Adrian Geiges, Jahrgang 1960, studierte Publizistik, Geschichte und Politik in Münster sowie später Chinesisch, Russisch und Portugiesisch. Er berichtete u. a. für RTL und »Spiegel TV« aus Russland und den USA und arbeitete viele Jahre als »Stern«-Korrespondent in Peking. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter »Gebrauchsanweisung für Peking und Shanghai« und »Wie die Weltrevolution einmal aus Versehen im Schwarzwald begann«.
Bei Quadriga ist von ihm erschienen: »Mit Konfuzius zur Weltmacht. Das chinesische Jahrhundert« (mit Stefan Aust; 2012). Jetzt lebt Geiges in Rio de Janeiro und produziert dort Dokumentarfilme und Reportagen für den WDR, RTL und n-tv.
BRASILIEN BRENNT
Reportagen aus einem Land im Aufbruch
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2014 Quadriga Verlag, Berlin, in der Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagmotiv: Veer.com/Ocean Photography
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-5620-2
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Hamburg, Anfang 2013. Zehn Zentimeter Neuschnee bedecken meine Terrasse, der Himmel ergraut. Draußen friert man sogar in langer Unterwäsche, die ich so gemütlich finde wie einen Stahlhelm. Der Umzugswagen kann vor dem Jugendstilbau nicht halten, weil ein Gerüst seit Wochen fünfzehn Parkplätze wegnimmt – gearbeitet wurde darauf noch keine Sekunde. Mein Nachmieter wartet auf seinen Vertrag, da der Zuständige in der Hausverwaltung krank ist und ihn keiner vertreten kann. Manchmal scheint mir, in Deutschland wird nur noch eines »erneuert«: Weniger Leute leisten mehr Arbeit. Zypern bricht das zweite Gebot der modernen europäischen Zivilisation, wonach der Staat die Spareinlagen sichert. Auf der toten Baustelle des Berliner Flughafens brennt Licht, weil niemand den Schalter findet, um es abzustellen. Zeit für mich, Europa zu verlassen und nach Brasilien aufzubrechen, in das Land der Fußballweltmeisterschaft 2014. Die größte Party der Welt wartet. Das Land errang fünf Mal den Weltmeistertitel, so oft wie kein anderes. 2014 feiert der brasilianische Fußballverband seinen 100. Geburtstag – als die WM für dieses Jahr vergeben wurde, bewarben sich andere Länder gar nicht erst, es war klar, wohin sie geht. Und mittlerweile ist Brasilien nicht nur im Fußball ein Riese: Auch in der Weltwirtschaft wächst seine Rolle in Riesenschritten. Kein Wunder, bei diesen Dimensionen: Brasilien ist 24-mal so groß wie Deutschland, erstreckt sich über eine größere Fläche als die Europäische Union. 200 Millionen Menschen leben dort, so viele wie in Russland, Kanada und Australien zusammengenommen. Da will ich hin! Jogi und die Jungs kommen nach, ich gehe schon mal vor.
Die Fußball-WM verteilt sich auf zwölf Städte, kennenlernen will ich sie alle, leben aber in Rio de Janeiro. Nicht nur, weil dort das Finale gespielt wird. Meine Expedition in den Süden soll Spaß bringen, und ich verbinde mit Rio Sonne, Strand und Karneval, wie wohl jeder. Obendrein ist Rio auch noch die Stadt der Olympischen Sommerspiele 2016, und die bewegen mehr in einer Stadt als nur den Sport. Das habe ich 2008 in Peking erlebt.
Erst vor vier Jahren kehrte ich aus China in die Heimat zurück – und staunte, wie viele Standuhren im angeblich so perfekten Deutschland ihrem Namen zur Ehre gereichen. Leider sind nicht nur die Uhren stehen geblieben, sondern auch die Zeit. Den Europäern ist lediglich das Selbstbewusstsein geblieben, am wohlhabendsten, sozialsten und umweltfreundlichsten zu sein – ein Selbstbewusstsein, das immer weniger durch Fakten gestützt wird. Zwar zehren wir noch von Erbschaften aus besseren Zeiten, doch die schmelzen zusammen. Denn die Ehrgeizigen, Mutigen und Schnellen leben anderswo. Zum Beispiel in Peking und Shanghai. Das habe ich zehn Jahre lang als Korrespondent des Stern und als Geschäftsführer von Gruner + Jahr dort erlebt.
Aber gilt das auch für Brasilien? Gemeinsam mit Russland, Indien und China zählt es zu den aufstrebenden BRIC-Staaten, manchmal mit Südafrika erweitert zu BRICS. Vierzig Prozent der Erdbevölkerung leben in diesen fünf Ländern. 2012 hat Brasilien Großbritannien überholt und ist zur sechstgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen, Frankreich, der Nummer fünf, folgt es dicht auf den Fersen. Goodbye, British Empire, au revoir, Grande Nation! Auf Platz vier liegt Deutschland – noch. Bereits jetzt produziert kein anderes Land so viele Lebensmittel wie Brasilien. Es baut den meisten Kaffee und das meiste Zuckerrohr an und ist weltweit der größte Exporteur von Rindfleisch. Während uns Brasilien mit Essen versorgt, ist China die Werkbank der Welt – und zunehmend auch die Bank der Welt, besonders für die Amerikaner, denn der Volksrepublik gehört ein Großteil ihrer Staatsanleihen. Aber auch bei Brasilien, einst selbst stark verschuldet, stehen die USA bereits mit 335 Milliarden Dollar in der Kreide. Gas, Gold, Öl und Eisen bereichern Russland, auch dort arbeitete ich sechs Jahre, unter anderem als Korrespondent von Spiegel TV. Indien spielt bei Computern vorne mit, doch wer wie ich dort mit stundenlangen Wartezeiten an Flughäfen eincheckte, der wünscht sich, die Software wäre nicht nur für den Export bestimmt.
»Vierzig Millionen Brasilianer sind in den letzten acht Jahren der Armut entwachsen und in den Mittelstand aufgestiegen«, sagt mir in einem Vorgespräch Paulo Gustavo de Santana, Pressesprecher der brasilianischen Botschaft in Berlin. Doch spricht ein Diplomat nicht von Amts wegen gut über sein Land? Der Geo-Fotograf Michael Ende ist ein Weltenbummler wie ich, lebt seit fast dreißig Jahren in Brasilien und unterrichtet jetzt auch in China, geht also den umgekehrten Weg. Wir treffen uns in Bielefeld, weil das irgendwie auf halber Strecke liegt. Er spottet: »Brasilien war das Land der Zukunft, ist das Land der Zukunft und wird das Land der Zukunft bleiben.« Michael spielt an auf das 1941 erschienene Buch Brasilien. Ein Land der Zukunft des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig. Er war vor den Nazis nach Brasilien geflohen und sah dort das Modell für ein friedliches Zusammenleben der Rassen. Erst nachdem das Buch erschienen war, merkte er: Auch dort bestand der Rassismus unterschwellig weiter, der damalige brasilianische Diktator Getúlio Vargas hatte seine Naivität ausgenutzt. Im Februar 1942 nahm sich Zweig in Petrópolis bei Rio de Janeiro das Leben. Michael möchte mit diesem Vergleich sagen, auch heute sei es mit den Veränderungen nicht so weit her. Doch verliert man vielleicht manchmal den Blick auf das Neue, wenn man lange in einem Land lebt und von diesem oder jenem im Alltag genervt ist? Ich will mir in Brasilien ein eigenes Urteil bilden.
Freunde und Kollegen reagieren begeistert, manche aber auch verwundert: Wie, von heute auf morgen Wohnung und Versicherungen auflösen und von den Colonnaden, wo ich in Hamburg gewohnt habe, an die Copacabana umziehen? Noch sind wir mehr darauf dressiert, nur dann woanders hinzugehen, wenn uns eine Firma entsendet und im Zweifel noch ein Coaching bei einem Sozialklempner bezahlt. So lange wollte ich nie warten, auch in Moskau und Peking fing ich an, indem ich mir selbst einen Sprachkurs buchte und dann langsam eine Existenz aufbaute – für mich die beste Art, ein anderes Land kennenzulernen.
Im Internet vergleiche ich verschiedene Portugiesisch-Sprachschulen in Rio. Im Preis-Leistungs-Verhältnis am besten erscheint mir Casa do Caminho, wörtlich »Haus am Weg«, nahe dem Strand von Ipanema, mit einer Kursgebühr von umgerechnet etwas mehr als 300 Euro pro Monat. Was meine Sympathie weckt: Betrieben wird die Schule von Freiwilligen, die 42 Kilometer von Rio entfernt ein Waisenhaus für vierzig Kinder unterhalten, die Opfer von Gewalt, Missbrauch und Armut wurden. Der Reinerlös fließt dorthin.
Als Unterkunft bietet die Schule – natürlich gegen Extrakosten – einen Homestay an, also Leben bei einer Gastfamilie. Ich bin begeistert, so kann ich das brasilianische Portugiesisch praktizieren und Menschen kennenlernen. Das wird mir auch erleichtern, in Rio eine Wohnung zu finden, wenn ich vor Ort bin. Denn von Deutschland aus habe ich nur Angebote bekommen, die auf ihre Art von Brasiliens Boom zeugen. Der Andrang von Geschäftsleuten, Fußballfans und Karnevalisten hat zu einem eigenen Business geführt: Apartments für Ausländer einrichten und zu einem astronomischen Preis vermieten. Den Fotos nach zu urteilen, die ich per E-Mail bekomme, bieten sie eine gute Aussicht, sind geschmackvoll bis kitschig eingerichtet, und die Betten sind sogar schon bezogen. Doch kann ich das nicht günstiger selbst tun?
Die Sprachschule schlägt mir zur Auswahl zwei »Familien« vor, die eigentlich Einzelpersonen sind: Davi, einen 21-jährigen Studenten, und Erica, eine 39-jährige Assistentin, wie es heißt. Ich entscheide mich für Erica. Wahrscheinlich beeinflusst mich auch, dass sie, wie ihr Bild zeigt, eine gut aussehende Frau ist – sie zeigt sich darauf allerdings mit einem Mann, der ihr den Arm um die Schultern legt. Ihr Freund oder ein ehemaliger Student? Wichtiger ist ohnehin: Davi erweckt in seinem Vorstellungstext den Eindruck, es gehe ihm vor allem darum, Fremdsprachen kennenzulernen. Ich aber will mein Portugiesisch praktizieren. Erica erwähnt ihr Interesse für Rios Geschichte und ihre Kontakte zur Kunstszene. Das passt gut. Überhaupt kann sie als erwachsene Frau, die mitten im Leben steht, wohl besser vom Wandel in Brasilien erzählen, über den ich mehr wissen will.
Wir chatten auf Skype.
»Ich bin in Rio geboren und aufgewachsen, aber ich bin kein typisches Rio-Girl«, schreibt Erica. »Als ich 14, 15 war, verbrachte ich etwas Zeit in der Schweiz und lernte dort Französisch. Das hat meine Persönlichkeit beeinflusst.«
Ich antworte: »Interessant. In welcher Hinsicht entsprichst du nicht den Stereotypen von Rio?«
»Die Leute denken, wir sind große Fußballfans, tanzen im Karneval und liegen im knappen Bikini am Strand – auf mich trifft nichts davon zu. Auch schütze ich meine Privatsphäre sehr.«
»Kein Problem, ich habe in China gelebt, wo dir Menschen sehr wenig über ihre privaten Gefühle erzählen, wenn sie dich nicht gut kennen. Ich bin sicher, im Vergleich zu denen gehst du richtig aus dir heraus. Erzähle mir etwas über deine Arbeit.«
»Meine? Verglichen mit deiner?! Ich habe den langweiligsten und stumpfsinnigsten Job der Welt.«
»Aha, was machst du genau?«
»Ich arbeite in einem Unternehmen, das fünf Prozent der Einnahmen aller Industriebetriebe von Rio erwirtschaftet, mit Öl und Autos. Mit diesem Geld werden Schulen, Ärzte, Zahnärzte, Sport und andere Angebote für die Bürger von Rio finanziert. Ich arbeite als Assistentin in der technischen Abteilung.«
»Das hört sich doch spannend an! Ich arbeite im Moment in einer TV-Produktionsfirma, deren Anteil am Hamburger Wirtschaftsprodukt kaum zählbar ist und die nichts für gute Zwecke spendet.«
Ärger gehört bei solch einem abrupten Wechsel auf die andere Hälfte der Erdkugel dazu, meist wird er durch Kleines ausgelöst. Der Nachmieter für meine Wohnung, ein niederländischer Geschäftsmann, ist nicht zur Übergabe erschienen. Hat er inzwischen etwas anderes gefunden? Mir drohen zwei Monate doppelte Miete in zwei teuren Metropolen, Hamburg und Rio de Janeiro.
Den aufwendigen interkontinentalen Umzug erspare ich mir, verfrachte Bücher und Möbel in ein Lagerhaus. Im Ergebnis wiegen meine beiden Koffer für den Flug Hamburg-London-Rio zusammen 39 Kilo. Um eine saftige Gebühr für Übergepäck zu vermeiden, besuche ich meinen Nachbarn, einen Chinesen aus Singapur, der am Hamburger Flughafen den Check-in von British Airways leitet. Er lächelt: »Du fliegst nach Rio de Janeiro – weil die Wirtschaft dort boomt und viele Geschäftsleute dort hinreisen, haben die Brasilianer gegenüber den Engländern durchgesetzt: Selbst in der Economy Class darf jeder zwei Koffer aufgeben und hat 32 Kilo Freigepäck – pro Koffer.« In solch ein Land fliege ich gerne.
Während ich dies schreibe, ruft der Makler an: Nachmieter und Hausverwaltung haben doch noch zueinandergefunden. Ohne meine Kaution zu verlieren, wandere ich aus nach Brasilien, in ein Land voller aufregender Geschichten. Ich bin nicht zum ersten Mal dort. Eine Rückblende.
Hitler lebt. Gemeinsam mit seiner Frau, seiner Tochter und seiner Schwester bewohnt er ein nahezu unmöbliertes Zweizimmerapartment in Manaus, Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Amazonas und einer der Spielorte der Fußball-WM 2014. Die Polizei rät wegen der hohen Verbrechensrate von Spaziergängen durch das Viertel ab. Bei den meisten Häusern ist der rote Backstein nicht verputzt. Hitler sitzt in Bermudashorts auf dem Terrassenboden, sein Oberkörper ist nackt. Unten auf der Straße spielen Jungs Fußball, aus einem der Nachbarhäuser klingt das »Nossa Nossa« aus dem brasilianischen Welthit von Michel Teló. Hitler ist jetzt 31 Jahre alt. Er macht eine Ausbildung zum Krankenpfleger und hat eine E-Mail-Adresse von Google.
Heute bringt es keine Vorteile mehr, Hitler zu heißen, auch nicht hier am Amazonas. In der Schule wurde Hitler wegen seines Namens verprügelt. Spanien hat ihm die Einreise verweigert. Besitzer von Kopierläden schicken ihn weg, wenn er seine Zeugnisse vervielfältigen will. Hitler heißt mit vollem Namen Hitler Marubo. Er ist ein Aktivist der UNIVAJA, der Union der eingeborenen Völker im Javari-Tal. Sein Vater hat ihm »Hitler« als Vornamen gegeben, weil er ihn für einen geborenen Führer hielt und nichts über die Naziverbrechen Adolf Hitlers wusste. Der Nachname »Marubo« bezeichnet seinen Indianerstamm. »Marubo« ist in Deutschland deutlich weniger geläufig als »Hitler«. Doch das soll sich jetzt ändern, durch eine Initiative aus Thüringen. Ihre Losung lautet: »Rettet die Marubo, und ihr rettet ein besonderes Stück Natur.«
Heute erhält Hitler Marubo Besuch aus Weimar, wo die Nazis im nahen Konzentrationslager Buchenwald 56 000 Menschen ermordeten. Hitler trägt einen militärischen Kurzhaarschnitt, sein Gast Guilherme Werlang hat das lange Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Der Brasilianer deutscher Herkunft ist Gastprofessor für Ethnologie an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Werlang vertritt hier die Hilfsorganisation Ourchild e.V. aus dem Kurort Bad Sulza in Thüringen. Die Landschaft wird seit einigen Jahren als »Toskana des Ostens« vermarktet, wegen ihrer Hügel, des Weinbaus und des Tourismus. Dieser Werbegag stammt von Marion Schneider und Klaus Dieter Böhm, einem aus dem Westen zugezogenen Unternehmer-Ehepaar. Ich kenne sie aus der Zeit, als sie noch jung und Kommunisten waren – beides Eigenschaften, die damals auch auf mich zutrafen. Heute verdienen die beiden ihr Geld im Bäder-Business und stecken auch hinter Ourchild e.V. Sie haben mir von diesem Projekt erzählt, ich wollte darüber berichten – deshalb reise ich im August 2012 mit Professor Werlang den Amazonas entlang.
Wie große Käfige wirken die vergitterten Schlafsäle im Casa de Apoio, dem »Haus der Hilfe« von Tabatinga, der brasilianischen Grenzstadt zu Kolumbien. Alle 35 Patienten sind Indianer, alle leiden an Hepatitis B oder D oder der Kombination von beidem, einer sogenannten Superinfektion, die meist tödlich endet. Sie spucken Blut.
Der Regenwald ist kein Neuland für Professor Werlang. Er hat als Kulturanthropologe viele Jahre im Javari-Tal geforscht, erkrankte dabei zweimal an Malaria. Der Javari ist ein Nebenfluss des Amazonas. An seinen Ufern leben etwa 6000 Indianer, neben den Marubo auch die Mayoruna, die Matis, die Kanamari, die Kulina und die Korubo.
Nirgendwo sonst auf der Welt findet man so viele Menschen, die bisher keinen Kontakt zur Zivilisation hatten. Werlangs wissenschaftliche Arbeit konzentriert sich auf Musik und Gesang der Marubo.
Doch selbst Werlang, der schon viel erlebt hat, ist im Casa de Apoio erschüttert: Er sieht dort den ausgemergelten Almir wieder, einen Marubo, den er vor vierzehn Jahren als fröhliches Kind gekannt hat. Jetzt wartet der junge Mann nur noch auf seinen Tod. Werlang hat nicht erwartet, ihn hier zu treffen. Er hat nicht einmal gewusst, dass Almir an Hepatitis B erkrankt ist.
Der Kurort Bad Sulza hat 2926 Einwohner und ist damit deutlich größer als der Stamm der Marubo mit 1688 Angehörigen – nach Angaben des brasilianischen Gesundheitsministeriums. Die Marubo selbst halten diese Zahl sogar für übertrieben, denn sie erleben jeden Monat den Tod von Verwandten. Mehr als fünfzig Prozent von ihnen leiden an Hepatitis B, häufig verbunden mit Hepatitis D. Ihr Volk ist vom Aussterben bedroht – ebenso wie die anderen Indianerstämme im Javari-Tal. Während der vergangenen zehn Jahre erreichte die Sterberate bei ihnen eine Quote von 7 bis 16 Prozent der gesamten Bevölkerung (zum Vergleich: in Deutschland liegt die Sterberate bei etwa einem Prozent). Die Gegend weist prozentual die weltweit meisten Hepatitis-Erkrankungen auf. Seit dem Jahr 2000 tötete die Krankheit 325 Indianer im Javari-Tal. Am häufigsten sterben Säuglinge, die weniger als ein Jahr alt sind. Immer wieder trauern die Familien um ihre kleinen Kinder. Die Zahl der Toten gleicht der in Kriegsgebieten wie Afghanistan.
Per Ferndiagnose hat der Landrat im Kreis Weimarer Land, Hans-Helmut Münchberg, die Ursache erkannt: »… der zunehmende Kontakt dieser Völker mit der Außenwelt und mit der umgebenden nationalen Gesellschaft.« Der Vormarsch der Zivilisation habe »verheerende Auswirkungen auf ihr Wohlergehen und auf ihre physische und kulturelle Unversehrtheit«. Auch sieht er einen Zusammenhang zwischen der Ausbreitung von Hepatitis und der »akuten Bedrohung des regionalen wie auch des globalen ökologischen Systems durch unkontrollierte Abholzung und wirtschaftliche Ausbeutung des Regenwaldes«.
Tatsächlich wird Hepatitis B vor allem beim Sex übertragen. Indianer jobben oder studieren in den Städten, haben dort Liebesbeziehungen oder gehen zu Prostituierten. Dann kehren sie in ihre Großfamilien zurück. Dort schlafen die Frauen auch mit den Brüdern ihres Mannes, ein etwa bei den Marubo verbreitetes Gewohnheitsrecht. Die Mütter vererben die Krankheit dann bei der Geburt an ihre neugeborenen Kinder. Hilfe wie die aus Thüringen ist also dringend notwendig, um beispielsweise Impfungen zu bezahlen und Kondome zu verteilen. Da die Indianer in wenig erschlossenen Teilen am Amazonas nur schwer zu erreichen sind, denken die Unterstützer an ein Sanitätsschiff – sie selbst leben an den Ufern von Saale, Werra und Gera.
Dabei wollen es die kulturell sensiblen Deutschen aber nicht belassen. Um hier nichts Fremdes überzustülpen, sollen auch die Schamanen mit ihren Zauberkräften heilen.
Schamane Robson Dionisio Doles Marubo, mit Indianernamen Venapa Iskonáwavo, liegt auf der Hängematte und klickt in seinem Handy Fotos einer Freundin an. Das Dach aus Schilfrohr reicht bis zum kahlen Erdboden, an Seilen hängen Bananen und Unterhosen. Estêvão Marubo, das 58-jährige Oberhaupt einer dreißigköpfigen Großfamilie, hat den Schamanen in ihr Langhaus eingeladen, um der jüngsten seiner drei Frauen, der 24-jährigen Têpi, das Kopfweh auszutreiben. Die Indianer hocken auf Baumstämmen, empfangen so den »Spirit«, wie es heißt – auch ganz wörtlich in Form von Ayahuasca, dem Gebräu aus der gleichnamigen Dschungelliane. Es löst Halluzinationen aus. Der 31-jährige Schamane singt in Trance: »Jüngere Brüder! Hört mir zu! Öffnet eure Ohren!« Die Männer fangen an zu zittern.
Das ferne Thüringen fördert dieses Ritual der Marubo-Indianer im Regenwald, nahe dem Dreiländereck von Brasilien, Kolumbien und Peru. »Ich bin persönlich bewegt von der dramatischen Gesundheitssituation der indigenen Völker dort«, schreibt Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht in einem Empfehlungsschreiben für die Hilfsorganisation Ourchild e.V. Die CDU-Politikerin gehört zum Beirat des Vereins.
»Die Schlange des Todes ist da!«, ruft Estêvão Marubo. Im echten Leben ist von einer Schlange nichts zu sehen, aber tatsächlich springt ein Frosch zwischen den Beinen der Andächtigen herum. Der Sprechgesang des Familienoberhaupts geht weiter: »Die toten Menschen vom Fluss gehen in ihre Langhäuser.« In seinem Langhaus ist es mittlerweile eine Stunde nach Mitternacht. Schamane Robson liegt weiter in der Hängematte und zuckt heftig. Die Indianer schnupfen Tabak aus meterlangen Rohren. Mit beiden Nasenlöchern dabei ist Guilherme Werlang, der Gastprofessor aus Weimar.
»Marubo und andere Indianer misstrauen der modernen Medizin«, sagt im Casa de Apoio die Krankenschwester Helena Peixoto. An diesem Abend betreut sie die Kranken allein mit einem Sicherheitsmann. Viele Patienten sind vor ihren Augen gestorben. »Nur wenn man die Schamanen einbezieht, glauben einem die Eingeborenen.«
Selbst der Arzt Waldery Nobre de Mesquita, als Leiter der Gesundheitsbehörde von Tabatinga zuständig für diesen Teil des Amazonasgebietes, findet das Ansinnen der Thüringer nicht so absurd, wie es klingt: »Die moderne Medizin kuriert die körperlichen Symptome, die indianische die Seele«, erklärt er. Auch kann sie manchen Krankheiten vorbeugen, genauso wie Naturheilverfahren in anderen Regionen der Welt, ich denke dabei an die Erfolge der traditionellen chinesischen Medizin, über die ich immer wieder berichtet habe.
Nicht überraschend wird Guilherme Werlang auch von Guilherme Werlang unterstützt – einem entfernten Verwandten und Namensvetter, der als katholischer Bischof die sozialen Projekte der Kirche betreut. »Wir müssen die traditionellen Heilmethoden der Indianer einbeziehen«, meint er. »Sie kommen aus der Natur, wie die moderne Medizin auch.«
Deutlich unterscheiden sich aber die Arbeitszeiten. Schulmediziner kurieren lieber tagsüber, während die Stunde der Schamanen erst nach Sonnenuntergang schlägt. Die Thüringer haben das bedacht und sammeln deshalb auch für ein Internat, in dem rund um die Uhr unterrichtet werden soll, Weltliches am Tag, Übersinnliches in der Nacht. »Schamanischer Unterricht kann nur nachts stattfinden«, erklärt Marion Schneider, die Vorsitzende von Ourchild e.V. in Bad Sulza, »weil die Geister, die dabei gerufen werden, nur nachts erscheinen.«
In einem interkulturellen Austausch helfen nicht nur die Thüringer den Indianern, sondern auch die Indianer den Thüringern. So lud Marion 2011 zu einem Workshop über »Heilung aus dem Regenwald« ins Schloss Auerstedt. Weltberühmt ist der Ort mit 457 Einwohnern, inzwischen von Bad Sulza eingemeindet, aufgrund der Schlacht zwischen Napoleons Truppen und den Preußen 1806. Den Workshop leitete kein anderer als Marubo-Schamane Robson – gemeinsam mit Benedito Dionisio da Silva Ferreira.
Benedito sieht ein bisschen so aus wie Anthony Quinn als Quasimodo im Film Der Glöckner von Notre Dame. Der 49-jährige Heiler und Lehrer der Marubo spielt eine Schlüsselrolle bei dem Schulprojekt, das die Thüringer unterstützen. Auch dabei verbindet sich Spirituelles mit ganz praktischen Nöten. »Unsere Familien leben in 13 Dörfern verstreut. Um von einem Schüler zum nächsten zu gelangen, muss ich oft eine Woche durch den Regenwald wandern oder mehrere Tage mit dem Boot fahren«, sagt Benedito. »Ein Internat, in dem die Schüler wohnen, wird ein Glück für ihre Bildung sein.« Deshalb wird das Schulvorhaben auch von der Amazonas-Staats-Universität gefördert, die nicht unter Verdacht steht, Hokuspokus zu unterrichten. Sie wird Lehrer stellen und Schulmaterial liefern.
Wer zu den Marubo will, braucht das Boot. Das Amazonasbecken erstreckt sich über die Hälfte der Fläche Brasiliens. Um auf die Anlegestelle von Tabatinga zu gelangen, muss man über dünne Bretter balancieren. Wer nicht aufpasst, stürzt in den Amazonas, den mit Abstand wasserreichsten Fluss der Erde. Sobald alle zwanzig Plätze besetzt sind, fährt das Motorboot los. Auf beiden Seiten erhebt sich der tropische Regenwald. Dreißig Prozent dieser Lunge der Erde gehören zu Brasilien. Kein Baum gleicht dem anderen, fünfzig Meter hohe Paranussbäume stehen neben Palisanderhölzern mit ihren Hülsenfrüchten. Über 50 000 verschiedene Baumarten wachsen im tropischen Regenwald wild durcheinander. Zum Vergleich: In Nordwesteuropa blühen ganze vierzig Baumarten.
Nach einer Stunde Bootsfahrt folgt eine weitere im Auto. An einer Tankstelle, genauer gesagt einer winzigen Hütte, wird Treibstoff aus einer Plastikflasche in den Tank gegossen.
Immer wieder ist von Hitler die Rede in Atalaia do Norte am Javari, dem Nebenfluss des Amazonas. In dem 7000-Einwohner-Ort leben Eingeborene aus dem Umland auf provisorisch zusammengezimmerten Holzstämmen und Brettern im Wasser, direkt vor einem Müllhaufen. Auf der Wäscheleine sitzt ein Papagei. Eine im siebten Monat schwangere Indianerin trägt einen knappen Bikini, wäscht sich mit Wasser aus dem Javari, das sie mit der Seifendose über sich gießt. Sie ist mit ihrer Familie in der Kreisstadt, um sich bei der örtlichen Indianerbehörde Sozialhilfe abzuholen.
Gastprofessor Werlang aus Weimar trifft sich hier mit Aktivisten der Indianerbewegung. Doch Hitler, dem hier alle folgen, sei spurlos verschwunden, heißt es.
Tage später findet ihn der Weimarer Professor in Manaus. Hitler begrüßt das Projekt aus dem Land, mit dem er von Geburt an durch den Namen verbunden ist. Wie der historische Hitler liebt er große Worte und Gesten, auch wenn er sonst nicht mit ihm zu vergleichen ist. »Wenn jetzt nichts passiert, gibt es unser Volk in wenigen Jahrzehnten nicht mehr«, sagt er. »Ich habe schon sechzig meiner Verwandten sterben sehen.« Die Regierung Brasiliens habe die Hepatitis-Gefahr »kriminell vernachlässigt«, wolle die Indianer »ausrotten« und dann den Regenwald abholzen. Dort werde sie dann Zuckerrohr und Getreide anbauen, um noch mehr Geld mit Ethanol-Kraftstoff zu verdienen.
Übrigens ein schönes Beispiel dafür, wie weltweit Aktivisten ihre in sich schlüssigen Überzeugungen auch dann vertreten, wenn sie den Tatsachen widersprechen. Ich erinnere mich daran, wie die westdeutschen Kommunisten Anfang der 1980er-Jahre behaupteten, in der Sowjetunion seien Atomkraftwerke nicht so gefährlich für die Bevölkerung, da sie in menschenleeren Gebieten Sibiriens stünden. Das war natürlich Unsinn, denn auch die Sowjetunion errichtete die AKWs da, wo der Strom gebraucht wurde, also nahe den Großstädten im europäischen Teil des Landes. Entsprechend baut Brasilien das Zuckerrohr, aus dem Ethanol gewonnen wird, zu 85 Prozent in den boomenden Bundesstaaten São Paulo und Paraná an und nicht im Regenwald, in dem es kaum Straßen gibt.
Der Völkermord Adolf Hitlers wird von seinem indianischen Namensvetter verurteilt. Hitler Marubo hat jetzt einen Antrag auf Namensänderung gestellt, aber die sei in Brasilien nicht einfach durchzubekommen. Seine zweijährige Tochter, die nichts außer einer Windel trägt, zupft ihn am Ohr. Er hat ihr den jüdischen Namen Noah gegeben – »als private Wiedergutmachung«, wie er sagt.
Die Jungs in Flip-Flops und Bermudashorts tragen russische Kalaschnikows und American Rifles. Baumstämme, aus denen spitze Nägel ragen, versperren alle Einfahrtsstraßen – damit die Polizei nicht hineinkommt. Wir sind mitten in Rio de Janeiro, der Stadt von Fußball-WM und Olympischen Spielen. »Wärst du hier alleine, würden sie dich erschießen«, sagt der Niederländer Nanko van Buuren. Mit ihm zusammen nicht, ihn kennt hier jeder, er umarmt viele und küsst sie auf die Wangen, auch Männer, hebt den Daumen, was in Brasilien sowohl »Hallo« als auch »Okay« bedeutet, richtet den Zeigefinger auf sie und imitiert einen Pistolenschuss. Dabei kommt Nanko aus einer anderen Welt, schon rein äußerlich. Man könnte ihn einen »gut aussehenden älteren Herrn« nennen, 64 Jahre alt, weißes Haar, dunkles Jackett, weißes Hemd, helle Hose. Der promovierte Psychiater arbeitete für die Weltgesundheitsorganisation WHO, jetzt führt er seit mehr als zwanzig Jahren als Präsident das Instituto Brasileiro de Inovações em Saúde Social (IBISS), das »Brasilianische Institut für Erneuerungen in der sozialen Gesundheit«, eine Hilfsorganisation mit dreihundert Mitarbeitern. Die Leute sind Nanko sehr dankbar, denn er ließ hier die Kanalisation verlegen und eine Schule bauen. Auch für seine Projekte sammelt Ourchild e.V. aus Thüringen Geld. Er führt mich durch die Favelas Vila Nova und Vila Aliança, sie werden von Drogengangs beherrscht.
Favela ist eigentlich eine brasilianische Kletterpflanze. Seit 1888 die Sklaverei abgeschafft wurde, siedeln sich Menschen, die den armen ländlichen Gebieten entfliehen, am Rande der großen Städte Brasiliens an. Meist klettern ihre Häuser an den Bergen hoch, wie die Pflanze, daher kommt der Name. »Favela« wird oft mit »Slum« oder »Elendsviertel« übersetzt. Das ist nicht ganz falsch, scheint mir, wenn ich mich so umschaue: Freilaufende Schweine und streunende Hunde wühlen in Müllhaufen am Wegesrand. Ein alter Mann schiebt ein aus Brettern zusammengenageltes Regal auf einer Schubkarre. Zwar stehen hier kaum noch die Zinkblechhütten, die man aus alten Fotoreportagen über Favelas kennt, dafür haben die Einwohner kastenartige Beton- und Ziegelhäuser gebaut, denen man deutlich ansieht, dass der Architekt eingespart wurde. Arme leben auch anderswo in Brasilien, was aber die Favelas über Jahrzehnte ausmachte: Sie standen außerhalb des Gesetzes, der Boden gehörte dem, der ihn sich genommen hatte, die Bewohner zapften Strom an Kabelmasten ab, ohne dafür zu bezahlen. Es gab keine Steuerbehörde, keine Müllabfuhr – und vor allem keine Polizei.
Die Rolle der Ordnungsmacht haben die zum Teil Minderjährigen übernommen, die so bedrohlich mit ihren Gewehren vor meiner Brust herumfuchteln. Sie nennen sich soldados do morro, wörtlich »Soldaten der Hügel«, da viele Favelas an den Berghängen liegen. Nanko erklärt: Drei Gruppen bekriegen sich in Rio de Janeiro untereinander, alle kämpfen gegen die Polizei. Sie haben zusammen 18 000 Kindersoldaten, das umfasst nur die Zehn- bis Achtzehnjährigen. Insgesamt stehen 60 000 Banditen unter Waffen. Das Comando Vermelho (CV), das »Rote Kommando«, ist die größte Organisation mit einem Anteil von etwa 42 Prozent. Die anderen Kämpfer verteilen sich auf die Amigos dos Amigos (ADA), das bedeutet »Freunde der Freunde«, und auf das Terceiro Comando (TC), das »Dritte Kommando«, eine Abspaltung des Roten Kommandos. Der Chef des Roten Kommandos, Fernandinho Beira-Mar, sitzt im Bangu I, dem Hochsicherheitsgefängnis von Rio, und lenkt seine Truppen von dort per Handy. »Das Rote Kommando hat 800 Raketen, um Angriffe der Militärpolizei abzuwehren«, sagt Nanko. »Das ist ein größerer Krieg als in Palästina.« In Rio de Janeiro heißen die Kampfzonen deshalb auch »Gazastreifen«.
Dieses Wort verharmlost sogar noch, was in Brasilien passiert. Hier wurden in den letzten dreißig Jahren mehr als eine Million Menschen ermordet – im Irakkrieg waren 120 000 Tote zu beklagen, bei den Kämpfen in Afghanistan 24 000. Allein im Jahr 2012 kamen in Brasilien 53 800 Menschen bei Verbrechen ums Leben, die meisten von ihnen im Kampf von verfeindeten Drogengangs.
In meinem Kopf flimmern die Bilder von Bandenkriegen aus dem Spielfilm City of God, der für vier Oscars nominiert wurde. Kinder berauben und ermorden die Besucher eines Stundenhotels, vergewaltigen die Freundinnen ihrer Freunde und erschießen sich gegenseitig. Der Ich-Erzähler Buscapé, in der deutschen Synchronisation von Xavier Naidoo gesprochen, fasst die Geschichte so zusammen: »Das Leben in der Stadt Gottes war das Fegefeuer, jetzt ist es zur Hölle geworden.« Der Film beruht auf wahren Begebenheiten, die Paulo Lins in seinem gleichnamigen Roman beschrieben hat. Der brasilianische Schriftsteller ist selbst in einer Favela von Rio de Janeiro aufgewachsen. Sie heißt im echten Leben Cidade de Deus – »Stadt Gottes«. Und damit die Szenen der Gewalt glaubwürdig wirken, besetzte Regisseur Fernando Meirelles fast alle Rollen mit Jugendlichen aus Favelas – wie jenen, die mir jetzt bewaffnet gegenüberstehen.
Nanko van Buuren pflegt eine interessante Beziehung zu den Gangs. Einerseits arbeitet er mit ihnen zusammen, damit sie seine Projekte in den Favelas erlauben. Andererseits wirbt er ihnen Mitglieder ab. Denn sein Engagement hier beschränkt sich nicht auf den Aufbau einer Infrastruktur. Er leitet ein Programm Soldados nunca mais, »Nie mehr Kindersoldaten«: Es ermöglicht Angehörigen der Gangs eine neue Zukunft, löst sie mit psychologischer Hilfe aus der Kriminalität, bildet sie in einem Beruf aus. Auch hieran ist die Hilfsorganisation Ourchild e. V. aus Deutschland beteiligt. Das Projekt hat viel erreicht. Von den 3400 ehemaligen Kindersoldaten, die das Programm durchlaufen haben, etwa 350 im Jahr, kehrten nur 3,8 Prozent in den Untergrund zurück, eine sehr geringe Rückfallquote.
Warum dulden die Banden Nanko? Überwiegt bei ihnen die Gunst für das, was seine Organisation IBISS in ihren Vierteln aufbaut? Oder finden sie aufgrund der Armut, die weiter besteht, genügend Nachwuchs, sodass sie sich nicht um ein paar Abtrünnige sorgen? Ich nehme mir vor, den Niederländer bei passender Gelegenheit zu fragen. Jedenfalls hat er einflussreiche Verbündete. Heute begleitet ihn Adlas Ferreira. Der groß gewachsene Mann, den hier alle respektvoll mit Handschlag begrüßen, ist sein Chefberater beim Programm »Nie mehr Kindersoldaten«. Zu sagen, Ferreira habe selbst einmal zum Comando Vermelho gehört, ist etwa so korrekt wie: Lenin war auch mal bei den Kommunisten. Adlas Ferreira ist einer der Gründer des Roten Kommandos. Dafür saß er 21 Jahre im Gefängnis.
Er erzählt mir von den Zeiten, als in Brasilien eine Militärdiktatur herrschte, von 1964 bis 1985. »In den Zellen verbrachten wir viel Zeit zusammen, die politischen Gefangenen, die sich gegen die Diktatur aufgelehnt hatten, und die anderen, die aufgrund ihrer Armut gedealt oder geraubt hatten. Wir wehrten uns gegen Übergriffe von Aufsehern und Mitgefangenen. Daraus entstand eine neue Ideologie. Unser Motto hieß Paz, Justiça e Liberdade – ›Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit‹. So gründeten wir das Rote Kommando.«
In Brasilien finden sich Parallelen zu China selbst da, wo man sie gar nicht erwartet: Auch die Triaden, gemeinhin als »chinesische Mafia« bezeichnet, entstanden als Geheimgesellschaften, die sich gegen die Kaiser der Qing-Dynastie auflehnten.
Aber ist das Rote Kommando heute nicht einfach eine kriminelle Vereinigung von bewaffneten Drogenhändlern?
»Wir folgten unserem Vorbild, den Guerillas der FARC in Kolumbien. Wir wollten die brasilianische Politik beeinflussen. Aber wir mussten einen Weg finden, den Kampf zu finanzieren.« Tatsächlich wurde die FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia), berüchtigt für Hunderte von Entführungen mit hohen Lösegeldforderungen, bald mehr als nur ein Vorbild. Sie entwickelte sich zum Verbündeten – man kann auch sagen, zum Business-Partner. Denn Kolumbien gehört zu den drei Hauptproduzenten von Koka. Das liefert die FARC für Cash und im Austausch gegen Waffen an die Banden in Brasilien. Die extrahieren hier das Kokain aus den Kokablättern – ungestört, denn die Labore liegen in den Favelas, die von den Gangs kontrolliert werden. Das Endprodukt wird für viel Geld in Berlin oder Los Angeles verkauft – die wahrscheinlich profitabelste Handelskette der Welt. Um den politischen Kampf zu bezahlen? Heute eher umgekehrt: Parolen wie »Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit«, mit denen das Comando Vermelho weiter seine Drogenverkaufsplätze in Rio markiert, bemänteln das tödliche Geschäft, um das es eigentlich geht.
So direkt will Adlas Ferreira das nicht ausdrücken, aber auch ihm hat die ganze Linie nicht mehr gepasst, 2010 verließ er das Rote Kommando wegen »Meinungsverschiedenheiten über die politische Strategie« – und wechselte zu Nankos Hilfsorganisation IBISS. »Jetzt nehme ich die Kinder und bringe sie dazu, sich zu verändern«, sagt er. Seine Vergangenheit hilft ihm dabei: »Wenn ich mit ihnen spreche, schaue ich immer in ihre Augen, und die sagen mir: Wenn dieser Kamerad dreißig Jahre lang gedient hat und sich verändert, dann kann ich mich auch verändern.«
Adlas Ferreira ist der prominenteste Überläufer – aber längst nicht der einzige. Nanko sagt mir, ein Großteil seiner Mitarbeiter im Feld seien ehemalige Drogenbosse: »Die genießen bei denen, die noch dabei sind, die größte Glaubwürdigkeit.« So wie etwa Hugo Eduardo da Silva. Er trägt das Haar knapp geschoren, ist breitschultrig und stämmig. Er umgarnt jeden mit seinem Charme, sogar Kleinkinder, die er hier in der Favela Vila Nova über ihre Berufswünsche ausfragt: Die Jungs tendieren zur Fußballkarriere, die Mädchen wollen eher Lehrerin werden. Ein netter Typ – aber einer mit Vergangenheit. »Ich war elf Jahre bewaffneter Drogensoldat, mit 14 habe ich angefangen, mit 25 bin ich raus«, sagt er mir. »Seit fünf Jahren arbeite ich im Projekt ›Nie mehr Kindersoldaten‹. Wir wollen diese Leute retten und ihnen eine Chance geben, so wie ich sie bekam. Es ist schwierig, aus dem Drogenhandel rauszukommen, weil die Gesellschaft dich nicht akzeptiert.«
Hugo ist nicht der einzige ehemalige Kindersoldat, mit dem ich spreche in Rio de Janeiro. Doch den meisten fällt es schwer, über ihre Vergangenheit zu reden. Sie drücken sich allgemein aus oder tun so, als hätten sie bei allen brenzligen Situationen gerade unentschuldigt gefehlt. Hugo hingegen erzählt offen über sein Leben: »Es war klar, dass ich mich denen anschließe, denn meine vier großen Brüder gehörten bereits zur Drogengang. In den Jahren, in denen ich dabei war, sind mehr als hundert meiner Freunde getötet worden. Manche verbluteten in meinen Armen. Von den damaligen Freunden sind nur noch zwei am Leben, aber sie sitzen im Gefängnis. Mich selbst trafen vier Schüsse, einer in den Rücken, einer ins Bein, zwei in die Schultern.« Er zeigt die Stellen. »Ich hätte mehrmals in den Händen der Polizei sterben können.«
Was war das Schlimmste, was er erlebt hat? »Das war Weihnachten 2003. Auch als wir für die Drogengang kämpften, haben wir uns zum Fest immer getroffen. Das war meiner Mutter sehr wichtig. Wir sind ohne Vater aufgewachsen, er hat uns verlassen. Bis dahin hatte ich kein Weihnachten ohne meine Mutter und meine Brüder verbracht. An diesem Heiligabend wurde auf meinen Bruder und mich geschossen. Ich kam ins Krankenhaus, doch er war sofort tot. Mein erster Gedanke: Jetzt sitzt meine Mutter neben dem Strohbett des Christuskindes – und zwei Söhne sind nicht da, der eine tot und der andere angeschossen. Mein Bruder hat zwei Töchter hinterlassen.«
Hat er selbst jemanden getötet? Hugo stockt. Dann sagt er: »Also, das ist schwierig, darüber zu reden – ich führte das Rote Kommando in 13 Favelas an. Elf Jahre habe ich mitgemacht. Es gefällt mir nicht, darüber zu reden – aber das ist nicht möglich, dass man da nie jemanden getötet hat. Ich war Soldat. Ein Soldat steht dafür, zu töten und zu sterben. Mir gefällt es nicht, darüber zu reden. Aber kann es sein, dass ein Soldat im Krieg nicht tötet? Die Polizisten haben versucht, uns zu erschießen, wir haben versucht, sie zu erschießen. Manchmal kam es zu drei Schießereien am Tag, manchmal ging es die ganze Nacht hin und her. In diesem Moment fühlt man sich umzingelt, hat nur noch einen Gedanken: Man möchte lebend zu seiner Familie zurückkehren.«
Und wie kam er aus dem kriminellen Milieu heraus? »Ich habe immer öfter darüber nachgedacht, ob das wirklich das ist, was ich für mein Leben will. Ich wusste eigentlich schon, dass ich das nicht wollte, deshalb bin ich heute hier. Ich konnte nicht ins Einkaufszentrum gehen, ich durfte keine Pizza essen mit meiner Tochter – die Gefahr war zu groß, von Polizisten oder von Leuten aus rivalisierenden Gruppen erkannt zu werden. Meine Mutter bat mich aufzuhören, ebenso meine Frau. Lange schaffte ich es nicht, immer plagte mich der Gedanke: Wie kann ich für meine Familie sorgen? Ich habe eine Tochter, sie ist zehn Jahre alt, sie ist sehr schön. Heute kümmere ich mich auch um die Kinder, die mein Bruder hinterlassen hat. Wie kann ich meine Familie unterhalten, das war das Erste, was ich mit Nanko besprochen habe. Alle dachten, der wird in die Drogengang zurückkehren, dort bekleidet er eine gut bezahlte Spitzenposition.« Als Anführer im Roten Kommando bekam er umgerechnet etwa 16 000 Euro im Monat, sagt er. »Wenige Leute haben an mich geglaubt, Nanko war einer von ihnen. Heute habe ich nur noch das Geld, das ich mit meiner Arbeit für IBISS verdiene, aber es geht.«
Wir treffen wieder auf die bewaffneten Gangster, die wir am Eingang der Favela gesehen haben. Hugo versucht, sie mit seinen eigenen Erfahrungen zu überzeugen: »Wer von euch ist Vater? Du bist Vater. Wir wollen mit euch über eure Zukunft sprechen. Wie stellt ihr euch die Zukunft vor? Was soll mit euren Kindern passieren, wenn ihr nicht mehr da seid? Wie viele eurer Freunde sind schon gestorben?«
Einer antwortet: »Sehr viele. Wir lehnen uns gegen das Leben auf. Unsere Wirklichkeit ist das, was ihr hier seht.«
Hugo sagt: »Aber wie viele Kinder eurer Freunde habt ihr schon sterben sehen? Wenn du in diese Richtung dort gehst«, er zeigt mit dem Finger auf eine der Gassen, »kommst du an der Stelle vorbei, an der eine Kugel den Sohn von Chumbinho traf. Dort lag die Leiche des Sohns von Falecido da Maconha. Ihr habt diese Kinder leiden sehen. Wir sind hierhergekommen, um mit euch darüber zu sprechen, damit ihr euch Gedanken macht, was mit eurer Familie geschehen kann. Wie ihr wisst, war ich früher selbst verantwortlich für den Drogenhandel. Gott sei Dank bin ich draußen, aber wir wollen hören, was ihr darüber denkt. Wir wollen uns mit euch darüber unterhalten. Ihr solltet euch selbst eine Chance geben zu leben, aus der Kriminalität herauszukommen, zu arbeiten, eure Kinder großzuziehen. Sonst wird es für den Rest eures Lebens so bleiben.«
Nanko fragt einen der jungen Männer: »Wie alt bist du?«
»Ich bin 21. Die Situation ist verrückt. Das ist das Leben, das wir haben.«
Nanko will wissen, ob er Kinder hat, er antwortet nicht darauf.
»Dein Kind hat ein Recht auf einen Vater. Er sieht doch aus wie ein Vater, nicht?«, fragt Nanko in die Runde.
Hugo weiß mehr über ihn: »Glaubst du, dein Leben würde anders aussehen, wenn du selbst einen Vater und eine Mutter gehabt hättest, die für dich da gewesen wären?«
Eines anderes Gangmitglied meint: »Wir stecken in der Kriminalität, wir wissen, was geschehen wird. Wir können sterben, wir können fliehen, wir können töten. Das Leben ist so. Wir können im Gefängnis enden, aber die Verbrechen werden nicht aufhören. Kriminalität wird es immer geben.«
2. Oktober 2009, am Strand der Copacabana. Hunderttausende starren gebannt auf einen Großbildschirm, live werden Bilder aus Kopenhagen übertragen. Das Internationale Olympische Komitee entscheidet über die Vergabe der Sommerspiele 2016. Chicago ist im ersten Wahlgang ausgeschieden, daran konnten auch Barack und Michelle Obama nichts ändern, die eigens in die dänische Hauptstadt gereist sind. Tokio fiel in der zweiten Runde durch. Jetzt rennen nur noch zwei Städte gegeneinander: Madrid und Rio de Janeiro. Noch nie gingen die Spiele nach Südamerika. IOC-Präsident Jacques Rogge öffnet einen Umschlag, auf dem die olympischen Ringe zu sehen sind. Dann sagt er: »Rio de Janeiro!« Die Menschen am Strand springen vor Freude in die Höhe, bei vielen fließen die Tränen.
Zwei Wochen später jubelt keiner mehr: Einen Kilometer vom Maracanã-Stadion, in dem Eröffnungs- und Abschlusszeremonie der Olympischen Spiele gefeiert werden sollen, gelingt es dem Roten Kommando, einen Hubschrauber der Militärpolizei abzuschießen. Brennend stürzt er vom Himmel, vor laufenden Fernsehkameras. »Das entsprach für uns dem, was für die Amerikaner der 11. September bedeutete«, sagt mir Hauptmann Márcio de Almeida Rocha, den ich in der Polizeistation der Favela Santa Marta treffe. Er überbrachte damals die Todesnachricht an die Familien seiner beiden Kollegen, die in dem Hubschrauber verbrannten. »Das war für uns der Warnschuss: Wir mussten sofort handeln, die Unsicherheit beenden.«
Nachdem Márcio Rocha das erlebt hatte, meldete er sich freiwillig zu einer neuen Polizeieinheit, die gerade gebildet worden war: der Unidade de Polícia Pacificadora (UPP), wörtlich »Einheit der Befriedungspolizei«. »Vor uns gingen die Polizisten in Favelas, um Verbrecher zu verhaften oder zu töten, trauten sich aber nicht, dort zu bleiben«, erklärt er. »Wir, die UPP, hingegen sind dort, um Leben zu retten, um die Bewohner zu befreien. Wir sind 24 Stunden für sie da.«
Der Hauptmann leitet die UPP in der Favela Santa Marta, der ersten, in die eine Unidade de Polícia Pacificadora einzog. Am Eingang stehen martialisch aussehende Militärpolizisten in kugelsicheren Westen, die Maschinenpistolen geschultert. »Vor der Befriedung war Mord hier in Santa Marta Routine«, sagt Hauptmann Rocha. »Jeden Monat wurden fünf bis zehn Menschen getötet. Viele Morde wurden nicht einmal registriert, die Opfer verschwanden einfach, die Drogenhändler verbuddelten sie irgendwo in der Favela. Doch seit wir hier sind, zählen wir keinen Mord mehr in Santa Marta. Heute können die Bewohner in Ruhe arbeiten, Kinder können vor dem Haus spielen, ohne Opfer eines verirrten Geschosses zu werden.« Als »verirrte Geschosse« bezeichnet man die Kugeln, die nicht gezielt auf jemanden abgefeuert werden, sondern in einer Schießerei Unbeteiligte treffen, in Brasilien sehr oft Kinder. »Die Familien können nach Hause kommen, ohne sich zu sorgen, in einen Kampf zwischen verfeindeten Drogenbanden zu geraten – oder zwischen Polizei und Drogenbanden.«
So ganz traut Rocha dem Frieden aber noch nicht. Als ich ihn auf einer Treppe in der Favela Santa Marta befrage, bewachen uns drei seiner Kollegen. Sie schauen nervös um sich und halten die Hand an der Pistole.
Ich spreche ihn auf die Vorwürfe an, Polizisten in Brasilien seien korrupt und würden sogar mit Drogenkriminellen kooperieren, wenn sie genügend Geld dafür bekämen. Er bestreitet solche Fälle nicht, sagt aber, auch hier habe die UPP etwas geändert: »Wir sind immer an einem einzigen Ort. Wenn sich ein Kollege bestechen lässt, fällt das den Bewohnern auf, und sie zeigen ihn an.«