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Die Sage
von
Trojas Fall

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Die
Sage

FRANZ FÜHMANNvon

Trojas

Mit BildernFall

von Susanne Janssen

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Der Apfel der Eris

Das Urteil des Paris

Die Atriden sammeln ein Heer

Die Griechen landen vor Ilion

Der Groll Achills

Der Streit der Könige

Der Streit auf dem Olymp

Der Kampf zwischen Paris und Menelaos

Die Pallas stiftet Pandaros zum Vertragsbruch an

Diomedes verwundet zwei Himmlische

Frieden im Waffengang

Hektor kämpft mit dem Großen Ajax

Der Waffenstillstand

Hektor schlägt die Griechen

Die Griechen senden nach Achill

Die Troer siegen abermals

Die Troer dringen ins griechische Lager

Hera überlistet Zeus

Poseidon führt die Griechen zum Gegenstoß

Zeus greift ein

Der Kampf um die Schiffe

Achill schickt die Myrmidonen ins Feld

Jammer um Patroklos

Achill erscheint im Feld

Hephaistos schmiedet Achill eine neue Wehr

Achilles wird versöhnt

Achill sucht Hektor

Achilles kämpft mit dem Flussgott

Die Schlacht der Götter

Ilion schließt seine Tore

Achill tötet Hektor

Achill bestattet den Patroklos

Thersites erzählt von Prometheus

Priamos und Achill kommen überein

Das Pferd des Odysseus

Der Tod Achills

Athene schlägt den Großen Ajax mit Wahnsinn

Odysseus bereitet eine List vor

Der Tod des Poseidonpriesters

Die Griechen zerstören Troja

Die Griechen treten die Heimfahrt an

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Neun Jahre hatte der Kampf um Troja schon getobt; neun Jahre lang hatten Griechen und Trojaner in rasendem Metzeln die Erde mit so viel Blut getränkt, dass die Flüsse und Bäche diesen Landstrich nur widerwillig und in höchster Eile durchströmten; neun Jahre lang hatte Volk gegen Volk in wildestem Grimm gewütet, und nun waren sie beide, Angreifer wie Verteidiger, des grausamen Handwerks müde und sehnten sich nach Frieden und stillem Glück. Denn der Anlass des männerverzehrenden Schlachtens war ja ein Nichts gewesen: Ein griechischer Stamm hatte, wie es zu jener Zeit beinah Brauch war, den Trojanern eine Tochter ihres Königs Priamos geraubt, worauf der troische Prinz Paris sich Helenas, der Gemahlin des Spartanerkönigs Menelaos, bemächtigt und sie übers Meer in seine Vaterstadt am Fuß des Ida entführt hatte, und dieses Frauenraubes wegen war denn ein Krieg entbrannt, der neun Jahre schon dauerte und dessen die Völker nunmehr müde waren. »Warum für Helena sterben?«, so fragten sie.

Immer heftiger drängten die griechischen Krieger zur Heimkehr, denn den Schiffen begann das Holz stockig zu werden, und Seile wie Segel drohten zu vermodern, und immer heftiger drängte auch das Volk Trojas, das unter der harten Belagerung ächzte, seine Fürsten, den Kampf abzubrechen und die Geraubte herauszugeben. Dem Willen der Völker nach Versöhnung und Frieden hätte schließlich nichts mehr widerstanden; Zeus aber, der König der Götter, dieser urbösen oberen Wesen, die in ihren blinden Launen mit Menschen spielen wie ein Knabe mit gerupften Käfern und Fliegen, Zeus hatte, um seinem Eheweib Hera gefällig zu sein, den Untergang Trojas beschlossen und wollte von seinem Beschluss nicht mehr lassen. Er reizte darum die Heerführer der Griechen, vor allem ihren Oberbefehlshaber Agamemnon, zu wilder Gier nach Beute und Schätzen an. »Was willst du dich von der Stadt wenden und in die Heimat zurückkehren, mächtiger König«, so redete Zeus Agamemnon im Traum an, »was willst du zurückkehren, ehe du nicht alle Güter des üppigen Troja erobert hast? Höre auf mein Wort und rüttle die Völker der Griechen noch einmal zum Kampf auf; das stolze Troja ist reif zum Fall, ein kraftvoller Ansturm genügt, seine Mauern niederzustürzen!«

So redete Zeus zu Agamemnon; in Trojas Burg Ilion aber erschien Ares, der ungeschlachte stierwütige Gott des Krieges und der Vernichtung, der im Wachen wie im Schlafen stets den ehernen Helmbusch trägt, und versprach Hektor, dem Führer der Trojaner, den Ruhm und die Ehre eines Sieges mit dem Schwert. »Ihr werdet den Feind niederwerfen, seine Schiffe verbrennen und all sein Hab und Gut nach Troja schleppen, wenn ihr nur tapfer streitet«, so redete er. Denn auch die unsterblichen Götter waren in Zwietracht geraten und nahmen je für die Griechen oder die Troer Partei. Mit einem Streit unter ihnen, den Oberen, hatte, wie so mancher Krieg, einst auch dieses Unheil begonnen, und so soll denn von dem bösen Ursprung berichtet sein.

Der Apfel der Eris

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Das Urteil des Paris

Auf einem Fest in der Felsenburg Pelion – es war dies die Hochzeitsfeier der Meergöttin Thetis mit dem Myrmidonenkönig Peleus, dem künftigen Vater des hochberühmten Helden Achilles –, auf dieser Hochzeitsfeier also, zu der alle Gottheiten außer einer, der Eris, geladen waren, rollte ebendiese Eris, die schlangenhaarige Göttin des Neids und der Zwietracht, Tochter der Nacht und Schwester des völkerwürgenden Ares, einen goldenen Apfel mit den eingegrabenen Worten »Der Schönsten!« unter die fröhlich Zechenden und stahl sich sogleich mit hämischem Lachen wieder davon. Sofort sprang Hera, die Schwester und Gattin des Zeus und Königin aller Unsterblichen, von ihrem Sitz und wollte den Apfel ergreifen, doch gleichzeitig mit ihr streckten Pallas Athene, die eulenäugige Göttin der Weisheit, des Webstuhls, der Kampflist und vieler anderer Künste, und Aphrodite, die aus dem Silberschaum des zyprischen Meeres geborene Göttin der Liebe, ihre Hand nach dem Geschenk der Zwietrachtstifterin aus. Vergebens berief sich Hera auf ihre Königinnenwürde; keine der Unsterblichen wollte der anderen weichen, ja die Göttinnen drohten schon, wie es oft ihre Art war, einander in die Haare zu fahren und mit ihren scharfen Nägeln Wangen und Brust der Nebenbuhlerinnen zu zerfleischen, da gebot Zeus aufgebracht mit hallender Stimme Ruhe und wies, da er sich scheute, selbst einen Schiedsspruch zu fällen, auf die Erde hinab nach jenem kleinasiatischen Küstenstrich nahe den Dardanellen, wo Paris, ein Sohn des Troerkönigs Priamos, die Rinderherde seines Vaters in einem schattigen, nach süßem Gras und Klee duftenden Tale des Hochgebirges Ida weidete. »Dieser edle, wohlgestaltete Jüngling, dessen aufrechten Sinn ich kenne, soll euer Schiedsrichter sein«, bestimmte Zeus, »seinem Spruch habt ihr euch ohne Murren zu fügen, als wäre er mein eigenes Wort! Hermes, der Götterbote, mag euch geleiten; handelt nun ungesäumt, damit dieser widrige Zwist rasch überwunden sei und unser Fest wieder fröhlich werde!«

Also befahl Zeus, und die Göttinnen waren einverstanden, denn jede war von sich überzeugt, des jungen Paris Herz und Urteil zu gewinnen. So eilten sie denn, schneller als der Blitz niederfährt und dennoch leiser und sanfter als der Fall einer Flocke, zur Erde hinab, und Hermes, der göttliche Herold mit den geflügelten Schuhen und dem geflügelten flachen Wanderhut, geleitete sie. Paris erstarrte vor Schreck, als plötzlich aus dem rauschenden Nichts der Luft vier Himmlische vor ihn hintraten; er erbleichte, sein Haar sträubte sich, und er stürzte auf die Knie und berührte mit der Stirne den Boden. Hermes hieß ihn mit freundlichen Worten aufstehen und sich nicht ängstigen, dann berichtete er dem Prinzen vom Streit im Olymp und der Entscheidung des Götterkönigs und überreichte dem Verschreckten den goldenen Apfel. »Ich bin doch aber nur ein Sterblicher«, erwiderte Paris voll Furcht und Grauen, »wie könnte ich da über die Oberen richten, und gar über drei der Allerhöchsten! Ich werde mich bemühen, den goldenen Apfel möglichst genau in drei Teile zu teilen, und jeder der Herrinnen ein Drittel überreichen; mehr kann unmöglich meine Pflicht sein!« So stammelte Paris; Hermes aber fuhr ihn mit barschen Worten an. »Widersetze dich ja nicht dem Willen des Allvaters«, so sprach der Götterbote, »gehorche prompt und hüte dich, dass dir der Allgewaltige nicht grolle! Er hat befohlen, dass du der Schönsten den Preis zusprichst; suche also keine dummen Ausflüchte, sondern handle nach seinen Worten!«

Der arme Paris verfluchte sein Geschick. Er wagte nicht, die Augen zu den Göttinnen zu erheben, und wusste nicht, was er tun und wie er urteilen sollte. Wie immer er sich auch entschied, so dachte er, ob für Hera, Athene oder Aphrodite, er würde in jedem Fall den unauslöschlichen Zorn der beiden ausgeschlagenen Göttinnen auf sich ziehen; und weigerte er sich, ein Urteil zu fällen, würde er sich Zeus zum Feind machen, und das hieße günstigstenfalls sein junges Leben verlieren, wenn nicht gar zu ewigen Qualen verurteilt sein. Hera merkte die Verzweiflung des prinzlichen Hirten sehr wohl. Sie legte ihren Arm um seine Schulter, führte ihn, der sich von ihr willenlos leiten ließ wie ein loses Blatt vom Wind, ein Stückchen abseits und sprach: »Ich weiß wohl, dass du dich längst für mich entschieden hast, Paris, jedoch zugleich den Zorn meiner Nebenbuhlerinnen fürchtest. Nun, vergiss nicht, dass ich neben Zeus auf dem Götterthron sitze und immer meine schützende Hand über dich halten werde. Wenn du mir den Erisapfel zusprichst, gelobe ich dir mit meinem Göttereide, dich zum Reichsten aller Irdischen zu machen und zum Herrn aller Lande ostwärts von Troja bis hin zum Ozean, also über den Erdteil, den man Asien nennt! So sei denn ohne Furcht und Sorgen und erkenne mir ungesäumt den Preis zu!«

So sprach Hera, und ähnlich redete Athene zu Paris, der, obwohl doch sonst nicht blöde, noch immer nicht wagte, seine Augen zu den Göttinnen zu erheben und hilflos mit gesenktem Haupt vor den strahlenden Schönen stand. »Vergiss nicht, dass mich keines Weibes Schoß geboren hat, sondern dass ich waffenklirrend dem Haupt des Zeus entstiegen und darum seine Lieblingstochter bin«, so sprach die eulenäugige Pallas, »meine Widersacherinnen werden, sosehr sie sich auch spreizen und dich einzuschüchtern versuchen, dir keinen Schaden zufügen können, auch Hera nicht! Gib mir den Preis, und ich will dich zum weisesten Manne der Welt und zum Sieger in allen Schlachten machen, so dass dein Ruhm bis in die Ewigkeit erklingen wird!«

So redete Athene, und Paris stand noch immer unentschlossen, da fasste Aphrodite, die Göttin der Schönheit und der Liebe, nach seiner Hand, und als sie ihn berührte, durchschauerte den Prinzen ein Zauber; er fühlte Aphrodites Hand wie ein süßes Feuer auf der seinen und hob das bisher gesenkte Haupt und sah Aphrodites Angesicht und schaute ihr Lächeln wie das Morgenrot über dem weißen geschweiften Inselstrand, und Aphrodite beugte sich zu seinem Ohr und flüsterte: »Paris, wenn du mich als Siegerin krönst, will ich dir die schönste Frau der Welt zur Gemahlin geben: Helena, die Gattin des Menelaos, die alle Männer der Erde und des Olymp im Wachen wie im Traum begehren. Was frommt dir Weisheit, und was nützt dir Macht, wenn die Liebe dich flieht! Darum lausche auf die Stimme deines Herzens und rufe mich als Siegerin aus!«

»Aber wie könnte Helena mein Weib werden, da sie doch schon einem Gemahl gehört?«, fragte Paris, und Aphrodite lachte hellauf und sprach: »O Hirt des Idagebirges, wie töricht du fragst! Ich bin doch die Göttin der Liebe, Paris, und diese Macht hat bisher noch jedes atmende Geschöpf bezwungen! Vertraue nur meiner Kunst und suche eine Gelegenheit, ein Schiff nach Sparta zu führen, alles andere überlass getrost meinem Wirken!«

Da Paris dies vernahm und da die Göttin ihr Versprechen beschwor, reichte der Troerprinz ihr den goldenen Apfel und sprach: »Der Schönsten!« Triumphierend hob die Göttin der Liebe den Apfel hoch, dass er in der Sonne blitzte; Hera und Athene aber wandten sich zornentbrannt um und gingen Arm in Arm davon, und Hera sprach: »So soll denn um dieses Tölpels willen Troja verflucht sein und im Krieg verbrennen; seine Mauern sollen geschleift werden, seine Söhne sämtlich in den Staub sinken und seine Kinder und Frauen als wehrlose Beute den Feinden zufallen! Fluch jenem Sterblichen, der mir, der Götterkönigin, diesen Schimpf angetan; Fluch der Stadt, die ihn beherbergt, und Fluch dem Volk, das ihn aufgezogen! Die Hunde mögen sein Fleisch und das seiner Brüder fressen und die Geier seine Knochen über dem Schlachtfeld zerstreuen; nicht ungestraft soll ein Erdenwurm Heras Schönheit missachtet haben!« So zürnte die Götterbeherrscherin, und Athene stimmte in ihre Verwünschungen ein; Aphrodite aber segnete Troja, und Ares, der wüste Geselle, der die Schaumgeborene ungestüm liebte, trat an ihre Seite und versprach dem Priamosvolk Beistand und Schutz. Zeus wiederum, von dem die grollenden Göttinnen blutige Genugtuung ob ihrer Schmach gefordert hatten, beschloss Trojas Untergang. Denn böse und unbekümmert um menschliches Glück planen und handeln die Oberen, das sollten die Griechen wie die Trojaner nur allzubald erfahren: Griechen aus Salamis, von Athene angestiftet, entführten eine trojanische Prinzessin; der Königssohn Paris erbot sich, diese Schmach zu rächen, und rüstete eine stattliche Kriegsflotte aus, doch er steuerte mit ihr nicht Salamis, sondern Sparta an, wo König Menelaos, damals ein guter Freund des mächtigen und reichen Troja, herrschte. Acht Tage weilte Paris als geehrter und vielgefeierter Gast in der Königsburg; in der neunten Nacht aber entführte er Helena, die Gemahlin des Menelaos, die, von Aphrodites Zauber geschlagen, sich schon beim ersten Blick blindlings in den jungen Troerprinzen mit den langen Augenwimpern und dem gekräuselten schwarzen Haar verliebt hatte und nur darauf brannte, ihm anzugehören. So floh sie denn, nachdem sie noch einen großen Teil des Königsschatzes an sich genommen hatte, willig mit ihrem Entführer zur Flotte und gab sich ihm noch auf dem nordostwärts stürmenden Schiff, an dessen Bug die Galionsfigur der nackten Aphrodite prangte, hin, und als die Geraubte Troja betrat, waren alle Männer dermaßen von ihrer Schönheit geblendet, dass sie den feierlichen Schwur ablegten, diese betörendste aller Erdentöchter niemals den Griechen zurückzugeben, was für Folgen auch immer aus dieser Haltung erwachsen sollten.

Die Atriden sammeln ein Heer

Als Menelaos am nächsten Morgen der Schmach gewahr wurde, die sein Gastfreund ihm angetan, eilte er nordwärts über das Pelopsland zu seinem Bruder Agamemnon, dem König von Mykene, und forderte ihn auf, ihm Beistand zu leisten und ein Heer wider Troja aufzustellen. Sparta, über das Menelaos herrschte, war zu jener Zeit die stärkste Macht der Griechen, die ein Volk waren, aber, in Stämme geteilt und jeweils von einem König regiert, voneinander abgeschieden in bergumschlossenen Tälern oder auf meerumwogten Inseln lebten. Wie Menelaos über Sparta, so herrschte Agamemnon über Mykene, das nahe dem Golf von Korinth gelegen war. Agamemnon scheute einen Krieg mit dem wohlbefestigten, mit vielen asiatischen Reichen verbündeten Troja; er schickte eine Gesandtschaft aus, um über Helenas Rückgabe zu verhandeln, doch seine Boten wurden, getreu jenem Schwur, den die Troer bei Helenas Einzug in die Stadt geleistet hatten, mit Schmähworten abgewiesen und zurückgeschickt. Da entschloss sich Agamemnon zum Krieg.

Die Brüder, nach ihrem Vater Atreus auch Atreussöhne oder Atriden genannt, zogen nun durch die griechischen Lande und warben um Beistand, und da alle Stämme ihnen freundschaftlich verbunden waren und beider Macht auch fürchteten, war die Reise erfolgreich. Als Ersten gewannen sie den hochbetagten König Nestor aus Pylos, der als weisester aller Herrscher galt. Mit seinem helfenden Rat gelang es den Atriden, fast alle Könige der Griechen zum Heerzug gegen Troja zu bewegen, so Tlepolemos von Rhodos, der neunzig Schiffe mit Kriegern zu senden versprach, sodann den hünenhaften und bärenstarken Ajax von Salamis, der zum Unterschied vom hurtigen Ajax von Lokris der Große Ajax genannt wurde; weiter gewannen die Brüder Menestheus von Athen, Idomeneus von Kreta, Diomedes von Argos und all die Könige von Orchomenos, Böotien, Phökis, Euböa, Elis, Ormenion, Syma, Argisse, Kyphlos und zahlreichen anderen Städten und Inseln, und jeder Herrscher führte sein Kriegsvolk samt reichen Vorräten an Getreide, Schlachtvieh, Öl und Wein auf rotgeschnäbelten Schiffen zur Sammelstelle.

Sammelplatz des vereinten Expeditionsheeres war die Hafenstadt Aulis an Böotiens Küste gegenüber der langgestreckten Insel Euböa. Das Meer vor Aulis’ Mauern wogte von Masten wie ein Wald, und wenn Wind aufkam und in die Segel fuhr, knatterte ihr vieltausendfaches Flügelschlagen wie Donner über die Wogen. Scharen von Geiern kreisten, ohne die Schwingen zu rühren, stundenlang über der schwimmenden Stadt, um sich dann jählings auf die Reste des Mahles zu stürzen und sich dabei mit Bussarden und Raben im Kampf zu hacken.

So lagerten schließlich fünfhunderttausend Griechen in Aulis; auch der anfangs widerspenstige König Odysseus von Ithaka war mit zwölf Schiffen zu ihnen gestoßen, und es fehlte nur noch ein einziger König: Achilles von Phthya in Thessalien, der Führer der schlachterfahrenen Myrmidonen, ein erst sechzehnjähriger, doch schon von solchem Ruhm bekränzter Held, dass die Griechen ohne ihn nicht in das ungewisse Abenteuer ziehen wollten. Phthya war denn auch eine der ersten Städte gewesen, die Agamemnon und Menelaos aufgesucht hatten, um Kämpfer zu werben, allein sie hatten dort erfahren müssen, dass derjunge König über Nacht spurlos verschwunden war. »Niemand anderes als seine Mutter, die Meergöttin Thetis, kann ihn entführt haben«, hatte der völlig verstörte Vater des Achilles, der greise Myrmidonenfürst Peleus, erklärt, »sicher fürchtet sie, dass ihr, die schon sechs Söhne im Krieg verloren hat, nun auch noch das geliebte jüngste Kind genommen werden könne, denn Zeus selbst hat unserem Sohn einst die Wahl zwischen einem langen, friedvollen Alltagsdasein und einem kurzen, aber taten- und ruhmreichen Heldenleben gewährt, und der Unbändige hat sich ohne Zögern für das Letzte entschieden! Nun ist er seit gestern Nacht verschwunden, ohne eine Spur hinterlassen zu haben, und ihr müsstet schon, mächtige Könige, ins blaue Meer zum Muschelpalast der Göttin hinuntersteigen, wenn ihr nach ihm forschen wollt!«

So hatte Peleus gesprochen, und es war in der Tat Thetis gewesen, die ihren Sohn entführt hatte, um ihn vor dem drohenden Verderben zu retten, denn seit sie Achill unter dem Herzen getragen, wusste sie, dass ihm, wenn er nach Troja ziehe, der Schlachttod im fernen Land bestimmt war. Sie hatte darum sofort nach ihrer Niederkunft versucht, dem Neugeborenen Unsterblichkeit zu verleihen, und ihn sechs Nächte hindurch in einem himmlischen Feuer gebadet, um alles aus seinem Fleisch auszubrennen, was vom Vater her sterblich an ihm war; in der siebten Nacht jedoch, als die Göttin ihr Werk fast vollendet glaubte, war Peleus aus dem Schlaf gefahren und hatte entsetzt das nackte Knäblein im Feuer sich winden gesehen, und ehe die überraschte Göttin dem Gemahl ihr seltsames Tun hätte erklären können, war Peleus, die grausame Mutter verfluchend, ans Feuer gesprungen und hatte den Säugling mit einer Zange aus den Flammen gezogen und damit wider Willen einen verwundbaren Teil an ihm belassen: die von der Zange berührte Ferse des rechten Fußes. Die Mutter war betrübt von ihrem unverständigen Gemahl gewichen und hatte sich in ihr schimmerndes Meerreich zurückgezogen; der junge Achill aber war vom Vater zu dem berühmten Arzt Cheiron in Pflege gegeben und von diesem ausschließlich mit dem Mark von Bären, den Herzen von Löwen und den Schlegeln der schnellsten Hirsche genährt worden, so dass der Knabe sich schon mit sechs Jahren als kühner Jäger und Krieger beweisen und mit fünfzehn Jahren von dem alternden und nach Thetis’ Scheiden auch menschenscheuen und vergrämten Peleus zum König berufen werden konnte. Nun aber war er verschwunden, und niemand kannte seinen Aufenthaltsort.

Schon drohte das Griechenheer sich aufzulösen, da erschien Athene Agamemnon im Traum und enthüllte ihm, dass Thetis ihrem Sohn Achill mädchenhafte Anmut verliehen, ihn in Frauengewänder gehüllt und unter der Mägdeschar des ihr befreundeten Königs von Skyros, einer gebirgigen Marmorinsel im Nordmeer, verborgen hatte. Sofort schickte Agamemnon den listigschlauen Odysseus, den weisen Nestor und den Großen Ajax nach Skyros, den jungen Helden zur Teilnahme am Kriegszug zu bewegen. Die Gesandten durchstöberten Stadt, Palast und Hafen, doch sie fanden Achilles, der seiner geliebten Mutter keine Bitte abschlagen konnte, und sich, wenn auch zähneknirschend, ihrem Willen beugte, nicht aus den Dienerinnen heraus. Da hieß Odysseus die Mägde sich versammeln und breitete eine Fülle von Schätzen und Schmuckstücken vor sie hin:juwelenbestickte Gürtel, kunstvoll gefärbte Sandalen aus weichestem Leder, wollene Mäntel, Purpurgewänder, Krüge aus Gold, Armspangen, Ringe, Ketten und anderes Silbergeschmeide, und, halb unter Tüchern und Schalen verborgen, auch einen Schild und ein Schwert. »Nehmt euch, ihr Mägde, ein Stück, das euer Herz begehrt«, rief Odysseus, gleichzeitig aber hieß er vor dem Palast Alarm schlagen und Waffen wider Waffen haun. Als die Mägde das Kampfgetöse vernahmen, ließen sie ihre rasch errafften Schätze fallen und flohen erschrocken in eine Ecke, ein Mädchen jedoch bückte sich nach dem Schwert und dem Schild und schickte sich an, vor den Palast zu eilen. So ward Achilles erkannt und vermochte sich nun dem Werben der Könige nicht mehr zu entziehen; er kehrte nach Phthya zurück, rüstete ein Heer und steuerte mit seinen Myrmidonen, dem Schrecken der Schlachten, auf fünfzig schwarzgestrichenen, mit schwarzen Masten und schwarzen Segeln bestückten hochbordigen Schiffen nach Aulis zum griechischen Sammelplatz.

Die Griechen landen vor Ilion

Da nun die Streitmacht vereint war, wählten die Könige vor der Abfahrt Agamemnon zum Oberbefehlshaber über Heer und Flotte, doch Idomeneus, der stolze König der Kreter, drohte mit seinen hundert Schiffen wieder zur Heimat zurückzukehren, wenn Agamemnon den Oberbefehl nicht mit ihm teile. Agamemnon konnte den Kreter, der das größte Kontingent aller Stämme stellte, nicht missen und fügte sich, dafür übernahm er noch zusätzlich den Befehl über das Landheer und bestimmte Odysseus und Diomedes zu seinen Stellvertretern; den Befehl über die Flotte erhielt Achill, und sein Gehilfe wurde der Große Ajax. Bei günstigem Wind stach die Flotte in See, durchquerte mit knatternden Segeln die windgepflügte Ägäis und landete schließlich an einem flachen Küstenstrich, von dem sich eine grasbewachsene, von einem hufeisenförmigen Gebirgszug und zwei breiten Strömen, dem Skamandros und dem Simoeis, eingefasste Ebene zwei Wegstunden weit bis zu Trojas mauerumwehrter Festung Ilion zog. Hier wurden die Schiffe an Land gebracht und wohl ausgerichtet in die Ebene hinein, aber auch den Hang hinauf aufgestellt, so dass es aussah, als ständen sie sowohl neben- als auch übereinander, und zwar in solcher Ordnung, dass zwischen ihren Blöcken schnurgerade Straßen und Gassen sich zogen, durch die man wandern konnte wie durch die Straßen einer hügelansteigenden Stadt. Unter jedes Schiff waren Steinplatten gelegt, dass sein Rumpf auf dem feuchten Boden nicht modre, und vor diesem stadtartigen Schiffsblock wurde nun in die Ebene hinein das Heerlager aufgeschlagen, das einer volkreichen Metropole in nichts nachstand. So weit das Auge nur blicken konnte, reihten sich, stammweise gegliedert, die Gevierte der schilfgedeckten Lehmhütten um die festen Häuser der Fürsten und Könige; Vorratshallen und Scheunen schlossen sich an; Keller und Brunnen waren gegraben, Opferaltäre rund um den geräumigen Ratsplatz gebaut und sogar eine Arena war angelegt worden, weil die Achaier, wie Griechenlands Söhne sich gern nannten, selbst im Feld die gewohnten sportlichen Spiele und Wettkämpfe wie Wagenrennen, Schnelllauf, Bogenschießen, Diskuswurf, Ringen, Faustkampf und Speerschleudern nicht missen wollten. Schließlich schützten ein Erdwall und eine Brustwehr und davor ein tiefer, mit spitzen Pfählen bestückter und nur vor dem Tor zu einer passierbaren Furt aufgeschütteter Graben die Lagerstadt, aus der neun Jahre lang das Griechenheer sich ergossen hatte, die Festung Ilion zu stürmen, und neun Jahre lang war so viel Blut in das stöhnende Erdreich, auf dem kein einziger Halm mehr gedieh, gesickert, dass die früher so sanften Wasser des Simoeis und des Skamandros nur zornschäumend diesen Landstrich durchströmten und eilten, ins friedliche Meer zu münden. Neun Jahre lang war Krieg gewesen, und das Volk war des Schlachtens schon dermaßen müde, dass die Griechen im zehnten Frühjahr in See gestochen und in die Heimat zurückgekehrt wären, hätte Zeus nicht ihre Führer und hätten die Führer nicht ihre Stämme tollgierig nach Beute und Reichtum gemacht. So rüsteten nun die Achaier, nachdem sie Monate hindurch ihr Lager nicht verlassen hatten, wieder zum Großangriff auf Trojas Tore, und Agamemnon, ihr Oberbefehlshaber, und einige andere Könige, darunter Achilles, Diomedes, Idomeneus und der Große Ajax, waren so wildgelüstig nach Mehrung ihres Besitzes, dass sie einige Tage vor dem angesetzten Sturm das fernab am Meer gelegene, neutrale und bislang vom Krieg verschont gebliebene Städtchen Chryso überfielen, die völlig überraschten Männer niederhieben, die Häuser verheerten und alles Hab und Gut der kleinen Stadt zu den Schiffen schleppten. Wie es Brauch war, teilten die Krieger die Beute sofort unter sich auf; dem Achilles wurde die schöne Jungfrau Briseis samt vier goldenen Schüsseln und Pokalen zugesprochen; Agamemnon aber begehrte, nebst reichem Tempelgeschirr, die wider alles Herkommen und wider alle Sitte geraubte Tochter des Apollonpriesters Chryses, Chryseïs mit Namen, als sein Eigentum und führte die bitterlich weinende und um Schonung flehende Priestertochter als Sklavin in sein Haus aus Holz und Stein.

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Der Groll Achills

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Der Streit der Könige

Als Chryses, der Priester des blauhaarigen Apollon, aus der Betäubung erwacht war, in die ihn der Raub seiner Tochter gestürzt hatte, wand er eine Lorbeerranke, das Zeichen der Unverletzlichkeit, das Herolden und Gottesdienern zukam, um seinen Priesterstab, trug an Gold und Schmuck zusammen, was er in dem ausgeplünderten Städtchen noch vorfand, und machte sich auf den weiten Weg zu den Griechen. Dort angekommen, warf er sich Agamemnon zu Füßen und flehte ihn an, ihm die Tochter auszulösen. Agamemnon aber, von Habsucht besessen und auch in den Liebreiz der Chryseïs vergafft, entriss dem Priester die mitgeführten Lösegüter und wies ihn mit Schmähworten aus dem Haus. »Wage nicht, dich jemals wieder hier blicken zu lassen und um das Mädchen zu jammern, störrischer Alter«, so herrschte er ihn an, »ein nächstes Mal würden dich weder Stab noch Lorbeer vor einem Strafgericht schützen!«

Chryses wandte sich wortlos ab und ging trauernd an der Küste zu seiner zerstörten Heimatstadt zurück, und über das Brausen der Wogen hin sandte der Vater flehende Worte zu Apollon und beschwor ihn, den Frevel zu rächen, der seinem Tempel und Priester widerfahren war. »Erhabener Gott der Bogenkunst, des Gesangs und des Feldbaus, o Apollon Smintheus, der du die schädlichen Mäuse und Ratten vertilgest«, so betete der Alte, »höre auf mein Flehen und sende, nie Fehlender, deine Pfeile ins Heer der Ruchlosen, dass sie schändlich verenden wie Ungeziefer, das man mit den Füßen zertritt!«