Deuticke E-Book
Hans Weiss
Tatort Kinderheim
Ein Untersuchungsbericht
Deuticke
ISBN 978-3-552-06202-3
Alle Rechte vorbehalten
© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2012
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Allen Heimkindern gewidmet
Inhalt
9Vorwort
19Im Vorzimmer der Heimgewalt
24Wer Gewalt sät
40Der Staat als Gewalttäter
59Grausame Medizin – Ärzte gegen Heimkinder
88Selektionen im SOS-Kinderdorf
100Kirchengewalt
131Oh, du mein Österreich
230Österreich heute
235Dank
Anfang der 1950er Jahre kam Maria S. als Baby in die Obhut des SOS-Kinderdorfes Imst. Einige Jahre später wurde sie wegen eines leicht verkürzten Fußes ausgesondert und landete schließlich im Tiroler Mädchenheim St. Martin. Dort wurde sie während einer Faschingsfeier – so wie andere Mädchen auch – von mehreren Bundesheer-Offizieren der nahe gelegenen Kaserne Absam brutal vergewaltigt. Sie war noch Jungfrau.
Auf der psychiatrischen Kinder-Beobachtungsstation Innsbruck gab es Ende der 1960er Jahre ein fünfjähriges Mädchen, dem wegen Onanierens zwei Fingerglieder amputiert worden waren. Die Leiterin, Frau Dr. Maria Nowak-Vogl, fand das ganz in Ordnung.
Im Kinderheim Rohrbach der »Schwestern vom armen Kinde Jesus« in Niederösterreich wurden kleine Kinder regelmäßig gefoltert, indem sie so lange unter kaltes Wasser getaucht wurden, bis sie fast ertranken.
Der bekannte Wiener Kinderpsychiater Prof. Andreas Rett missbrauchte mehr als tausend Kinder als medizinische Versuchskaninchen. Unter anderem testete er das berüchtigte Medikament Contergan.
All das geschah unter der Verantwortung österreichischer Jugendbehörden. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurden rund 100.000 österreichische Kinder und Jugendliche in Heime und Erziehungsanstalten gesperrt. Alle 45 ehemaligen Heimkinder, mit denen ich für dieses Buch Gespräche führte, berichten davon, dass Gewalt das vorherrschende Erziehungsmittel war: seelische Gewalt, körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt.
Vor dem Gesetz zählten Kinder zu den besonders schutzwürdigen Personen. In den offiziellen Dokumenten, die von Fürsorgerinnen, Medizinern, Psychologen, Polizisten, Richtern, Pfarrern, Nonnen und Patres angefertigt wurden, liest man immer wieder von der Sorge um das Kindeswohl. Von dem, was in den Heimen wirklich geschah – den Misshandlungen, Folterungen, Demütigungen, sexuellen Missbräuchen und Vergewaltigungen –, liest man nichts. In zwei Kapiteln dieses Buches – Wer Gewalt sät und Der Staat als Gewalttäter – werden konkrete Namen und Funktionen von Tätern und Schreibtischtätern genannt.
Da und dort kommen auch Täter und Täterinnen ausführlich zu Wort, mit allen Facetten ihres Verhaltens: weinerlich und sich selbst bemitleidend; selbstkritisch und voll Reue; oder so aggressiv, dass man fast die Schläge hört, die sie austeilten. Ein anschauliches Beispiel dafür ist Schwester »Tarzan« von der staatlichen Erziehungsanstalt Wiener Neudorf (siehe Kapitel: Schwester »Tarzan«).
Zum ersten Mal liegt mit diesem Buch ein gesamtösterreichischer Überblick vor. Hier geht es um insgesamt 135 Heime und Internate – 80 weltliche und 55 geistliche. Wie viele es wirklich waren, wissen wir bis jetzt nicht. Es werden wohl etwa 200 gewesen sein. Viele Kinder wurden ununterbrochen hin- und hergeschoben, von einem Bundesland ins andere, von einem Heim zum nächsten – ein Kindergulag, der so ähnlich funktionierte wie der von Alexander Solschenyzin beschriebene »Archipel Gulag« des Josef Stalin.
Niederösterreich, Salzburg, Vorarlberg, die Steiermark, Wien und Tirol listen einzelne Tatorte auf, Burgenland und Oberösterreich beschränken sich auf eine Auswahl und Kärnten gibt gar nichts preis. Auch die Klasnic-Kommission verweigert Angaben zu einzelnen kirchlichen Tatorten. Man hält sich offenbar an den Wahlspruch: Zu viel Transparenz ist nicht gut!
Heime nur für Behinderte werden in diesem Buch nicht beschrieben – dazu wäre eine eigene Forschungsarbeit notwendig.
Die folgende Liste ist subjektiv und beruht auf den Eindrücken, die ich in den Gesprächen mit 45 ehemaligen Heimkindern gewonnen habe.
• Martinsbühel (Tirol)
• St. Martin (Tirol)
• Bubenburg in Fügen (Tirol)
• Wimmersdorf (Niederösterreich)
• Rohrbach (Niederösterreich)
• Gleink (Oberösterreich)
• Wilhelminenberg (Wien)
• Kaiser-Ebersdorf (Wien) samt Filiale in Kirchberg
• Kinder-Beobachtungsstation von Dr. Nowak-Vogl (Tirol)
• Caritas-Kinderdorf St. Anton in Bruck (Salzburg)
Der Linzer Sozialhistoriker Prof. Michael John schätzt, dass es in Österreich etwa 100.000 ehemalige Heimkinder gibt und weitere 150.000, die von Jugendämtern in Pflegefamilien untergebracht wurden. Diese beiden Opfergruppen überschneiden sich jedoch, weil viele Heimkinder zeitweise auch in Pflegefamilien untergebracht waren. Pflegekinder haben oft ein noch härteres Schicksal erlitten als die Heimkinder. Besonders in ländlichen Gegenden mussten sie unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten und wurden häufig auch sexuell missbraucht.
Alle diese Kinder wurden geschädigt, in mehr oder weniger großem Ausmaß – der Großteil von ihnen für immer. Sie verloren jeden Halt, flüchteten in Alkohol- und Drogenwelten, wurden obdachlos, drifteten ab in Prostitution und Kriminalität.
Viele Geschichten in diesem Buch sind Dokumente unerhörten Muts und großer Tapferkeit: Obwohl die Kinder die mächtigsten Gruppen der Gesellschaft zu Feinden hatten, gaben sie nicht klein bei, sondern wehrten sich. Im Heimalltag gab es zahlreiche kleine, individuelle Revolten. Eine Möglichkeit, sich dem Terror zu entziehen, war die Flucht. Aber ohne Geld, ohne Unterschlupf und ohne Unterstützung blieben das meist nur kurze Ausflüge. Vereinzelt gab es auch Mordpläne und Mordversuche an besonders sadistischen Erziehern – alle waren erfolglos. Oft, wenn die Lage besonders aussichtslos schien, richteten die Kinder ihre Aggressionen gegen sich selbst. Sie sprangen aus dem Fenster oder schnitten sich die Pulsadern auf.
Auch jene ehemaligen Heimkinder, die heute ein normales Leben führen, werden immer wieder von ihren Erinnerungen geplagt. Erst seit kurzem trauen sie sich, öffentlich darüber zu reden und Zeugnis abzulegen. Die Innsbrucker Psychotherapeutin Dr. Ulrike Paul leitet mit Unterstützung des Landes Tirol seit zwei Jahren eine Selbsthilfegruppe ehemaliger Heimzöglinge und führte mit vielen von ihnen psychotherapeutische Gespräche. »Heime«, so sagt sie, »waren Orte, an denen systematisch Gewalt ausgeübt worden ist und Menschen gebrochen worden sind.«
Immer wieder stößt die Psychotherapeutin auf die Tatsache, dass nicht nur die Opfer an den Folgen leiden, sondern auch deren Kinder und Enkelkinder. Denn auf unbewusste Art und Weise wird vieles an die nächste Generation weitergegeben. Deshalb ist es wichtig, dass die Opfer nicht nur finanziell entschädigt werden, sondern dass sie Psychotherapien, möglichst ohne zeitliche Befristung, zuerkannt bekommen, in denen sie ihre Gewalterfahrungen bearbeiten können. Es wäre ein Fehler, bei Ausgaben im therapeutischen Bereich zu knausern.
Es war keine Verschwörung gegen Kinder und es gab keinen von oben verordneten Generalplan. Trotzdem waren sich alle mächtigen Gruppen der Gesellschaft einig, was mit Kindern aus zerrütteten Familien passieren sollte – die Jugendbehörde, die Justiz, die Polizei, die Medizin, die Kirche: Ab ins Heim und draufhauen!
Warum das so war? Eine gängige Erklärung für die massenhafte Gewalt gegen Kinder besagt, dass die Erziehungsmethoden des Nationalsozialismus nach Kriegsende fast bruchlos weitergeführt wurden – oft mit demselben Personal. Das stimmt zwar. Aber waren beispielsweise Kinderheime in Irland oder Holland nicht genauso brutal wie in Österreich? Sicher ist, dass es in ganz Europa bis vor kurzem eine Tradition der Härte gegen Kinder gab. In Österreich wurde das elterliche Züchtigungsrecht erst im Jahr 1975 abgeschafft. Bis dahin waren nur Misshandlungen mit körperlichen Folgeschäden strafbar. Und erst 1989 wurde es den Eltern verboten, Gewalt auszuüben oder den Kindern körperliches oder seelisches Leid zuzufügen. Kinderrechte sind erst seit 2011 in der Verfassung verankert. Aus aktuellen Meinungsumfragen geht hervor, dass die Mehrzahl österreichischer Eltern »eine Tetschn«, also eine Ohrfeige, als legitimes Erziehungsmittel betrachtet.
Im Kapitel Grausame Medizin wird beschrieben, wie prominente österreichische Kinderpsychiater wie Hans Hoff, Walter Spiel, Andreas Rett, Hans Asperger, Erwin Ringel, Maria Nowak-Vogl oder Franz Wurst mit Kindern und speziell Heimkindern umgingen. Schon allein die Sprache dieser Mediziner erinnert an den Nationalsozialismus. In wissenschaftlichen Publikationen bis in die 1980er Jahre hinein ist fast nur die Rede von »Versuchsmaterial« und »Versuchsgut«.
Einige dieser Mediziner nahmen sogar bewusst Schädigungen und Todesfälle in Kauf – die vielgerühmte »Wiener medizinische Schule« verkam bei ihnen zur »Wiener medizinischen Schule der Grausamkeit«.
Das Justizministerium war bis 1974 direkt verantwortlich für zwei der schlimmsten Heime Österreichs: Kaiser-Ebersdorf für Buben und Wiener Neudorf für Mädchen. Wiener Neudorf war zwar ein staatliches Heim, segelte jedoch unter der Flagge der »Schwestern zum Guten Hirten«. Das war katholisch und klang fürsorglich. Hinter den hohen Klostermauern herrschte jedoch ein Schreckensregime von Nonnen, mit sexuellem Missbrauch, Zwangsarbeit und sadistischen Körperstrafen. Erwin Ringel war dort als beratender Psychiater tätig. Bis heute stiehlt sich der Staat erfolgreich aus der Verantwortung für dieses Heim. Entschädigungen? – Bis heute keine einzige!
Eine Folge der heftigen öffentlichen Diskussion über sexuellen Missbrauch in der Kirche war die Einrichtung einer Hotline und die Gründung der kirchenunabhängigen Institution »Plattform für Betroffene kirchlicher Gewalt«. Ihr verdanke ich die notwendigen Informationen zur Erstellung der Landkarte sexueller Kirchengewalt in Österreich.
Kurz nach Gründung der »Plattform für Betroffene kirchlicher Gewalt« wurde eine kirchennahe Organisation gegründet, die als Klasnic-Kommission bekannt wurde. Sie war bis vor kurzem die zentrale Anlaufstelle für alle Opfer kirchlicher Gewalt. Inzwischen werden diese an die zuständigen Diözesen verwiesen.
Offenbar hat die Kirche ein Problem mit der Sexualität. Opfer kirchlicher Heime berichten in 66 Prozent aller Fälle von sexueller Gewalt oder sexuellem Missbrauch. Bei Opfern weltlicher Heime ist dieser Prozentsatz wesentlich geringer. In Wien beträgt er beispielsweise »nur« 44 Prozent. Die Innsbrucker Psychotherapeutin Dr. Ulrike Paul kann das anhand ihrer vielen Gespräche mit Heimopfern bestätigen. Sie sagt, dass in kirchlichen Heimen sehr viel häufiger sexuelle Gewalt angewandt wurde als in weltlichen. Und dass das »Personal in kirchlichen Heimen besonders deformiert war – wohl nicht zuletzt auf Grund der Sozialisation, welche die Täter selbst in den kirchlichen Institutionen durchlaufen haben«. Dieses Problem sei von der Kirche lange geleugnet und bagatellisiert worden.
Offenbar ist das kein Problem der Vergangenheit. Die »Plattform für Betroffene kirchlicher Gewalt« kritisiert, dass in Österreich mehrere Dutzend pädophile Kirchenmänner und -frauen weiterhin unbehelligt im Amt sind.
Österreichweit wurden bis jetzt rund 2500 Kinder entschädigt – von den Opferstellen der Bundesländer, diversen anderen weltlichen Heimträgern und der im April 2010 gegründeten Opferschutzkommission der katholischen Kirche, die umgangssprachlich unter dem Namen der Leiterin, Waltraud Klasnic, als Klasnic-Kommission bekannt ist. Was ist mit den restlichen 100.000?
Viele von ihnen haben kein Internet, lesen keine Zeitungen, hören nicht Radio, sehen vielleicht gar nicht fern. Und wissen deshalb gar nicht, dass sie zumindest einen moralischen Anspruch auf Entschädigung haben.
Die Klasnic-Kommission hat den Opfern kirchlicher Gewalt bis zum 17. April 2012 insgesamt rund acht Millionen Euro Entschädigungen zugesprochen und zusätzlich etwa 23.500 Therapiestunden im Wert von 2,1 Millionen Euro. Insgesamt sind das also rund zehn Millionen Euro.
Wie viel Geld österreichweit bereits an weltliche Opfer bezahlt wurde, weiß man nicht, weil nur wenige Bundesländer halbwegs verlässliche Zahlen bekanntgeben. In Vorarlberg sind es 847.000 Euro für 71 Opfer und in Tirol 1.202.000 Euro für 138 Opfer.
Wenn man diese Zahlen umrechnet, bedeutet das: Jedes kirchliche Opfer erhält im Durchschnitt 9000 Euro Entschädigung. Jedes weltliche Opfer in Tirol erhält ebenfalls etwa 9000 Euro, jedes weltliche Opfer in Vorarlberg rund 12.000 Euro. Für alle anderen Bundesländer liegen keine entsprechen Zahlen vor.
– von dem Tag, an dem Fritz T. beschloss, seine ehemalige Erzieherin zu töten,
– von den Grenzüberschreitungen des SOS-Kinderdorf-Gründers Hermann Gmeiner,
– von Ulrich K., der in einem Salzburger Kinderheim von zwei Franziskanerpatern und dem Dorfpfarrer jahrelang vergewaltigt wurde,
– von der benediktinischen Straflitanei im Tiroler Mädchenheim Martinsbühel
– und von den Beschimpfungen, die sich Franz Josef Stangl von Erziehern in Gleink anhören musste.
– Weibliche Erzieherinnen waren nicht weniger grausam als männliche. Nonnen waren besonders sadistisch.
– Buben wurden genauso oft vergewaltigt wie Mädchen.
– In den Erziehungsheimen wurden die Kinder der Unterschichten geprügelt und missbraucht, in den Eliteinternaten die Kinder der Oberschicht. Die einen waren so schlimm wie die anderen – in dieser Hinsicht galt in Österreich der Gleichheitsgrundsatz.
– Die schlimmsten Foltermethoden waren: das Beinahe-Ertränken von Kindern im niederösterreichischen Klosterheim Rohrbach; die Sackerlfolter in Eggenburg; die Disziplinierungsmaßnahmen im niederösterreichischen Heim Wimmersdorf; die Vergewaltigungen durch Bundesheer-Offiziere im Mädchenheim St. Martin in Tirol; die Verprügelungen der in Zwangsjacken gesteckten Mädchen in Martinsbühel in Tirol.
– Eine furchtbare Rolle spielte die Kinderpsychiatrie in Innsbruck, in Wien und in Klagenfurt.
– Der Staat sollte eine zentrale Anlaufstelle für alle Heimkinder in Österreich einrichten, die für alle Heime zuständig ist, weltliche und kirchliche. Bis jetzt gibt es einen Wirrwarr an Zuständigkeiten, und viele Betroffene werden wochen- und monatelang zwischen einzelnen Stellen hin- und hergeschickt.
– Der Staat sollte seine Verantwortung wahrnehmen und eine österreichweite Untersuchungskommission oder einen Untersuchungsausschuss einrichten.
– Der Staat sollte, so wie andere Opferschutzorganisationen, an alle ehemaligen Heimkinder von Kaiser-Ebersdorf und Wiener Neudorf Entschädigungen bezahlen.
– Die Entschädigungszahlungen für ehemalige Heimkinder sollten einheitlich mit fünfzig Euro pro Heimtag festgelegt werden. Diese Kosten sollten zunächst vom Staat vorfinanziert und an die Täterorganisationen weitergereicht werden.
– Allen ehemaligen Heimkindern, die auf Anweisung von Jugendämtern zu Zwangsarbeit in Heimen oder bei Pflegeeltern verurteilt wurden, sollte für diese Zeit ein Pensionsversicherungsanspruch zuerkannt werden. Oberösterreich hat gezeigt, wie das funktioniert. Die Kosten des Nachkaufs sollten zunächst vom Staat vorfinanziert und an die Täterorganisationen weitergereicht werden. Alle ehemaligen Heimkinder sollten außerdem vom Sozialministerium darüber informiert werden, dass sie das Recht haben, bei Vorliegen von dauerhaften psychischen oder körperlichen Schäden beim Bundessozialamt einen Antrag auf eine Opferpension zu beantragen, die wesentlich höher ist als eine normale Pension.
– Die Verjährungsfristen für sexuelle, psychische und körperliche Gewalt an Kindern, die unter der Aufsicht von Jugendämtern standen, sollten verlängert werden.
– Ehemalige Heimkinder sollten das Recht haben, innerhalb von vierzehn Tagen eine Kopie aller über sie angefertigten Akten zu erhalten, einschließlich der Krankenakten.
– Entschädigungszahlungen an ehemalige Heim- oder Pflegekinder sollten unter keinen Umständen zu einer Minderung oder gar Aussetzung sozialer Leistungen wie Mindestsicherung, Notstandshilfen, Arbeitslosengeld, Pensionsbezügen und dergleichen führen und nicht auf diese angerechnet werden.
In den 1970er Jahren ging in Österreich die Zahl der Kinder in Erziehungsheimen stark zurück. Laut dem Wiener Frauenarzt Dr. Christian Fiala ist das vor allem darauf zurückzuführen, dass damals die Zahl der unerwünschten Schwangerschaften – und damit unerwünschten Kinder – stark zurückging. Zum einen deshalb, weil seit Ende der 1960er Jahre Antibabypillen auch an unverheiratete Frauen verschrieben werden dürfen, zum anderen, weil Abtreibungen seit 1975 nicht mehr bestraft werden.
Ohrfeigen und Schläge waren normal. Dieses Argument wird oft verwendet, um die gewalttätigen Zustände in Heimen und Internaten zu rechtfertigen. Die Diskussion über Heime dreht sich jedoch nicht um Ohrfeigen oder Schläge, sondern um Körperverletzung, Grausamkeit, Missbrauch, Sadismus, Folter, Vergewaltigung.
Es stimmt – Ohrfeigen und Schläge galten als normal, wobei sie in den Heimen nur die allgemeine Gewaltkulisse bildeten. Aus eigener Erfahrung in Volksschule, Hauptschule, Mittelschule und Internat weiß ich aber, dass die Mehrheit der Lehrer und Erzieher nie selbst zuschlug oder prügelte – aber duldete und fast nie dagegen einschritt, wenn es andere taten.
Ich selbst blieb in der Kindheit von Ohrfeigen und Schlägen verschont. Meine Eltern prügelten nicht, und kein einziger Lehrer vergriff sich an mir. Allerdings musste ich zusehen, wie in der Hauptschule Egg im Bregenzerwald Mitschüler von manchen Lehrern blutiggeprügelt wurden. Auch ein Kaplan schlug zu, sogar bei Mädchen. Warum ich verschont blieb? Vielleicht, weil ich mich sehr angepasst verhielt.
Elternhaus, Schule und Internat bildeten nur die Vorzimmer für das, was in »Erziehungsheimen« und Eliteinternaten geschah. Oft waren all diese Orte ununterscheidbar ineinander verwoben und einer so grausam wie der andere. Ein anschauliches Beispiel dafür stellt die Innsbrucker Familie B. mit ihren zwölf Kindern dar. Beide Eltern, Ludwig und Hildegard B., waren eher an Alkohol als an ihren Kindern interessiert. 1956 kam eine Frau aus Dänemark und »kaufte« die kleine Elisabeth. Einer der Buben wurde an Leute in Jenbach in Tirol »verschenkt«. Die restlichen Kinder landeten in den 1960er und 1970er Jahren alle in Kinderheimen, wo es ihnen ähnlich erging wie zu Hause: Viele Schläge gab’s und keine Liebe.
Im Folgenden zwei Beispiele von ganz »normalen« Schulen und Schulinternaten in Tirol und Salzburg.
Roland B. (Name geändert) ist in Tirol aufgewachsen, in einem kleinen Dorf mit so wenigen Schülern, dass alle neun Schulstufen in einem einzigen Raum unterrichtet wurden. Der Lehrer war »ein fauler Mensch«, der sich während des Bastelunterrichts immer schlafen legte und den großen Buben das Kommando übergab. Dann, so erzählt Roland, habe »der Horror« begonnen. Jeweils zwei kleinen Buben sei befohlen worden, Zungenküsse auszutauschen oder sich gegenseitig am Penis zu streicheln. Oder die kleinen Buben mussten den großen den Schwanz lecken. Rolands Hände werden fahrig und er stottert, als er davon erzählt; sein Gesicht zuckt.
Die einzige Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen, sah Roland darin, die Schule zu schwänzen. Er tat das mit aller Konsequenz. Wochenlang versteckte er sich Tag für Tag im Wald oder in einem der großen Kanalrohre am Straßenrand und wartete ab, bis der Unterricht zu Ende war. Irgendwann flog er auf. Die Eltern glaubten, er habe einfach nur Schulangst. Den wahren Grund erfuhren sie nie.
Es dauerte zwei Jahre, bis Roland es mit Klugheit und List schaffte, sich von den sexuellen Torturen zu befreien. Er war talentiert im Schreiben und fing an, im Auftrag seiner Peiniger Liebesbriefe an Mädchen zu schreiben, harmlose, rührende Liebesbriefe. Einige blieben erhalten, weil der Lehrer sie abfing und Rolands Mutter mit der Bemerkung übergab, ihr Sohn sei ein klassischer Fall sexueller Verwahrlosung. Als Strafe wurde er dazu verdonnert, im Winter frühmorgens Holz zu hacken und das Schulzimmer zu heizen. Anschließend begann die tägliche Schulmesse, bei der er ministrieren musste.
Im Alter von acht Jahren diagnostizierte der Arzt bei Roland eine Tuberkulose. Er wurde mit Medikamenten behandelt und durfte auf Kosten der Krankenkasse im italienischen Ferienort Cesenatico an einem Sommerlager teilnehmen. Roland träumte von seinen ersten Ferien mit Sonne und Meer und landete in einem Albtraum. Weil sich die Aufsichtspersonen um nichts kümmerten, übernahmen auch hier die größeren Buben das Kommando und organisierten in der täglichen Ruhezeit zwischen vierzehn und sechzehn Uhr »Spiele«, wie sie Roland von der Volksschule kannte, mit Onanieren, Küssen und Oralverkehr.
Der für Roland nach der vierten Klasse Volksschule vorgesehene Wechsel in die Hauptschule fand nicht statt – weil der Lehrer dem begabten Schüler keine Empfehlung schrieb. Denn ein Schüler weniger hätte für ihn eine geringere Zulage bedeutet.
Mit einem Jahr Verzögerung schaffte er es dann aber doch, an die Hauptschule zu kommen. Dort gab es zwar keinen sexuellen Missbrauch, aber brutale körperliche Strafen. Roland erinnert sich an eine Lehrerin, die ihn mit Inbrunst hasste. Bei jedem erdenklichen Anlass geschah Folgendes: Sie hielt ein kleines Haarbüschel auf seinem Kopf mit ihren Fingern fest und befahl ihm, sich so lange im Kreis zu drehen, bis sich die Haare von der Kopfhaut lösten. Zum Glück heiratete sie, wurde schwanger und hörte auf zu unterrichten.
Mit vierzehn, Anfang der 1970er Jahre, kam Roland nach Telfs ans Gymnasium und musste wochentags im Vinzenz-Gredler-Heim wohnen. Es wurde von der katholischen Arbeiterjugend geführt. Dort kam es ebenfalls zu sexuellem Missbrauch.
»Der Heimleiter hat angeordnet, wir mussten … es gab einige auserwählte Buben, die bei einem Spiel mitmachen durften oder mussten. Das war mit seiner Frau. Mit ihr mussten wir alles Mögliche machen.«
Diese »Spiele« fanden immer nachts statt. Der Heimleiter kam ins Schlafzimmer, deutete auf einige Schüler und befahl: »Raus!« Der barsche Ton war aber nur Theater und sollte gegenüber anderen Schülern den Eindruck erwecken, dass jetzt eine Strafe folgte. In Wirklichkeit wurden die Schüler von der Frau des Heimleiters in aufreizender Kleidung erwartet. Weil Roland noch relativ jung war, beschränkte sich seine Rolle darauf, sich zu verkleiden und zu posieren.
Während der »Spiele« schoss der Heimleiter Fotos von seiner Frau in sexy Unterwäsche oder von den Buben, die mit seiner Frau schlafen mussten. Roland schaute dabei nur zu. Einmal reisten der Heimleiter und dessen Frau mit fünf Schülern sogar nach Rom. Auch dort kam es zu sexuellen Spielen. Irgendwann flog alles auf und der Heimleiter wurde »wegen sexueller Verfehlung« entlassen.
Sein Nachfolger war ein Pater, der die »Tradition« des Hauses fortführte – mit weiblichen Angestellten des Heimes. Roland erinnert sich, dass der Heimleiter einer Köchin befahl, während der »Spiele« Glasscherben zu essen. Irgendwann ereilte ihn dasselbe Schicksal wie seinen Vorgänger – er wurde entlassen. Ab diesem Zeitpunkt hörte der sexuelle Missbrauch auf.
Roland ist seit langem verheiratet. Er hat drei Kinder, ist ein erfolgreicher Geschäftsmann und wundert sich, dass er trotz seiner Kindheit »ein normaler Mensch« wurde. »Mit einer Ausnahme«, fügt er nach einer längeren Nachdenkpause hinzu: Jedes Mal, wenn er sein Heimatdorf besuche und dem Rädelsführer des damaligen Missbrauchs begegne, werde er von unbändigem Hass überschwemmt, und er überlege sich, diesen Mann niederzuschlagen.
Mag. Rudi Leo, Jahrgang 1952, ist in Bramberg im Bundesland Salzburg zur Schule gegangen. Er erzählt, dass manche Lehrer die Schüler gerne mit Haselnussstecken schlugen.
Das war ein Ritual und ging so vor sich: Zunächst holte der Klassenlehrer einen zweiten Lehrer zu Hilfe. Dann musste sich der Schüler bäuchlings auf das Lehrerpult legen. Einer der Lehrer hielt den Schüler fest und der andere verabreichte ihm Stockhiebe, die vom Opfer laut mitgezählt werden mussten.
Zum Schlagen wurde nicht irgendein Stecken verwendet. Jeder Schüler war verpflichtet, bei Schulbeginn einen mitzubringen und das ganze Jahr in Bereitschaft zu halten. Am schlimmsten war das Zuschauen-Müssen, erinnert sich Mag. Rudi Leo. Als er Mitte der 1970er Jahre im Alter von vierzehn Jahren versuchte, Anzeige gegen einen prügelnden Lehrer zu erstatten, wurde ihm handfest demonstriert, dass Kinder in Österreich keine Rechte haben. Der Gendarm verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.