Colm Tóibín

Marias Testament

Roman

Aus dem Englischen von
Giovanni und Ditte Bandini

Carl Hanser Verlag

Die englische Originalausgabe erschien

2012 unter dem Titel The Testament of Mary

bei Viking in London.

ISBN 978-3-446-24539-6

© Colm Tóibín 2012

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2014

Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München unter Verwendung eines Gemäldes von Gerhard Richter (1995) © Gerhard Richter/ bpk, Hamburger Kunsthalle, Elke Walford

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

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Für Loughlin Deegan

und Denis Looby

Sie tauchen jetzt häufiger auf, die beiden, und bei jedem Besuch wirken sie ungeduldiger, mit mir und mit der Welt. Sie haben etwas Hungriges und Rohes, etwas Brutales, das in ihrem Blut wallt, das ich schon früher erlebt habe und wittern kann, so wie ein Tier, das gejagt wird. Doch mich jagen sie jetzt nicht. Nicht mehr. Ich werde versorgt und leise befragt und beobachtet. Sie glauben, ich wüsste nicht, wie verworren ihre Wünsche sind. Aber nichts entgeht mir jetzt, außer dem Schlaf. Der Schlaf flieht mich. Vielleicht bin ich zu alt zum Schlafen. Oder kann dem Schlaf nichts mehr abgewinnen. Vielleicht brauche ich nicht zu träumen oder mich auszuruhen. Vielleicht wissen meine Augen, dass sie schon bald für immer geschlossen sein werden. Wenn ich muss, werde ich wach bleiben. Ich werde diese Treppe herunterkommen, wenn der Morgen anbricht, wenn der Morgen seine Lichtstrahlen in dieses Zimmer eindringen lässt. Ich habe meine Gründe, zu wachen und zu warten. Vor der letzten Ruhe kommt dieses lange Erwachen. Und es genügt mir zu wissen, dass es einmal enden wird.

Sie glauben, mir sei nicht klar, was da langsam in der Welt heranwächst; sie glauben, ich sähe den Sinn ihrer Fragen nicht, und bemerkte die Gereiztheit nicht, die verhüllt in ihre Gesichter oder verhohlen in ihre Stimmen tritt, wenn ich etwas Unnützes oder Dummes sage, etwas, was uns nicht weiterbringt. Wenn ich mich nicht an das erinnere, woran ich mich ihrer Ansicht nach erinnern müsste. Sie sind zu sehr auf ihre grenzenlosen, unstillbaren Bedürfnisse bedacht und noch zu abgestumpft vom Entsetzen, das wir damals alle empfanden, um zu erkennen, dass ich mich an alles erinnere. Mein Körper besteht aus Erinnerungen ebenso sehr wie aus Blut und Knochen.

Es ist mir recht, dass sie mich verköstigen und für meine Kleidung aufkommen und mich beschützen. Im Gegenzug werde ich für sie alles tun, was ich kann, aber nicht mehr als das. Ebenso wenig wie ich eines anderen Atem atmen oder seinem Herzen helfen kann zu schlagen oder seinen Knochen, nicht schwach zu werden, oder seinem Fleisch, nicht zu welken, kann ich auch nicht mehr sagen, als ich sagen kann. Und ich weiß, wie tief sie das verstört, und ich müsste darüber lächeln, über dieses ernste Bedürfnis nach albernen Anekdoten oder nach einer strengen, schlichten Schilderung dessen, was uns allen widerfuhr, wenn ich nicht das Lächeln verlernt hätte. Ich hatte nicht mehr das Bedürfnis zu lächeln. Ebenso wie mein Bedarf an Tränen gestillt war. Es gab eine Zeit, da ich dachte, ich hätte tatsächlich keine Tränen mehr, ich hätte meinen Vorrat aufgebraucht, aber zu meinem Glück halten sich derlei dumme Gedanken nie lange, sie werden rasch durch die Wahrheit verdrängt. Es gibt immer Tränen, wenn man sie wirklich braucht. Es ist der Körper, der Tränen hervorbringt. Ich brauche keine Tränen mehr, und das sollte eine Erleichterung bedeuten, aber ich suche keine Erleichterung, lediglich Einsamkeit und eine gewisse zornige Befriedigung, die aus meiner Gewissheit rührt, dass ich nichts sagen werde, was nicht wahr ist.

Einer der zwei Männer, die hierherkommen, war bis zum Ende bei uns. Es gab Augenblicke, wo er sanft war, bereit, mich zu halten und zu trösten, ebenso wie er jetzt ungeduldig, finster dreinschauen kann, wenn sich die Geschichte, die ich ihm erzähle, nicht völlig mit dem deckt, was er verfügt hat. Dennoch erkenne ich immer noch eine gewisse Sanftheit, und mitunter kehrt die Wärme in seine Augen zurück, bevor er seufzt und sich wieder an seine Arbeit macht und einen Buchstaben an den anderen setzt, um die Worte zu bilden, die ich, wie er weiß, nicht lesen kann, und die schildern, was auf dem Hügel geschah, an den Tagen davor und den Tagen, die folgten. Ich habe ihn gebeten, mir die Worte vorzulesen, aber er will nicht. Ich weiß, dass er von Dingen geschrieben hat, die weder er noch ich gesehen haben. Ich weiß außerdem, dass er dem, was ich durchlebt habe und er mit angesehen hat, Ausdruck verliehen und dafür gesorgt hat, dass die Worte Gewicht haben werden und man auf sie hören wird.

Ich erinnere mich an zu vieles; ich bin wie die Luft an einem windstillen Tag, wenn sie in sich ruht und nichts entweichen lässt. So wie die Welt den Atem anhält, halte ich die Erinnerung in mir zurück.

Als ich ihm also von den Kaninchen berichtete, erzählte ich ihm nichts, das ich halb vergessen und lediglich wegen seines Drängens erinnert hätte. Was ich ihm erzählte, war all die Jahre lang in allen Einzelheiten Teil von mir, so wie meine Hände oder meine Arme. An jenem Tag, dem Tag, über den er Einzelheiten erfahren wollte, dem Tag, den ich ihm immer und immer wieder schildern sollte, da trat inmitten all des Durcheinanders, inmitten all des Grauens und der Aufschreie und des Gebrülls ein Mann in meine Nähe, der einen Käfig mit einem eingesperrten riesigen zornigen Vogel bei sich hatte: Man sah nur den scharfen Schnabel und seinen wütenden Blick; die Schwingen konnte er nicht zu ihrer vollen Spannweite ausstrecken, und das schien den Vogel zornig und wütend zu machen. Er hätte fliegen, jagen, auf seine Beute niederstoßen sollen.

Der Mann trug außerdem einen Sack, der, wie ich langsam merkte, halb voll mit lebenden Kaninchen war, Bündelchen unbändiger und panischer Energie. Und während jener Stunden auf jenem Hügel, während der Stunden, die langsamer vergingen als jede andere Stunde zuvor, pflückte er die Kaninchen eines nach dem anderen aus dem Sack und schob sie in den nur leicht geöffneten Käfig. Der Vogel machte sich als Erstes immer an den weichen Unterbauch und riss das Kaninchen auf, bis seine Eingeweide herausquollen, und dann kamen natürlich die Augen dran. Es ist leicht, jetzt darüber zu sprechen, weil es eine gewisse Ablenkung von dem bot, was tatsächlich vor sich ging, und es ist auch deswegen leicht, darüber zu sprechen, weil es so sinnlos war. Der Vogel war anscheinend nicht hungrig – obwohl ihn vielleicht ein tieferer Hunger quälte, den selbst das lebendige Fleisch der sich windenden Kaninchen nicht stillen konnte. Schließlich war der Käfig voll mit halb toten, unverzehrten Kaninchen, die seltsame quiekende Laute von sich gaben. Sie zuckten; die letzten Lebenszeichen. Und das Gesicht des Mannes leuchtete vor Energie, es ging ein Glanz von ihm aus, wenn er in den Käfig sah und dann auf seine Umgebung, fast lächelte er vor finsterer Freude darüber, dass der Sack noch nicht leer war.

*

Mittlerweile hatten wir von anderen Dingen gesprochen, unter anderem von den Männern, die nah bei den Kreuzen Würfel spielten; sie spielten um seine Kleider und anderen Habseligkeiten oder aus einem anderen nicht erkennbaren Grund. Einen dieser Männer fürchtete ich ebenso sehr wie den Würger, der später hinzukam. Unter all denen, die im Laufe des Tages kamen und gingen, war er derjenige, der am wachsamsten mir gegenüber war, der am bedrohlichsten wirkte, als wollte er wissen, wohin ich gehen würde, wenn es vorbei wäre, als wäre er derjenige, den man aussenden würde, um mich zurückzubringen. Dieser Mann, der mir mit seinen Augen folgte, arbeitete offenbar für die Gruppe von Männern mit Pferden, die manchmal vom Rand aus zuzuschauen schienen. Wenn jemand weiß, was an jenem Tag geschah, und warum, dann dieser Mann, der Würfel spielte. Man würde mich besser verstehen, wenn ich sagte, dass er in meinen Träumen erscheint, aber das tut er nicht, ebenso wenig verfolgt er mich, so wie andere Dinge oder andere Gesichter mich verfolgen. Er war dort, das ist alles, was ich über ihn zu sagen habe, und er beobachtete mich, und er kannte mich, und wenn er heute, nach all den Jahren, an dieser Tür erschiene, seine Augen wegen des Lichts zu Schlitzen verengt, sein sandfarbenes Haar ergraut und seine Hände noch immer zu groß für seinen Körper, mit dieser Miene von Überlegenheit, Selbstbeherrschung und kontrollierter Grausamkeit, den bösartig grinsenden Würger hinter sich, wäre ich nicht überrascht. Doch ich würde ihre Gesellschaft nicht lange ertragen. So wie meine zwei Freunde, die mich besuchen, auf meine Stimme, mein Zeugnis aus sind, können dieser Mann, der Würfel spielte, und der Würger, oder andere von ihrer Sorte, nur mein Schweigen wollen. Sollten sie kommen, werde ich sie erkennen, und es dürfte jetzt eigentlich keine Rolle mehr spielen, denn meine Tage sind gezählt, aber in meiner wachen Zeit fürchte ich mich immer noch verzweifelt vor ihnen.

Im Vergleich zu ihnen war der Mann mit den Kaninchen und dem Habicht seltsam harmlos; er war grausam, aber ohne Zweck. Seine Triebe waren leicht zu befriedigen. Niemand außer mir schenkte ihm die geringste Beachtung, und ich tat es, weil ich vermutlich die einzige Anwesende war, die auf alles achtete, was sich bewegte – nur für den Fall, dass es mir gelänge, unter jenen Männern jemanden auszumachen, den ich anflehen könnte. Und um darauf vorbereitet zu sein, was sie vielleicht von uns wollen könnten, wenn es vorbei wäre, und mehr als alles andere, um mich, und wenn auch nur für eine einzige Sekunde, von dem heillosen Grauen abzulenken, das sich indessen ereignete.

Sie interessieren sich nicht für meine Angst und die Angst all jener, die um mich waren und ahnten, dass irgendwo Männer mit dem Befehl warteten, uns gleichfalls zu umzingeln, falls wir versuchen sollten, uns zu entfernen, sodass keine Aussicht bestand, dass man uns nicht festhalten würde.

Der zweite, der kommt, hat eine andere Art, seine Gegenwart bemerkbar zu machen. Es ist nichts Mildes an ihm. Er ist ungeduldig, gelangweilt und hat alles im Griff. Auch er schreibt, aber schneller als der andere, mit gerunzelter Stirn, seinen eigenen Worten beifällig zunickend. Er ist reizbar. Ich kann ihn schon dadurch aufbringen, dass ich einmal durchs Zimmer gehe, um eine Schüssel zu holen. Es fällt mir manchmal schwer, der Versuchung zu widerstehen, ihn anzusprechen, obwohl ich weiß, dass der bloße Klang meiner Stimme ihn mit Argwohn erfüllt oder etwas wie Abscheu in ihm weckt. Aber so wie sein Gefährte muss er mir zuhören, dazu ist er nun einmal hier. Er hat keine Wahl.

Bevor er aufbrach, sagte ich zu ihm, dass ich mein Leben lang, wann immer ich mehr als zwei Männer zusammen sah, Dummheit gesehen hätte und Grausamkeit, aber das Erste, was mir stets ins Auge fiel, sei ihre Dummheit gewesen. Er saß mir gegenüber und wartete darauf, dass ich etwas anderes sagte, und seine Geduld erschöpfte sich, da ich nicht zu seinem erwünschten Thema zurückkehren wollte: zu dem Tag, an dem unser Sohn verlorenging, und wie wir ihn wiederfanden und was gesagt wurde. Ich kann den Namen nicht aussprechen, er will nicht herauskommen, denn etwas würde in mir zerbrechen, wenn ich den Namen ausspräche. Also nennen wir ihn »er«, »mein Sohn«, »unser Sohn«, »der, der hier war«, »euer Freund«, »der, für den du dich interessierst«. Vielleicht werde ich den Namen aussprechen, bevor ich sterbe, oder werde es fertigbringen, ihn in einer dieser Nächte zu flüstern, aber ich glaube es kaum.

Er scharte, sagte ich, eine Gruppe von Nichtsnutzen um sich, die wie er selbst bloße Kinder waren, oder Männer ohne Väter, oder Männer, die einer Frau nicht in die Augen sehen konnten. Männer, die man in sich hineinlächeln sah, oder die schon in ihrer Jugend alt geworden waren. Nicht einer von euch war normal, sagte ich und sah ihm zu, wie er seinen halb leer gegessenen Teller wie ein trotziges Kind von sich stieß. Ja, Nichtsnutze, sagte ich. Mein Sohn versammelte Nichtsnutze um sich, obwohl er selbst, trotz allem, keiner war, er hätte alles machen können – er hätte sogar schweigen können, er besaß die Fähigkeit, die am seltensten ist, mit Leichtigkeit allein sein zu können –, er konnte eine Frau so ansehen, dass sie sich ihm gleichwertig fühlte, und er war dankbar, wohlerzogen und intelligent. Und das alles, sagte ich, setzte er dafür ein, eine Gruppe von Männern, die ihm vertraute, durch die Gegend zu führen. Ich habe für Nichtsnutze nichts übrig, sagte ich, aber wenn man zwei von euch zusammensteckt, zeigt sich nicht nur Dummheit und die gewohnte Grausamkeit, sondern es entsteht auch ein verzweifeltes Bedürfnis nach etwas anderem. Versammle Missratene, sagte ich und schob ihm den Teller wieder zu, und du bekommst absolut alles – Furchtlosigkeit, Ehrgeiz, was auch immer – und bevor es sich auflöst oder wächst, wird es zu dem führen, was ich gesehen habe und womit ich jetzt leben muss.

*

Meine Nachbarin Farina lässt Dinge für mich da. Und manchmal bezahle ich sie. Anfangs ging ich nicht an die Tür, wenn sie anklopfte, auch wenn ich das, was sie für mich daließ – Obst oder Brot oder Eier oder Wasser –, hereinnahm. Wenn ich später an ihrer Tür vorbeikam, sah ich keinen Grund, sie anzusprechen oder so zu tun, als wüsste ich, wer sie war. Und ich war bedacht, das Wasser, das sie daließ, nicht anzurühren. Ich ging zum Brunnen und holte mir mein eigenes, auch wenn mir die Arme von der Anstrengung anschließend wehtaten.

Als meine Besucher kamen, fragten sie mich, wer sie war, und ich war froh, sagen zu können, dass ich das weder wusste noch herausfinden wollte, und ebenso wenig verstand, warum sie Dinge für mich hinterließ, außer dass es ihr einen Vorwand dafür lieferte, sich an einem Ort herumzudrücken, wo sie unerwünscht war. Ich müsse vorsichtig sein, sagten sie, und es ging mir leicht von der Zunge zu sagen, das wüsste ich besser als sie, und wenn sie nur gekommen seien, um mir unnötige Ratschläge zu geben, dann sollten sie sich vielleicht überlegen, künftig wegzubleiben.

Allmählich jedoch begann ich sie wahrzunehmen, wenn ich an ihrem Haus vorbeikam und sie gerade an der Tür stand, und sie gefiel mir. Es lag auch daran, dass sie klein war, jedenfalls kleiner als ich, und sogar schwächer aussah, obwohl sie jünger ist. Ich nahm an, sie wäre allein, und war überzeugt, dass ich mit ihr fertig werden würde, sollte sie Probleme machen oder zu aufdringlich werden. Aber sie ist nicht allein. Das habe ich herausbekommen. Ihr Mann liegt immer im Bett, kann sich nicht bewegen, und sie muss sich den ganzen Tag um ihn kümmern; er liegt in einem verdunkelten Zimmer. Und ihre Söhne sind, wie alle Söhne, in die Stadt gezogen, um bessere Arbeit zu finden, zu faulenzen oder Abenteuern nachzugehen, womit es Farina überlassen bleibt, die Ziegen zu hüten und nach den Ölbaumterrassen zu sehen und jeden Tag Wasser zu holen. Ich habe ihr klargemacht, dass ihre Söhne, sollten sie jemals herkommen, nicht über meine Schwelle dürfen. Ich habe ihr klargemacht, dass ich keinerlei Hilfe von ihnen will. Ich will sie nicht in diesem Haus haben. Es kostet mich immer Wochen, den Gestank von Männern aus den Räumen zu vertreiben, sodass ich wieder Luft atmen kann, die nicht von ihnen verpestet worden ist.