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In dankbarer Erinnerung an Ulrich Niemann (1935–2008)
2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2015
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-023036-1
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pdf: ISBN 978-3-17-028873-7
epub: ISBN 978-3-17-028874-4
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EF: | Warum ist für Dich als psychosomatischer Kliniker und Forscher die Anthropologie interessant, die Lehre vom Menschen, wie sie von der Philosophie betrieben wird, aber auch von vielen anderen Einzelwissenschaften wie z. B. der Völkerkunde, Soziologie, Theologie? |
HG: | Bei der Anthropologie geht es um unsere Wurzeln. Darauf kann die heutige Psychosomatik stehen und neue Ideen entwickeln, neue interdisziplinäre Projekte aufgreifen, um zu innovativen Lösungen zu kommen, z. B. um die gesundheitlichen Risiken der Arbeitslosigkeit zu erfassen und zu bekämpfen, oder um Konflikt- und Stressbewältigung in der Industrie zu verbessern. Wir brauchen dafür immer mehr Synergien zwischen der Psychosomatischen Medizin und der Psychotherapie einerseits und den Naturwissenschaften, der Ökonomie, der Politik und den Geisteswissenschaften andererseits. |
EF: | Um Synergien zu entdecken, benötigen wir ein gemeinsames Fundament. Das scheint uns aber gerade bezüglich des Menschen als »Forschungsgegenstand« zu entgleiten. »Es weiß seit langer zeit/niemand mehr was ein mensch ist.« So hat Bertold Brecht das Paradox ausgedrückt, dass wir immer mehr über den Menschen wissen und immer weniger, was er/sie ist. Am Ende seiner »Archäologie der Humanwissenschaften« spricht M. Foucault davon, dass der Mensch verschwinden könnte »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (Foucault 1966/1971: 462). Wir können den menschlichen Körper zwar immer genauer vermessen und auch wissenschaftlich-technisch manipulieren. Aber Kants Fragen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? beziehen sich auf die letzte: 4) Was ist der Mensch? (Logik IX: 25). Die Frage nach dem Wesen des Menschen bleibt in der Medizin unbeantwortet. Kants Frage »Was ist der Mensch?« wird von der Philosophischen Anthropologie nicht durch humanwissenschaftliche Fakten »beantwortet«, sondern vielmehr im Dialog mit den Humanwissenschaften offengehalten. Die Übereinstimmungen mit anderen Lebewesen scheinen das Menschengesicht auf den ersten Blick zu überspülen und zu verwischen, seine eigentümliche Geistigkeit und exzentrische Positionalität (Plessner) unterscheiden ihn jedoch radikal von Pflanzen und Tieren. Zugleich scheint es manchmal, als ob die evidenzbasierte Medizin eine implizite Anthropologie habe; als ob sie im Menschen eher eine Maschine, genauer gesagt: eine Maschine mit Bedürfnissen sehe. Wie können unsere impliziten Annahmen über den Menschen bewusst gemacht und reflektiert werden? |
HG: | Irgendwie haben wir den Boden vergessen, auf dem wir stehen, die Fundamente unserer Geistesgeschichte. Die Generationen vor uns haben sich ja auch Gedanken über das Menschsein und Kranksein gemacht. Das sind Schätze, die es zu heben und zu bewahren gilt, die wir mit dem verknüpfen müssen, was heute aktuell ist, mit der Neurobiologie, mit den gemischten Methoden von qualitativ-verstehenden und quantitativ-messenden Zugängen. |
EF: | Wie konnte es denn passieren, dass wir die Frage nach dem Menschen vergessen, wo wir es als Ärzte und Psychoanalytiker doch mit dem Menschen zu tun haben und schon dadurch Humanwissenschaftler sind? |
HG: | Mir fällt da eine Visiten-Situation ein, eine Patientin, die nur ihre jetzigen Probleme lösen, aber nichts von ihrer Lebensgeschichte erzählen wollte. Sie war von ihrer Biographie abgeschnitten und wir haben ihr geholfen, wieder einen Zugang zur eigenen Geschichte zu finden, auch um die aktuellen Probleme besser und nachhaltiger zu lösen. Es gibt vielleicht so etwas wie eine große kollektive Biographie der Menschheit. Eine Erinnerung daran, was die Kulturen, Religionen, Denker, Künstler und Ärzte über unser Fühlen, Leiden, In-Beziehung-Sein wissen und wussten. Wie ein Einzelner von seiner Biographie abgeschnitten sein kann und dies anfangs überhaupt nicht mit seinem Leiden in Verbindung bringt, so sind wir vielleicht auch kollektiv in der Gefahr, von unserer gemeinsamen »Biographie« abgeschnitten zu werden. … |
EF: | … und können vielleicht auch unser Leiden erst ungenau beschreiben. Aber es zeigt sich in den Symptomen der körperlosen Seelenheilkunde und der seelenlosen Körpermedizin. Ich finde diese Parallele zwischen dem Abgeschnittensein des Einzelnen von seiner Biographie und dem Abgeschnittensein von der Menschheits-»Biographie« sehr spannend. Wahrscheinlich können wir unseren Patientinnen und Patienten besser helfen, wenn wir als psychosomatische Fachleute das Vergessen der Seele bearbeiten. Hast Du den Eindruck, dass die Anthropologie dafür hilfreich sein kann? |
HG: | Anthropologie fragt ja nach dem, was früher unbefangen als »Seele« des Menschen bezeichnet wurde, nach seinem Denken, Fühlen, Wünschen, nach seiner Ganzheit. Heute erforschen wir quantitativ und qualitativ das Verhalten und Erleben des Menschen. Aber im Gebrauch des Wortes »Psyche« werden wir immer unsicherer. |
EF: | Eigentlich merkwürdig, dass ein Begriff, der im Namen unseres Fachgebietes steckt, von diesem Fachgebiet kaum mehr verwendet wird! |
HG: | Ja, teilweise scheint die »Seele« in den Bereich der Spiritualität verschoben zu werden und in unserer medizinisch-naturwissenschaftlichen Sprache nicht mehr vorzukommen. Gerade die Neurobiologie will die dualistischen Tendenzen vermeiden, die mit dem Wort »Psyche« verbunden sind. |
EF: | Sicher gibt es solche Tendenzen, besonders in der neuplatonischen Philosophie und ihren Auswirkungen auf das Christentum. Bei den vorsokratischen Dichtern und Denkern wird psychē jedoch überhaupt nicht dualistisch verstanden. Es meint Aspekte des ganzen Menschen: Atem, Lebendigkeit, Fühlen und Spüren. Wegen dieser Bedeutungen wurde das hebräische Wort næfæš (anatomische Grundbedeutung: Hals, Kehlkopf) meist mit dem griechischen psychē übersetzt. Auch Aristoteles und Thomas von Aquin denken nicht dualistisch, wenn sie die Seele als »Form des Leibes« definieren, gewissermaßen als unsichtbaren und identitätsstiftenden Bauplan. Dies passt erstaunlich gut zu einer neurobiologischen Sicht unseres Selbst: |
»Erstaunlich ist die Erkenntnis, dass die scheinbar felsenfeste Stabilität, die dem einen Geist und dem einen Selbst zu Grunde liegt, ihrerseits von flüchtiger Natur ist und auf der Ebene der Zellen und Moleküle einem ständigen Rekonstruktionsprozess unterworfen ist. Diese merkwürdige Situation – ein scheinbares, kein wirkliches Paradox – hat eine einfache Erklärung: Zwar werden die Bausteine, aus denen sich unser Organismus zusammensetzt, regelmäßig ausgetauscht, doch die architektonischen Pläne für die verschiedenen Strukturen des Organismus werden sorgfältig aufbewahrt. Es gibt einen Bauplan für das Leben, und unser Körper ist ein Bauwerk« (Damasio 1999/2002:175f). | |
HG: | Solche »Baupläne« können wir jedoch nicht direkt beobachten, ebensowenig wie den Selbst-Sinn, den laut Damasio unser Gehirn konstruiert. Aber wir wissen inzwischen mehr über einige grobe neuroanatomische Korrelate psychischer Funktionen, z. B. in der Bindungs- und Traumaforschung. |
EF: | Ja, das sind Korrelate. Direkt beobachten können wir das emotionale Geschehen der Bindung jedoch nicht. Wir sind, wie Viktor von Weizsäcker sagt, entweder auf der »Psycho«- oder auf der »Soma«-Seite der Drehtür. Walach spricht vom Komplementaritätsprinzip und beruft sich auf die Quantenmechanik. Das Gemeinte macht er am Phänomen des Vexierbildes deutlich. |
Abb.: Ludwig Wittgensteins »H-E-Kopf«: »Man kann ihn als Hasenkopf, oder als Entenkopf sehen. Und ich muss zwischen dem ›stetigen Sehen‹ eines Aspekts und dem ›Aufleuchten‹ eines Aspekts unterscheiden« (Wittgenstein LWS: XI: 504). Wenn wir als Beispiel Wittgensteins H-E-Kopf wählen: Entscheidend ist dabei, dass wir in der Regel nur ein Tier sehen (Hase oder Ente), nach einem Aspektwechsel möglicherweise das andere. Beide Aspekte sind erforderlich, um das Bild und den Gegenstand »H-E« korrekt zu beschreiben. So ist es auch mit der Psychosomatischen Anthropologie: Für ein und denselben Gegenstand – gemeint ist der Mensch! – wenden wir zwei gegensätzliche Beschreibungsweisen an, nämlich die naturwissenschaftlich-somatischen (Bildgebung, Psycho-Neuro Endokrinologie usw.) und die geisteswissenschaftlich-verstehenden Methoden aus Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Sozialwissenschaft usw. | |
HG: | Meinst Du, diese unterschiedlichen Beschreibungsweisen werden immer so scheinbar unvereinbar bleiben? |
Dieses Buch möchte einen Beitrag zur philosophischen Grundlegung einer biopsycho-sozial und zugleich spirituell verstandenen Medizin und zur humanwissenschaftlichen Grundlegung der philosophischen Anthropologie leisten. Deshalb wird auch dort, wo empirische Fakten dargestellt werden, auf die entsprechenden philosophischen Probleme hingewiesen – umgekehrt soll deutlich werden, was die Medizin von der philosophischen Anthropologie lernen kann. Die Konzeption unserer Überlegungen ist also nicht additiv, sondern integrativ und interdisziplinär.
Das Buch gliedert sich in zehn Kapitel mit je zehn Paragraphen:
1. Der sich bindende Mensch: Die Bindungstheorie gilt heute als zentrales Paradigma der Verhaltenswissenschaften. Über alle »Schulzugehörigkeiten« hinweg erlaubt sie den Dialog über die lebenslange menschliche Entwicklung.
2. Der Zeichen verstehende Mensch: Zeichen und Symbole stellen die Elemente von Kausal- und Sinnzusammenhängen dar. Auf der genetischen Matrix aufbauend bedürfen sie auf allen Ebenen der Bedeutungserteilung durch den Menschen.
3. Der träumende Mensch: Sigmund Freud bezeichnete den Traum als die »via regia«, den »Königsweg« zum Unbewussten. Stellt er auch einen Königsweg zum Menschen dar?
4. Der spielende Mensch: Im herkömmlichen Verständnis stellt das kindliche Spiel einen Gegensatz zur erwachsenen Arbeit dar. Wie verhalten sich beide zueinander? Sind Arbeitsstörungen zugleich Spielstörungen?
5. Der sich ängstigende Mensch: Søren Kierkegaard zufolge geht es nicht darum, angstfrei zu sein, sondern darum, sich in rechter Weise zu ängstigen. Wie ist die »rechte Weise« des Sich-Ängstigens zu beschreiben?
6. Der Körper, den ich habe. Der Leib, der ich bin: Wie weit reichen die Versuche, den Menschen (als Körper) zu vergegenständlichen? Wie realistisch ist die Rede vom Menschen als Leib?
7. Der leidende Mensch: Was lehren uns das menschliche Leiden und die verschiedenen Pathologien, die es erforschen, über den Menschen?
8. Der schuldige Mensch: Ist der Mensch schuldfähig? Lässt sich die Rede von der menschlichen Schuld auf die beschreibenden und erklärenden Theorien vom Menschen reduzieren?
9. Der trauernde Mensch: Dieses Kapitel greift Überlegungen zur Bindung (engl. attachment; frz. attachement) auf und fragt nach dem Abschied, nach der Lösung der Bindung (frz. détachement).
10. Der lebendige Mensch: Dieses Kapitel stellt Modelle vor, welche die Selbst-Werdung des lebenden Menschen und deren Gefährdungen erfassen.
Jedem Paragraphen ist ein Lernziel vorangestellt, sodass Sie überprüfen können, wo der jeweilige Lernstoff im Gesamtkontext verortet ist und welche zusätzlichen Hilfsmittel Sie gegebenenfalls heranziehen müssen. Bevor Sie mit dem ersten Paragraphen eines Kapitels beginnen, sollten Sie jeweils den dort angegebenen Basistext lesen, der in die Thematik des Kapitels einführt. Auf diese Weise finden Sie anhand eines großen Denkers eine Orientierung und Konzentration auf das Wesentliche, um die folgenden Details einordnen zu können.
bezeichnet kurze Definitionen und Zusammenfassungen.
weist auf notwendige Unterscheidungen/Verwechslungsmöglichkeiten hin.
Mit sind jeweils Literaturhinweise für das weiterführende Eigenstudium markiert. Der zweite Paragraph ist ein neurobiologischer Exkurs, den Sie überspringen können, falls Ihnen das dort Gesagte schon bekannt ist oder Sie erst später darauf zurückkommen möchten. Der zehnte Paragraph besteht jeweils aus einer zusammenfassenden These sowie aus Fragen zur Selbstkontrolle. Beides soll Ihnen das Eigenstudium, die Diskussion in der Lerngruppe, den kollegialen Austausch und die Prüfungsvorbereitung erleichtern. Die Gliederung nach überschaubaren Paragraphen erleichtert es Ihnen, Ihren eigenen Weg je nach Interesse baukastenartig zusammenzustellen.
Diesem Zweck dienen auch Querverweise () zu anderen Paragraphen und die Register am Ende des Buches. Wir wünschen viel Spaß beim Studium und freuen uns über Rückmeldungen und über Hinweise auf alles, was Ihnen verbesserungswürdig erscheint.
Um den Stoff beim Lesen und Wiederholen zu strukturieren, können Sie sich eine persönliche Mindmap erstellen. Gehen Sie dabei am besten von den zehn Hauptbegriffen aus, und stellen Sie inhaltliche Verbindungen zwischen den Kapiteln her, z. B. zwischen Bindung und Spiel, Bindung und Trauer, Zeichen und Leib/Körper, Leib/Körper und Leiden. Tragen Sie Brückenbegriffe wie Trauma, Zeichen, Gefühl, Leib in Ihre persönliche Mindmap ein. Erarbeiten Sie sich von dort aus die peripher angegebenen Begriffe bzw. die in jedem Kapitel formulierten Lernziele und Thesen.
Wir danken allen, die das Entstehen dieses Buches unterstützt haben:
Ruprecht Poensgen, Ulrike Döring und dem Verlag W. Kohlhammer, Anna Buchheim für ihre Mitarbeit am Modul über die Neurobiologie der Bindung, unseren Studierenden in Philosophie, Medizin und Psychologie. Besonders hilfreich waren alle, die die 2. Auflage des Buches in ihren verschiedenen Entwicklungsphasen gelesen und kritisch kommentiert haben: Dominik Lutz, Katrin Voll und Jakob Müller.
München und Ulm im Frühjahr 2015
Eckhard Frick
Harald Gündel
Lernziel 1.1
Sie wissen, dass Bindung eine Beziehung ist, in der Sicherheit entsteht. Sie können Beispiele für Bindungsverhalten nennen.
Auf Aristoteles wird eine berühmte Definition des Menschen zurückgeführt: Er ist ein Lebewesen, das lógos hat (Sinn, Wort, Vernunft), lat.: animal rationale. Wir müssen ergänzen: ein abhängiges vernünftiges Wesen. Denn mit unserer Geschichte von Bindung und Bedürftigkeit betreten wir den Raum der philosophischen Reflexion. Wenn wir die Vorgeschichte der Kindheit vernachlässigen, dann vernachlässigen wir auch, was im weiteren Leben an Bindung und Bedürftigkeit auf uns zukommt, und dies nicht erst im hohen Alter (MacIntyre 2006).
Bindung ist ein hypothetisches Konstrukt, das sich nicht unmittelbar beobachten lässt. Hingegen ist Bindungsverhalten eine Klasse von variablen und altersabhängigen Verhaltensweisen, mit denen das Kind Bindung (wieder-)herstellt. Die Bindungstheorie bildet die Grundlage für ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das eine besondere Klasse von Beziehungen untersucht, nämlich solche, die Sicherheit vermitteln. Sie gehört gleichermaßen zur Ethologie (Verhaltensbiologie), Entwicklungspsychologie (insbesondere zur psychoanalytischen) und zur empirischen Säuglingsforschung. Bindung als Urbeziehung entwickelt sich im ersten Lebensjahr. Bowlby zählt kindliche Reaktionen auf, die zu Bindungsverhalten führen, d. h. die Mutter zum Kind bringen und in seiner Nähe halten:
• Schreien und Lächeln
• Nachfolgen und Anklammern
• Saugen
• Rufen
Diese das beidseitige Bindungsverhalten auslösenden kindlichen Signale haben ihre Entsprechungen in der späteren menschlichen Entwicklung, aber auch in tierischen Äquivalenten. So können wir das Rufen als Äquivalent von Disstress-Schreien kleiner Tiere, aber auch verzweifelter menschlicher Schreie in Situationen des Verlassenseins verstehen. Weiterhin können Totstellen und Sich-Unterwerfen als desorganisiertes Bindungsverhalten verstanden und innerhalb der Human-Pathologie mit somatoformen ( 6) Lähmungen, Krämpfen oder Schmerzen in Verbindung gebracht werden.
Bowlby stellt seine Erläuterungen zum menschlichen Bindungsverhalten in den Kontext der vergleichenden Verhaltensforschung. Bei wenig entwickelten Affen geht die anklammernde Initiative ganz vom Affenbaby aus, mit fortschreitender Höherentwicklung kommt es zur »evolutionären Gleichgewichtsverschiebung von der Gesamtinitiative für die Kontakterhaltung vom Baby zur Mutter« (1970/1975: 196).
Beim Menschen entwickelt sich das Bindungsverhalten im Kontakt mit der Hauptbindungsperson (in der Regel der Mutter). Bowlby stützt sich auf Forschungen seiner Schülerin Mary Ainsworth, die später den »Fremde-Situations-Test« ( 1.4) entwickelte. Als weißhäutige Fremde in Uganda stellte sie gleichsam eine mobile Versuchsbedingung dar und besaß schon durch ihre Hautfarbe eine besondere Eignung, ein Kind zu alarmieren. Allein durch ihre Anwesenheit konstellierte sie den Unterschied zwischen dem Vertrautsein mit der primären Bindungsperson und der ungewohnten Fremden.
Das Bindungsverhaltenssystem wird als Warnsystem nur in besonderen Situationen der Unsicherheit und Angst mobilisiert. Der Unterschied zwischen Bindungssystem und Bindungsverhalten liegt also einerseits in der Beobachtbarkeit und Operationalisierung, andererseits in der Provokation durch verunsichernde Auslöser. Diese sind beginnend mit der Acht-Monats-Angst bzw. dem »Fremdeln« im Kindesalter häufiger als im späteren Leben. Dennoch manifestieren sie sich immer wieder im Verlauf der lebenslangen Entwicklung, z. B. bei Trennung und Abschied, bei der Wahl von Partnerschaft und Beruf, bei der eigenen Elternschaft bis hin zur Beziehungsgestaltung zwischen Arzt und Patienten auf der Palliativstation (Loetz et al. 2013). Wird das Bindungsverhaltenssystem mobilisiert, ist dies an den gleichen Bindungsverhaltensweisen wie in der Kindheit erkennbar oder aber in deren (mehr oder minder regressiven) erwachsenen Gestaltungen bzw. in den verschiedenen neurotischen Abschattungen. Beispiele für Letzteres sind die »sichernden« Verhaltensweisen und Gedanken des zwangsneurotischen oder die Krisen des angstneurotischen Menschen ( 5.6). Die Ausbildung einer stabilen Bindungsbeziehung ist eine wichtige Voraussetzung für zentrale Entwicklungsaufgaben, etwa für den Umgang mit dem Alleinsein.
Bindungsverhalten entwickelt sich Bowlby zufolge allmählich und »früher, stärker und durchgängiger« der Mutter gegenüber als dem Vater oder anderen Bezugspersonen gegenüber. Dabei ist mit sozio-kulturellen Überformungen durch die Geschlechterrollen zu rechnen, die Bowlby in Bezug auf die westlichen Industriegesellschaften ausdrücklich einräumt. Bowlby betont neben der Verantwortung der Pflegeperson die aktive Rolle des Babys im Ergreifen der Initiative zur Interaktion. Das Kind erfasst zunehmend das bevorstehende Weggehen, sodass viele Bezugspersonen zu einer »List« greifen, um ihr Weggehen zu »vertuschen«. Nach dem dritten Geburtstag werden fremde Umgebungen und untergeordnete Bindungsfiguren besser toleriert.
Das Bindungsverhalten tritt allmählich zugunsten der Zugehörigkeit zu einer Familie, Gruppe oder Gemeinschaft in den Hintergrund oder macht anderen Motivationssystemen Platz, nämlich den Bedürfnissen nach psychischer Regulierung physiologischer Erfordernisse (z. B. durch kulturelle Gestaltung von Mahlzeiten), nach Exploration und Selbstbehauptung, nach aversivem Reagieren (Antagonismus oder Rückzug), nach sinnlichem Genuss und sexueller Erregung. Das Bindungsverhaltenssystem kann jedoch jederzeit, auch im Erwachsenenalter, in Not, Gefahr, Krise, Unglücksfällen, z. B. bei schwerer Krankheit ( 7) oder Traumatisierung (
5.9), mobilisiert werden.
Neben der entwicklungspsychologischen Perspektive gibt es auch eine evolutionsbiologische Sicht auf die Bindung. Schon Darwin postulierte, dass prosoziale Verhaltensweisen einen evolutionären Vorteil darstellen. Dieser evolutionsbiologische Gesichtspunkt wird deutlich am Vergleich von Gehirnen verschiedener Tierarten. Die Evolution des Gehirns kann schematisch in den Stufen Reptilienhirn – Altsäugerhirn – Neusäugerhirn beschrieben werden. Das Gehirn der frühen Säugetiere (Insektenfresser und Nagetiere) legt sich um das Reptiliengehirn (Hirnstamm und primitive Basalganglien). Der Neocortex (Großhirnrinde des Menschen und der Primaten) »stülpt« sich um die beiden älteren Gehirne, die jedoch gleichzeitig wirksam bleiben: Im Reptiliengehirn können reflektorische, viszerale und vegetative Prozesse lokalisiert werden. Für den Übergang von den Reptilien zu den frühen Säugern sind charakteristisch: Brutpflege, Disstress-Rufe, Mütterlichkeit und Bindung sowie Spiel. Im folgenden Exkurs geht es um die Neurobiologie des menschlichen Bindungssystems.
Grossmann & Grossmann (2012)
Lernziel 1.2
Sie entwickeln eine Vorstellung davon, welche Prozesse im Gehirn für die Bindung relevant sind.
Die Nähe-/Distanz-Regulierung innerhalb aller nahen Beziehungen findet vor allem über Gefühle statt. Beziehungserleben induziert spontane Gefühle, die sich u. a. in neuronalen und neurochemischen Prozessen abbilden. Durch Veränderungen in Regelkreisen, die primär der Verarbeitung von Emotionen dienen (z. B. das limbische System), können wiederum andere primär somatische Regelkreise angestoßen werden, z. B. unter Beteiligung des Hypothalamus (»Stresshormone«) und verschiedener Hirnstammareale (sympathische Kerne); diese können ihrerseits wieder eine Kaskade weiterlaufender biologischer Prozesse initiieren. Diese Prozesse können sich in körperlichen Symptomen und Krankheiten äußern. Ohnehin ist der gesamte Körper als Quasi-»Resonanzboden« unserer Emotionalität immer bei der Entstehung und Wahrnehmung unserer Emotionen beteiligt. Gefühle sind immer auch »peripher-körperlich«.
Panksepp geht von der These aus, dass den Gefühlen evolutionär bedingte neuronale Mechanismen zugrunde liegen. Diese neuronalen Netzwerke/Mechanismen haben ihre je eigenen, intrinsischen Gesetzmäßigkeiten und Organisationsstrukturen. Nach Panksepp waren es vor allem äußerliche, von der Umwelt ausgehende Herausforderungen und Gefahren, denen sich unsere Vorfahren ausgesetzt sahen. Jene Umweltreize generierten sehr spezifische Modifikationen des Nervensystems und eine sog. »Selektion« eines als basal aufzufassenden »Emotiven Organsystems« (engl. »emotion organ system«). Panksepp zufolge existieren vier basale emotionale Netzwerke, welche er als SEEKING, RAGE, FEAR, PANIC ( Tab. 1.1) bezeichnet. Zusätzlich beschreibt er die sozial-fördernden Emotionen LUST, CARE, PLAY und ihre neuronalen Korrelate.
SystemEvolutionäre UmweltbedingungenMotivationale TendenzenStimulusbezogenes VerhaltenNeuroanatomie
Tab. 1.1: Affektsysteme des Säugetiergehirns (Panksepp 1998/2005): VTA ventrales tegmentales Areal, PAG periaquäduktales Grau, HT Hypothalamus, BNST Bettnukleus der Stria terminalis
Die »heiße« Aggression (Ärger-Wut) gehört zum RAGE-System (zur »kalten« Aggression 3.2). Sie hat einen Wahrnehmungsaspekt in Bezug auf eine bestimmte Objektbeziehung und auftauchende Ärger-Wut-Gefühle. Eine ganze Kaskade mimisch-gestischer Indizes deutet auf die RAGE-Handlung hin: Zähnezeigen, Knurren, Krallen- oder Fäusteballen usw. (
5.4).
Panksepp beschreibt überwiegend gestützt auf Tierexperimente vier basale subkortikale emotionale Systeme. Dazu zählt das PANIC-System: Säugetiere reagieren mit Angst bzw. vegetativem Arousal u. a. dann, wenn sich eine wichtige Bezugsperson, z. B. die Mutter von ihrem Kind entfernt. Die Entwicklung eines solchen beziehungsregulierenden Netzwerkes ist evolutionär gesehen sinnvoll, denn Beziehungserhalt und Leben in der Gruppe sind ein Überlebensvorteil. Reguliert wird dieses System neuronal zumindest teilweise durch limbische und paralimbische Strukturen, beim Menschen ist es mit höheren kortikalen Strukturen verbunden (v. a. präfrontal). Dieses komplexe Zusammenspiel ist gerade im frühkindlichen Alter störanfällig und kann bei frühen Traumatisierungen eine langwirksame Beeinträchtigung von Emotionalität und Beziehungserleben mitbedingen. Die Opiat-Theorie der Bindung, die sich auf den zentralnervösen Opiat-, Dopamin-, Serotonin-, Oxytocin- und Vasopressin-Stoffwechsel bezieht, ist auf dem Boden von Tierversuchen formuliert worden, aber beim Menschen noch wenig erforscht.
Abb. 1.1: Seitliche Ansicht der linken Großhirnhemisphäre. Ebenso wie das RAGE-System ist das FEAR-System in der Amygdala (Mandelkern) im Schläfenlappen zentriert. Das Kerngebiet der Amygdala bewertet kontinuierlich eingehende Reize und »schlägt Alarm«, wenn überraschende, uneindeutige oder lebensbedrohliche Situationen auftreten (»Feuermelder«). Durch vielfältige Verschaltungen zu Rindengebieten und zum Hirnstamm erkennt sie kritische Reize vor dem Bewusstwerden und löst sowohl kortikale Erregungssteigerung als auch Stammhirn-Antworten (Totstellen, Pulsbeschleunigung, Zittern usw.) aus.
Bahnbrechende Befunde auf neurobiologischer Ebene zeigten in den letzten Jahren, dass Deprivation und Trennungserfahrungen schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Es scheint ein evolutionär schon lange angelegtes neuronales »Bindungsverhaltenssystem« (»attachment behavioural system«) zu geben, das sich nicht vollständig mit zentralen Regionen der Emotionsgenerierung und -verarbeitung deckt. Es wurde auch erstmals deutlich, dass das sogenannte Bindungssystem nicht nur ein organisierendes Merkmal von elementaren neurophysiologischen Funktionen ist, sondern ebenso als zentrales organisierendes System im Gehirn von höheren Säugetieren zu betrachten ist. Die gut funktionierende Mutter-Kind-Beziehung bei Rattenbabys z. B. reguliert das neuronale System der Babys, während eine Dysfunktion eine reduzierte Modulation und Koordination von physiologischen Funktionen, Affekten und Verhaltensweisen nach sich zieht. Moles et al. (2004) berichteten, dass ein gestörtes Bindungsverhalten von Mäusen mit einem Mangel am Opioid-Rezeptor-Gen assoziiert ist, was wiederum eine genetische Komponente von schweren Bindungsproblemen wie autistisches Verhalten oder reaktive Bindungsprobleme bei Tieren implizierte.
Untersuchung des Bindungsverhaltens mittels der Bildgebung:
In den letzten Jahren haben sich neurobiologische Forscher mit der Frage beschäftigt, wie neuronale Korrelate von Bindung bei Erwachsenen mittels funktioneller Kernspintomographie (fMRT) gemessen werden können. Eine der ersten Studien in diesem Feld stammt von Bartels und Zeki (2000), die neuronale Korrelate von romantischer Liebe im Scanner untersuchten. Dazu wurden Personen Photos von ihrem geliebten Partner versus von einem nahen Freund präsentiert, um die spezifische neuronale Reaktion auf einen geliebten Menschen zu untersuchen. In einer Fortsetzungsstudie untersuchten Bartels und Zeki (2004) neuronale Korrelate mütterlicher und romantischer Liebe. In diesem Experiment wurden Müttern Bilder ihrer eigenen Babys sowie eines anderen Babys im gleichen Alter, zu dem sie eine Beziehung hatten, gezeigt. Wie in der ersten Untersuchung wurden sodann in variierter Reihenfolge Photos des Partners der untersuchten Personen, eines fremden Babys und eines unbekannten Erwachsenen vorgelegt. Unter beiden Bedingungen, »mütterliche« und »romantische« Liebe, wurden bei den Probanden Regionen (orbitofrontal) aktiviert, die zum Belohnungssystem gehören und ebenso bekannt dafür sind, eine hohe Dichte von »Bindungs«-Rezeptoren wie Oxytocin und Vasopressin zu beinhalten. Beide Formen von Bindung (mütterlich und romantisch) zeigten darüber hinaus eine Deaktivierung von Regionen, die mit negativen Emotionen sowie mit Mentalisierung ( 1.7) und sozialer Bewertung assoziiert sind. Insgesamt deuteten die Ergebnisse darauf hin, dass Bindungsprozesse in Bezug auf wichtige Personen (Partner, eigenes Baby) das neuronale Belohnungssystem in Gang setzen sowie eine Deaktivierung von negativen Gefühlen (»Liebe macht blind«) bewirken.
Nitschke et al. (2004) untersuchten ebenso die Gehirnaktivierung, während Mütter Photos ihres eigenen Babys, eines nicht bekannten Babys und eines Erwachsenen im Scanner betrachteten. Dabei sollten die Mütter ihre Stimmung einschätzen. Auch hier zeigte sich eine orbitofrontale Aktivierung beim Betrachten des eigenen Babys. Diese Aktivierung korrelierte positiv mit den überproportional positiveren Einschätzungen ihrer Stimmung, wenn sie das eigene Baby sahen. Die Autoren nahmen an, dass in dieser Gehirnregion eine wesentliche Dimension von mütterlicher Liebe und Bindung zum eigenen Kind repräsentiert sein könnte.
In einer ähnlich aufgebauten Studie fanden Leibenluft et al. (2004) eine Aktivierung der Amygdala und der Insula sowie Aktivierungen des anterioren paracingulären Cortex und des posterioren superioren temporalen Sulcus, wenn Mütter Photos ihres eigenes Babys im Vergleich zu einem bekannten Baby sahen. Die Autoren diskutieren, dass intensive Bindung mit neuronalen Aufmerksamkeits- (Vigilanz) und mit Mentalisierungsprozessen assoziiert sein könnte.
Gillath et al. (2005) entwickelten ein komplexeres Paradigma, um neuronale Korrelate von Bindungsprozessen bei Gesunden zu messen. Hier wurden 20 Frauen gebeten, zunächst über negative konflikthafte Erlebnisse (Streit, Trennung, Tod) mit dem Partner nachzudenken. Anschließend wurden sie aufgefordert, diese Gedanken zu stoppen oder an nichts zu denken. Mittels Fragebogen wurde ihr Bindungstyp (z. B. ängstlich) ermittelt. Unter der Bedingung »Denken an negative Bindungsereignisse« ergab sich eine positive Korrelation zwischen Bindungsängstlichkeit und Aktivierungen in Regionen (anterior temporal), die mit negativen Emotionen assoziiert sind und eine inverse Korrelation mit Aktivierungen in Regionen (orbitofrontal), die mit Emotionsregulierung in Verbindung gebracht werden. Dieser Befund lässt darauf schließen, dass bindungsängstliche Personen neuronal mehr auf Verlust-Themen reagieren als sicher gebundene.
Den genannten Studien ist gemeinsam, dass sie Formen menschlicher Bindung mithilfe der Präsentation von Bildern unter Stimulus- und Kontrollbedingungen untersuchten. Im Fokus dieser Studien standen die aktuelle Mutter-Kind-Beziehung bzw. die Partnerbeziehung. Im Rahmen dieser sowie vergleichbarer Studien wurde darüber hinaus deutlich, dass emotional nahestehende Menschen möglicherweise Aktivierungen in Hirnregionen auslösen können, die auch beim Verlangen nach Suchtstoffen eine wichtige Rolle spielen (hier u. a. der sog. Nucleus accumbens in der Tiefe des Hirns). Diese spezifische, fast »suchtartige« Qualität des Verlangens nach Kontakt innerhalb von engen zwischenmenschlichen Beziehungen ist liebenden Menschen vertraut und von Schriftstellern immer wieder beschrieben worden. Im negativen Falle, d. h. bei Trennung oder Verlust, können allerdings – meist vorübergehende – körperliche Beschwerden, sehr selten bis hin zu schweren und vereinzelt sogar tödlichen (z. B. sog. »Broken Heart Syndrome«) körperlichen Erkrankungen, ausgelöst werden.
Panksepp (1998/2005)
Lernziel 1.3
Am Beispiel der Arzt-Patienten-Beziehung können Sie das Wechselspiel von Wahrnehmen und Bewegen als Modell für die intersubjektive Beziehung darstellen.
Mit dem Gestaltkreis umschreibt der Neurologe und Psychosomatiker Viktor von Weizsäcker den Umgang des Subjekts mit dem Objekt. Den philosophischen Begriff Subjekt (lat. subiectum: das Daruntergeworfene; gr. hypokeímenon: das Zugrundeliegende) bestimmt er also vom Objekt (lat. obiectum, das Entgegengeworfene, der Gegenstand) her und umgekehrt. Die Einführung des Subjektes in die Medizin denkt Weizsäcker sowohl erkenntnistheoretisch als auch interaktionell aus der Begegnung zwischen Arzt und Patient begründet. Der Gestaltkreis, die Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen (GS 4), ist mehr als die Grundlegung der Sinnesphysiologie. Der Gestaltkreis »umfasst Organismusinnenwelt und -umwelt in einer Ganzheit«:
»Die Annahme, die Gestalt des Reizes produziere (kausal oder parallelistisch) die Gestalt der Reaktion auf ihn (auch die Wahrnehmung wäre hier nur eine Reaktion), ist in dem Augenblick falsch, wo sich herausstellt, daß diese Reizgestalt nicht nur vom Reizobjekt einseitig abhängt und überhaupt nicht schlicht objektiv gegeben ist. […] Wenn ich bei geschlossenen Augen einen Schlüssel abtaste, so hängt Form und Folge der Reize auf meine Tastorgane von Form und Folge meiner Tastbewegungen ab, die Reizgestalt ist also von zwei Seiten determiniert: vom Objekt und von der Reaktion. Den Gesamtvorgang können wir jetzt als einen Kreisprozeß verstehen, indem die Kette der Ursachen und Folgen in sich zurückläuft in Bezug auf das Gestaltetsein des Vorganges« (GS 5: 184).
Weizsäcker nennt seine Theorie »antilogisch«, weil es im Gestaltkreis keine eindeutige Kausalität gebe: Die Reizgestalt könne »ebenso als die Ursache der Tastwahrnehmung wie die Tastwahrnehmung als Ursache der Tastbewegung, die wiederum die Ursache der Reizgestalt wird«, gelten. Der Patient ist für den Arzt ein subjekthaftes Objekt:
»Nun machen wir im Umgang mit Menschen, auch mit kranken Menschen, eine zweite Erfahrung. Sie begegnen uns nicht nur als Etwas, sondern als Jemand. Und wir fragen nicht nur, was ist, sondern auch, was wird. Und sie sind nicht nur ein werdender Gegenstand, sondern auch Subjekte, die wollen, können, sollen, müssen und dürfen. Das Objekt enthält ein Subjekt, welches nicht ist, sondern das nicht ist, was es will, kann, soll, muß oder darf« (GS 9: 515).
Als Arzt ist Weizsäcker der Frage nachgegangen, wie sich innerhalb unserer »pathischen Existenz« ( 7.1) das Erleiden und das Entscheiden, das faktische Ereignis und das subjekthafte Erlebnis zueinander verhalten. Deshalb beschreibt er den Gestaltkreis, der die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt umfasst, ausgehend von der Diagnose (
6.5):
»Dort war von der tastenden Hand des Untersuchers die Rede. Der Untersuchte war Objekt im Gestaltkreis. Jetzt sprechen wir vom therapeutischen Gestaltkreis; er umschließt den Arzt und den Patienten: er ist ein zweisamer Mensch, ein bipersoneller Mensch. Das ist die »Ganzheit« der ärztlichen Handlung, das steckt hinter der Phrase vom Behandeln des »ganzen Menschen«, daß ein therapeutischer Gestaltkreis zwischen Arzt und Patient gestaltet werde: nicht daß der ganze Patient Gegenstand werde, sondern daß der Patient durch Umfassung des Arztes integriert werde – wieder: nicht seines Arztes als ganzen Menschen, sondern als ganzen Arztes« (GS 5: 189).
Weizsäcker beschreibt die Arzt-Patienten-Beziehung als objektivierende Begegnung, die den kranken Mitmenschen zum Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung macht. Darüber hinaus ist die Arzt-Patienten-Beziehung aber auch eine Lebensgemeinschaft: Der Kranke/der Mitmensch kann Erkenntnisgegenstand und Teil der Ganzheit sein. Als Erkenntnisgegenstand befinde sich der Andere in einer radikalen Ferne. Andererseits, in der ewigen Nähe des Gestaltens rücke er »in eine bis zur Identifizierung unendliche Nähe«.
Unabhängig von Weizsäckers Gestaltkreis entwickelten Preston und de Waal das »Perception-Action Model« (PAM), mit dem sie die Beziehung eines Beobachters (Subjekt) zu den subjektiven Seiten des Anderen (Objekt) beschreiben. Das elementare Wechselspiel wahrnehmender und bewegender Impulse (PAM) ist wie der Kern einer Matroschka Voraussetzung aller höherstufigen einfühlenden Prozesse (Preston & de Waal 2002). Mit anderen Worten: Das frühe Wechselspiel zwischen Säugling und Bezugsperson und die differenzierte therapeutische Einfühlung haben einen gemeinsamen Kern, der in elementaren Wahrnehmungs- und Bewegungsprozessen besteht. Diese lassen sich gut mit einem Tanz vergleichen, in dem beide Partner ihre Bewegungen derart koordinieren, dass eine gemeinsame Gestalt entsteht. Dazu bedarf es des kontinuierlichen Wechselspiels von Wahrnehmung und Bewegung. Entsprechend werden in der PAM-Interaktion beim Subjekt neuronal-perzeptive, emotionale, mentale, aber auch motorische Zustände induziert, welche die Basis für das Umgehen mit dem anderen sind.
Weizsäcker (2007)
Lernziel 1.3
Sie kennen unterschiedliche Bindungsstile und wissen, was innere Arbeitsmodelle sind. Sie können diese auf erwachsene Beziehungsgestaltungen anwenden.
Die Bindungstheorie postuliert ein »universales menschliches Bedürfnis, enge affektive Bindungen herzustellen« (Fonagy & Target 1998/2002: 16). Im Kontext der Humanbiologie kann Bindung als die »besondere Beziehung eines Kleinkindes zu seinen Eltern oder beständigen Betreuungspersonen« (Grossmann et al. 1989) definiert werden. Hauptbindungsperson ist in der Regel die Mutter, die auf ihr Kind mehr oder weniger feinfühlig eingeht. Die Bindungstheorie untersucht jedoch auch Väter, Großeltern und andere Bindungspersonen sowie die Unterschiede, die das Kleinkind in seinen Interaktionen macht, z. B. in Trennungssituationen und beim Spiel. Wir müssen nun fragen, inwieweit sich das Bindungsmodell auch eignet, die menschliche Entwicklung und deren pathologische Entgleisungen zu verstehen.
Je nach Autor werden drei oder vier derartige Bindungsqualitäten/Arbeitsmodelle unterschieden, ausgehend vom »Fremde-Situations-Test«, einer Versuchsanordnung, mit der Kinder ab einem Jahr untersucht werden (Ainsworth et al. 1978). Das Kind spielt dabei zunächst in Anwesenheit der Mutter, die sich mit einer anderen Person unterhält. In mehreren Teilsituationen verlassen dann bald die Mutter, bald die fremde Person, bald beide den Raum. Beobachtet wird, wie das Kind auf die verschiedenen Situationsvarianten (Präsenz der fremden Person, Alleinsein, Rückkehr der Mutter) reagiert:
Der Fremde-Situations-Test – »strange situation«:
1. Der Versuchsleiter bringt die Mutter und das Kind in den Beobachtungsraum, gibt der Mutter eine kurze Einführung und geht. Mutter und Kind sind alleine.
2. Die Mutter setzt das Kind in der Nähe ihres Stuhls und in einiger Entfernung vom Spielzeug auf den Boden. Sie reagiert auf die sozialen Signale des Kindes, setzt aber selbst keine Interaktionen in Gang. Das Kind kann frei umherkrabbeln. Wenn es nach zwei Minuten nicht zu spielen beginnt, ermutigt die Mutter es bzw. trägt es zu den Spielsachen.
3. Eine fremde Person betritt den Raum, begrüßt die Mutter und das Kind und setzt sich gegenüber – erstmal ohne zu sprechen. Dann nimmt die fremde Person zur Mutter Kontakt auf, bevor sie schließlich auch versucht, mit dem Kind zu spielen.
4. Erste Trennungsphase: Die Mutter verlässt den Raum unauffällig. Das Kind bleibt mit der fremden Person alleine. Diese setzt sich auf den Stuhl, reagiert, setzt aber keine Interaktionen in Gang. Wenn das Kind weint, versucht die fremde Person, es zu trösten. Gelingt dies nicht, kommt die Mutter zurück (vor Ablauf der drei Minuten).
5. Erste Wiedervereinigungsphase: Die Mutter ruft das Kind vor der Tür beim Namen und kommt herein, die fremde Person geht. Wenn das Kind gestresst ist, versucht die Mutter, es zu trösten und es wieder zum Spielen zu bringen. Wenn es nicht gestresst ist, setzt sie sich wieder auf den Stuhl, eine aufmerksame nicht initiierende Rolle einnehmend.
6. Zweite Trennungsphase: Die Mutter sagt: »Tschüss. Ich bin gleich zurück.«, und geht. Das Kind bleibt drei Minuten alleine.
7. Die fremde Person betritt den Raum und bleibt beim Kind (wenn keine Stressreaktion, sonst s. o.).
8. Zweite Wiedervereinigungsphase: Die Mutter kommt ebenfalls ins Zimmer zurück (vgl. 5.), die fremde Person verlässt leise den Raum.
Zwischen folgenden Bindungsmustern kann dabei unterschieden werden:
• Sicher gebundene Kinder (50% der klinisch unauffälligen Kinder) zeigen ihren Trennungsschmerz offen, wenn die Mutter den Raum verlässt und holen sich bei Rückkehr der Mutter dort den nötigen Trost, um sich dann wieder von ihr zu lösen und die Umwelt zu explorieren. Sie lassen sich auch von einer fremden Person trösten, aber weniger effektiv.
• Unsicher-vermeidend gebundene Kinder (25%) scheinen von der Trennung wenig beeindruckt zu sein, weisen aber hohe physiologische Belastungsreaktionen auf. Sie vermeiden bei der Rückkehr der Mutter den Kontakt zu ihr.
• Unsicher-ambivalent gebundene Kinder (15%) wirken durch die Trennung beunruhigt, sind jedoch gleichzeitig nicht in der Lage, aus der Nähe zur Mutter nach deren Rückkehr die nötige Sicherheit zu schöpfen, um sich wieder der Exploration zuwenden zu können. Einerseits drängen die Kinder zur Bindungsperson, andererseits zeigen sie Ärger/Wut. Exploration und andere Aktivitäten sind erschwert.
• Desorganisiert gebundene Kinder (5 bis 10% in klinisch unauffälligen Populationen) zeigen widersprüchliche Verhaltensmuster, die sich nicht eindeutig einem Bindungsmuster zuordnen lassen, z. B. bizarre Verhaltensweisen (Erstarren, Schaukeln, Stereotypien).
Die Anwendung der Bindungstheorie auf die frühe menschliche Entwicklung erscheint einigermaßen plausibel. Kann aber mithilfe des Bindungsmodells die lebenslange menschliche Entwicklung beschrieben werden? Genau dies versuchen die »inneren Arbeitsmodelle« (engl. »inner working models«, Bowlby) als Verinnerlichung erlebter Bindungsqualitäten. Sie stehen auf einer mittleren Abstraktionsstufe zwischen Bindung und Bindungsverhalten. Innere Arbeitsmodelle sind im prozeduralen Gedächtnis gespeichert:
Unter prozeduralem Gedächtnis versteht man ein implizites Handlungs- und Verknüpfungswissen, das die Voraussetzung für neue Lernerfahrungen bildet. Z. B. werden das Gehen, später auch Schwimmen, Tanzen, Autofahren und andere Bewegungsformen zunächst »Schritt für Schritt« eingeübt. Mit der Zeit gehen diese komplexen Bewegungsmuster »in Fleisch und Blut« über, werden flüssig und gleichsam automatisiert. Wird das so Erlernte gestört, z. B. das Treppengehen durch einen unerwarteten Stufenabstand, so irritiert uns das.
Mit den Worten von Lev S. Vygotsky (1978) gesprochen, lernen wir von außen nach innen. Dies gilt für Bewegungsabläufe, aber auch für komplexe geistige Vorgänge. Gebrauchsanweisungen für Geräte versuchen, sich diesem Lernmodus anzunähern, indem sie dem Benutzer einfache »erste Schritte« ermöglichen. Auf diese Weise kann z. B. der Käufer eines neuen Computers schnell mit der Arbeit beginnen (bzw. er sollte es zumindest). Für spezielle Fragen kann er im Nachhinein ein ausführliches Handbuch zu Rate ziehen. »Lernen von außen nach innen« heißt also, in neue Bewegungen einzusteigen durch Imitation oder Ausprobieren. Dies geschieht manchmal mit einer gewissen Mühe und in abgehackten, noch nicht kontinuierlichen Schritten. Auf diese Weise machen wir Lernerfahrungen, die sich erst im Nachhinein zu einer fließenden Gestalt und dann mit einer Einsicht und dem Gefühl verbinden: »Ja, so ist es richtig!«
Prozedural erlernte Bindungsstile und die sich aus ihnen bildenden inneren Arbeitsmodelle können sich im Verlauf einer psychoanalytischen Behandlung zeigen. So legen heute viele Psychoanalytiker den Akzent nicht mehr auf das Wiedererinnern vergessen geglaubter Erfahrungen (explizites Lernen), sondern auf das bedeutsame und verwandelnde Erzählen im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung. So werden auch Schichten des Beziehungslernens erreicht, die tiefer liegen als explizite Episoden und möglicherweise die beiden ersten Lebensjahre betreffen, deren Beziehungsepisoden der kindlichen Amnesie anheimfallen (d. h. Gedächtnisspuren vor dem dritten Lebensjahr können in der Regel später nicht erinnert werden), die aber trotzdem prozedural gespeichert werden.
Kindliche BindungstypenErwachsene Bindungstypen
Tab. 1.2: Gegenüberstellung der Bindungstypen in der Kindheit und im Erwachsenenalter. Die Bindungstypen werden bei Kleinkindern meist aufgrund des beobachteten Verhaltens im Fremde-Situations-Test zugeordnet. Bei Erwachsenen hingegen kann die Zuordnung z. B. im Adult-Attachment-Interview (AAI) erfolgen. Dabei ist entscheidend, wie die Personen über ihre Beziehungen erzählen.
In der bindungstheoretischen Erforschung von Selbst- und Objektmodellen wird zudem ein »ängstlicher« Bindungstyp (»fearful attachment style«) diskutiert. Unter »Selbstmodell« werden in diesem Zusammenhang Erfahrungen und Tab. 1.3