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JIDDU KRISHNAMURTI

SCHÖPFERISCHE
FREIHEIT

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Vollständige E-Book-Ausgabe der bei J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH erschienenen Printausgabe

The First and Last Freedom ist bei HarperCollins Publishers erschienen.

Copyright © 1954 Krishnamurti Foundation of America

P.O. Box 1560, Ojai, California, 93024 USA

E-mail: kfa@kfa.org – Website: www.kfa.org

Für weitere Informationen über J. Krishnamurti und die Krishnamurti Foundations weltweit besuchen Sie bitte die Website: www.jkrishnamurti.com

Lektorat: Dr. Birgit Mehnert, Christa Winkler

Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld, www.mbedesign.de

Coverfoto mit freundlicher Genehmigung des Krishnamurti Foundation Trust

Layout/Satz: Bernd Hollstein, Sulzbach/Murr

Druck & Verarbeitung: Westermann Druckerei Zwickau

www.weltinnenraum.de

E-Book Ausgabe 2012

ISBN Printausgabe: 978-3-89901-424-2

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Inhalt

 

Vorwort von Aldous Huxley

 

REDEN

I.

Einleitung

II.

Was suchen wir?

III.

Individuum und Gesellschaft

IV.

Selbsterkenntnis

V.

Handeln und Vorstellung

VI.

Glaube

VII.

Bemühen

VIII.

Widersprüche

IX.

Was ist das Selbst?

X.

Angst

XI.

Einfachheit

XII.

Bewusstheit

XIII.

Wunsch und Verlangen

XIV.

Beziehung und Isolation

XV.

Der Denker und das Denken

XVI.

Kann Denken unsere Probleme lösen?

XVII.

Wie der Geist funktioniert

XVIII.

Selbsttäuschung

XIX.

Selbstbezogenheit

XX.

Zeit und innere Umwandlung

XXI.

Macht und Erkenntnis

 

FRAGEN UND ANTWORTEN

1.

Über die gegenwärtige Krise

2.

Über Nationalismus

3.

Wozu spirituelle Lehrer?

4.

Über Wissen

5.

Über Disziplin

6.

Über Einsamkeit

7.

Über das Leiden

8.

Über Gewahrsein

9.

Über Beziehungen

10.

Über Krieg

11.

Über Angst

12.

Über Langeweile und Interesse

13.

Über Hass

14.

Über Klatsch und Tratsch

14.

Über Kritik

16.

Über den Glauben an Gott

17.

Über das Erinnern

18.

Sich dem unterwerfen, ›was ist‹

19.

Über Gebet und Meditation

20.

Über das Bewusstsein und das Unbewusste

21.

Über Sex

22.

Über Liebe

23.

Über den Tod

24.

Über die Zeit

25.

Über das Handeln ohne Vorstellungen

26.

Über das Alte und das Neue

27.

Über das Benennen

28.

Über das Bekannte und das Unbekannte

29.

Wahrheit und Lüge

30.

Über Gott

31.

Über unmittelbares Erkennen

32.

Über Einfachheit

33.

Über Oberflächlichkeit

34.

Über Belanglosigkeit

35.

Über die Stille des Geistes

36.

Über den Sinn des Lebens

37.

Über Verwirrung

38.

Über Umwandlung

Vorwort von Aldous Huxley

Der Mensch ist eine Amphibie, die gleichzeitig in zwei Welten lebt: der natürlichen und der selbstgemachten, der Welt der Materie, des Lebens und Bewusstseins und der Welt der Symbole. In unserem Denken bedienen wir uns einer großen Vielfalt von Symbol-Systemen: linguistischen, mathematischen, bildlichen, musikalischen, rituellen. Ohne solche Symbol-Systeme hätten wir keine Kunst, keine Wissenschaft, keine Gesetzgebung, keine Philosophie, wir hätten nicht einmal den Ansatz einer Zivilisation: mit anderen Worten, wir wären Tiere.

Symbole sind daher also unverzichtbar. Aber Symbole können – wie die Geschichte unseres eigenen und jedes anderen Zeitalters so deutlich zeigt – auch verhängnisvoll sein. Denken Sie beispielsweise an das Gebiet der Wissenschaft einerseits und an die Domänen der Politik und Religion andererseits. In einem bestimmten Symbol-System zu denken und entsprechend zu handeln hat uns, in begrenztem Maße, geholfen, die in der Natur wirkenden Kräfte zu verstehen und zu beherrschen. In einem anderen Symbol-System zu denken und entsprechend zu handeln führt dazu, dass wir diese Kräfte als Instrument des Massenmords und des kollektiven Selbstmords benutzen. Im ersten Fall wurden die erklärenden Symbole gut gewählt, sorgfältig analysiert und nach und nach den sich offenbarenden Realitäten der physischen Existenz angepasst. Im zweiten Fall wurden ursprünglich schlecht gewählte Symbole nie einer gründlichen Überprüfung unterzogen und auch nie verändert, um sie mit den Tatsachen der menschlichen Existenz in Einklang zu bringen. Und was noch schlimmer ist: diese irreführenden Symbole wurden überall mit einem gänzlich ungerechtfertigten Respekt behandelt, so als wären sie auf irgendeine geheimnisvolle Weise realer als die Realitäten, auf die sie sich bezogen. Im Kontext der Religion und Politik werden Worte nicht so verstanden, dass sie, eher unzulänglich, für Dinge und Ereignisse stehen, sondern im Gegenteil: Dinge und Ereignisse werden als spezifische Veranschaulichungen von Worten betrachtet.

Bis heute wurden Symbole nur in jenen Bereichen realitätsnah verwendet, die wir als nicht besonders wichtig betrachten. In allen Situationen, in denen unsere tieferen Impulse angesprochen werden, haben wir Symbole nicht nur wirklichkeitsfern, sondern verherrlichend, ja sogar wahnhaft verwendet. Das Resultat ist, dass wir fähig waren, kaltblütig und über lange Zeiträume Taten zu begehen, zu denen Tiere nur für kurze Augenblicke, in rasender Wut, unbändigem Verlangen oder extremer Angst fähig sind. Weil sie Symbole benutzen und anbeten, werden Menschen zu Idealisten, und als Idealisten können sie die periodische Gier des Tieres in die grandiosen Imperialismen eines Rhodes oder eines J. P. Morgan verwandeln, die periodische Lust des Tieres an der kämpferischen Unterwerfung anderer in den Stalinismus oder die spanische Inquisition, die periodische Revierverteidigung des Tieres in den kalkulierten Wahnsinn des Nationalismus. Glücklicherweise können sie auch die zeitweise Freundlichkeit des Tieres in die lebenslange Wohltätigkeit einer Elizabeth Fry oder eines Vinzenz von Paul verwandeln und die zeitweilige Hingabe an seinen Gefährten oder seinen Nachwuchs in diese bedachte und dauerhafte Kooperation, die sich bis heute als stark genug erwiesen hat, um die Welt vor den Konsequenzen des anderen, katastrophalen Idealismus zu bewahren. Wird sie die Welt weiterhin bewahren können? Diese Frage kann nicht beantwortet werden. Wir können lediglich sagen, dass sich die Chancen der Idealisten der Zusammenarbeit und Nächstenliebe angesichts der Tatsache, dass die Idealisten des Nationalismus im Besitz der Atombombe sind, dramatisch verschlechtert haben.

Auch das beste Kochbuch ist kein Ersatz selbst für die schlechteste Mahlzeit. Diese Tatsache scheint hinreichend klar zu sein. Und dennoch begingen die tiefsinnigsten Philosophen, die gelehrtesten und scharfsinnigsten Theologen jedes Zeitalters permanent den Fehler, ihre rein verbalen Konstruktionen mit Tatsachen gleichzusetzen oder den noch viel größeren Fehler, zu glauben, Symbole seien irgendwie realer als das, wofür sie stehen. Ihre Anbetung der Worte blieb nicht unwidersprochen. »Nur der Geist«, sagte der heilige Paulus, »spendet Leben. Der Buchstabe tötet.« »Und warum«, fragt Eckhart, »schwafelt ihr über Gott? Was auch immer ihr über Gott sagt, ist unwahr.« Am anderen Ende der Welt bekräftigte der Autor eines der Mahayana-Sutren, dass »der Buddha nie die Wahrheit gepredigt hat, weil er wusste, dass du sie in dir selbst finden musst«. Solche Äußerungen wurden als absolut subversiv empfunden und von achtbaren Leuten ignoriert. Die seltsam vergötternde Überbewertung von Worten und Symbolen setzte sich ungehindert fort. Die Religionen erlebten ihren Niedergang, aber die alte Angewohnheit, Glaubenssätze zu formulieren und Glauben in Form von Dogmen aufzuzwingen, hielt sich selbst unter Atheisten hartnäckig.

In den vergangenen Jahren haben Logiker und Semantiker die Symbole, in denen Menschen denken, einer sehr sorgfältigen Analyse unterzogen. Linguistik ist eine Wissenschaft geworden, und man kann sogar ein Fach studieren, dem der verstorbene Benjamin Whorf den Namen ›Meta-Linguistik‹ gab. All das ist sehr positiv, aber bei weitem nicht genug. Logik und Semantik, Linguistik und Meta-Linguistik sind rein intellektuelle Disziplinen. Sie analysieren die verschiedenen Arten, auf welche man Worte – korrekt oder inkorrekt, sinnvoll oder unsinnig – mit Dingen, Vorgängen und Ereignissen in Verbindung setzen kann. Aber sie bieten keine Orientierung im Hinblick auf das viel grundlegendere Problem des Verhältnisses des Menschen in seiner psychophysischen Ganzheit auf der einen Seite und zu seinen zwei Welten, der Daten und der Symbole, andererseits.

Überall auf der Welt und zu allen Zeiten wurde das Problem immer wieder von einzelnen Männern und Frauen gelöst. Selbst mit ihren Reden oder Schriften schufen diese Menschen keine Systeme – denn sie wussten, dass jedes System eine ständige Versuchung ist, Symbole allzu ernst zu nehmen, den Worten mehr Aufmerksamkeit zu schenken als den Realitäten, für die diese Worte eigentlich stehen sollen. Ihr Ziel war nie, fertige Erklärungen und Allheilmittel anzubieten, sondern, die Menschen dazu zu bewegen, ihre Krankheiten selbst zu diagnostizieren und zu heilen, sie dazu zu bringen, jenen Ort aufzusuchen, wo sich das Problem des Menschen und seine Lösung in der direkten Erfahrung offenbart.

In diesem Band ausgewählter Schriften und aufgezeichneter Reden Krishnamurtis finden der Leser und die Leserin eine klare, aktuelle Darlegung des grundlegenden menschlichen Problems, zusammen mit der Einladung, es auf die einzige Weise zu lösen, in der es gelöst werden kann – für und durch den Einzelnen. Die kollektiven Lösungen, in die so viele verzweifelt ihre Hoffnung setzen, sind nie angemessen. »Um das Leiden und die Verwirrung zu verstehen, die in uns selbst und somit in der Welt existieren, müssen wir zuerst Klarheit in uns selbst finden, und diese Klarheit kommt aus dem richtigen Denken. Diese Klarheit kann nicht organisiert werden, denn man kann sie nicht untereinander austauschen. Organisiertes Gruppendenken wiederholt nur. Klarheit ist nicht das Resultat der verbalen Durchsetzung, sondern des intensiven Selbstgewahrseins und richtigen Denkens. Und richtiges Denken ist weder das Ergebnis oder die bloße Kultivierung des Intellekts, noch ist es die Anpassung an ein Muster, wie wertvoll oder edel es auch sein mag. Richtiges Denken geht mit Selbsterkenntnis einher. Wenn Sie sich selbst nicht verstehen, hat Ihr Denken keine Basis; ohne Selbsterkenntnis ist nichts von dem, was Sie denken, wahr.«

Dieses grundlegende Thema wird von Krishnamurti Passage für Passage bearbeitet. »In den Menschen liegt die Hoffnung, nicht in der Gesellschaft, nicht in Systemen, organisierten Religionen, sondern in Ihnen und mir.« Organisierte Religionen mit ihren Vermittlern, heiligen Büchern, Dogmen, Hierarchien und Ritualen bieten eine falsche Lösung für das grundlegende Problem an. »Wenn Sie die Bhagavad-Gita oder die Bibel oder irgendeine chinesische heilige Schrift zitieren, wiederholen Sie zweifellos nur etwas, nicht wahr? Und was Sie wiederholen, ist nicht die Wahrheit. Es ist eine Lüge, denn die Wahrheit kann nicht wiederholt werden.« Eine Lüge kann man ausschmücken, darlegen und wiederholen, aber die Wahrheit nicht, und wenn Sie die Wahrheit wiederholen, ist sie keine Wahrheit mehr. Deshalb sind heilige Schriften bedeutungslos. Durch Selbsterkenntnis, nicht durch den Glauben an die Symbole von jemand anderem, gelangt ein Mensch zur ewigen Wirklichkeit, in welcher sein Sein gründet. Der Glaube an die vollkommene Stimmigkeit und den überragenden Wert irgendeines Symbol-Systems führt nicht zur Befreiung, sondern zur Geschichte, zu noch mehr der immer gleichen Katastrophen. »Glaube wirkt unweigerlich trennend. Wenn Sie einen bestimmten Glauben haben oder Sicherheit in Ihrem speziellen Glauben suchen, werden Sie von denen getrennt, die Sicherheit in einer anderen Form des Glaubens suchen. Alle organisierten Glaubenssysteme beruhen auf Trennung, obwohl sie vielleicht Brüderlichkeit predigen.« Der Mensch, der erfolgreich sein Verhältnis zu den beiden Welten der Daten und Symbole geklärt hat, ist ein Mensch ohne Glauben. Im Hinblick auf die Probleme des praktischen Lebens zieht er eine Reihe von Arbeitshypothesen in Erwägung, die seinen Zwecken dienen, aber nicht ernster genommen werden als jedes andere Werkzeug oder Instrument. Im Hinblick auf seine Mitmenschen und die Realität, in der sie verankert sind, macht er die direkte Erfahrung der Liebe und Einsicht. Um sich selbst vor Glaubenssystemen zu schützen, hat Krishnamurti »keine heiligen Schriften gelesen, weder die Bhagavad-Gita noch die Upanishaden.« Wir anderen lesen noch nicht einmal heilige Schriften, wir lesen unsere bevorzugten Zeitungen, Zeitschriften und Kriminalromane. Das bedeutet, dass wir der heutigen Krise nicht mit Liebe und Einsicht, sondern mit »schematischen Denkmustern, mit Systemen« begegnen – und noch dazu ziemlich armseligen Denkmustern und Systemen. Aber »Menschen, die guten Willens sind, sollten keine formelhaften Antworten haben«, denn diese führen unweigerlich zu »blindem Denken«. Die Sucht nach vorgegebenen Denkmustern ist nahezu allgegenwärtig. Das ist unvermeidlich, denn »unser Erziehungs- und Bildungssystem vermittelt, was man denken soll, nicht wie man denkt.« Wir wachsen als gläubige und praktizierende Mitglieder irgendeiner Organisation auf – der Kommunisten, der Christen, der Moslems, der Hindus, der Buddhisten, der Freudianer. Folglich »reagieren Sie auf die Herausforderung, die stets neu ist, mit einem alten Muster, und deshalb hat Ihre Antwort keinen Wert, keine Frische, nichts Neues. Wenn Sie als Katholik oder Kommunist reagieren, dann reagieren Sie gemäß einem vorgegebenen Denkschema, oder etwa nicht? Deshalb ist Ihre Reaktion bedeutungslos. Und hat nicht der Hindu, der Moslem, der Buddhist, der Christ dieses Problem geschaffen? So wie die neue Religion die Anbetung des Staates ist, war die alte Religion die Anbetung einer Vorstellung.« Wenn Sie auf eine Herausforderung mit Ihrer alten Konditionierung antworten, wird Ihre Reaktion Sie nicht in die Lage versetzen, die neue Herausforderung zu verstehen. Was man deshalb »tun muss, um der neuen Herausforderung zu begegnen, ist, sich vollständig zu entblößen, sich ganz und gar seines Hintergrundes zu entledigen und sich der Herausforderung von neuem zu stellen«.

Mit anderen Worten, Symbole sollten nie zu Dogmen erhoben werden, noch sollte irgendein System für mehr als ein provisorisches Instrument gehalten werden. Der Glaube an Denkschemata und das Handeln nach diesen Glaubenssätzen kann unser Problem nicht lösen. »Allein durch das kreative Verstehen unserer selbst kann eine kreative Welt entstehen, eine glückliche Welt, eine Welt, in der es keine Vorstellungen gibt.« Eine Welt ohne Vorstellungen wäre eine glückliche Welt, denn es wäre eine Welt ohne die machtvollen konditionierenden Kräfte, welche Menschen zu unangemessenem Handeln zwingen, eine Welt ohne die heilig gehaltenen Dogmen, in deren Namen die schlimmsten Verbrechen gerechtfertigt und die größten Torheiten sorgfältig begründet werden.

Eine Erziehung, die uns nicht lehrt, wie, sondern was man zu denken hat, erfordert eine führende Klasse von Pastoren und Meistern. Aber »schon die Vorstellung, jemanden zu führen, ist antisozial und anti-spirituell.« Für denjenigen, der es tut, bedeutet die Führerschaft die Befriedigung seines Machtbedürfnisses und für die Geführten die Befriedigung ihres Sicherheitsbedürfnisses. Der Guru verschafft ihnen eine Art Droge. Aber man könnte fragen: »Was tun Sie? Fungieren Sie nicht als unser Guru?« »Ich fungiere zweifellos nicht als Ihr Guru«, antwortet Krishnamurti, »und zwar vor allem, weil ich keines Ihrer Bedürfnisse befriedige. Ich sage Ihnen nicht, was Sie Augenblick für Augenblick oder Tag für Tag tun sollten, sondern weise Sie nur auf etwas hin. Sie können damit anfangen, was Sie wollen, das hängt ganz von Ihnen ab, nicht von mir. Ich verlange überhaupt nichts von Ihnen, weder Ihre Verehrung noch Ihre Schmeichelei, noch Ihre Beleidigungen, noch Ihre Götter. Ich sage: Das ist eine Tatsache, machen Sie damit, was Sie wollen. Und die meisten von Ihnen werden die Augen davor verschließen, weil sie keine Befriedigung darin finden.«

Was genau bietet Krishnamurti nun an? Was ist es denn, das wir von ihm mitnehmen können, wenn wir möchten, aber höchstwahrscheinlich lieber ignorieren werden? Wie wir gesehen haben, ist es kein Glaubenssystem, kein Dogmenkatalog, keine Sammlung vorgefertigter Ansichten und Ideale. Es ist keine Führung, keine Mediation, keine spirituelle Belehrung, noch nicht einmal ein Vorbild. Er bietet uns keine Rituale, keine Kirche, keinen Kodex, keine spirituelle Erbauung und auch kein inspirierendes Gewäsch.

Ist es vielleicht Selbstdisziplin? Nein, denn Selbstdisziplin ist nicht – und das ist eine nackte Tatsache – der Weg, auf dem unser Problem gelöst werden kann. Um die Lösung zu entdecken, muss sich der Geist für die Wirklichkeit öffnen, muss sich ohne jegliche Vorstellungen oder Einschränkungen mit den Gegebenheiten der äußeren und inneren Welten konfrontieren. (Gottes Dienst ist vollkommene Freiheit, und so ist umgekehrt vollkommene Freiheit Gottesdienst.) Wenn der Geist diszipliniert wird, kann er sich nicht radikal ändern. Es ist dasselbe alte Selbst, das nur »gezähmt ist, unter Kontrolle gehalten wird.«

Selbstdisziplin ist ein Posten auf der Liste jener Dinge, die Krishnamurti nicht anbietet. Kann es dann sein, dass das, was er anbietet, Gebet ist? Auch hier ist die Antwort negativ. »Beten mag Ihnen die Antwort bringen, nach der Sie suchen, aber diese Antwort kommt vielleicht aus Ihrem Unbewussten oder dem allgemeinen Reservoir, in dem Ihre ganzen Wünsche und Bedürfnisse gespeichert sind. Die Antwort ist nicht die leise Stimme Gottes.« »Denken Sie einmal darüber nach«, fährt Krishnamurti fort, »was geschieht, wenn Sie beten. Durch die ständige Wiederholung bestimmter Sätze und indem Sie Ihre Gedanken unter Kontrolle halten, wird der Geist ruhig, nicht wahr? Zumindest der bewusste Teil wird still. Sie knien sich hin, wie es die Christen tun, oder sitzen wie die Hindus und wiederholen und wiederholen, und durch dieses Wiederholen wird der Geist ruhig. In dieser Stille nehmen Sie etwas wahr. Was Sie da wahrnehmen, diese Botschaft, für die Sie gebetet haben, kommt vielleicht aus Ihrem Unbewussten, vielleicht sind es auch nur Erinnerungen. Aber es ist gewiss nicht die Stimme der Wirklichkeit, denn die Stimme der Wirklichkeit muss zu Ihnen kommen. Man kann sie nicht anrufen, man kann nicht zu ihr beten. Sie können sie nicht in Ihren kleinen Käfig locken, indem Sie Puja halten, Bhajans singen und all das, indem Sie ihr Blumenopfer darbringen, sie versöhnlich stimmen, indem Sie sich selbst unterdrücken oder anderen nacheifern. Wenn Sie erst einmal den Trick gelernt haben, den Geist auf diese Weise ruhigzustellen, durch die Wiederholung von Worten, und in dieser Stille Botschaften zu empfangen, besteht die Gefahr – wenn Sie nicht völlig wachsam dafür sind, woher diese Botschaften kommen –, dass Sie sich verstricken, und dann wird das Beten zu einem Ersatz für die Suche nach der Wahrheit. Sie bekommen, wonach Sie verlangen, aber es ist nicht die Wahrheit. Wenn Sie wünschen und bitten, werden Sie empfangen, aber am Ende werden Sie dafür bezahlen.«

Vom Beten kommen wir zum Yoga und stellen fest, dass Yoga ebenfalls zu den Dingen gehört, die Krishnamurti nicht anbietet. Denn Yoga bedeutet Konzentration, und Konzentration bedeutet Ausschluss. »Sie bauen eine Mauer des Widerstands auf, wenn Sie sich auf einen von Ihnen gewählten Gedanken konzentrieren und alle anderen auszuschließen versuchen.« Was gemeinhin als Meditation bezeichnet wird, ist nur »das Kultivieren von Widerstand, von ausschließlicher Konzentration auf eine Vorstellung unserer Wahl.« Aber was veranlasst Sie zu wählen? »Was veranlasst Sie zu sagen, dies ist gut, wahr, edel und der Rest ist es nicht? Ihre Wahl beruht offensichtlich auf dem Wunsch nach Vergnügen, Belohnung oder Erfolg, oder sie ist bloß eine Reaktion aufgrund der eigenen Konditionierung oder Tradition. Warum wählen Sie überhaupt? Warum nicht jeden Gedanken untersuchen? Warum einen auswählen, wenn Sie an den vielen interessiert sind? Warum nicht alles untersuchen, was einen interessiert? Warum sollte man nicht, anstatt innere Widerstände aufzubauen, jedes Interesse eingehend betrachten, wenn es auftaucht, und sich nicht nur auf eine Sache, ein Interesse konzentrieren? Schließlich bestehen Sie aus vielen Interessen, Sie tragen viele Masken, bewusst und unbewusst. Warum eine wählen und alle anderen verwerfen, bei deren Bekämpfung Sie Ihre ganzen Energien verbrauchen und so Widerstände, Konflikte und Reibung erzeugen? Wenn Sie dagegen jeden auftauchenden Gedanken betrachten – jeden Gedanken, nicht nur ein paar Gedanken –, wird nichts ausgeschlossen. Aber es ist mühsam, jeden Gedanken zu untersuchen. Denn während Sie einen Gedanken betrachten, kommt Ihnen schon ein anderer in den Sinn. Doch wenn Sie achtsam sind, ohne zu kontrollieren oder zu rechtfertigen, werden Sie feststellen, dass sich, wenn Sie diesen einen Gedanken einfach nur betrachten, kein anderer Gedanke dazwischendrängt. Nur wenn Sie verurteilen, vergleichen, sich annähern, schieben sich andere Gedanken dazwischen.«

Selbstbeobachtung mit einem festgelegten Ziel, Selbsterforschung innerhalb des Rahmens eines traditionellen Regelwerks, eines Systems heilig gehaltener Thesen, wird uns nicht, kann uns nicht helfen. Es gibt eine transzendente Spontaneität des Lebens, eine ›schöpferische Wirklichkeit‹, wie Krishnamurti es nennt, die sich nur offenbart, wenn sich der Geist des Wahrnehmenden in einem Zustand der ›wachen Passivität‹, des ›urteilslosen Gewahrseins‹ befindet. Urteil und Vergleich binden uns unwiderruflich an die Dualität. Nur urteilsloses Gewahrsein kann zur Nicht-Dualität führen, zur Versöhnung der Gegensätze in einem vollkommenen Verstehen und einer totalen Liebe. Ama et fac quod vis. Wenn du liebst, kannst du tun, was du willst. Aber wenn Sie damit beginnen zu tun, was Sie wollen oder was Sie nicht wollen – aus Gehorsam gegenüber irgendeinem traditionellen System oder bestimmten Vorstellungen, Idealen und Verboten –, werden Sie niemals lieben. Der Prozess der Befreiung muss mit dem urteilslosen Gewahrsein dessen beginnen, was Sie wollen, mit dem Gewahrsein Ihrer Reaktionen auf das Symbol-System, das Ihnen vorschreibt, dass Sie es wollen oder nicht wollen sollen. Indem es die Schichten des Ego und des damit verbundenen Unbewussten durchdringt, erwachsen aus diesem urteilslosen Gewahrsein Liebe und Verstehen – aber von einer anderen Qualität als der, mit der wir normalerweise vertraut sind. Dieses urteilslose Gewahrsein ist – in jedem Augenblick und in allen Situationen des Lebens – die einzig wirkliche Meditation. Alle anderen Formen des Yoga führen entweder zu jenem ›blinden Denken‹, das der Selbstdisziplin entspringt, oder zu einer Art selbstinduzierter Verzückung, einer falschen Art von Samadhi. Die wahre Befreiung ist »eine innere Freiheit der schöpferischen Wirklichkeit«. Das »ist kein Geschenk; es muss entdeckt und erfahren werden. Es ist keine Errungenschaft, mit der Sie sich brüsten können. Es ist ein Seinszustand, als Stille, in dem es kein Werden gibt, in welchem Ganzheit da ist. Diese Kreativität verlangt vielleicht nicht unbedingt nach Ausdruck, sie ist kein Talent, das nach Manifestation im Äußeren verlangt. Sie müssen kein großer Künstler sein oder ein Publikum haben. Wenn Sie danach suchen, werden Sie die innere Wirklichkeit verpassen. Sie ist weder ein Geschenk noch das Ergebnis von Talent. Man findet diesen unvergänglichen Schatz dort, wo sich das Denken von Lust, Böswilligkeit und Unwissenheit befreit, wo sich das Denken von Weltlichkeit befreit und vom persönlichen Drang, etwas zu sein. Man erfährt sie durch wahres Denken und Meditation.« Urteilsfreies Selbstgewahrsein führt uns zu jener schöpferischen Wirklichkeit, die hinter all unseren destruktiven Spiegelfechtereien existiert, zu jener stillen Weisheit, die immer da ist, trotz Unwissenheit und trotz all dem Wissen, das nur Unwissenheit in anderer Form ist. Wissen ist eine Sache der Symbole und allzu oft ein Hindernis für die Weisheit, für das Aufdecken des Selbst Augenblick für Augenblick. Ein Geist, der zur Stille der Weisheit gelangt ist, »kennt das Sein, weiß, was es bedeutet zu lieben. Liebe ist weder persönlich, noch unpersönlich. Liebe ist Liebe, sie kann nicht definiert oder vom Geist als ausschließend oder einbeziehend beschrieben werden. Liebe ist ihre eigene Ewigkeit; sie ist das Wirkliche, das Höchste, das Unermessliche.«

ALDOUS HUXLEY

REDEN

Auszüge aus Reden von Krishnamurti,
die er zwischen 1948 und 1953
in Asien, Amerika und Europa gehalten hat

I.
Einleitung

Miteinander zu kommunizieren ist, selbst wenn wir uns sehr gut kennen, extrem schwierig. Ich benutze vielleicht Worte, die für Sie eine ganz andere Bedeutung haben als für mich. Verstehen geschieht, wenn wir, Sie und ich, uns zur selben Zeit auf derselben Ebene begegnen. Und das passiert nur, wenn echte Zuneigung da ist, zwischen den Menschen, zwischen Mann und Frau oder engen Freunden. Das ist echte Gemeinschaft. Unmittelbares Verstehen stellt sich ein, wenn wir uns auf derselben Ebene zur selben Zeit treffen.

Es ist sehr schwer, entspannt und dennoch wirkungsvoll und präzise miteinander zu kommunizieren. Ich verwende einfache Wörter, keine wissenschaftlichen Begriffe, denn ich glaube nicht, dass irgendeine abstrakte Sprache uns helfen kann, unsere schwierigen Probleme zu lösen. Deshalb benutze ich keine wissenschaftlichen Ausdrücke, weder aus der Psychologie noch der Naturwissenschaft. Ich habe glücklicherweise keine psychologischen und auch keine religiösen Bücher gelesen. Ich möchte mit Hilfe der ganz einfachen Wörter und Begriffe, die wir in unserem Alltag verwenden, eine tiefere Bedeutung vermitteln. Aber das ist sehr schwierig, wenn Sie nicht wissen, wie man zuhört.

Es gibt eine Kunst des Zuhörens. Um wirklich zuhören zu können, sollte man alle Vorurteile, altbekannten Formulierungen und Alltagsdinge aufgeben oder beiseitelassen. Wenn Sie in einem aufnahmefähigen Zustand sind, fällt das Verstehen leicht. Sie hören zu, wenn Sie einer Sache wirklich Aufmerksamkeit schenken. Aber leider hören die meisten von uns durch einen Filter des inneren Widerstands zu. Dieser Filter besteht aus Vorurteilen, ob religiös, spirituell, psychologisch oder wissenschaftlich oder aus unseren täglichen Sorgen, Wünschen und Ängsten. Und durch diesen Filter hören wir zu. Deshalb hören wir eigentlich nur unseren eigenen inneren Geräuschen und Tönen zu und nicht dem, was gesagt wird. Es ist extrem schwierig, unsere Erziehung, unsere Vorurteile, Vorlieben und Widerstände loszulassen, über die bloßen Worte hinauszugehen und so zuzuhören, dass wir unmittelbar verstehen. Das wird hier eine unserer Schwierigkeiten sein.

Wenn während dieses Gespräches irgendetwas gesagt wird, das im Gegensatz zu Ihrem Denken und Ihren Überzeugungen steht, dann hören Sie einfach zu – ohne Widerstand. Vielleicht haben Sie recht, und ich habe unrecht, aber indem wir zuhören und die Dinge gemeinsam betrachten, werden wir herausfinden, was die Wahrheit ist. Niemand kann Ihnen die Wahrheit geben. Sie müssen sie entdecken, und um sie entdecken zu können, muss Ihr Geist in einem Zustand unmittelbaren Gewahrseins sein. Unmittelbares Gewahrsein ist nicht möglich, wenn Widerstände da sind, wenn wir uns sichern und schützen. Verstehen entspringt dem Gewahrsein dessen, was ist. Genau zu wissen, was ist, was real, was wirklich ist, ohne es zu interpretieren, ohne es zu verurteilen oder zu rechtfertigen, ist zweifellos der Beginn von Weisheit. Nur wenn wir anfangen zu interpretieren, gemäß unserer Konditionierung, gemäß unseren Vorurteilen, entgeht uns die Wahrheit. Es ist eigentlich wie in der Forschung. Um zu wissen, was etwas ist, was es genau ist, müssen wir forschen – Sie können es nicht nach Lust und Laune interpretieren. Und wenn wir so schauen, beobachten, zuhören können, wenn wir das, was ist, exakt wahrnehmen, dann ist das Problem gelöst. Und genau das werden wir in all diesen Gesprächen tun. Ich werde Ihnen aufzeigen, was ist, und es nicht nach meinem Gutdünken interpretieren, und Sie sollten es ebenfalls nicht gemäß Ihrer Herkunft oder Erziehung interpretieren.

Ist es dann nicht möglich, alles so wahrzunehmen, wie es ist? Auf dieser Basis ist Verstehen möglich. Das, was ist, anzuerkennen, es bewusst wahrzunehmen, es herauszufinden, beendet den inneren Kampf. Wenn ich weiß, dass ich ein Lügner bin, wenn das eine Tatsache ist, die ich anerkenne, dann ist der innere Kampf vorbei. Anzuerkennen, gewahr zu sein, was man ist, ist der Anfang von Weisheit, der Anfang des Verstehens, der Sie frei macht von Zeit. Wenn man die Zeitqualität hineinbringt – nicht Zeit im chronologischen Sinn, sondern als Hilfsmittel, als psychischen, mentalen Prozess –, ist das destruktiv und stiftet Verwirrung. Wir können also verstehen, was ist, wenn wir es anerkennen, ohne Verurteilung, ohne Rechtfertigung, ohne Identifikation. Zu wissen, dass man sich in einem bestimmten Zustand befindet, ist bereits ein Befreiungsprozess; aber ein Mensch, der sich seines Zustands, seines inneren Kampfes nicht bewusst ist, versucht, etwas anderes zu sein, als er ist, woraus Gewohnheiten entstehen. Behalten wir also im Hinterkopf, dass wir untersuchen wollen, was ist, dass wir beobachten und gewahr sein wollen, was tatsächlich ist, ohne ihm irgendeine Färbung zu geben, ohne es zu interpretieren. Es erfordert einen außerordentlich scharfen Geist, ein außergewöhnlich offenes Herz, um dessen, was ist, gewahr zu sein und ihm zu folgen. Denn was ist, ist ständig in Bewegung, ist ständig der Veränderung unterworfen; und wenn der Geist an Glaubenssätze, an Wissen gebunden ist, hört er auf, der schnell fließenden Bewegung dessen, was ist, zu folgen. Was ist, ist zweifellos nicht statisch, – es ist ständig in Bewegung, wie Sie sehen werden, wenn Sie es genau beobachten. Um ihm zu folgen, brauchen Sie einen sehr beweglichen Geist und ein offenes Herz. Das geht verloren, wenn der Geist statisch ist, in einer Überzeugung verharrt, einem Vorurteil, einer Identifikation; und ein Geist und ein Herz, die vertrocknet sind, können dem, was ist, nicht leicht und frei folgen.

Ich denke, uns ist bewusst, ohne große Diskussion, ohne viele Worte, dass sowohl individuell als auch kollektiv Chaos, Verwirrung und Elend herrschen. Nicht nur in Indien, sondern überall auf der Welt; in China, Amerika, England, Deutschland, überall auf der Welt herrscht Verwirrung, wird das Leid immer größer. Das ist nicht auf eine Nation begrenzt, es ist in der ganzen Welt so. Es gibt ungeheuer großes Leid, und zwar nicht nur individuell, sondern kollektiv. Es ist also eine Weltkatastrophe, und es wäre absurd, sie auf ein geographisches Gebiet, eine Region mit einer bestimmten Farbe auf der Landkarte zu begrenzen, denn dann werden wir nicht die ganze Bedeutung dieses weltweiten sowie individuellen Leidens verstehen. Wenn wir uns dieser Verwirrung bewusst sind, was ist dann unsere Antwort darauf? Wie reagieren wir?

Es gibt Leid in der Politik, in der Gesellschaft, in der Religion; unsere Psyche ist verwirrt, und alle unsere Anführer, politische wie religiöse, haben versagt, alle Schriften haben ihre Bedeutung verloren. Sie können die Bhagavad-Gita oder die Bibel oder die neueste politische oder psychologische Abhandlung lesen und werden feststellen, dass sie diesen Klang, diese Qualität der Wahrheit verloren haben. Es sind nur noch Worte. Und Sie, die Sie diese Worte wiederholen, sind verwirrt und unsicher, und die bloße Wiederholung von Worten vermittelt überhaupt nichts. Deshalb sind die Worte und die Bücher wertlos geworden; das heißt, wenn Sie die Bibel oder Marx oder die Bhagavad-Gita zitieren als jemand, der selbst unsicher und verwirrt ist, wird Ihre Wiederholung zur Lüge, denn was da geschrieben steht, wird zur bloßen Propaganda, und Propaganda ist nicht die Wahrheit. Wenn Sie also wiederholen, haben Sie aufgehört, Ihren eigenen Seinszustand zu verstehen. Mit den Worten aus diesen Quellen decken Sie nur Ihre eigene Verwirrung zu. Aber wir wollen versuchen, diese Verwirrung zu verstehen und sie nicht mit Zitaten zudecken. Was ist also Ihre Antwort darauf? Wie antworten Sie auf dieses ungeheure Chaos, diese Verwirrung, diese Unsicherheit der Existenz? Seien Sie sich dessen bewusst, während ich darüber spreche; folgen Sie nicht meinen Worten, sondern dem Gedanken, der in Ihnen aktiv ist. Die meisten von uns sind daran gewöhnt, Zuschauer zu sein und nicht selbst am Spiel teilzunehmen. Wir lesen Bücher, aber wir schreiben niemals welche. Es ist zu unserer Tradition, unserer nationalen und globalen Gewohnheit geworden, Zuschauer zu sein, ein Fußballspiel anzuschauen, den Politikern und Rednern beim Reden zuzuschauen. Wir sind nur die Außenstehenden, die Zuschauer und haben unsere eigene Kreativität verloren. Deshalb wollen wir aufsaugen und dadurch teilhaben.

Aber wenn Sie nur beobachten, wenn Sie nur Zuschauer sind, wird Ihnen die Bedeutung dieses Gedankenaustausches völlig entgehen, denn das ist kein Vortrag, den Sie sich anhören müssen – aus Macht der Gewohnheit. Ich werde Ihnen keine Informationen liefern, die Sie auch in einer Enzyklopädie nachschlagen können. Was wir hier versuchen, ist, den Gedanken des anderen zu folgen, so weit zu folgen, wie wir können, so tief wir können, den Hinweisen, den Reaktionen unseres eigenen Gemüts zu folgen. Finden Sie also bitte heraus, wie Sie auf dieses Thema, dieses Leiden reagieren; nicht, was jemand anders darüber sagt, sondern was Ihre eigene Antwort darauf ist. Ihre Antwort ist Gleichgültigkeit, wenn Sie von dem Leiden profitieren, wenn Sie aus dem Chaos entweder wirtschaftlich, sozial, politisch oder psychisch einen Vorteil ziehen. Deshalb macht es Ihnen nichts aus, wenn sich dieses Chaos fortsetzt. Man strebt zweifellos umso mehr nach Sicherheit, je mehr Probleme es auf der Welt gibt, je größer das Chaos ist. Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Wenn in der Welt Verwirrung herrscht, geistig, psychisch und auf jede andere Art und Weise, umgeben Sie sich mit irgendeiner Art von Sicherheit, sei es ein Bankkonto oder eine Ideologie, oder Sie wenden sich dem Gebet zu, gehen in den Tempel – was tatsächlich eine Flucht vor dem ist, was auf der Welt geschieht. Es werden immer mehr Sekten gegründet, immer mehr ›Ismen‹ entstehen überall auf der Welt. Denn je größer die Verwirrung, desto dringender wünschen Sie sich einen Führer, jemanden, der Sie aus diesem Schlamassel herausführt. Also wenden Sie sich den religiösen Schriften zu oder einem der neuesten Lehrer, oder Sie handeln und reagieren in Übereinstimmung mit einem System, welches das Problem zu lösen scheint, einem System der Linken oder Rechten. Das ist genau, was geschieht.

In dem Moment, da Sie der Verwirrung gewahr werden, dessen, was tatsächlich ist, versuchen Sie, davor zu flüchten. Diese Sekten, die Ihnen ein System für die Lösung allen Leidens auf der sozialen, wirtschaftlichen oder religiösen Ebene anbieten, sind die schlimmsten, denn dann wird das System wichtig und nicht der Mensch – ob es sich um ein religiöses System handelt oder ein politisches. Das System wird wichtig, die Philosophie, die Idee wird wichtig und nicht der Mensch. Und um der Idee willen, der Ideologie willen sind Sie bereit, die ganze Menschheit zu opfern. Genau das geschieht auf der Welt. Das ist nicht bloß meine Interpretation. Wenn Sie hinschauen, werden Sie feststellen, dass genau das geschieht. Das System ist wichtig geworden. Deshalb verlieren, weil das System wichtig geworden ist, die Menschen, Sie und ich, an Bedeutung, und die Kontrolleure des Systems, ob religiös oder sozial, ob links- oder rechtsgerichtet, maßen sich Autorität an, ergreifen die Macht und opfern deshalb Sie, das Individuum. Genau das geschieht.

Aber was ist der Grund für diese Verwirrung, dieses Elend? Wie ist dieses Elend entstanden, dieses Leiden, nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich? Diese Angst und die Erwartung eines Krieges, die Angst vor dem dritten Weltkrieg? Was ist die Ursache? Es weist zweifellos auf den Zusammenbruch aller moralischen und spirituellen Werte hin und auf die Verherrlichung aller sinnlichen Werte, des Wertes der Dinge, die mit den Händen oder dem Geist erschaffen wurden. Was geschieht, wenn wir keine anderen Werte haben als die Werte der äußeren Dinge, die Werte der Produkte des Geistes, der Hand oder der Maschine? Je mehr Bedeutung wir den äußeren, materiellen Werten beimessen, desto größer die Verwirrung, nicht wahr? Auch das ist nicht meine Theorie. Sie müssen keine Bücher heranziehen, um herauszufinden, dass Ihre Werte, Ihre Reichtümer, Ihre wirtschaftliche und soziale Existenz auf Dingen beruhen, die mit den Händen oder dem Geist erschaffen wurden. So leben und funktionieren wir, und unser Sein ist durchdrungen von sinnlichen Werten, was bedeutet, dass Dinge – vom Geist, von Händen oder Maschinen erschaffene Dinge – wichtig geworden sind. Und wenn Dinge wichtig werden, erlangt der Glaube beherrschende Bedeutung. Genau das geschieht auf der Welt, nicht wahr?

Dass den äußeren, materiellen Werten immer mehr Bedeutung beigemessen wird, ist also der Grund für die Verwirrung. Und dieser Verwirrung versuchen wir auf verschiedene Arten zu entkommen, ob durch religiöse, wirtschaftliche oder soziale Aktivitäten oder durch Ehrgeiz, durch Macht, durch die Suche nach der Wirklichkeit. Aber das Wirkliche ist nahe, man muss es nicht suchen, und ein Mensch, der die Wahrheit sucht, wird sie niemals finden. Wahrheit liegt in dem, was ist – und das ist die Schönheit darin. Aber in dem Moment, in dem Sie sich eine Vorstellung davon machen, in dem Moment, in dem Sie danach suchen, fangen Sie an zu kämpfen. Und ein Mensch, der kämpft, kann nicht verstehen. Deshalb müssen wir still sein, beobachtend, wach und empfänglich. Wir sehen, dass sich unser Leben, unser Handeln immer auf dem Feld der Zerstörung, auf dem Feld des Leidens abspielt. Wie eine Welle schlagen Verwirrung und Chaos immer wieder über uns zusammen. Es gibt keine Pause in der Verwirrung der Existenz.

Alles, was wir gegenwärtig tun, scheint ins Chaos zu führen, in Leid und Unglück. Betrachten Sie Ihr eigenes Leben, und Sie werden erkennen, dass sich unser Leben immer am Rande des Leids abspielt. Unsere Arbeit, unsere sozialen Aktivitäten, unsere Politik, die verschiedenen Versammlungen der Nationen, um den Krieg zu beenden, führen alle zu noch mehr Krieg. Unsere Lebensweise zieht Zerstörung nach sich, alles, was wir tun, führt zum Tod. Genau das findet wirklich statt. Können wir dieses Elend unmittelbar beenden und nicht immer wieder von der Welle der Verwirrung und des Leids mitgerissen werden? Große Lehrer wie Buddha oder Christus sind gekommen; sie haben Glauben und Vertrauen akzeptiert und nur sich, vielleicht, von Verwirrung und Leid befreit. Aber sie haben nie das Leid verhindert, sie haben nie die Verwirrung beendet. Die Verwirrung setzt sich fort, das Leiden setzt sich fort. Wenn Sie sich angesichts dieser gesellschaftlichen und ökonomischen Verwirrung, dieses Chaos, dieses Elends auf etwas zurückziehen, das religiöses Leben genannt wird, und der Welt den Rücken kehren, haben Sie vielleicht das Gefühl, dass Sie diesen großen Lehrern folgen, aber die Welt dreht sich weiter in ihrem Chaos, ihrem Elend und ihrer Zerstörung, im endlosen Leiden von Arm und Reich. Unsere Frage, Ihre und meine, lautet also, ob wir unmittelbar aus diesem Elend heraustreten können. Wenn Sie in der Welt leben, sich aber weigern, ein Teil davon zu sein, werden Sie anderen aus diesem Chaos heraushelfen – nicht in der Zukunft, nicht morgen, sondern jetzt. Das ist zweifellos unser Problem. Der Krieg wird wahrscheinlich kommen, noch zerstörerischer, noch abscheulicher. Wir können ihn wohl nicht verhindern, die Probleme sind viel zu groß und akut. Aber Sie und ich können die Verwirrung und das Elend unmittelbar wahrnehmen. Wir müssen sie erkennen. Und dann werden wir in der Lage sein, dasselbe Erkennen der Wahrheit in anderen zu wecken. Mit anderen Worten: Können Sie auf der Stelle frei sein? Denn das ist der einzige Ausweg aus diesem Elend. Erkennen ist nur in der Gegenwart möglich; aber wenn Sie sagen: »Ich kümmere mich morgen darum«, wird die Welle der Verwirrung über Ihnen zusammenschlagen, und dann werden Sie immer in Verwirrung hineingezogen.

Ist es also möglich, in jenen Zustand zu gelangen, in welchem Sie die Wahrheit unmittelbar erkennen und damit der Verwirrung ein Ende setzen? Ich sage, dass es möglich ist und dass es der einzig mögliche Weg ist. Ich sage, es kann getan werden und muss getan werden, und zwar nicht auf Grund von Vermutungen oder Überzeugungen. Diese außergewöhnliche Revolution zu bewerkstelligen – die kein Aufstand gegen die Kapitalisten ist, um eine andere Gruppe zu etablieren –, diese wunderbare Verwandlung herbeizuführen, die die einzig wahre Revolution ist, ist das Problem. Was gemeinhin als Revolution bezeichnet wird, ist einfach nur die Abwandlung oder die Fortsetzung der rechten Ideologie im Gewand der linken. Die Linke ist letztendlich die Fortsetzung der Rechten in einer abgewandelten Form. Wenn die Rechte auf materiellen Werten basiert, ist die Linke nichts anderes als eine Fortsetzung derselben materiellen Werte und unterscheidet sich nur graduell oder in ihrer äußeren Form. Deshalb kann eine echte Revolution, Umwandlung, nur stattfinden, wenn Sie – das Individuum – in Ihren Beziehungen zu anderen achtsam werden. Die Gesellschaft ist nichts anderes als das, was Sie in Ihrer Beziehung zu einem anderen Menschen sind, zu Ihrer Frau, Ihrem Kind, Ihrem Chef, Ihrem Nachbarn. Die Gesellschaft als solche existiert nicht. Was Sie und ich in unserer Beziehung verursacht haben, ist die Gesellschaft. Sie ist die äußerlich sichtbare Projektion all unserer inneren psychischen Zustände. Wenn wir, Sie und ich, uns also selbst nicht verstehen, ist es absolut sinnlos, nur das Äußere, das Spiegelbild des Inneren, zu verändern; das heißt, es kann keine bedeutsame Veränderung in der Gesellschaft geben, solange ich mich in der Beziehung zum Du nicht verstehe. Wenn ich in meinen Beziehungen verwirrt bin, erzeuge ich eine Gesellschaft, die das Ebenbild, der äußere Ausdruck dessen ist, was ich bin. Das ist eine offensichtliche Tatsache, über die wir sprechen können. Wir können darüber diskutieren, ob die Gesellschaft als äußerer Ausdruck mich hervorgebracht hat oder ob ich die Gesellschaft geschaffen habe.

Ist es daher nicht offensichtlich, dass die Gesellschaft durch das erschaffen wird, was ich in meiner Beziehung zu einem anderen bin, und dass es ohne eine radikale Veränderung meiner selbst keine Veränderung der grundlegenden Funktionsweise der Gesellschaft geben kann? Wenn wir erwarten, dass ein System die Gesellschaft verändert, weichen wir der Frage nur aus, denn ein System kann den Menschen nicht verändern. Es ist immer so, dass der Mensch das System verändert, wie die Geschichte gezeigt hat. Solange ich mich selbst in meiner Beziehung zu dir nicht verstehe, bin ich die Ursache von Chaos, Elend, Zerstörung, Angst und Brutalität. Mich selbst zu verstehen ist keine Frage der Zeit. Ich kann mich jetzt, in diesem Augenblick, verstehen. Wenn ich sage: »Ich werde mich morgen verstehen«, bringe ich Chaos und Leid hinein, ist mein Handeln zerstörerisch. In dem Moment, in dem ich sage: »Ich ›werde‹ verstehen«, bringe ich den Zeitfaktor hinein, und die Welle der Verwirrung und Zerstörung hat mich bereits erfasst. Verstehen geschieht jetzt, nicht morgen. ›Morgen‹ ist etwas für den trägen Geist, den faulen, uninteressierten Geist. Wenn Sie Interesse an etwas haben, tun Sie es sofort, Sie verstehen sofort, die Veränderung geschieht unmittelbar. Wenn Sie sich jetzt nicht ändern, werden Sie sich nie ändern, denn die Veränderung, die morgen geschieht, ist nur eine Abwandlung, keine Verwandlung. Verwandlung kann nur unmittelbar stattfinden, die Revolution geschieht jetzt, nicht morgen.

Wenn das geschieht, haben Sie überhaupt kein Problem, denn das Selbst macht sich keine Sorgen über sich selbst. Dann befinden Sie sich jenseits der Welle der Zerstörung.

II.
Was suchen wir?

Was suchen die meisten von uns? Was wünscht sich jeder von uns? Besonders in dieser rastlosen Welt, in der jeder irgendeine Art von Frieden, von Glück, irgendeinen Zufluchtsort zu finden versucht, ist es da nicht wichtig, das herauszufinden? Was wollen wir finden, was wollen wir entdecken? Wahrscheinlich sind die meisten von uns auf der Suche nach irgendeinem Glück, nach Frieden in irgendeiner Form in einer Welt voller Aufruhr, Krieg, Zank und Streit. Wir wünschen uns einen Zufluchtsort, wo wir ein wenig Frieden finden können. Ich denke, das ist es, was die meisten von uns wollen. Also machen wir uns auf, gehen von einem Meister zum nächsten, von einer religiösen Organisation zur nächsten, von einem Lehrer zum nächsten.

Suchen wir also Glück, oder streben wir nach irgendeiner Art von Genuss oder Vergnügen, in welchem wir das Glück zu finden hoffen? Zwischen Glück und Vergnügen besteht ein Unterschied. Können Sie Glück suchen? Vielleicht können Sie Vergnügen finden, aber Sie können mit Sicherheit kein Glück finden. Glück ist eine Nachahmung, ein Nebenprodukt von etwas anderem. Bevor wir uns also mit dem Kopf und dem Herzen einer Sache widmen, die große Ernsthaftigkeit, Aufmerksamkeit, Überlegung, Sorgfalt voraussetzt, müssen wir das herausfinden. Was suchen wir nun, Glück oder Befriedigung? Ich fürchte, die meisten von uns suchen Letzteres. Wir wollen belohnt werden, wir wollen am Ende unserer Suche ein Gefühl der Befriedigung haben.

Wenn man Frieden sucht, kann man ihn schließlich sehr leicht finden. Man kann sich blindlings irgendeiner Sache, einer Idee hingeben und dort Zuflucht nehmen. Aber das löst mit Sicherheit nicht das Problem. Die bloße Abschottung im geschlossenen System einer Ideologie befreit nicht vom Konflikt. Also müssen wir das herausfinden, nicht wahr? Was es ist, das sich jeder von uns sowohl im Inneren als auch im Äußeren wünscht? Wenn wir uns darüber im Klaren sind, müssen wir nirgendwohin gehen, zu keinem Lehrer, in keine Kirche, keine Organisation. Deshalb besteht unsere Schwierigkeit darin, in uns selbst Klarheit über unsere Absicht zu haben, nicht wahr? Können wir innerlich klar sein? Und stellt sich diese Klarheit durch das Suchen ein, dadurch, dass wir herauszufinden versuchen, was andere sagen, vom höchsten Lehrer bis hin zum gewöhnlichen Prediger in der Kirche um die Ecke? Müssen Sie zu jemandem gehen, um es herauszufinden? Aber das tun wir, oder nicht? Wir lesen unzählige Bücher, gehen zu vielen Versammlungen, schließen uns verschiedenen Gemeinschaften an – und versuchen dadurch ein Mittel gegen unseren Konflikt, gegen das Elend und Leid in unserem Leben zu finden. Oder, wenn wir das alles nicht tun, denken wir, wir hätten es gefunden, das heißt, wir sagen, dass uns eine bestimmte Organisation, ein bestimmter Lehrer, ein bestimmtes Buch zufriedenstellt. Wir haben in ihm alles gefunden, was wir uns wünschen; und wir bleiben darin, erstarrt und abgeschottet.

Suchen wir inmitten dieser ganzen Verwirrung nicht etwas Beständiges, etwas Bleibendes, etwas, das wir Wirklichkeit, Gott, Wahrheit nennen oder was immer Sie wollen – der Name spielt keine Rolle, das Wort ist zweifellos nicht das Eigentliche. Bleiben wir also nicht an Worten hängen. Überlassen wir das den Hochschullehrern. Es gibt eine Suche nach etwas Beständigem, nicht wahr? Bei den meisten von uns – nach etwas, woran wir uns festhalten können, etwas, das uns Sicherheit gibt, eine Hoffnung, eine bleibende Begeisterung, eine bleibende Gewissheit, denn innerlich sind wir so unsicher. Wir kennen uns nicht. Wir wissen ein Menge über Fakten, darüber, was in den Büchern steht, aber es ist kein eigenes Wissen, wir haben keine direkte Erfahrung.