlose Müdigkeit, eigentlich will sie nicht denken, nur fühlen, heilige Kontemplation. Auf der anderen Seite des Kanals führt eine Frau ihre Mutter aus, die am Stock geht und ein Kopftuch trägt. Unter ihrem Kamelhaarmantel ist ein roter Rock zu sehen. Die Alte guckt nach unten, sie muss, ihr Rücken ist so krumm, dass sie ihren Kopf nicht heben kann. Mutter und Tochter gehen stumm nebeneinander her, öfter bleibt die Alte stehen und zieht ihren Rock hoch, als fürchte sie, dass er von ihrem mageren Körper rutscht, wie würde sie denn dastehen ohne ihren roten Rock.
Was hat die alte Frau noch vom Leben? Den Duft des Wassers, das Wehen des Windes, die vertraute Unebenheit des Straßenpflasters, die späte Sonne? Die Erinnerung hat sie, das Bewusstsein ihres ganzen Lebens, alles ist vergangen und nichts. Vielleicht war sie ja mal eine Femme fatale, »schön wie ein Engel, böse wie ein Dämon«, wie Madame de Villeparisis, deren Altersverfall Marcel Proust in »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« beschreibt. Aus der einst bewunderten und gefürchteten Schönheit war »eine abscheuliche, kleine, rotgesichtige Bucklige« geworden.
Goldene Hochzeit, spricht Sylvie vor sich hin, Goldene Hochzeit, Goldene Hochzeit. Als könne die Wiederholung den beiden Wörtern das Unfassbare nehmen und das Vergehen der Zeit weniger fremd erscheinen lassen. Fließt die Zeit oder weht sie, steht sie oder vergeht sie, ist sie ein Gefühl, ein Gesetz oder ein Geheimnis? Sie schreibt eine SMS: Hast du die Zeit gesehen, Konni? Er antwortet: Nicht persönlich, sie war in Eile.
Konrad hatte Sylvie einst bei den Schularbeiten in Kunstgeschichte geholfen, einmal verhalf er ihr zu einer Eins, einmal zu einer Fünf. Kennengelernt hatten sie sich in der Möwe, einem Club für Künstler. Das Palais derer von Bülow war nach Kriegsende von der Sowjetmacht für die deutschen Künstler beschlagnahmt worden. In dem holzgetäfelten Speisesaal bekamen sie nach dem Krieg zu essen, damit sie zu Kräften kamen und den Faust aufführen konnten und Die Zauberflöte, Mutter Courage und Die lustige Witwe. Das blieb so über vierzig Jahre, Schweinesteaks, Ginfizz und Amüsement zu ermäßigten Preisen, ein exklusiver Ort.
Bevor sie Konrad kannte, war Sylvie ein einziges Mal dort gewesen. Das Restaurant hatte sie mäßig interessiert, die Bar war es, Ort der Versprechen und Erwartungen. Gedämpftes Licht, halbrunder Tresen, Kamin, der Barkeeper in weißem Dinnerjackett. Gloria und Sylvie hatten am frühen Abend da gesessen, an einem Ginfizz genippt und geguckt, wer zur Tür reinkommt, »Love me tender« hatte Elvis Presley vom Tonband gesungen. Da erschien in der Tür ein Sänger vom Metropoltheater. Der schwarzhaarige Operettenbeau musterte mit arrogantem Blick die beiden Babydolls an der Bar, wechselte ein paar Worte mit dem Keeper und verschwand. Gloria wurde weißer als der Puder auf ihrem Gesicht, sprang auf und kündigte an, dass sie sich aus der S-Bahn stürzen würde. Sylvia ging mit ihr und hielt sie fest in der S-Bahn: Nicht wegen dem, Glory, der singt doch bloß im Chor!
Ein paar Wochen später wollte Sylvie mit drei Freundinnen in die Möwe, mit siebzehn hat man noch Träume, da wachsen noch alle Bäume in den Himmel der Liebe. Sie kicherten niedlich ins Gästebuch, bis Gertie auf einen Namen tippte: Konrad Ludens, den kenne ich. Die Garderobenfrau rief oben in der Bar an: Herr Ludens, hier sind vier junge Damen. Konrad kam die Treppe herunter, begrüßte die Mädchen und trug sie neben seinem Namen ins Gästebuch ein. Die Garderobenfrau protestierte: Vier Gäste, Herr Ludens, vier? Einen Gast durfte jedes Clubmitglied mitbringen. Seine drei Kollegen oben seien auch Clubmitglieder, entgegnete Konrad. Er hatte einen kanariengelben Pullover und grünschwarz gestreifte Röhrenhosen an, wie Marlon Brando sah der kein bisschen aus. Die Storchhosen wirkten nicht mehr ganz so katastrophal, als er im Laufe des Abends erwähnte, dass er sie von einem Gastspiel aus Paris mitgebracht hatte, aus Paris. Ein Trio spielte »Ich hab so Heimweh nach dem Schiffbauerdamm«, als Konrad und Sylvia sich in die Augen sahen. Er goss ihr das dritte Glas Rotwein ein. Ich werde aber nicht betrunken, hatte sie wachsam bemerkt.
Konni verkörperte eine andere Welt, das hatte Sylvie sehr gefallen. Sie hatte drei Monate lang kein einziges Wort gesagt vor lauter Staunen und der Anstrengung, die Röte zu verbergen, die bei den frivolen Reden der Schauspieler ihr Gesicht überzog; Osram einschalten nannte man das, nach der Firma Osram, die Glühlampen herstellte.
Das alles ist verdammt lange her und war doch gerade eben, gestern erst. So fühlen alle Alten, alle Alten fühlen so, nun auch ich, denkt Sylvie und hält ihr Gesicht in die Abendsonne. Es ist echt, dieses Gestern-erst-Gefühl, durch seine Wiederholung aber scheint es platt, abgenutzt, lächerlich. Ein milliardenfach vorgelebtes Gefühl ist kaum mehr als ein Gemeinplatz. Das Leben, gestern erst begonnen, morgen schon vorbei? Ja, was denkst denn du, Sylvie.
Bei Konni war plötzlich eine Operation notwendig geworden. Sofort, unaufschiebbar, Sylvie war in Panik. Was soll denn sein, hatte er gesagt und seine Hand auf ihre gelegt, was soll sein, da ist was drin, was weg muss, die schneiden auf, holen das raus, nähen wieder zu, das wars; Konnis Romantik ist die Sachlichkeit. Nach der geglückten Operation hatte er den Arzt gefragt: Was ist nun, Professor, habe ich Krebs, oder habe ich Krebs gehabt? Nein, Herr Ludens, Sie haben Krebs, Sie sind »auf Bewährung frei«. Das war vor drei Wochen, in Berlin.
Weit weg, hier ist Venedig. Gegenüber, auf der anderen Seite des Kanals, findet eine Hochzeit statt, eine jüdische Hochzeit. Die Braut im langen weißen Kleid schwankt auf hohen Schuhen mit dünnen Absätzen. Männer in schwarzen Anzügen, mit schwarzen Käppis, schwarzen Hüten und schwarzen Pejes laufen geschäftig umher. Man fotografiert sich, gefeiert wird im Gam-Gam nebenan, alles koscher. Sylvie versucht zu erkennen, ob sie schön ist, die Braut, doch ihr Gesicht wird verdeckt von langem, künstlich wirkendem schwarzem Haar. Das kurze Nerzcape, ein Erbstück wohl, macht Schultern und Dekolleté unkenntlich. Sie hat noch nie so eine Braut gesehen, wie eine Marionette, so eine unwirkliche, unheimliche, eine Puppe auf Stelzen, man kann nicht erkennen, ob sie alt ist oder jung, ob sie heiratet oder geheiratet wird, und welcher der schwarzen Männer der Bräutigam ist.
Sie hatten am Morgen eine Zeitung gekauft, in den Kleinanzeigen war eine »Nozze d’oro«, eine Goldene Hochzeit, annonciert. Die Venezianer Annamaria und Tiziano begehen heute »Il 50. Anniversario di matrimonio«, den fünfzigsten Geburtstag der Eheschließung. Auf dem Foto in der Zeitung sehen sie aus, als hätten sie sehr jung geheiratet, Sylvie ist froh, dass die beiden so zugewandt wirken, sie könnten eine Weinhandlung betreiben oder eine Trattoria. Sie stellt sich vor, wie sie vor fünfzig Jahren aussahen, wie sie tanzten auf ihrer Hochzeit, lachend und mit schwarzem Haar, und wie Tiziano zu seiner Braut sagte: Tu mi piaci, amore mio. Wie wird wohl ihr Fest heute sein, mit Francesco und Tiziana, den Kindern, mit Vanessa und Gabriele, den Enkeln, mit den Urenkeln Sofia, Carlo und Anna und all den Freunden rundherum, und wer wird heute sagen: Tu mi piaci, amore mio.
Ihr kommt das alte Paar in den Sinn, das seine Goldene Hochzeit im Café Concordia in Berlin gefeiert hatte. Vor zwanzig Jahren war das. Sie hatte die beiden interviewt, Kurt und Frieda. Wie hat sie ausgesehen, Ihre Frau, damals, als Sie sich beim Tanzen kennen lernten? Den Schlager wusste Kurt noch: »Wenn du einmal dein Herz verschenkst, dann schenk es mir«, wie seine Frau ausgesehen hat, war ihm entfallen. Tochter, Schwiegersohn, Enkelin und Urenkel brachten fünfzig weiße Nelken. Es gab Cocktails, Buttercremetorte und eine Aufschnittplatte. Vati, weißt du wirklich nicht mehr, wie deine Frau aussah? Dunkelblond, grüne Katzenaugen, ein schwarzes Seidenkleid mit lila Kante, zitierte die Tochter aus der Familiengeschichte. Der Jubilar hatte nur gelächelt: Alkolat gabs. Frieda, seine Frau, trank Eierlikör und erzählte Sylvia ihre Sorgen: Mit der Rente kommen wir aus, aber es darf keiner von uns beiden sterben, Kurt ist schon fünfundachtzig, ich dreiundachtzig. Was sich verändert hat in all den Jahren, wollen Sie wissen? Wir lieben uns nicht mehr, neunzehnhundertdreiundachtzig war das letzte Mal, hätte ruhig länger gehen können.
Kurt und Frieda, zwei putzige alte Leutchen, hatte Sylvia damals in einer Mischung aus Rührung und Mitleid gedacht, Kurt und Frieda, Generationen von ihr entfernt. Kurt und Frieda sind alt, ich nicht, ich könnte ihre Tochter sein. Jung waren wir alle mal, alt sind immer nur die anderen. In unserem Unterbewusstsein kommt das eigene Alter nicht an, Altersschutzgesetz, die Vision der Jugend bleibt verbindlich bis ins hohe Alter.
Am Abend feiern sie ihr Fest. In einer Enoteca an einem schmalen, träge fließenden Kanal, Timon heißt sie, überfüllt und studentisch, zwei Jungs mit runden Brillen führen den Laden. Sylvie geht auf Reisen gern in Lokale, die sie sich mit fünfundzwanzig ausgesucht hätte, was damals nicht möglich war, denn da war die Welt geschlossen für Sylvia und Konrad in Ostberlin. Sie finden Platz an einem der Holztische und bestellen Weißwein und Cichitos, kleine Brote mit Stockfisch, Baccala, obwohl Konni lieber welche mit Lachs isst, Lachs kennt er, aber er weiß das italienische Wort für Lachs nicht. Sylvia ist besser beim Improvisieren fremder Sprachen und hat deshalb die Hoheit über die Menüauswahl: Baccala per favore! Sie trägt das Kleid, das sie sich für den goldenen Anlass gekauft hat, schwarzer Taft mit Fünfziger-Jahre-Kragen, grundsolide, gerade noch schick.
Wusstest du, sagt Konrad, dass der Mensch nur zwei Gene mehr hat als eine Fruchtfliege?
Du wahrscheinlich zwei weniger.
Wenn hundert Fruchtfliegen vor eine Lampe gesetzt werden, fährt er fort, krabbeln siebzig Fliegen auf das Licht zu, die anderen dreißig bewegen sich weg vom Licht, die haben einen freien Willen.
Du bist eine von den dreißig willensstarken Fliegen.
Niemand vermag zu sagen, wohin eine Fruchtfliege im nächsten Moment aufbrechen wird, sagt Konrad.
Doch, ich. Du fliegst jetzt zur Nuova Strada und holst mir meine blaue Jacke, mir ist kalt.
Konrad erhebt sich: Die Fliege ist das Geschöpf, das am schnellsten fliegen kann. Gott schütze die Königin! ruft er im Gehen laut durch das Lokal, er weiß, dass ihr das peinlich ist. Obwohl sie das Spiel gern spielt: sie die Königin und er ihr Diener.
Haben sie nicht immer schon gespielt, das Leben ein Spiel? Der Mensch spiele nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er sei nur da ganz Mensch, sagt Schiller, wo er spielt. Sie spielen, seit sie sich kennen. Mannequin und Intellektueller, Braut und Bräutigam, Studentin und Analphabet, dann Mann und Frau, dann Mama und Papa. Vor zehn Jahren war Die Königin und ihr Diener dazu gekommen, Konrad übernahm die Rolle des alten Dieners. Er macht Frühstück und serviert Sylvie den Tee am Nachmittag. Alles, was an Konrad alt ist, hat er in die Gestalt des Dieners Franke verlagert: die Pingeligkeit, die er seit einiger Zeit kultiviert – im Besteckkasten müssen die Teelöffel nach Osten zeigen, die Kuchengabeln nach Westen. Die abergläubische Marotte, beim kleinsten Stolpern den Fehltritt zu korrigieren, was zu aberwitzigem Tänzeln führt. Vergesslichkeit, Schlurfen, seltene Rasur, Selbstgespräche. Diener Franke isst den Roquefort, der weg muss, weil er nichts wegwerfen kann. Diener Franke hat sich bei Glatteis die elfte Rippe gebrochen, Elfie nannte er sie. Diener Franke hat ein Lungenemphysem. Diener Franke hört schwer. Wer ist der alte Kerl im Spiegel? Diener Franke. Konrad hat das Alter von sich abgespalten, alles Franke. Und Sylvie schreibt Zettel: »Franke! Tee um 15.45. Königin«.
Andere Namen hat sie ihm gegeben, seit sie sich kennen. Bonifacius Buttermandel, Erich Sömmerda, Benjamin Schnitzke, er ist doch viele, nicht nur einer, auch sie ist viele, nicht nur eine. Den Dienernamen hat Konrad bestimmt: Franke; Franke reimt sich auf Danke. Der Alltag ist das Wichtigste, besonders das Frühstück. Keine Ehe wie die von anderen wollten sie führen, ernst und stumm und nachtragend. Jeder Tag sollte neu sein, heiter, keiner ohne Lachen. Die Sucht nach Leichtigkeit hat sie verbunden, die Lust am Spiel.
Plötzlich, wie immer, wenn Sylvie glücklich ist, kommt die Angst, die Angst vor dem Glück, denn Glück zieht Unglück nach sich, weil sie das Glück doch gar nicht verdient hat. Glück ist für Sylvie die Abwesenheit von Unglück. Vor drei Jahren war das, als Konrad überstürzt ins Krankenhaus musste, weil er schreiende Schmerzen hatte. Sie erinnert sich an einen langen, schattigen Gang. Wie der Arzt auf sie zukam und sagte, es sei außer der Lungenentzündung ein Virus im Spiel, ein unbekannter Virus, den Konrad von einer Reise nach Ecuador mitgebracht hatte, und dass man nicht wisse, was man tun solle, dass man mit Ecuador telefonieren würde, um sich zu konsultieren. Wie sie jeden Morgen zitterte, wenn sie im Krankenhaus anrief. Ob er das Handy hörte, ob er lebte, ob es ihm besser ging. Glück, davon ist Sylvie überzeugt, Glück ist die Abwesenheit von Unglück.
Bin Sklave dir, du Königin – Konrad ist zurück und hängt ihr die Jacke schwungvoll um die Schultern, Operette, der klassische Kavalier. »Niemand liebt dich so wie ich« – den alten Schlager hatten sie bei einem Geburtstagsfest vor vielen Jahren hintereinanderweg von der LP gespielt, und alle hatten mitgesungen. Sylvie trinkt hastig, die Angst soll weg, sie will den Ort wechseln: Wollen wir nicht rüber ins Paradiso perduto?
Warum, unser Paradies ist nicht perdü. Hier soll eine Vertreibung ins Paradies stattfinden – Konrad teilt es dem Lokal mit, laut: Vertreibung in ein Paradies, das verloren ist!
Hör auf, so benimmt sich kein seriöses altes Ehepaar – sie wuschelt ihm die Haare zurecht, sie kann nicht leiden, wenn er so cäsarisch aussieht, wie ein alter Junge soll er aussehen.
Ich bin nicht seriös – Konrad bestellt eine neue Flasche Wein, indem er dem Jungen an der Theke die leergetrunkene hochhält.
Wir sind beide nie seriös gewesen, sagt Sylvie, das ist es, nur darum sind wir so lange zusammen. Denk an Prag, Hotel Europa! Die Gäste unten im Café konnten sich nicht vorstellen, dass wir es sind, die Papierkügelchen auf sie werfen, wir, das ältere Ehepaar auf der Empore. Sie guckten immer wieder nach oben. Dabei saß da oben niemand außer uns; sie sahen es genau, aber sie konnten sich’s nicht vorstellen. Stimmt, wenn einer von uns seriös würde, wären wir verloren.
Das wäre wirklich das verlorene Paradies, il paradiso perduto, sagt Sylvie.
Im Frühling waren sie umgezogen. Der letzte Aufbruch. Die fünfte Wohnung in einem halben Jahrhundert. Fünfzig Quadratmeter weniger, und genau die haben sie aussortiert, fünfzig Quadratmeter Möbel, Kleider, Bücher, Zeitungen, fünfzig Quadratmeter Leben. Bei früheren Umzügen hatten sie alle Kisten und Kästen so mitgenommen, wie sie waren, unaufgeräumt; da war die neue Wohnung jedes Mal größer als die alte. Diesmal kam es Sylvie vor, als würde sie ihren Nachlass ordnen, all die Briefe, Zettel, Fotos, all das, was irgendwann mal wichtig war, alte Fahrscheine, Flugtickets, geheime Billets doux, vergessene Geständnisse auf Restaurantrechnungen; alles, was man so aufhebt in der romantischen Annahme, man könne das Leben festhalten, indem man seine Zeichen arretiert. Sie las jeden Zettel dreimal, sah jede Kinderzeichnung sechsmal an, bevor sie entschied, welche sie aussortierte, und sie ertappte sich bei dem Gedanken: Da haben Sophie und Julie nicht so viel am Hals, wenn wir tot sind.
Konrad hatte überraschend erklärt, dass er die Bücherregale in Angriff nehmen werde. Er, der nichts wegwerfen konnte, er, der Kustos und Bewahrer der häuslichen Bibliothek, hielt unerwartet streng Gericht. Nicht: Was kann weg?, sondern: Was darf bleiben? Buch für Buch musste sich für seine Anwesenheit rechtfertigen, eine Abrechnung mit durchlebten Zeiten. Verlässliche Wegbegleiter schienen urplötzlich verfallen, literarisches Wegekraut. Sylvie hatte ein paar Standardwerke ihres Philosophiestudiums auf die Stapel gelegt, die abgeholt werden sollten zu gemeinnütziger Verwendung. Konrad hatte zwei davon schweigend wieder weggenommen. Sylvie tat, als hätte sie nichts gesehen. Die kriegen prima Bücher da in ihre Altersheime!, hatte er mit beiläufiger Fröhlichkeit gerufen, während er die beiden dunkelblauen Bände in Sicherheit brachte.
Hätte ich nicht gedacht, dass du so mitmachst bei der großen Müllabfuhr.
Dienst ist Dienst, Königin.
Danke, Franke, bravissimo, möchtest du eine Mousse au chocolat?
Als sie am Tag des Umzugs in ein Haushaltwarengeschäft gelaufen war, Haken kaufen, hatte sie unterwegs junge Männer mit nacktem Oberkörper gesehen, die zogen auch um, ein Robben&Wientjes-Auto reichte ihnen. Sie ließen sich Zeit, trugen nicht alles auf einmal hoch, machten die Anstrengung zum Spaß. Tisch und Stühle ließen sie vor der Haustür stehen, Picknick zwischen Autogehupe und Straßenbahngequietsche. Wein und Brot hatten sie auf den Tisch gestellt, eine Rose in einer Bierflasche. So zieht man nur um, wenn man jung ist. Stell dir die Szene mal vor mit Leuten in unserem Alter, weißhaarig, glatzköpfig, Wein trinkend auf der Straße, am hellerlichten Tage zwischen Gebrauchtmöbeln – würde irgendwie nicht so anmutig wirken, sagt Sylvie.
Sie waren im selben Haus umgezogen und konnten zusehen, wie ihre ehemalige Wohnung ausgeweidet wurde. Alles, was der Totalsanierung im Wege stand, wurde rausgerissen. Das schöne alte Stabparkett, das sie einst Stab für Stab aus der vorigen Wohnung mitgenommen hatten. Das sie zusammen mit Freunden Stab für Stab vier Treppen hoch geschleppt hatten und Stab für Stab wieder verlegen ließen – jetzt noch ein unansehnlicher Haufen unten auf dem Hof, wochenlang, bei Regen und Sturm. Gedemütigtes altes Stabparkett! Metaphorisches Material die Menge, sei gedemütigt oder vergiss es!
Unsere fünfte Wohnung, sinniert Konrad, jeder Umzug ein Neustart, aber noch mal ziehen wir nicht um, das ist jetzt unsere letzte Wohnung.
Hoffentlich, sagt Sylvie, hoffentlich.
Die erste war die kleinste gewesen, eineinhalb Zimmer, parterre, »schwer vermietbar«. Den Fußboden im großen Zimmer hatten sie blau gestrichen, königsblau. Das kleine Zimmer war als Salon eingerichtet, alles schwarzweiß, die Sessel, die Vorhänge, der Fußboden. Sie haben ihren »Salon« nie benutzt, alles spielte sich im großen Zimmer ab, schlafen, feiern, rauchen, Schreibmaschinengeklappere in der Nacht, fünfzig Cabinet am Tag, Du brauchst dich über dein Lungenemphysem nicht zu beklagen, Konrad! Una Mousse au chocolat per favore, ruft sie, con due cucchiai, mit zwei Löffeln!
Lebt die Marussja eigentlich noch?, fragt Konrad. Marussja – ein Name aus alten Zeiten, Marussja, die dicke Malerin, der erste Besuch in der ersten Wohnung. Sie hatten alles vorbereitet, Kerzen, Blumen, einen großen Teller mit ungarischer Salami und eingelegten Pilzen, da war Konrad eingefallen: Die Dicke! Die kommt doch nie durch bis ins Zimmer! Im Korridor war ein Engpass, der Kleiderschrank, da würde die steckenbleiben, was dann? Rasch hatten sie alles wieder nach vorn getragen, gerade noch rechtzeitig. Und dann saßen sie zu dritt bei Kerzenlicht auf der Küchenbank, weil es in der Küche »doch am gemütlichsten« sei. Wenn sie noch lebt, sagte Sylvie, laden wir sie ein. In die Balkonsessel passt sie, und die Balkontür ist zweiflüglig.
Vom Hinterhof auf die Sonnenseite mit Balkon – der erste Balkon in ihrem Leben mit schmiedeeisernem Gitter, mit Gutsverwalterblick über die ganze Gegend, und über ihnen der Himmel. Sie spielen Balkonbesitzer. Sie frühstücken auf dem Balkon, sie trinken Tee auf dem Balkon, sie streiten sich auf dem Balkon, sie essen Spaghetti auf dem Balkon; auch wenn es regnet, man hat einen Sonnenschirm. Nach dem Regen hängen die Tropfen wie Tränen zum Trocknen am schwarzen Jugendstildekor. In der ersten Nacht in der neuen Wohnung hatte Sylvie immer wieder den Schatten betrachtet, den das bauchige Gitter durch die offene Tür auf die Zimmerwand warf, der Schatten zeichnete den Scherenschnitt einer Sehnsucht, der Sehnsucht nach einem Balkon, nach einem Leben, aus dem man sich hinauslehnen konnte.
Es gibt Tage, da senden die Wörter Todesbotschaften, da liest Sylvie anstatt Moratorium Krematorium, anstatt Leine Leiche und Tod anstatt Not. Ein Witz: Der Patient aus Nummer neun beschwert sich bei der Krankenschwester über seinen Mitpatienten. Können Sie den nicht rausnehmen hier, der röchelt schrecklich, das ist ja nicht auszuhalten. Der hat es bald hinter sich, der stirbt, sagt die Schwester. Ja, haben Sie denn kein Sterbezimmer?, fragt der Patient. Das hier ist das Sterbezimmer, sagt die Schwester und geht. Der Gedanke an den Tod fliegt Sylvie zuweilen an wie eine Stubenfliege, die sich nicht verscheuchen lässt.
Wie lange leben Fruchtfliegen eigentlich?
Goldene Hochzeit feiern die jedenfalls nicht.
Silencio, da drüben sitzen zwei Deutsche, die müssen nicht alles hören.
Wieso, wir sprechen hier von verheirateten Fruchtfliegen.
Ich wollte dich gar nicht heiraten, Fruchtfliege, sagt Sylvie.
Das ist der Beginn eines Dialogs, der zum Running Gag zwischen ihnen geworden ist:
Ich wollte dich gar nicht heiraten, du warst mir zu alt, schon siebenundzwanzig.
Nichttänzer war ich auch noch.
Und nach einem halben Jahr bist du erstmal für zwei Jahre weggegangen.
Willst du mich immer noch heiraten, hast du gefragt, als du mich in Dresden angerufen hast. Du mich!
Damit du eine Arbeiterrückfahrkarte kriegtest, musste ich Frau Ludens werden.
Und der Arbeiter fährt zurück, Rückfahrt in sein Lebensglück!
In Liebe und Treue! mahnte die Standesbeamtin. Bei Liebe hat sie mich angesehen, bei Treue dich.
Weil ich schon mal geschieden war.
Die arme Peyrette. Hättest du mich eigentlich ihr Tagebuch lesen lassen, wenn es nach ihrem Tod bei dir und nicht bei mir gelandet wäre?
Warum fragst du?
Weil ich dich wahrscheinlich nicht geheiratet hätte, wenn ich Peyrettes Tagebuch früher gelesen hätte.
Den möchte ich sehen, den du hättest, wenn nicht mich.
Jedenfalls hätte er Muskeln gehabt und schwarze Haare, eine Art Marlon Brando.
Heute wäre er fett und hätte eine Glatze.
Sylvies Männertyp war das Gegenteil von Konrad. Dein Ghandi kommt, hatten ihre Mitschüler gerufen, wenn Konrad sie von der Schule abholte. Ihr könnt zusammen die Fliege machen, hatten sie gerufen, denn auch Sylvie war dünn. Ein hauchdünnes Paar, ein Fruchtfliegenpaar.
Wenn ich zu euch kam, hat deine Großmutter jedesmal ihren schwarzen Rollkragenpullover angezogen.
Du warst ihr Typ.
Ich war von vielen der Typ.
Alles Großmütter inzwischen – Sylvie zieht ihre blaue Jacke über, kühler Wind weht durch die offene Tür.
Gold schafft nicht jeder in seinem Leben, dafür muss man wetterfest sein. Vor vielen Jahren in Hamburg war sie mit einer merkwürdigen Situation konfrontiert. Eine namensverwandte Familie hatte das Restaurant vom Hotel Reichshof reservieren lassen, und da hatte es gestanden, das goldene Wort auf einem goldenen Schild in der Hotelhalle: »Goldene Hochzeit Ludens«. Als sie Anstalten machte, ihr Zimmer zu beziehen, zeigte sich der Herr an der Rezeption außerordentlich zuvorkommend: Ah, Sie gehören zu der Bestellung im Restaurant, die Goldene Hochzeit! Der Kollege, der sie begleitete, hatte laut gelacht: Da habe sie ihn wohl alle Zeit über ihr wahres Alter getäuscht, ihn und alle Welt.
Wie absurd das damals war. Sylvie hebt ihr Glas an, hält es gegen das Licht und sieht durch den Wein hindurch einen sonnigen Schimmer: Das goldene Alter, es hat uns eingeholt.
Sei doch stolz, meint Konrad, ich jedenfalls, ich schnitt es gern in jede Rinde.
Du willst nur zeigen, dass du dir alles erlauben kannst und ich trotzdem bei dir geblieben bin.
Das ist ja eine schöne Bilanz zum feierlichen Anlass. Wenn du das Tagebuch meiner Geschiedenen gekannt hättest, hättest du mich gar nicht erst zum Mann genommen, und der Grund für die Eheschließung war eine Arbeiterrückfahrkarte.
Ich hab dich aber genommen, trotz alledem.
Sylvie holt zwei Seiten vergilbtes Durchschlagpapier aus der Tasche, Papier aus Schreibmaschinenzeiten: Zur Feier des Tages – die Wiederaufführung von »Der Bevorzugte«! Den Text hat sie vor dreißig Jahren geschrieben, für Konrad. Sie setzt ihre Lesebrille auf und liest vor.
»Liebe ist die Bevorzugung eines Menschen vor allen anderen. Eine ziemlich irdische Definition jenes himmlischen Gefühls, aber zuverlässiger als dieses. Sie bevorzugt seit zwanzig Jahren denselben. Vor allen anderen. Seit rund gerechnet siebentausend Tagen achtet sie beim Decken des Frühstückstischs darauf, dass seine Tasse links vom Teller zu stehen kommt, häufige Restaurantbesuche haben ihn misstrauisch gegen die rechte Seite gemacht, alle trinken rechts, also ist links sauberer. Sie sorgt auch dafür, dass er stets zum Hemd passende Socken im Schrank findet, Tribut an die einzige modische Kaprice eines in dieser Hinsicht gleichgültigen Menschen …«
Sollte ich das nicht lieber für mich lesen?, fragt Konrad mit einem Blick auf die Tische ringsum. Sie schüttelt den Kopf.
»Die Arbeitsteilung innerhalb der Familie ist klar. Sie die Prosa, er die Poesie. Sie die Stromrechnungen, er die Bücher, sie den Klempner, er den Klavierstimmer, sie die Kinder, er ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹. Solche Spezialisierung verschafft beiden Teilen Überlegenheit. Der Bevorzugte ist musisch. Sie hat sich damit abgefunden, als das Gegenteil zu gelten, Kompetenzen streitig machen bringt nichts.«
Ich überspringe jetzt mal was, beschließt Sylvie, mit einem Blick auf Konrad, der sich, von Peinlichkeit gefoltert, an sein Weinglas klammert.
Nur noch den Schluss – pass auf, drei Sätze: »Sie bevorzugen sich, weil sie sich lassen. Nur manchmal, wenn sie ihn sieht an einem sonnigen Vormittag mit einer unbekannten Schönen oder wenn er bemerkt, dass sie die Ansicht eines Freundes teilt und nicht seine, dann wünschen sie, Liebe sei die Bevorzugung eines Menschen. Ohne alle anderen.«
Hat sich einiges geändert seitdem, sagt Konrad, wir sind nun rund gerechnet achtzehntausend Tage zusammen, und ich bin jetzt dein Diener.
Eine Festanstellung in unsicheren Zeiten ist Gold wert, antwortet Sylvie, ich mache dir einen Vorschlag – wir heiraten nochmal, das ist heutzutage möglich. Wir lassen uns in der Basilica San Marco trauen, »bis dass der Tod euch scheidet«. Wir erneuern unser Eheversprechen: »In Liebe und Treue!« Diesmal nicht undercover wie damals, sondern endlich mal glorios, langes weißes Hochzeitskleid, Hochzeitskutsche und ein Fest im Hotel Excelsior am Lido, mit allen noch Lebenden.
Konrad guckt entgeistert – du willst mich nochmal heiraten? Du mich? Noch einmal? Das ist die ungeheuerlichste Liebeserklärung, die ich je gehört habe!
Draußen vor Timon, in einem Boot mit leuchtenden Fackeln, singt auf dunklem Wasser vor einem dunklen Palazzo ein Swingchor aus Stuttgart »Bei mir bist du scheen, please let me explain«, die Türen der Lokale am Canal Misericordia sind weit geöffnet.
»Weißt du noch, so frug die Eintagsfliege, wie ich auf der Stiege damals dir den Käsekrümel stahl? Weißt du noch, wie ich, weil ich dir grollte, Fliegenleim-Selbstmord verüben wollte? Und wie ich das erste Ei gebar? Weißt du noch, wie es halb sechs Uhr war?« – Ringelnatz, zitiert Konrad.
Weißt du noch, wie es halb sechs Uhr war, Konni?
Die Nachtluft ist mild, die Palazzi stehen schwarz und schweigend, eine geschwungene kleine weiße Brücke hebt sich kokett und angeschlagen aus dem Dunkel. Schönheit am Rande des Todes. Venedig versinkt, die Jugend flüchtet aus der Stadt der Liebe, des Todes und der Zukunftsangst. Unsere Enkel, wenn sie so alt sind wie wir, werden die Serenissima nur noch in Gummistiefeln durchwaten können, in den Palazzi am Canal Grande werden keine La Traviata-Aufführungen für Touristen mehr stattfinden: »Wegen Einsturzgefahr geschlossen«.
Konrad und Sylvia haben es nicht weit zu ihrer Ferienwohnung mit dem venezianischen Bett. Unterwegs folgen sie dem Klang heiserer Männerstimmen, warum eigentlich sind alle Italiener heiser? Vier alte Männer sitzen vor einer Osteria und singen Volare oho, Cantare, hohohoho. Die Serviererin, eine Lollobrigida der Strada Nuova, tanzt dazu. Arrivederci, Roma. Dass die alten Männer auf einer herbstlichen Straße in Venedig die alten Lieder singen, in ihrer Hochzeitsnacht, alles Cinecittà.
Du bist mein Lebenslicht, sagt Konrad.
Sylvie schläft in dem antiken Doppelbett, sie hat Schlafstörungen und braucht komfortable Verhältnisse, Konrad als Diener Franke liegt auf einer Pritsche neben der Küche, er schläft überall königlich. Man darf nicht zu viel erwarten von der Ehe, philosophiert Sylvie beim Zähneputzen, wenn man nicht zu viel erwartet, geht alles gut. Unter den Gratulationen ist eine SMS von Gloria, Sylvies Jugendfreundin, dreimal geschieden: Hast es richtig gemacht. Trotz alledem. Vielleicht finde ich ja auch noch einen für den Rest. LG Gloria. Sylvia fällt die Kalbsfüßige ein. Kalbsfüßige – so nennt sie pummelige Frauen mit kleinen Füßen in hochhackigen Pumps.