Titelbild

Wolfram Knauer

Charlie Parker

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Umschlagabbildung: Charlie Parker Quintet, Three Deuces, New York, 1948

(Foto: William P. Gottlieb)

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2014

RECLAM ist eine eingetragene Marke

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960436-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020342-2

www.reclam.de

Inhalt

Intro

Chorus 1

Come with me, if you want to go to Kansas City

Chorus 2

Lazy River

Chorus 3

Sepian Bounce

Chorus 4

Swing to Bop

Chorus 5

Experiment und Revolution

Chorus 6

Relaxin’ at Camarillo

Chorus 7

Bebop

Chorus 8

Ornithology

Chorus 9

Klact-Oveereds-Tene

Chorus 10

Bird with Strings

Chorus 11

Vom Neutöner zum Klassiker

Chorus 12

Bird Dies

Coda

Bird Lives

Literatur zu Charlie Parker

Charlie Parkers Musik

Bildnachweis

Über den Autor

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Intro

Als die Nachricht vom Tod Charlie Parkers am 15. März 1955 die Runde machte, war die Betroffenheit groß. Charles Mingus fasste die Lücke vielleicht am besten zusammen, die der Altsaxophonist in der Jazzszene hinterließ: »Die meisten der Solisten im Birdland mussten immer auf Parkers nächste Platte warten, um herauszufinden, was sie als nächstes spielen sollten. Was werden die wohl jetzt tun?«

Charlie Parker ist eine der prägenden Persönlichkeiten der Musik des 20. Jahrhunderts. Er trat just zu dem Zeitpunkt auf die Bühne, als der Jazz sich von einer vorrangig als Unterhaltung rezipierten Musik hin zu einer Kunstform entwickelte, die neben Unterhaltung und Vergnügen eine ästhetische Aussage in den Vordergrund stellte. Parker war ein Virtuose auf seinem Instrument, dem Altsaxophon; er war darüber hinaus ein musikalischer Innovator, dessen Neuerungen auf der Tradition aufbauten. Man hat ihn als Revolutionär des Jazz bezeichnet, und man hat ihn den größten Bluesmusiker im Jazz genannt, ihn also mit der Avantgarde genauso wie mit der Tradition afro-amerikanischer Musik in Verbindung gebracht.

Parkers Musik hat den Jazz beeinflusst wie vor ihm nur die von Louis Armstrong, wie nach ihm die von John Coltrane und Miles Davis. Viele seiner musikalischen Phrasen und Soli wurden von so vielen Musikern aller Instrumentengattungen nachgespielt, dass sie quasi ins Standard-Improvisationsvokabular des Jazz übergingen. Aber Parker war noch mehr als ein großartiger Musiker. Ganz wie das Genie-Klischee es will, stand bei Parker der künstlerischen Mustergültigkeit ein Leben geprägt von Chaos und Scheitern gegenüber. Musik, Alkohol, Drogen – Parker gelang es nicht, sein Privatleben in Ordnung zu bringen. Und sein früher Tod mit gerade mal 34 Jahren sorgte mit dafür, dass seine Legende weiterlebt bis in unsere Tage.

Parkers Musik ist in bald 1000 Aufnahmen dokumentiert, in Studiositzungen für die Labels Dial, Savoy und Verve sowie in Livemitschnitten aus diversen Clubs in New York, Los Angeles und anderswo. Seine Musik ist seine Hinterlassenschaft, zugleich aber auch klingende Gegenwart, denn sein Einfluss im Jazz dauert, direkt oder über inzwischen mehrere Generationen gebrochen, bis heute an.

Die Literatur zu Parker ist auch ohne dieses Büchlein riesig. Der Saxophonist, sein Leben und seine Musik dienten als Vorbild für Kurzgeschichten, Romane, Gedichte, Gemälde, Skulpturen, und er wurde in Clint Eastwoods Bird selbst zur Filmfigur. Kurz nach seinem Tod tauchten erste Graffiti an New Yorker Hauswänden auf, die behaupteten: »Bird Lives!« Wie kann ein Mann tot sein, dessen Musik so viel an Kreativität inspiriert hat und in Werken so vieler anderer Künstler – aller Kunstgattungen – weiterlebt? Was aber machte ihn zu einem so bewunderten Künstler? Was trieb ihn an und was hinderte ihn, neben der Musik auch sein Leben in den Griff zu bekommen? Oder: Was war, was blieb? Die Grundfrage jeder Lebenserzählung …

Charlie Parker im Alter von 16 Jahren

Charlie Parker im Alter von 16 Jahren

Chorus 1

Come with me, if you want to go to Kansas City

Charles Parker Jr.

Charles Parker Jr. wurde am 29. August 1920 in Kansas City geboren. In Nachrufen und Lexikonartikeln wird als mittlerer Name oft »Christopher« angegeben, das aber ist nirgendwo verbürgt, und seine Mutter bestand später darauf, ihm diesen Namen nie gegeben zu haben. Parkers Vater, Charles Parker Sr., war selbst in der Unterhaltungsbranche tätig. Er stammte ursprünglich aus Memphis, Tennessee, und war als Tänzer und Varieté-Künstler auf Tournee in Kansas City gestrandet, wo er Addie Boxley kennen und lieben lernte und bald heiratete. Charles Sr. hatte Mühe, die Familie über Wasser zu halten, und Mutter Addie nahm Putzjobs an und gab ihren Sohn während ihrer Abwesenheit in einen katholischen Kindergarten. Neben Charles Jr. lebte sein Halbbruder John, genannt »Ikie«, im Haus, der Sohn seines Vaters aus einer früheren Beziehung. Die Parkers wohnten in dem im Bundesstaat Kansas gelegenen Teil der Großstadt Kansas City, zogen aber 1928 auf die andere Seite des Kansas River nach Kansas City, Missouri, in den größeren Teil der Doppelstadt, wo Charles Sr. sich Chancen erhoffte, in den Nightclubs Arbeit als Tänzer, Pianist und Sänger zu finden. Das Glück war ihm nicht hold; am Ende verdingte er sich als Koch im Speisewagen einer Eisenbahngesellschaft. Der Umzug von Kansas nach Missouri allerdings blieb nicht ohne Konsequenzen für den Sohn, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu Clubs, Casinos und Tanzsälen aufwuchs, im schwarzen Viertel der Stadt, nur Blocks von Twelfth and Vine entfernt, der Kreuzung, die als Zentrum des städtischen Nachtlebens galt.

Kansas City

Neben New Orleans, Chicago und New York war Kansas City in den 1920er Jahren zu einem bedeutenden Musikzentrum der Vereinigten Staaten herangewachsen. Der Ort war um 1840 als »Town of Kansas« gegründet worden. 1853 erhielt er die Stadtrechte (»City of Kansas«), firmierte aber erst ab 1889 offiziell als »Kansas City«. Der Goldrausch brachte erste Prosperität, da die Stadt als wichtiger Haltepunkt auf dem Weg in den Westen galt. Die Wirtschaft florierte, bis 1861 der Bürgerkrieg diese Entwicklung unterbrach. Nach Ende des Kriegs begann die Wirtschaft der Stadt aber recht schnell wieder zu erstarken. Die Hafenstadt am Missouri River war ein wichtiger Umschlagplatz für Waren oder für das Vieh, das vom »Cattle Country« zu den Schlachthöfen in Chicago gebracht wurde. Lange Zeit war die Eisenbahnindustrie wichtigster Arbeitgeber. Firmen, die im Gleis- und Waggonbau tätig, an Brücken und anderen bahnbezogenen Projekten beteiligt waren, brachten jede Menge Arbeiter in die Stadt. Die durchreisenden Goldsucher, Händler und Marktkunden waren zugleich ein Publikum für das breite Unterhaltungsangebot, das Kansas City bereits um 1870 vorzeigen konnte. Vor allem das Glücksspiel fasste damals Fuß in der Stadt und bot Arbeitsmöglichkeiten für alle möglichen, mehr oder weniger zwielichtigen Charaktere: Spieler, fahrende Händler, Tänzerinnen und Prostituierte, Musiker usw. Für Geschäftsleute und für die teilweise recht gut verdienenden Arbeiter bot die Stadt eine Menge Abwechslung.

Mit den Spielhöllen florierte auch das Geschäft der Unterwelt im berüchtigten Bandengebiet der Region, in der bis 1881 auch Jesse James sein Unwesen trieb. Das organisierte Verbrechen hatte bereits vor der Jahrhundertwende enormen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt. Von 1892 bis spät in die 1930er Jahre hinein wurde Kansas City von Mitgliedern der berüchtigten Pendergast-Familie beherrscht, erst von Jim, dann von seinem Bruder Tom. »Pendergast Machine« hieß das Synonym für die korrupte Kommunalregierung. »Der Himmel war die Grenze«, beschreibt Baseball-Legende Buck O’Neil das Kansas City jener Jahre. »Was immer du machen wolltest; wenn du mächtig genug warst und es dir leisten konntest, hast du es getan.« Die Kommunalregierung und die organisierte Kriminalität brachten der Stadt enormen Reichtum, dem selbst der Börsenkrach und die ihm folgende Depression nichts anhaben konnten. Als Anfang der 1930er Jahre überall in den Vereinigten Staaten die großen Nachtclubs, Revuetheater und Tanzsäle schlossen, behielt Kansas City sein lebendiges Nachtleben. Die Stadt hatte damals etwa 500.000 Einwohner, davon waren zwischen 50.000 und 75.000 solche schwarzer Hautfarbe.

Schon im späten 19. Jahrhundert war Kansas City ein regelmäßiger Tourneehalt für Minstrel Shows oder für Militärkapellen wie die von John Philip Sousa und für kleinere Revue-Stars, die im Westen auf den großen Erfolg hofften. Es gab einige Musikverlage, an die beispielsweise Scott Joplin Kompositionen verkaufte. Ein weiterer namhafter Ragtime-Komponist, James Scott, ließ sich 1914 in der Stadt nieder. Musik hörte man in Cabarets, Bars, Nightclubs, Saloons, in öffentlichen Tanzsälen, den sogenannten Taxi Dance Halls, in denen man einen Nickel für einen Tanz mit den bereitstehenden Damen bezahlte, aber auch in heruntergekommenen Kaschemmen, Bordellen, Restaurants.

Zu Tom Pendergasts Zeiten also fanden etliche Bands und Orchester in Kansas City viele und gute Arbeitsmöglichkeiten. Die Unterwelt war sich bewusst, dass sie mit der populären Jazzmusik Kunden in ihre Etablissements locken und sie dazu animieren konnte, ihr Geld auszugeben. Die Gangster respektierten die Jazzmusiker, zahlten in der Regel ordentliche Gagen und behandelten auch schwarze Musiker auf eine Art und Weise, wie es in anderen Städten der Vereinigten Staaten nicht unbedingt üblich war. Wo in New Orleans die Subkultur der Bordelle von Storyville den Jazzmusikern Lohn und Brot gegeben hatte, in Chicago die Subkultur der Gangster und Schwarzbrenner, so war dies in Kansas City die Subkultur der Vergnügungspaläste und Spielhöllen.

Pendergasts Stern begann erst zu sinken, als bei den sogenannten »blutigen Wahlen« von 1934 einige seiner Rivalen umgebracht wurden. Untersuchungsausschüsse versuchten daraufhin, die Korruption in der Stadtverwaltung aufzuarbeiten. Als Tom Pendergast 1939 wegen Beteiligung an einem Versicherungsbetrug sowie Steuerhinterziehung zu einer Geldstrafe von 10.000 Dollar und fünfzehn Monaten Haft verurteilt wurde, fand in Kansas City eine Art moralische Wende statt. Spielhöllen und viele Nightclubs wurden geschlossen, das üppige Nachtleben mehr und mehr in den Untergrund gedrängt. Viele Musiker verließen die Stadt, die meisten gingen nach New York.

Musik in Kansas City

Wie also sah die konkrete musikalische Umgebung aus, in der Charlie Parker groß wurde? Kansas City hatte in den 1920er Jahren jede Menge großer Hotels und Ballsäle, die musikalische Unterhaltung für die weiße Bevölkerung anboten. Daneben existierte auch eine sehr lebendige schwarze Szene, die immerhin einträglich genug gewesen sein muss, dass Anfang der 1920er Jahre eigens zwei Theater gebaut wurden, die sich vor allem an ein schwarzes Publikum wandten.

Es gab in den 1920er Jahren eine Tourneeagentur, die sich mit schwarzen Künstlern an ein ebenso schwarzes Publikum wandte. Sie hieß offiziell Theater Owners Booking Association, die Abkürzung T.O.B.A. wurde aber oft mit »tough on black asses« übersetzt, weil das Reisen anstrengend und die Behandlung der Varietékünstler und Musiker vor Ort nicht unbedingt die beste war. Für lange Jahre war Kansas City der westlichste Tourneeort für T.O.B.A., und nicht wenige Musiker blieben, weil ihnen die Atmosphäre gefiel und weil es hier genügend Arbeit für sie gab.

Neben solchen Tourneekonzerten besaß die Stadt eine überaus lebendige lokale Szene. In den 1930er Jahren zählte Kansas City 120 Nightclubs, mindestens 40 Tanzsäle sowie zahlreiche Vaudeville-Häuser, die Livemusik brachten und in denen jede Nacht über 300 lokale Musiker Arbeit fanden. Der Reno Club bediente sowohl ein schwarzes wie auch ein weißes Publikum – wenn auch mit getrennten Tanzflächen und Toiletten. Im schwarzen Viertel zwischen 12th und 18th Street gab es den Sunset Club, in dem Pete Johnson Boogie-Woogie und Blues spielte, während Joe Turner den singenden Barkeeper gab. Die Jam Sessions im Sunset, aber auch die im Subway Club waren bei Musikern überaus beliebt.

Die Clubs in der Vine Street, erzählt der Pianist Jay McShann, schlossen nie: »Etwa um sieben Uhr morgens kam ein Putzmann, und die Gäste, die noch an der Bar saßen, mussten kurz mal aufstehen.« Viele der kleinen Clubs bestanden gerade eben aus einer Bar, einer Registrierkasse, einer kleinen Tanzfläche und einer Bühne. In ihnen spielte meist eine feste Besetzung, die aber immer darauf eingestellt war, dass andere Musiker einsteigen wollten. Die Fixkosten für die Clubbetreiber waren damit überschaubar: Manchmal reichte eine gute Rhythmusgruppe, manchmal sogar nur ein Pianist oder ein Schlagzeuger, um genügend Musiker anzuziehen, die ohne zusätzliche Kosten für den Wirt den Abend beleben und den Umsatz steigern halfen. Aber auch die Bezahlung der festen Musiker hielt sich in Grenzen: Die Mitglieder der Count Basie Band erhielten im Reno Club für eine volle Woche von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens 18 Dollar, und Charlie Parker spielte in den 1930er Jahren gar für zwei Dollar pro Abend.

Die Bands, von denen man über die Grenzen der Stadt hinaus redete, waren die von Bennie Moten, Andy Kirk und Count Basie, Musiker wie die Pianisten Mary Lou Williams und Pete Johnson, Sänger wie Jimmy Rushing, Big Joe Turner und andere. Sämtliche großen Orchester der Zeit machten Station in Kansas City, und ihre Musiker stiegen oft genug bei den legendären Jam Sessions ein. Von Blues und Ragtime bis zum neuesten Swing und den gewagtesten Solisten der Musik gab es alles. Charlie Parker konnte in seiner Jugend also alle wichtigen Instrumentalisten des Jazz persönlich hören. Für einen Saxophonisten waren das vor allem die Tenorsaxophonisten Coleman Hawkins und Lester Young sowie die Altsaxophonisten Johnny Hodges (Duke Ellington Orchestra), Willie Smith (Jimmie Lunceford Orchestra) und Benny Carter. Kansas City in jenen Jahren muss für einen Musiker mit offenen Ohren ein höllisch gutes Pflaster gewesen sein. Viele Momente, die sich im späteren persönlichen Stil Parkers wiederfinden, lassen sich auf seine frühen musikalischen Erfahrungen in dieser Stadt zurückführen.