cover image

Edgar Wallace

Die seltsame Gräfin

Kriminalroman

Edgar Wallace

Die seltsame Gräfin

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Ravi Ravendro
1. Auflage, ISBN 978-3-954182-22-0

www.null-papier.de/wallace

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ka­pi­tel 1

Ka­pi­tel 2

Ka­pi­tel 3

Ka­pi­tel 4

Ka­pi­tel 5

Ka­pi­tel 6

Ka­pi­tel 7

Ka­pi­tel 8

Ka­pi­tel 9

Ka­pi­tel 10

Ka­pi­tel 11

Ka­pi­tel 12

Ka­pi­tel 13

Ka­pi­tel 14

Ka­pi­tel 15

Ka­pi­tel 16

Ka­pi­tel 17

Ka­pi­tel 18

Ka­pi­tel 19

Ka­pi­tel 20

Ka­pi­tel 21

Ka­pi­tel 22

Ka­pi­tel 23

Ka­pi­tel 24

Ka­pi­tel 25

Ka­pi­tel 26

Ka­pi­tel 27

Ka­pi­tel 28

Ka­pi­tel 29

Ka­pi­tel 30

Ka­pi­tel 31

Ka­pi­tel 32

Ka­pi­tel 33

Ka­pi­tel 34

Ka­pi­tel 35

Ka­pi­tel 36

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Kapitel 1

Lois Mar­ge­rit­ta Redd­le saß auf der Kan­te ih­res Bet­tes und hielt in der einen Hand eine große Tas­se, in der an­de­ren einen Brief. Die di­cke Brot­schnit­te war zu dünn ge­stri­chen, der Tee zu schwach auf­ge­gos­sen und zu stark ge­zu­ckert, aber die Lek­tü­re nahm Lois so in An­spruch, daß ihr die­se klei­nen Nach­läs­sig­kei­ten ih­rer Freun­din Liz­zy Smith nicht zum Be­wußt­sein ka­men.

Eine gol­de­ne Kro­ne schmück­te den Brief­bo­gen, und das star­ke, grif­fi­ge Pa­pier ström­te einen leich­ten Duft aus.

307 Che­s­ter Squa­re, Lon­don S.W. Die Grä­fin von Mo­ron hat mit Ver­gnü­gen die Nach­richt er­hal­ten, daß Miss Redd­le ihre Stel­lung als Pri­vat­se­kre­tä­rin am Mon­tag, dem 17., an­tritt. Miss Redd­le kann ver­si­chert sein, daß sie einen an­ge­neh­men Pos­ten und viel freie Zeit zur Ver­fü­gung ha­ben wird.

Die Tür wur­de auf­ge­sto­ßen, und Liz­zys strah­lend ro­tes Ge­sicht er­schi­en im Rah­men.

»Das Bad ist fer­tig«, sag­te sie kurz. »Aber nimm vor­sichts­hal­ber dei­ne ei­ge­ne Sei­fe mit – durch die dün­ne Schei­be, die noch da ist, kannst du durch­gu­cken. Hier hast du ein fri­sches Hand­tuch, und hier ist ein halb­nas­ses. Was steht in dem Brief?«

»Er ist von mei­ner Grä­fin – ich fan­ge am Mon­tag bei ihr an.«

Liz­zy zog ein schie­fes Ge­sicht.

»Du schläfst na­tür­lich auch dort? Das heißt also, daß ich mir wie­der je­mand su­chen muß, der hier bei mir wohnt. Die letz­te, mit der ich vor dir zu­sam­men­haus­te, schnarch­te. Aber das gute Zeug­nis kann ich dir we­nigs­tens aus­stel­len, Lois, du hast nicht ge­schnarcht.«

Lois’ Au­gen blitz­ten schalk­haft auf, und um ih­ren aus­drucks­vol­len Mund spiel­te ein Lä­cheln.

»Du kannst dich je­den­falls nicht be­kla­gen, daß ich dich nicht or­dent­lich ver­sorgt hät­te«, sag­te Liz­zy selbst­zu­frie­den. »Du siehst doch ein, wie gut ich un­se­ren Haus­halt ge­führt habe, bes­ser als alle an­de­ren, mit de­nen du frü­her ein­mal zu­sam­men­wohn­test. Ich habe dir alle Haus­halts­sor­gen ab­ge­nom­men, al­les be­sorgt, ein­ge­kauft, ge­kocht und ge­putzt – das gibst du doch zu?«

Lois leg­te ih­ren Arm um die Freun­din und küß­te ihr ein­fa­ches, gut­mü­ti­ges Ge­sicht.

»Ja – wir ha­ben uns gut ver­tra­gen, und es tut mir sehr leid, daß ich fort­ge­hen muß. Aber ich habe im­mer ver­sucht vor­wärts­zu­kom­men. Von der Schul­bank in Leeds kam ich an das klei­ne Kas­sen­pult bei Rooper und von dort zu ei­ner Dro­ge­rie, dann zu der großen Rechts­an­walts­fir­ma –«

»Groß?« un­ter­brach Liz­zy sie är­ger­lich. »Du willst den al­ten Shadd­les doch nicht etwa groß nen­nen? Das Biest hat mir zu Weih­nach­ten nicht ein­mal das Ge­halt um zehn Shil­ling er­höht, und ich habe doch jetzt fünf Jah­re lang die Schreib­ma­schi­ne bei ihm ge­klopft! – Aber, mein Lieb­ling, du wirst nun eine gute Par­tie ma­chen, du wirst je­mand aus der Ge­sell­schaft hei­ra­ten. Die Grä­fin ist si­cher ein weib­li­cher Dra­che, aber sie ist reich, und du triffst vor­neh­me Leu­te bei ihr. – Jetzt mußt du aber ge­hen und dein Bad neh­men; ich ma­che in­zwi­schen die Set­zei­er. Wer­den wir Re­gen be­kom­men?«

Lois rieb ihre wei­ßen, wohl­ge­run­de­ten Arme und fuhr lei­se mit der Hand über eine klei­ne, schwach rot schim­mern­de, stern­för­mi­ge Nar­be kurz über ih­rem El­len­bo­gen. Liz­zy glaub­te fest dar­an, daß es Re­gen gebe, wenn Lois’ Nar­be sich dunk­ler färb­te.

»Das Ding mußt du dir elek­trisch weg­ma­chen las­sen«, sag­te das fri­sche, der­be Mäd­chen, aber Lois schüt­tel­te leicht den Kopf. »Du kannst auch lan­ge Är­mel tra­gen, sie sind in die­ser Sai­son mo­dern.«

Lois hör­te wäh­rend des Ba­des ihre Freun­din in der klei­nen Kü­che her­um­wirt­schaf­ten. Wäh­rend die Set­zei­er in der Pfan­ne brut­zel­ten, pfiff Liz­zy die Me­lo­die des letz­ten Tanz­schla­gers.

Die bei­den hat­ten zu­sam­men das Ober­ge­schoß ei­nes Hau­ses in der Char­lot­te Street ge­mie­tet, seit­dem Lois nach Lon­don ge­kom­men war. Sie war eine Wai­se, ihr Va­ter starb, als sie noch klein war, und sie konn­te sich auch nur dun­kel auf die freund­li­che, müt­ter­li­che Frau be­sin­nen, die sie wäh­rend ih­rer ers­ten Schul­zeit be­treut hat­te. Spä­ter wur­de sie von ei­ner weit­läu­fig ver­wand­ten Tan­te er­zo­gen, die sich aber nur um ihre vie­len ein­ge­bil­de­ten Lei­den küm­mer­te. Sie starb bald, trotz ih­rer vie­len Me­diz­in­fla­schen oder viel­leicht ge­ra­de des­halb, und Lois kam dann zu frem­den Leu­ten.

»Der Grä­fin wird dei­ne vor­neh­me Aus­drucks­wei­se ge­fal­len«, sag­te Liz­zy, als das hüb­sche Mäd­chen in die Kü­che kam.

»Ich wuß­te nicht, daß ich vor­nehm spre­che«, er­wi­der­te Lois in gu­ter Lau­ne.

Liz­zy schwenk­te mit ei­ner ge­schick­ten Be­we­gung die Eier aus der Brat­pfan­ne auf den Tel­ler.

»Si­cher hat auch ihn das so­fort für dich ein­ge­nom­men«, mein­te sie be­deu­tungs­voll.

Lois er­rö­te­te.

»Wenn du doch nicht im­mer von die­sem schreck­li­chen Men­schen spre­chen woll­test, als ob er ein jun­ger Gott wäre!« er­wi­der­te sie kurz.

Liz­zy Smith ließ sich aber nicht im min­des­ten aus der Fas­sung brin­gen. Sie wisch­te sich die Stirn mit dem Han­drücken ab, stell­te die Brat­pfan­ne an ih­ren Platz zu­rück und setz­te sich ener­gisch an den Tisch.

»Hör mal, das ist kein ge­wöhn­li­cher Mensch! Er ge­hört nicht zu die­sen Ge­cken, die einen auf der Stra­ße an­spre­chen«, sag­te Liz­zy, in Erin­ne­rung ver­sun­ken. »Ich bit­te dich, der ist doch Klas­se. Als er mir dank­te, hat er mich wie eine Lady be­han­delt, und wäh­rend der gan­zen Un­ter­hal­tung ist kein Wort ge­fal­len, das nicht auf der ers­ten Sei­te ei­ner from­men Sonn­tags­zei­tung hät­te ste­hen kön­nen. Als ich aber kam und dich nicht mit­brach­te, war er furcht­bar ent­täuscht, und es war wirk­lich kein Kom­pli­ment für mich, daß er ganz ver­le­gen drein­schau­te und sag­te: ›Ach, ist sie nicht mit­ge­kom­men?‹«

»Die Set­zei­er sind an­ge­brannt«, sag­te Lois.

»Er ist wirk­lich ein fei­ner Kerl«, fuhr Liz­zy fort, »ein Gent­le­man! Er fährt sei­nen ei­ge­nen Wa­gen. Er spa­ziert in der Bed­ford Row auf und ab, nur um dich ein­mal kurz von wei­tem se­hen zu kön­nen. Sol­che An­häng­lich­keit wür­de selbst das här­tes­te Herz aus Stein er­wei­chen.«

»Meins ist aber aus Bron­ze«, er­wi­der­te Lois ver­gnügt. »Du machst dich lä­cher­lich, Eli­z­abeth!«

»Du bist die ers­te, die mich seit mei­ner Tau­fe Eli­z­abeth ge­nannt hat. Aber das än­dert an der Sa­che gar nichts, so­weit ich dar­an be­tei­ligt bin. Mr. Dorn –«

»Der Tee schmeckt nach aus­ge­laug­tem Holz«, un­ter­brach sie Lois, und dies­mal fühl­te Liz­zy sich ge­trof­fen.

Es ent­stand eine Pau­se.

»Hast du den al­ten Ma­cken­zie in der ver­gan­ge­nen Nacht ge­hört?« be­gann Liz­zy dann wie­der. »Nein? Er hat die­ses süße Stück aus Hoff­heims Er­zäh­lun­gen – Hoff­manns Er­zäh­lun­gen woll­te ich sa­gen – ge­spielt. Ko­misch, daß ein Schot­te Vio­li­ne spielt. Ich dach­te, sie wä­ren alle Du­del­sack­pfei­fer.«

»Er spielt wun­der­voll. Manch­mal höre ich sei­ne Mu­sik in mei­nen Träu­men.«

Liz­zy murr­te.

»Mit­ten in der Nacht macht man kei­ne Mu­sik«, sag­te sie böse. »Wenn er auch un­ser Haus­herr ist, so ha­ben wir doch das Recht auf Schlaf. Er ist eben ver­rückt, das ist es.«

»Mir ge­fällt er aber ge­ra­de mit sei­nen Ei­gen­hei­ten gut, er ist ein net­ter al­ter Mann.«

Liz­zy rümpf­te die Nase.

»Al­les zu sei­ner Zeit«, sag­te sie, stand auf und hol­te eine drit­te Tas­se aus dem Kü­chen­schrank. Sie stell­te sie ge­räusch­voll auf den Tisch und goß Tee und reich­lich Milch ein.

»Heu­te bist du an der Rei­he, ihm den Tee hin­un­ter­zu­tra­gen. Vi­el­leicht kannst du eine Be­mer­kung fal­len las­sen, daß ich am liebs­ten ›Mond­nacht in Ita­li­en‹ höre.«

Die Mäd­chen hat­ten es sich zur Ge­wohn­heit ge­macht, dem al­ten Mann, der die Eta­ge un­ter ih­nen be­wohn­te, je­den Mor­gen eine Tas­se Tee zu brin­gen. Ganz ab­ge­se­hen von sei­ner Ei­gen­schaft als Haus­wirt, stand der alte Herr mit bei­den Mäd­chen auf gu­tem Fuß. Die Mie­te, die sie zahl­ten, war im Ver­hält­nis zu der zen­tra­len Lage des Hau­ses und der Be­liebt­heit die­ser Ge­gend sehr nied­rig.

Lois trug die Tas­se die Trep­pe hin­un­ter und klopf­te an eine der bei­den Tü­ren auf dem un­te­ren Trep­pen­ab­satz. Schlür­fen­de Schrit­te nä­her­ten sich auf dem har­ten Fuß­bo­den, die Tür öff­ne­te sich, und Mr. Ma­cken­zie ver­neig­te sich mit ei­nem dank­ba­ren Blick über sei­ne Horn­bril­le hin­weg. Er be­trach­te­te wohl­ge­fäl­lig die hüb­sche Er­schei­nung des Mäd­chens.

»Tau­send Dank, Miss Redd­le«, sag­te er eif­rig, als er ihr die Tas­se ab­nahm. »Wol­len Sie nicht ein biß­chen her­ein­kom­men? Ich habe mei­ne alte Vio­li­ne zu­rück­be­kom­men. Habe ich Sie die letz­te Nacht ge­stört?«

»Nein. Lei­der habe ich Sie nicht ge­hört«, sag­te Lois, als er die Tas­se auf die sau­ber ge­scheu­er­te Plat­te des ein­fa­chen Ti­sches stell­te.

Das Zim­mer war pein­lich sau­ber und nur mit dem Al­ler­not­wen­digs­ten mö­bliert. Aber es paß­te so recht zu die­sem klei­nen al­ten Herrn mit den bau­schi­gen Ho­sen, den feu­er­ro­ten Pan­tof­feln und der schwar­zen Samt­ja­cke. Run­zeln und Fal­ten durch­zo­gen sein glat­tra­sier­tes Ge­sicht, aber die hel­len blau­en Au­gen, die un­ter bu­schi­gen Brau­en sa­ßen, wa­ren vol­ler Le­ben und Güte.

Er nahm die Vio­li­ne, die auf der Kom­mo­de lag, be­hut­sam, fast zärt­lich in die Hand.

»Mu­sik ist ein ho­her Be­ruf«, sag­te er, »wenn man ihr ge­nü­gend Zeit wid­men kann. Aber die Büh­ne ist et­was Fürch­ter­li­ches! Ge­hen Sie nie­mals zum Thea­ter, mein lie­bes Fräu­lein, blei­ben Sie hübsch auf der an­de­ren Sei­te der Ram­pen­lich­ter. Die­se Ko­mö­di­an­ten sind son­der­ba­re, un­auf­rich­ti­ge Leu­te.« Er nick­te nach­denk­lich. »Frü­her saß ich ru­hig und ge­bor­gen im tie­fen Or­che­s­ter und be­ob­ach­te­te nur, wie ihre klei­nen, sü­ßen Füße über die Büh­ne trip­pel­ten … Sie war ein schö­nes Mäd­chen, nicht viel äl­ter als Sie, aber sehr hoch­mü­tig, wie die Schau­spie­le­rin­nen eben sind. Wie ich den Mut fand, sie an­zu­spre­chen und zu fra­gen, ob sie mich hei­ra­ten wol­le, ver­ste­he ich heu­te selbst nicht mehr.« Er seufz­te schwer. »Ach ja, und doch war es für mich Nar­ren ein Pa­ra­dies, und das Le­ben mit ihr war schö­ner als die Ein­sam­keit, wenn ich auch be­tro­gen und aus­genützt wur­de. Zwei Jah­re lang –« Er schüt­tel­te den Kopf. »Sie war ein sü­ßes Ge­schöpf, aber sie war ver­bre­che­risch ver­an­lagt. Man­che jun­gen Mäd­chen sind lei­der so. Sie ha­ben kein Ge­wis­sen und füh­len kei­ne Reue, und wenn man kein Ge­wis­sen und kei­ne Reue kennt, dann gibt es nichts, was man nicht tun könn­te – bis zum Mord.«

Lois hat­te ihn schon öf­ters über die­se son­der­ba­re Frau kla­gen hö­ren, ohne daß sie aus sei­nen Äu­ße­run­gen ein kla­res Bild ge­win­nen konn­te. Aber heu­te hat­te er zum ers­ten­mal ihre ver­bre­che­ri­sche Ver­an­la­gung er­wähnt.

»Frau­en sind merk­wür­di­ge Ge­schöp­fe, Mr. Ma­cken­zie«, sag­te sie scher­zend.

Er nick­te.

»Ja, das sind sie«, er­wi­der­te er schlicht. »Aber im all­ge­mei­nen sind sie den meis­ten Män­nern über­le­gen. Ich dan­ke Ih­nen auch schön für den Tee, Miss Redd­le.«

Sie stieg die Trep­pe wie­der hin­auf. Liz­zy zog ge­ra­de ih­ren Man­tel an.

»Na, hat er dich wie­der vor der Büh­ne ge­warnt?« frag­te sie, als sie zu dem klei­nen Spie­gel trat und sich pu­der­te. »Ich möch­te wet­ten, daß er wie­der da­von an­fing. Ges­tern habe ich zu ihm ge­sagt, daß ich auch ein schö­nes Chor­mäd­chen wer­den woll­te. Da hät­te er bei­na­he einen An­fall be­kom­men!«

»Du mußt den net­ten al­ten Herrn nicht so auf­zie­hen!«

»Er müß­te doch et­was mehr Ver­stand ha­ben«, sag­te Liz­zy ver­ächt­lich. »Ich – ein hüb­sches Chor­mäd­chen! Wo hat denn der sei­ne Au­gen ge­las­sen?«

Kapitel 2

Sie gin­gen zu­sam­men aus dem Haus und mach­ten sich auf den Weg zum Büro. Nur ein­mal schau­te sich Lois arg­wöh­nisch nach ih­rem un­will­kom­me­nen Ka­va­lier um, aber er war glück­li­cher­wei­se nicht in der Nähe.

»Ich weiß einen ver­hält­nis­mä­ßig bil­li­gen Schön­heits­sa­lon in der South Moul­ton Street«, sag­te Liz­zy, als sie quer über die Theo­bald Road gin­gen, »wo man sich sol­che Nar­ben ent­fer­nen las­sen kann, wie du eine am Arm hast. Ich habe auch dar­an ge­dacht, mein ro­tes Ge­sicht ein­mal be­han­deln zu las­sen. Denk dir, der Bü­ro­vor­ste­her hat mir das ge­ra­ten; der Kerl fängt an, frech zu wer­den – ich muß ihn ein­mal et­was auf Eis stel­len! Und da­bei ist er achtund­vier­zig Jah­re alt und hat be­reits er­wach­se­ne Kin­der!«

Zwei Stun­den spä­ter nahm Mr. Oli­ver Shadd­les ei­ni­ge Schrift­stücke vom Tisch, las sie schnell durch, rieb sich ner­vös das un­ra­sier­te Kinn mit den grau­en Bart­stop­peln und schau­te auf die Bed­ford Row hin­aus.

Dann wand­te er sich zu der klei­nen elek­tri­schen Tisch­glo­cke, zö­ger­te einen Au­gen­blick und drück­te den Knopf.

»Miss Redd­le!«, sag­te er kurz zu der An­ge­stell­ten, die ei­lig her­ein­kam. Er nahm die Ur­kun­den wie­der auf und las noch dar­in, als sich die Tür öff­ne­te und Lois ein­trat.

Sie war et­was über mit­tel­groß, aber ihre Schlank­heit ließ sie grö­ßer er­schei­nen, als sie wirk­lich war. Sie trug das ein­fa­che schwar­ze Bü­ro­kleid, das die Fir­ma Shadd­les & Soan ih­ren weib­li­chen An­ge­stell­ten vor­schrieb. Mr. Shadd­les hat­te das Al­ter er­reicht, in dem Schön­heit kei­nen Ein­druck mehr auf ihn mach­te. Über Lois Redd­le lag eine zar­te, äthe­ri­sche Lieb­lich­keit. Aber für den Rechts­an­walt war sie nur eine An­ge­stell­te, die all­wö­chent­lich fünf­und­drei­ßig Shil­ling er­hielt. Da­von wur­den je­doch noch die Kos­ten der Un­fall­ver­si­che­rung und Kran­ken­kas­se ab­ge­zo­gen.

»Sie fah­ren nach Tels­bu­ry.« Shadd­les hat­te eine rau­he, ab­ge­ris­se­ne Sprech­wei­se. »Sie sind in an­dert­halb Stun­den dort. Neh­men Sie die bei­den ei­des­statt­li­chen Er­klä­run­gen und brin­gen Sie die zu Mrs. Des­mond. Sie soll sie un­ter­schrei­ben. Das Auto steht un­ten –«

»Ich dach­te, Mr. Dor­ling hät­te es«, be­gann sie.

»Der Wa­gen ist vor der Tür«, sag­te er kurz. »Sie wer­den eine glat­te Fahrt ha­ben und müß­ten ei­gent­lich dank­bar sein, daß Sie so viel fri­sche Luft auf dem Weg schnap­pen kön­nen. Hier, ver­ges­sen Sie das nicht«, rief er ihr nach, als sie mit den Ur­kun­den weg­ge­hen woll­te. Er hielt ihr ein klei­nes Pa­pier ent­ge­gen. »Ver­ges­sen Sie den Pas­sier­schein nicht – sei­en Sie doch nicht so un­auf­merk­sam! Wie sol­len Sie denn sonst ins Ge­fäng­nis kom­men, Mäd­chen? Und dann sa­gen Sie der Des­mond – ma­chen Sie jetzt, daß Sie fort­kom­men!«

Lois ver­ließ den Raum und schloß die Tür lei­se hin­ter sich. Die vier blas­sen An­ge­stell­ten, die nicht mehr all­zu jung wa­ren, sa­ßen an ho­hen Bü­ro­pul­ten und schau­ten nicht einen Au­gen­blick von ih­rer Ar­beit auf. Nur das dral­le Mä­del mit dem run­den Ge­sicht, das die Schreib­ma­schi­ne be­ar­bei­te­te, dreh­te sich nach ihr um.

»Fährst du nach Tels­bu­ry – mit sei­nem so­ge­nann­ten Auto?« frag­te sie. »Ich dach­te mir schon, daß er dich da­mit weg­schi­cken wür­de. Der alte Teu­fel ist so nie­der­träch­tig gei­zig, daß er nicht ein­mal sei­ne Fahrt zum Him­mel be­zah­len wür­de!«

Die Fir­ma Shadd­les & Soan be­saß ein Auto, das vor dem Krieg ein­mal schön und mo­dern ge­we­sen war. Es stand in ei­ner be­nach­bar­ten Ga­ra­ge, für die kei­ne Mie­te ge­zahlt zu wer­den brauch­te, denn das Grund­stück wur­de von Mr. Shadd­les ver­wal­tet. Den Wa­gen selbst hat­te er für eine ver­schwin­dend ge­rin­ge Sum­me bei ei­ner Zwangs­ver­stei­ge­rung er­wor­ben. Es war ein Ford­wa­gen, und je­der An­ge­stell­te muß­te ihn fah­ren kön­nen.

Mr. Shadd­les be­nutz­te ihn, wenn er zum Ge­richt muß­te, die An­ge­stell­ten ab­sol­vier­ten da­mit ihre Bo­ten­gän­ge, und die Fahr­ten wur­den auf al­len Kos­ten­rech­nun­gen nicht zu ge­ring in An­satz ge­bracht. So war das Auto für die Fir­ma oben­drein noch eine recht ein­träg­li­che Sa­che.

»Bist du nicht froh, daß du fah­ren darfst?« frag­te Liz­zy et­was nei­disch. »Gro­ßer Gott, wenn ich ein­mal aus die­sem stau­bi­gen Loch her­aus könn­te! Mög­lich, daß du dei­nem Schick­sal be­geg­nest!«

Lois run­zel­te die Stirn.

»Was meinst du?«

»Dein Schick­sal«, er­wi­der­te Eli­z­abeth, nicht im min­des­ten ein­ge­schüch­tert. »Ich habe ihn schon heu­te mor­gen ge­se­hen, als ich durch das Fens­ter schau­te – na, wenn der nicht in dich ver­liebt ist!«

Lois sah sie kühl und ab­leh­nend an.

»Aber da ist doch nichts da­bei«, fuhr Liz­zy fort. »Der jun­ge Mann war­te­te neu­lich so­gar im Re­gen stun­den­lang auf mich, nur um nach dir zu fra­gen. Ich glau­be, der ist nicht ganz rich­tig im Kopf.«

Lois lach­te lei­se, band sich ein grell­far­be­nes Hals­tuch um und zog ihre Hand­schu­he an. Plötz­lich wur­de sie ernst.

»Ich has­se die­ses Tels­bu­ry, ich has­se über­haupt alle Ge­fäng­nis­se – mich schau­dert, wenn ich nur dar­an den­ke. Ich freue mich, daß ich bald nicht mehr hier in die­sem Büro von Mr. Shadd­les ar­bei­ten muß.«

»Nen­ne ihn bloß nicht Mis­ter – die­ses Kom­pli­ment ver­dient er nicht!«

Der Tag war schön und warm, es weh­te eine laue, mil­de Luft. Als Lois aus dem lär­men­den Trei­ben Lon­d­ons her­aus­kam, wi­chen Nie­der­ge­schla­gen­heit und Un­lust von ihr. Be­vor sie ab­ge­fah­ren war, hat­te sie sich in­stink­tiv nach dem Mann um­ge­se­hen, von dem Liz­zy vor­hin so schmei­chel­haft ge­spro­chen hat­te und des­sen be­stän­di­ge und un­er­schüt­ter­li­che Er­ge­ben­heit sie sehr in Er­stau­nen setz­te. Aber sie konn­te ihn nicht ent­de­cken und ver­gaß ihn auch bald. Au­ßer­halb Lon­d­ons bog sie von der Haupt­stra­ße auf eine der ge­wun­de­nen Land­stra­ßen ab, die par­al­lel zur Chaus­see lie­fen. Von hier aus konn­te man die Na­tur und die gan­ze Land­schaft bes­ser ge­nie­ßen als auf der ge­ra­den, lang­wei­li­gen Chaus­see, die oben­drein noch von ho­hen He­cken ein­ge­faßt war.

Sie­ben Mei­len vor Tels­bu­ry fuhr sie mit zu ho­her Ge­schwin­dig­keit wie­der auf die as­phal­tier­te Haupt­stra­ße zu­rück. Als sie eben die ho­hen He­cken pas­sie­ren woll­te, hör­te sie das Hu­pen ei­nes Au­tos und brems­te. Der klei­ne Wa­gen rutsch­te aber trotz­dem wei­ter auf die Haupt­stra­ße. Zu spät gab sie die Brem­sen frei, um Gas zu ge­ben. Plötz­lich sah sie das Ver­deck ei­nes schwar­zen Wa­gens, der ge­ra­de auf sie zu­kam, und fühl­te den Ruf des Fah­rers mehr, als sie ihn hör­te.

Krach!

Dem Fah­rer des großen, ele­gan­ten Wa­gens war es im letz­ten Au­gen­blick ge­lun­gen, sein Auto zum Ste­hen zu brin­gen; trotz­dem war er noch leicht mit dem al­ten Ford zu­sam­men­ge­sto­ßen. Das Mäd­chen hat­te die Hän­de am Steu­er ih­res Wa­gens und schau­te ver­zwei­felt auf die zer­bro­che­ne Wind­schutz­schei­be. Mi­cha­el Dorn ließ sei­nen Wa­gen lang­sam rück­wärts­rol­len, so daß das lan­ge Tritt­brett sei­nes Wa­gens aus dem Schutz­blech des an­de­ren her­aus­kam, und er be­wies da­bei eine so höf­li­che Ge­duld, daß es ihr noch pein­li­cher war, als wenn er ihr Vor­wür­fe ge­macht hät­te.

»Sa­gen Sie doch et­was – ir­gend et­was Hef­ti­ges – oder mei­net­we­gen schimp­fen Sie! Es ist doch bes­ser, daß man sich die Sa­che vom Her­zen her­un­ter­re­det, als daß man sei­nen Groll in sich hin­ein­frißt.«

Graue Au­gen, durch dunkle Wim­pern ge­ho­ben, dach­te er. Auch hat­te sie eine fein­ge­form­te Nase, wie er sie an Frau­en so gern hat­te, Ihr Kinn ge­fiel ihm, und da sie es an­griffs­lus­tig ge­ho­ben hat­te, konn­te er auch ih­ren Hals se­hen, der ihm trotz des sei­de­nen Hals­tuchs in den schrei­en­den ro­ten und gel­ben Tö­nen in der Form voll­kom­men er­schi­en. Sie war sehr ge­schmack­voll, wenn auch ein­fach ge­klei­det.

»Ich habe ja gar kei­nen Groll und bin höchs­tens et­was ver­wirrt. Aber wenn ich schon et­was aus­set­zen soll, so muß ich sa­gen, daß mir Ihr Hals­tuch durch­aus nicht ge­fällt.«

Sie schau­te an dem Tuch her­un­ter, das sein Schön­heits­ge­fühl be­lei­dig­te, und run­zel­te die Stirn.

»Sie ha­ben kein Recht, mich mit Ihrem Wa­gen an­zu­ren­nen, weil Ih­nen mein Hals­tuch nicht ge­fällt«, sag­te sie kühl. »Wol­len Sie bit­te noch wei­ter zu­rück­fah­ren, da­mit mein Auto frei­kommt? Hof­fent­lich sind Sie ver­si­chert?«

Er fuhr rück­wärts. Sie hör­te, wie Blech schramm­te und Glass­plit­ter zur Erde fie­len, dann war ihr Wa­gen wie­der frei.

»Sie sind mit ei­ner Ge­schwin­dig­keit von vier­zig Mei­len aus der Sei­ten­stra­ße her­aus­ge­kom­men – Ihr Wa­gen wäre si­cher um­ge­schla­gen, wenn ich Sie nicht an­ge­fah­ren hät­te«, sag­te er halb ent­schul­di­gend. »Ich hof­fe je­doch, Sie ha­ben sich nicht ver­letzt?«

Sie schüt­tel­te den Kopf.

»Ich bin nicht ver­letzt, aber ich glau­be, mein Chef wird sehr böse sein, wenn er den Scha­den sieht. Im­mer­hin, Sie ha­ben Ihren Zweck er­reicht, Mr. Dorn, Sie ha­ben auf die­se Wei­se mei­ne Be­kannt­schaft ge­macht.«

Er fuhr auf und wur­de rot.

»Sie neh­men doch hof­fent­lich nicht an, daß ich die­sen Zu­sam­men­stoß ab­sicht­lich her­bei­ge­führt hät­te, um Ihre Be­kannt­schaft zu ma­chen?«

Als sie ernst nick­te, war er wie vom Don­ner ge­rührt und starr­te sie groß an.

»Sie fol­gen mir schon seit Mo­na­ten«, sag­te Lois ru­hig. »Sie mach­ten sich so­gar die Mühe, mit ei­ner Ste­no­ty­pis­tin in Shadd­les’ Büro be­kannt zu wer­den, nur um mit mir zu­sam­men­zu­kom­men. Ich weiß, daß Sie mich stets auf dem Heim­weg ver­fol­gen – ein­mal nah­men Sie den­sel­ben Au­to­bus wie ich, und auf dem ein­zi­gen Ball, den ich in die­sem Jahr be­such­te, wa­ren Sie auch.«

Mi­cha­el Dorn mach­te sich am Steu­er zu schaf­fen und war im Au­gen­blick sprach­los. Sie war sehr ernst ge­wor­den. Ihre wun­der­vol­len Au­gen sa­hen ihn mit ei­nem lei­sen Vor­wurf an.

»Nun ja, wirk­lich –«, be­gann er zö­gernd. Dann fehl­ten ihm die Wor­te.

Sie war­te­te, daß er sei­nen an­ge­fan­ge­nen Satz be­en­den wür­de.

»Also wirk­lich –?« Ein schwa­ches Lä­cheln zuck­te um ihre Mund­win­kel. »Nun, Mr. Dorn, es ist ja kein Ver­ge­hen von ei­nem Mann, ein jun­ges Mäd­chen tref­fen zu wol­len – das sehe ich ein. Es wäre lä­cher­lich von mir, mich da­durch be­lei­digt zu füh­len. Aber wie ich schon ih­rer Ge­sand­tin, Miss Liz­zy Smith, sag­te –«

Er schau­te rasch auf und woll­te et­was er­wi­dern, aber sie fuhr un­be­irrt fort.

»Ich wün­sche Ihre Be­kannt­schaft wirk­lich nicht, und ich be­zweifle nicht, daß Liz­zy Ih­nen das von mir aus­rich­te­te. Des­halb hal­te ich Ihr Be­neh­men auch für ein we­nig – wie soll ich es gleich nen­nen?«

»Auf­dring­lich heißt das Wort, das Sie su­chen«, sag­te er kühl. »Ich will zu­ge­ben, daß es fast so aus­sieht.«

Er stieg lang­sam aus, ging an ih­ren Wa­gen und stütz­te sei­ne Arme auf die Ober­kan­te des Schla­ges.

»Bit­te, glau­ben Sie mir, Miss Redd­le, daß mir nichts fer­ner liegt, als Sie zu be­läs­ti­gen. Wenn ich nicht so un­ge­schickt ge­we­sen wäre, wür­den Sie nie­mals er­fah­ren ha­ben, daß ich Sie –« Es fehl­te ihm wie­der das rich­ti­ge Wort. Sie vollen­de­te sei­nen Satz. Ob­wohl er so ernst war, muß­te er la­chen.

»Ver­fol­gen ist ein häß­li­ches Wort, ich woll­te es eben et­was lie­bens­wür­di­ger aus­drücken«, sag­te er.

Als sie ihn jetzt an­sah, ge­fiel ihr der treue, fröh­li­che Blick sei­ner blau­en Au­gen doch, und hät­ten sie sich in die­sem Au­gen­blick ge­trennt, ohne noch mehr mit­ein­an­der zu spre­chen, so hät­te sie freund­li­cher von ihm ge­dacht. Aber er setz­te die Un­ter­hal­tung fort.

»Wo wol­len Sie an die­sem schö­nen Herbst­mor­gen hin?«

Sie wur­de wie­der ab­leh­nend und zu­rück­hal­tend.

»Wenn Sie mir jetzt fol­gen, wer­den Sie einen Schre­cken be­kom­men. Ich bin näm­lich auf dem Weg zum Tels­bu­ry-Ge­fäng­nis.«

Der Ein­druck, den die­se Wor­te auf ihn mach­ten, war ver­blüf­fend. Er schau­te sie ent­setzt und ver­wirrt an.

»Wo­hin wol­len Sie fah­ren?« frag­te er hei­ser, als ob er sei­nen Ohren nicht trau­te.

»Zum Tels­bu­ry-Ge­fäng­nis – bit­te!«

Sie wink­te ihm, Platz zu ma­chen, und der Wa­gen mit der zer­bro­che­nen Wind­schutz­schei­be fuhr die brei­te Chaus­see ent­lang.

»Gro­ßer Gott!« sag­te Mi­cha­el Dorn und starr­te hin­ter ihr her.

Kapitel 3

Der düs­te­re Ein­gang der Straf­an­stalt von Tels­bu­ry wird gnä­dig von ei­ner Grup­pe dunk­ler Fich­ten ver­bor­gen. Die ro­ten Wän­de ha­ben mit der Zeit ihre grel­le Far­be ver­lo­ren, und wenn nicht der hohe Turm in der Mit­te em­por­rag­te, wür­de ein Wan­de­rer dar­an vor­über­ge­hen, ohne das Ge­bäu­de zu be­mer­ken.

Lois hat­te das Ge­fäng­nis schon zwei­mal be­sucht, um Auf­trä­ge ih­res Chefs dort zu er­le­di­gen. Ei­ner sei­ner Kli­en­ten hat­te eine Frau we­gen Be­trugs an­ge­zeigt. Sie war zu fünf Jah­ren ver­ur­teilt wor­den. Es war nun not­wen­dig, ihre Un­ter­schrift un­ter ge­wis­se Do­ku­men­te zu er­hal­ten, um die Ak­ti­en, die be­trü­ge­ri­scher­wei­se ver­scho­ben wor­den wa­ren, ih­rem recht­mä­ßi­gen Ei­gen­tü­mer wie­der zu­stel­len zu kön­nen.

Sie ließ ih­ren Wa­gen an der Sei­te des ho­hen Stra­ßen­tors hal­ten, stieg aus und klin­gel­te. Gleich dar­auf wur­de ein Git­ter von ei­nem Fens­ter zu­rück­ge­scho­ben, und die wach­sa­men Au­gen des Pfört­ners rich­te­ten sich auf sie. Ob­wohl er sie wie­der­er­kann­te, muß­te sie ihm doch erst ih­ren Pas­sier­schein zei­gen. Dann schloß er auf und führ­te sie in einen mit Stein­flie­sen ge­pflas­ter­ten Raum. Die Ein­rich­tung war sehr ein­fach, sie be­stand nur aus ei­nem Pult mit ei­nem Schreib­ses­sel, ei­nem ein­fa­chen Tisch und zwei Stüh­len.

Der Wär­ter las den Pas­sier­schein noch ein­mal durch und drück­te dann auf eine Klin­gel. Er, die bei­den Leu­te, die ihn ab­lös­ten, und der Di­rek­tor der An­stalt wa­ren die ein­zi­gen Män­ner, die in die­se Mau­ern ka­men. Sein Tä­tig­keits­feld be­schränk­te sich auf den klei­nen Raum und den Tor­weg, der vom In­nen­hof durch star­ke, ei­ser­ne Git­ter ge­trennt war.

»Ist es Ih­nen nicht un­an­ge­nehm hier­her­zu­kom­men, mein Fräu­lein?« frag­te er lä­chelnd.

»Ge­fäng­nis­se ma­chen mich im­mer elend und krank«, sag­te sie.

Er nick­te.

»Hier drin­nen le­ben sechs­hun­dert Frau­en, die noch viel mat­ter und krän­ker sind, als Sie, hof­fent­lich, je­mals in Ihrem Le­ben sein wer­den«, er­wi­der­te er zu­vor­kom­mend. »Nicht daß ich eine von ih­nen zu se­hen be­kom­me – ich öff­ne ih­nen nur das Tor zum Ge­fäng­nis und dann sehe ich sie, so­lan­ge sie hier sind, nicht wie­der. Nicht ein­mal, wenn sie ent­las­sen wer­den.«

Eine Tür wur­de auf­ge­schlos­sen, und eine jun­ge Wär­te­rin in gut­sit­zen­der blau­er Uni­form trat ein. Sie grüß­te Lois mit ei­nem freund­li­chen Kopf­ni­cken und führ­te sie durch eine klei­ne Stahl­tür über einen großen Hof, der ein­sam und ver­las­sen dalag. Da­nach tra­ten sie durch eine an­de­re Tür und gin­gen einen lan­gen Gang ent­lang bis zu dem klei­nen Büro des Ge­fäng­nis­di­rek­tors.

»Gu­ten Mor­gen, Di­rek­tor. Ich möch­te gern mit Mrs. Des­mond spre­chen.« Sie ent­fal­te­te ihre Do­ku­men­te und leg­te sie dem grau­haa­ri­gen Mann auf den Tisch.

»Sie wird jetzt in ih­rer Zel­le sein«, sag­te er. »Kom­men Sie mit, Miss Redd­le, ich wer­de Sie per­sön­lich hin­brin­gen.«

Am Ende des Gan­ges be­fand sich eine an­de­re Tür, die in eine große Hal­le führ­te. Auf bei­den Sei­ten lie­fen ei­ser­ne Ver­bin­dungs­gän­ge, die man über eine brei­te Mit­tel­trep­pe er­rei­chen konn­te. Lois schau­te in die Höhe, sah die Draht­net­ze über ih­rem Kopf und schau­der­te. Sie wuß­te, daß sie an­ge­bracht wa­ren, um zu ver­hin­dern, daß die­se un­glück­li­chen Frau­en sich von oben her­ab­stürz­ten und ih­rem Le­ben so ein Ende mach­ten.

»Wir sind da«, sag­te der Di­rek­tor und öff­ne­te die Zel­len­tür.

Fünf Mi­nu­ten muß­te sie mit der ei­gen­sin­ni­gen, ver­bit­ter­ten Frau ver­han­deln, die sich mit wei­ner­li­cher Stim­me über al­les be­schwer­te und al­len Vor­wür­fe mach­te. Schließ­lich trat Lois mit ei­nem tie­fen Seuf­zer der Er­leich­te­rung wie­der zu dem Di­rek­tor hin­aus.

»Gott sei Dank – ich wer­de nie wie­der hier­her­kom­men!« sag­te sie, als er die Zel­le ver­schloß.

»Wol­len Sie Ihre An­walt­stä­tig­keit auf­ge­ben?« frag­te er scher­zend. »Ich habe schon im­mer ge­sagt, daß das kein pas­sen­der Be­ruf für eine jun­ge Dame ist.«

»Sie über­schät­zen mich und mei­ne Stel­lung. Ich bin nur eine ein­fa­che Ste­no­ty­pis­tin und weiß von dem Ge­setz kaum mehr, als daß Stem­pel­mar­ken auf ge­wis­se Ur­kun­den ge­hö­ren und an be­stimm­ten Stel­len auf­ge­klebt wer­den müs­sen!«

Sie kehr­ten nicht auf dem Weg zu­rück, den sie ge­kom­men wa­ren, son­dern gin­gen durch die große Hal­le in den Hof. Die Or­ga­ni­sa­ti­on der An­stalt war so vor­züg­lich, daß sich in der kur­z­en Zeit, die sie in der Zel­le ver­brach­te, der gan­ze Hof mit grau­en Ge­fan­ge­nen ge­füllt hat­te, die im Kreis um­her­gin­gen.

»Um die­se Zeit ma­chen sich die Ge­fan­ge­nen im­mer Be­we­gung«, er­klär­te der Di­rek­tor. »Ich dach­te, Sie wür­den es viel­leicht gern ein­mal se­hen.«

Lois war von Mit­leid er­füllt, und ihr Herz lehn­te sich ge­gen das Ge­setz auf, das die­se Frau­en zu an­ony­men Num­mern er­nied­rig­te. Die ein­fa­chen Kat­tun­klei­der und die wei­ßen Hau­ben er­schie­nen ihr häß­lich, und die­ser An­blick stimm­te sie trau­rig. Kum­mer und na­men­lo­se Furcht pack­ten sie. Je­des Al­ter war hier ver­tre­ten, sie sah jun­ge Mäd­chen und alte, ver­stock­te Frau­en. Auf je­dem Ge­sicht las Lois den un­leug­ba­ren Stem­pel des Un­ge­wöhn­li­chen. Als sich die­ser ge­spens­ti­sche Kreis lang­sam an ihr vor­über­be­weg­te, sah sie wil­de und schlaue, aber auch er­mat­te­te und in ih­rem Kum­mer er­grei­fen­de Ge­sich­ter. Trü­be Au­gen starr­ten ge­dan­ken­los vor sich hin, dunkle Au­gen blitz­ten bos­haft auf, sorg­lo­se Bli­cke streif­ten Lois ober­fläch­lich. Die sich vor­wärts schie­ben­den Frau­en er­schie­nen ihr un­heim­lich und un­wirk­lich.

Bei­na­he der gan­ze gräß­li­che Kreis war an ihr vor­über­ge­gan­gen, als sie eine große statt­li­che Ge­stalt wahr­nahm, die nicht in die­se grau­en­vol­le Um­ge­bung zu ge­hö­ren schi­en. Die Frau ging auf­recht, mit er­ho­be­nem Kopf, und ihre ru­hi­gen Au­gen sa­hen ge­ra­de­aus. Sie moch­te zwi­schen Vier­zig und Fünf­zig sein. Ihre fein­ge­schnit­te­nen Züge wa­ren nicht ge­furcht, aber ihr Haar war weiß. Eine gött­li­che Ruhe strahl­te von ihr aus.

»Was tut denn die­se Frau hier?« frag­te Lois, be­vor sie sich be­wußt wur­de, daß sie eine Fra­ge ge­stellt hat­te, die kein Be­su­cher an einen Ge­fäng­nis­be­am­ten rich­ten darf.

Di­rek­tor Stan­nard ant­wor­te­te ihr nicht. Er be­ob­ach­te­te die Ge­stalt auch, als sie nä­her kam. Ei­nen Au­gen­blick ruh­ten die Au­gen der Frau ernst auf dem jun­gen Mäd­chen, aber nur eine Se­kun­de lang, so lan­ge, wie eine Frau von Hal­tung das Ge­sicht ei­ner Frem­den an­schau­en wür­de. Dann war sie vor­über­ge­gan­gen.

»Es tut mir leid, daß ich Sie ge­fragt habe«, sag­te sie, als sie an der Sei­te des Di­rek­tors durch das Git­ter in sein Büro ging.

»Schon vie­le ha­ben die­sel­be Fra­ge ge­stellt«, ent­geg­ne­te er, »und ha­ben auch kei­ne Ant­wort er­hal­ten. Es ver­stößt ge­gen die Ge­fäng­nis­re­geln, den Na­men ir­gend­ei­ner Ge­fan­ge­nen zu ver­ra­ten. Das wis­sen Sie wohl. Aber merk­wür­dig –«

Er schau­te sich um und nahm ein auf­ge­schla­ge­nes Buch von ei­nem Sei­ten­brett her­un­ter. Es war ein di­cker, in Kalbs­le­der ge­bun­de­ner Band. Ohne ein Wort zu sa­gen, reich­te er ihr das Buch. Sie las den Ti­tel: »Faw­leys Kri­mi­nal­fäl­le.«

»Mary Pin­der«, sag­te er kurz, und sie ent­deck­te, daß das Buch an der Stel­le auf­ge­schla­gen war, wo das Ka­pi­tel mit die­sem Na­men be­gann. »Es ist doch merk­wür­dig, daß ich ge­ra­de, be­vor Sie ka­men, den Fall nach­ge­le­sen habe. Ich bin alle Ein­zel­hei­ten durch­ge­gan­gen, um zu se­hen, ob mein Ge­dächt­nis mich nicht im Stich ge­las­sen hat. Ich ge­ste­he Ih­nen, daß ich eben­so ver­wun­dert über die­se Frau bin wie Sie.« Bei den letz­ten Wor­ten senk­te er sei­ne Stim­me, als ob er ir­gend­wel­che Hor­cher fürch­te­te.

Sie schau­te wie­der auf die Über­schrift: »Mary Pin­der. Be­gan­ge­nes Ver­bre­chen: Mord.« Sie war sehr er­staunt.

»Eine Mör­de­rin?« frag­te sie un­gläu­big.

Der Di­rek­tor nick­te.

»Aber das ist doch un­mög­lich!«

»Le­sen Sie den Fall.«

Sie schau­te in das Buch:

Mary Pin­der – ver­ur­teilt we­gen Mor­des vor dem Schwur­ge­richt zu He­re­ford. Das Ur­teil lau­te­te auf Tod, wur­de spä­ter aber in zwan­zig­jäh­ri­ge Ker­ker­stra­fe um­ge­wan­delt. Hier ha­ben wir den ty­pi­schen Fall ei­nes Raub­mor­des. Die Pin­der leb­te mit ei­nem jun­gen Mann zu­sam­men, der al­lem An­schein nach ihr Gat­te war. Die­ser ver­schwand ei­ni­ge Zeit vor dem Ver­bre­chen. Man nimmt an, daß er sie ohne Mit­tel zu­rück­ließ. Ihre Wir­tin, Mrs. Cur­tain, war eine rei­che Wit­we, de­ren ex­zen­tri­sche Lau­nen bei­na­he an Geis­tes­krank­heit grenz­ten. Sie ver­wahr­te große Sum­men und viel al­ten Schmuck in ih­rem Haus. Nach­dem ihr Mann sie ver­las­sen hat­te, an­non­cier­te die Pin­der um eine Stel­lung. Eine Frau, die sie in dem Haus auf­su­chen woll­te, fand die Haus­tür ge­öff­net. Nach­dem sie ver­schie­dent­lich ge­klopft und kei­ne Ant­wort er­hal­ten hat­te, trat sie ein. Sie be­merk­te, daß eine der Zim­mer­tü­ren of­fen­stand, und als sie in den Raum schau­te, sah sie zu ih­rem größ­ten Schre­cken, daß Mrs. Cur­tain auf dem Bo­den lag und an­schei­nend einen An­fall hat­te. Sie eil­te so­fort zu ei­nem Po­li­zis­ten, der aber nur fest­stel­len konn­te, daß die Frau tot war. Die Schub­la­den ei­nes al­ten Se­kre­tärs wa­ren ge­öff­net und ihr In­halt auf dem Bo­den ver­streut; auch ein Schmuck­stück war dar­un­ter. Da man Ver­dacht hat­te, wur­de das Zim­mer der Mie­te­rin, die das Haus kurz vor der Ent­de­ckung ver­las­sen hat­te, in ih­rer Ab­we­sen­heit durch­sucht. Man fand dort in ei­nem ver­schlos­se­nen Kas­ten eine Fla­sche Zy­an­ka­li und vie­le Ju­we­len. Die Ver­tei­di­gung mach­te gel­tend, daß die Ver­stor­be­ne schon mehr­mals ver­sucht hat­te, Selbst­mord zu ver­üben, und daß man nicht be­wei­sen konn­te, daß die Pin­der das Gift ge­kauft hat­te, das in ei­ner Fla­sche ohne Eti­kett ge­fun­den wur­de. Die Pin­der selbst lehn­te es ab, über sich und ih­ren Mann ir­gend­wel­che Aus­sa­gen zu ma­chen. Ein Trau­schein wur­de nicht ge­fun­den. Der Rich­ter Dar­son lei­te­te als Vor­sit­zen­der die Ver­hand­lung ih­res Fal­les. Sie wur­de ver­ur­teilt. Man nimmt an, daß die Pin­der, die drin­gend Geld brauch­te, ei­ner plötz­li­chen Ver­su­chung un­ter­lag, Zy­an­ka­li in den Tee der Frau goß und dar­auf de­ren Schreib­tisch plün­der­te. Der Fall zeigt kei­ne au­ßer­ge­wöhn­li­chen Züge mit Aus­nah­me der Wei­ge­rung der Ge­fan­ge­nen, sich zu ver­tei­di­gen.

Lois las den Be­richt zwei­mal durch.

»Ich kann es trotz­dem nicht glau­ben – es ist un­faß­bar. Sie wur­de zu zwan­zig Jah­ren Ge­fäng­nis ver­ur­teilt – aber si­cher wird sie doch be­gna­digt? Gibt es denn kei­nen Straf­er­laß we­gen gu­ter Füh­rung?«

»Un­glück­li­cher­wei­se mach­te sie zwei Ver­su­che aus­zu­bre­chen, und so wur­de ihr die gute Füh­rung von frü­her ge­stri­chen. Es ist sehr scha­de, denn sie ist eine wohl­ha­ben­de Frau. Ihr On­kel, der erst fünf Jah­re nach ih­rer Ver­ur­tei­lung er­fuhr, daß sie im Ge­fäng­nis war, hin­ter­ließ ihr ein großes Ver­mö­gen. Sie hat uns nie­mals ge­sagt, wer sie war. Er be­such­te sie ein paar Wo­chen vor sei­nem Tode hier, und wir wur­den da­von auch nicht klü­ger. Wir konn­ten nur fest­stel­len, daß er ei­ner ih­rer Ver­wand­ten müt­ter­li­cher­seits war.«

Lois sah wie­der auf das Buch.

»Die­se wun­der­vol­le Frau soll eine Mör­de­rin sein?«

Er nick­te.

»Ja – es ist merk­wür­dig, aber selbst Leu­te, die voll­kom­men un­schul­dig aus­se­hen, be­ge­hen böse Ver­bre­chen. Ich bin seit zwan­zig Jah­ren hier auf mei­nem Pos­ten – ich habe alle Il­lu­sio­nen ver­lo­ren.«

»Aber wenn man doch da­von über­zeugt war, daß sie eine Mör­de­rin sei, warum hat man sie denn nicht –«

Sie konn­te es nicht über sich brin­gen, »auf­ge­hängt« zu sa­gen.

Der Di­rek­tor sah sie an.

»Nun ja – es war da ein Grund, ein sehr wich­ti­ger Grund so­gar –«

Lois war einen Au­gen­blick er­staunt, aber plötz­lich wur­de es ihr klar. Sie ver­stand.

»Ja, das Baby wur­de hier in die­sem Ge­fäng­nis ge­bo­ren. Es war das ent­zückends­te klei­ne Mäd­chen, das ich je­mals ge­se­hen habe ein wirk­lich schö­nes Kind. Es tat mir furcht­bar leid, als es aus dem Ge­fäng­nis ge­bracht wer­den muß­te, das arme klei­ne Ding!«

»Es wuß­te von nichts, viel­leicht weiß es heu­te noch nicht –« Lois’ Au­gen füll­ten sich mit Trä­nen.

»Nein, ich glau­be nicht, daß die Klei­ne es er­fah­ren hat«, fuhr der Di­rek­tor fort. »Sie wur­de von ei­ner Nach­ba­rin der Mrs. Pin­der ad­op­tiert, die stets an ihre Un­schuld glaub­te. Wenn ich aber vor­her sag­te, das arme, klei­ne Mäd­chen, dann dach­te ich an die dum­me Kin­der­pfle­ge­rin, durch de­ren Nach­läs­sig­keit sich das Kind den Arm an ei­ner Fla­sche mit ko­chen­dem Was­ser ver­brann­te. Es hat eine recht an­sehn­li­che Brand­nar­be ge­ge­ben, ich er­in­ne­re mich deut­lich dar­an. Es blieb eine stern­för­mi­ge Nar­be nahe des El­len­bo­gens zu­rück – der Knopf der Heiß­was­ser­fla­sche war so ge­formt.«

Lois Redd­le hielt sich krampf­haft an der Tisch­plat­te fest. Ihr Ge­sicht war schnee­weiß ge­wor­den. Der Di­rek­tor stell­te das Buch in das Fach zu­rück und wand­te ihr den Rücken zu. Mit Auf­bie­tung al­ler Ener­gie riß sie sich zu­sam­men.

»Wis­sen Sie – kön­nen Sie sich an den Na­men des Kin­des er­in­nern?« frag­te sie lei­se.

»Ja, denn es war ein ganz un­ge­wöhn­li­cher Name, ich wer­de ihn nicht ver­ges­sen: Lois Mar­ge­rit­ta!«

Kapitel 4

Lois Mar­ge­rit­ta! Ihr ei­ge­ner Name! Und die stern­för­mi­ge Nar­be auf ih­rem Arm!

Ihre Ge­dan­ken wir­bel­ten durch­ein­an­der, und der Raum schi­en sich um sie zu dre­hen. Es be­durf­te ei­ner un­ge­heu­ren An­stren­gung, daß sie nicht laut auf­schrie.

Aber es stimm­te. Die­se wür­de­vol­le, auf­rech­te Frau, die so ru­hig in dem schreck­li­chen Kreis ein­her­ging, war – ihre Mut­ter!

Sie folg­te ei­ner blin­den Ein­ge­bung, eil­te zur Tür, riß sie auf und war schon halb­wegs den Gang ent­lang­ge­lau­fen, als der ent­setz­te Di­rek­tor sie ein­hol­te.

»Was ist denn mit Ih­nen los?« frag­te er sie halb er­staunt und halb är­ger­lich. »Ha­ben Sie den Ver­stand ver­lo­ren?«

»Las­sen Sie mich ge­hen! Las­sen Sie mich ge­hen!« stieß sie zu­sam­men­hang­los her­vor. »Ich muß zu ihr!«

Dann be­sann sie sich plötz­lich, wo sie war, und ließ sich ohne Wi­der­spruch von dem Di­rek­tor zu­rück­füh­ren.

»Set­zen Sie sich – ich wer­de Ih­nen ein leich­tes Be­ru­hi­gungs­mit­tel ge­ben«, sag­te er. Er schloß die Tür so ener­gisch, daß der Schall in den lee­ren Gän­gen wi­der­hall­te. Dann öff­ne­te er eine Haus­apo­the­ke und misch­te schnell einen Trank. »Neh­men Sie das.«

Lois hob das Glas mit zit­tern­den Fin­gern an ihre Lip­pen. Er sah, wie es ge­gen ihre Zäh­ne schlug.

»Ich glau­be, ich war eben von Sin­nen«, sag­te sie.

»Sie sind ein we­nig hys­te­risch«, mein­te der Di­rek­tor. »Es war mein Feh­ler, Ih­nen die­se Leu­te zu zei­gen. Ich ließ alle Re­geln und Vor­schrif­ten au­ßer acht, als ich mit Ih­nen da­von sprach.«

»Es tut mir furcht­bar leid«, sag­te sie, als sie das Glas auf den Tisch stell­te. »Ich – ich – es war so schreck­lich!«

»Ja – das war es, und ich war auch ein Dumm­kopf, daß ich über­haupt da­von ge­spro­chen habe.«

»Wür­den Sie mir bit­te noch eins sa­gen? Was – was wur­de aus dem Kind?«

Es war ihm of­fen­sicht­lich sehr un­an­ge­nehm, noch ein Wort über die Sa­che zu ver­lie­ren.

»Ich glau­be, das Mäd­chen starb. Es war eine aus­ge­zeich­ne­te Frau, die sie zu sich nahm, aber sie hat sie nicht auf­zie­hen kön­nen. Das ist al­les, was ich von der Ge­schich­te weiß. Tat­säch­lich wur­de in den Zei­tun­gen be­rich­tet – der Fall er­reg­te näm­lich großes In­ter­es­se –, daß das Kind im Ge­fäng­nis ge­stor­ben sei. Aber es war in Wirk­lich­keit ein sehr ge­sun­des, kräf­ti­ges Mäd­chen, als es von hier fort­kam. Und nun, mein lie­bes Fräu­lein, muß ich Sie ent­las­sen.«

Er klin­gel­te nach der Wär­te­rin, die Lois wie­der in den Raum des Pfört­ners brach­te. Gleich dar­auf stand das Mäd­chen drau­ßen vor dem Tor.

Es war un­ver­zeih­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­