Grundwissen Philosophie
Rechtsphilosophie
von
Detlef Horster
Reclam
Wissenschaftlicher Beirat der Reihe
Grundwissen Philosophie:
Prof. Dr. Simone Dietz
Prof. Dr. Christoph Horn
Prof. Dr. Detlef Horster
Prof. Dr. Geert Keil
Prof. Dr. Corinna Mieth
Prof. Dr. Thomas Schmidt
Prof. Dr. Ludger Schwarte
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Umschlagabbildung: Karl Blossfeldt: Haarfarn.
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2014
RECLAM ist eine eingetragene Marke
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960433-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020355-2
www.reclam.de
Inhalt
Vorwort
1. Einführung: Das Verhältnis von Recht und Moral
Vorklärung: Gerechtigkeit und Moral
Begriffsbestimmung von »Recht« und »Moral«
2. Das Verhältnis von Recht und Moral im Naturrecht, im Rechtspositivismus und im Nationalsozialismus
Naturrecht
Sokrates und Platon
Aristoteles
Von Cicero bis Kant
Hugo Grotius
Ernst Bloch
Der Individualisierungsprozess
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Carl Gottlieb Svarez
Rechtspositivismus
Hans Kelsen
Herbert Lionel Adolphus Hart und Niklas Luhmann
Karl Marx
Zusammenfassender Überblick über die sozialen Grundlagen der Rechtsideen in der Neuzeit
Nationalsozialismus
Gustav Radbruch
Legalität des nationalsozialistischen Rechts
Das Naturrecht der Nationalsozialisten in der Selbsteinschätzung nationalsozialistischer Juristen
Nationalsozialistische Rechtsprechung
Ideologie
Zusammenfassender Überblick zum Rechtspositivismus und Naturrecht
3. Das Verhältnis von Recht und Moral in der Gegenwart
Die Rechtspraxis
Die Rechtsphilosophie
Ronald Dworkin
Herbert Lionel Adolphus Hart
Jürgen Habermas
Robert Alexy
Norbert Hoerster
Niklas Luhmann
Die Bedeutung des Verfahrensrechts
Resümee und Ausblick
Anmerkungen
Zitierte Literatur
Kommentierte Bibliografie
Schlüsselbegriffe
Zeittafel
Zum Autor
Hinweise zur E-Book-Ausgabe
[7] Vorwort
Vor mehr als einem Jahrzehnt habe ich in der von mir im Jahre 1977 gegründeten Buchreihe mit dem Titel »Zur Einführung« (vgl. Hauskeller 1996, 126) den Band Rechtsphilosophie zur Einführung geschrieben. Dieser Text konnte für das vorliegende Buch nicht Grundlage sein. Die Reihe »Grundwissen Philosophie« ist anders konzipiert als die verschiedenen Einführungsreihen, die es auf dem Buchmarkt gibt. Für einen Band in der Reihe »Grundwissen Philosophie« gilt es für jede Autorin und jeden Autor einen zentralen Gesichtspunkt zu ermitteln, der sich in allen Kapiteln wiederfindet.
Dementsprechend gehe ich vorwiegend systematisch vor, versuche aber dennoch eine möglichst chronologische Darstellung. Das gelingt nicht immer. Beispielsweise wird Bloch schon vor Hegel dargestellt, denn mit Bloch und Grotius kann man exemplarisch zwei unterschiedliche Arten der Bezugnahme des Naturrechts auf das positive Recht zeigen. Auf der einen Seite soll das Naturrecht ein Korrektiv des kodifizierten Rechts darstellen (Bloch), auf der anderen Seite stellt das Naturrecht die Basis für das positive Recht dar (Grotius). Hegel markiert in der Systematik den Übergang vom Naturrecht zum Rechtspositivismus. Jedenfalls geht er in seiner Rechtsphilosophie vom tatsächlich existierenden Recht aus, in das die Grundsätze des Naturrechts eingegangen sind. – Auch Marx wird nicht in der Chronologie dargestellt. Da er in den gängigen Kompendien nicht unter den Rechtspositivisten zu finden ist, müssen hier die bekannten Rechtspositivisten zunächst behandelt werden, um zeigen zu können, dass Marx systematisch dort zu verorten ist.
[8] Ich danke dem Kollegen Héctor Wittwer für Gespräche, wertvolle Hinweise und Kritik und der Rechtsanwältin Ulla Junckersdorf für ihre sachkundige Durchsicht des Teils über das Verfahrensrecht.
[9] 1. Einführung: Das Verhältnis von Recht und Moral
Die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral ist der Fokus der Rechtsphilosophie in Vergangenheit und Gegenwart, in der Rechtspraxis wie in der Rechtstheorie. Héctor Wittwer sagte in einem Vortrag am 15. Mai 2012 in Hannover, »dass die Frage, wie sich Recht und Moral zueinander verhalten, nach wie vor zu den am intensivsten diskutierten Problemen der Rechtsphilosophie zählt«. Dieselbe Überzeugung wird in einer anderen aktuellen Publikation zum Thema geäußert: Das »zentrale Thema der Rechtsphilosophie in der gegenwärtigen Diskussion« ist das »Für und Wider der Trennung von Recht und Moral im positiven Recht und damit die Gegenüberstellung von Naturrecht und Rechtspositivismus« (Gärtner 2012, 102). Darum ist es sinnvoll, die Themen Naturrecht und Rechtspositivismus zu den beiden großen Themen dieses Bandes zu machen und das Verhältnis von Recht und Moral zum Leitfaden durch den vorliegenden Band. Dazu bedarf es einer Vorklärung des Verhältnisses von Moral und Gerechtigkeit.
Vorklärung: Gerechtigkeit und Moral
Meist wird in der Rechtsphilosophie die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral als die nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit angesehen. Doch ist Gerechtigkeit nicht unbedingt mit Moral gleichzusetzen. »Überraschenderweise spielt der Gerechtigkeitsbegriff bei [dem Moralphilosophen par excellence] Immanuel Kant keine prominente Rolle. […] Kant selbst [nimmt] keinerlei Verknüpfung seines Moralprinzips mit dem Gerechtigkeitsbegriff vor.« (Horn/ [10] Scarano 2002, S. 164; vgl. auch Gärtner 2012, 175) Im IV. Abschnitt der Einleitung der Metaphysik der Sitten heißt es allerdings: »Was nach äußeren Gesetzen recht ist, heißt gerecht (iustum), was es nicht ist, ungerecht (iniustum).« (AB 23) Man könnte an dieser Stelle einen Analogieschluss von den »äußeren Gesetzen«, also vom Recht, auf die Moral vornehmen und sagen, dass es nach Kant gerecht ist, wenn man den vollkommenen moralischen Pflichten nachkommt. (Vgl. dazu Horster 2012, 46 f.) Darum lässt sich mit dem hier formulierten Vorbehalt das Verhältnis von Moral und Recht als das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht ansehen. Dies ist insofern plausibel, als das Fundament der Gerechtigkeit die Gleichheit ist – und die Basis jeder moralischen Norm die Anerkennung des Gegenübers als gleich.
Aristoteles betont in der Nikomachischen Ethik, dass für ihn jegliche Tugend in der Gerechtigkeit enthalten ist. (Vgl. 1129b 29) Bei ihm also nimmt die Gerechtigkeit innerhalb seiner Moralphilosophie eine prominente Stelle ein und es gibt eine direkte Verknüpfung von Moral (das ist bei Aristoteles die Tugendethik1) und Gerechtigkeit. »Sie gilt als die vollkommenste Tugend, weil sie die Anwendung der vollkommensten Tugend ist.« (1129b 30) Aristoteles resümiert: Gerechtigkeit und Tugend bzw. Moral »sind dasselbe, ihr Begriff aber ist nicht derselbe, sondern insofern es sich um die Beziehung auf andere handelt, redet man von Gerechtigkeit, insofern es sich aber um einen Habitus handelt, der sich in den Akten der Gerechtigkeit auswirkt, redet man von Tugend schlechthin« (1130a 12 f.). Während Platon noch eine Parallelität oder gar Identität zwischen einem gerechten Menschen und einer gerechten Gesellschaft annimmt, wie wir später noch sehen werden, macht Aristoteles einen deutlichen Unterschied zwischen einem gerechten Menschen, das ist für ihn ein tugendhafter Mensch, und einer gerechten Gesellschaft oder Institution.
Heute ist vornehmlich die letztgenannte Form gemeint, wenn von Gerechtigkeit die Rede ist. Gesprochen wird in der Regel [11] von einer Institutionengerechtigkeit; ein Begriff, der sich später in der Philosophie etabliert hat. (Vgl. Rawls 1975, 19) Auch John Rawls, der mit seiner Theory of Justice die wohl bedeutendste Gerechtigkeitstheorie der Gegenwart vorgelegt hat, widmet sich ohne Umschweife der Gerechtigkeit im Gemeinwesen und nicht dem einzelnen gerechten Menschen.
Man wird die Gerechtigkeit als Ideal ansehen müssen, das – um einen Gedanken von Jürgen Habermas aufzugreifen (vgl. Habermas 1989, 132 f.) – wie alle Aufklärungsideale regulativ und konstitutiv zugleich ist. Damit ist gemeint, dass Ideale unsere Wirklichkeit strukturieren. Nehmen wir die Institution des Gerichtsprozesses: Der Prozess kommt überhaupt nur dadurch zustande, dass ihm die Idee der Gerechtigkeit zugrunde liegt und die Parteien, die einen solchen Prozess anstreben, davon überzeugt sind, dass durch ihn Gerechtigkeit hergestellt wird, denn sonst würde niemand den Weg zum Gericht antreten. Die beiden Parteien, die vor dem Richter erscheinen, fühlen sich jeweils im Recht und fänden es ungerecht, wenn der Richter das nicht auch so sehen würde. (Vgl. Lahusen 2011, 123) Die Gerechtigkeit ist demnach konstitutiv für das Zustandekommen und die Durchführung des Prozesses. Zugleich aber ist die Gerechtigkeit regulativ, weil man sich an der Idealvorstellung von Gerechtigkeit orientiert und versucht, sie in jedem Prozess erneut zu realisieren, und zwar noch besser als vorher.
Moral bezieht sich auf das menschliche Handeln. Mit Blick auf einen Menschen können wir feststellen, ob er sich in seinem Handeln an moralischen Normen orientiert. Wir würden aber nicht von moralischen oder unmoralischen Institutionen sprechen, sondern von gerechten oder ungerechten. Geht es um Institutionen, beispielsweise um einen Prozess, ein Urteil oder ein Schöffengericht, ist das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht angesprochen. Die Rede ist dann etwa von einem gerechten Urteil, Gericht oder Prozess. Man spricht auch von einem gerechten oder ungerechten einzelnen Richter. In dem Fall ist aber die juristische Institution des [12] Richters gemeint, denn wir müssen »Amt und Person bei der Rechtsprechung« unterscheiden. (Weyers 2012, 46) Insofern ist mit dem Verhältnis von Moral und Recht in der Bezugnahme auf Institutionen das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht gemeint.
Begriffsbestimmung von »Recht« und »Moral«
Für Sokrates war eine Differenz von Recht und Moral noch nicht denkbar, denn für ihn waren individuelle Tugend und gemeinschaftliches Recht identisch; ein Verstoß gegen das Recht war zugleich ein Verstoß gegen moralische Regeln. (Vgl. Platon, Kriton 53 c) Zunächst eine Einheit bildend, traten Moral und Recht im Verlauf der Geschichte immer weiter auseinander: »Am Beginn der Entwicklung [des Rechts] bildet es eine kaum zu trennende Einheit mit Religion, Moral und Sitte. […] Seit Christian Thomasius und Immanuel Kant ist die Moral begrifflich vom Recht geschieden, ohne daß man beide letztlich trennen kann.« (Wesel 1997, 46)
Folgende fünf Unterschiede zwischen Recht und Moral sind hervorzuheben:
(1)Wie Kant in der Einleitung zur Tugendlehre schreibt, übt das moralische Gesetz einen inneren Zwang auf den Menschen aus; Kant bezeichnet es später als Gewissen. (Vgl. A 100) Das Recht hingegen zwinge den Menschen äußerlich. (Vgl. A 28) Darum könne Recht immer nur im Zusammenhang mit der staatlichen Zwangsgewalt existieren.
(2)Das jeweilige Zustandekommen unterscheidet ebenfalls rechtliche Normen von moralischen Regeln: Der Gesetzgeber beschließt die Rechtsnormen. Für moralische Regeln ist ein solches Verfahren undenkbar.
(3)Eine weitere Differenz: Rechtsnormen werden von einem bestimmten Zeitpunkt an in Geltung gesetzt – etwa »ab [13] der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt«. Ein solches In-Geltung-Setzen ist für moralische Regeln ebenfalls undenkbar.
(4)Schließlich gilt im Recht ein klar geregelter Vorrang des Bundesrechts vor dem Landesrecht, also die Regel »Bundesrecht bricht Landesrecht«. Somit ist es völlig unschädlich, dass noch heute der Artikel 21 der Hessischen Landesverfassung die Todesstrafe vorsieht. Außerdem heben Entscheidungen höherer Instanzen vorinstanzliche auf. Die Rechtseinheit, das heißt die einheitliche Geltung des Rechts im gesamten Staatsgebiet, wird zudem durch die Einrede der Rechtshängigkeit2 gewahrt. Weiterhin hat im Falle der formellen Subsidiarität3 eine Norm Vorrang vor einer anderen. Im Bereich des Moralischen hingegen muss man bei einer Pflichtenkollision bzw. in einer Dilemmasituation selbst entscheiden, welche moralischen Regeln für den Entscheidenden und Handelnden höher einzustufen sind. (Vgl. dazu Horster 2009, 37 ff.)
(5)Héctor Wittwer nennt noch ein weiteres plausibles Unterscheidungsmerkmal: »Im idealtypischen Sinne sind sowohl die Moral als auch das Recht öffentliche Systeme praktischer Normen zur Regelung des Zusammenlebens. Während es sich bei der Moral um ein informelles System praktischer Normen handelt, in dem bestimmte Handlungen geboten oder verboten werden, weil sie als geboten oder verwerflich gelten, stellt das Recht ein formelles öffentliches System praktischer Normen dar, in dem bestimmte Handlungen deshalb geboten oder verboten sind, weil sie von den dazu autorisierten Instanzen kraft Gesetz geboten oder verboten worden sind.« (Wittwer 2012, 8) Auch Stefan Weyers benennt dieses Unterscheidungsmerkmal: »Im Gegensatz zur Moral beinhaltet das Recht eine Institutionalisierung.« (Weyers 2012, 101 und vgl. 43)
[14] Ich fasse die Unterschiede von Recht und Moral zusammen, sodass wir zu einer klaren Abgrenzung und damit zu einer Begriffsbestimmung kommen:
(1)Das Recht verzichtet im Gegensatz zur Moral auf Gesinnung, weil es sich bei seiner Durchsetzung auf staatlichen Zwang verlassen kann.
(2)Gesetze kommen durch Beschluss des Parlaments zustande, moralische Regeln nicht.
(3)Gesetze gelten ab einem bestimmten Datum. Undenkbar ist, dass moralische Normen an einem bestimmten Datum in Kraft gesetzt werden könnten.
(4)Im Recht gilt ein bis ins Einzelne geregelter Vorrang bestimmten Rechts vor anderem. Stehen hingegen moralische Pflichten gleichrangig nebeneinander, ist die individuelle Entscheidung der Betroffenen gefordert.
(5)Moral ist das Ensemble informeller Normen, während Recht das von formellen Normen ist.