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Vorwort

Wir wissen, dass die Menschen bereits vor 10000 Jahren und länger aufmerksam den Himmel beobachteten und Regelmäßigkeiten im Lauf der Gestirne feststellten. Sie sahen sich in eine einheitliche Welt gestellt, in der alles ineinander greift. Der Himmel verband sich in ihrem Denken mit irdischen Kreisläufen des Lebens von der Geburt bis zum Tod und dem erhofften Leben in einer anderen Welt – genau wie der Lebenszyklus der Gestirne.

Der breite Strom des Wissens, der über die Jahrhunderte zu unserem heutigen Wissensgebäude führt, entsprang vor allem Quellen, die sich bis ins alte Zweistromland, ins alte Ägypten und bis hin nach Indien verfolgen lassen. Darin gründet die Wissenschaft und Philosophie der alten Griechen und Römer, die in fortgeschrittener Zeit weitere Anregungen östlichen Denkens, des heutigen Nahen Ostens und Kleinasiens aufnahm.

Die Zentren wissenschaftlicher Forschung sind im historischen Verlauf der Jahrhunderte sehr veränderlich. Vielfältig sind die zu solchem Wandel führenden Faktoren, verbunden mit Erwartungen und Forderungen seitens der Religionsausübung, der Staatsverwaltung, der Herstellung oder Verteilung materieller Güter, bis hin zu ebenso vielfältigen persönlichen Motiven der Wissenschaftsausübung.

Von vergangenen Zeiten ausgehend werden in diesem Buch Entwicklungslinien des astronomischen Denkens verfolgt. Dabei werden neben den großen, bekannten Persönlichkeiten der astronomischen Weltgeschichte auch zu unrecht weniger bekannte Gelehrte gewürdigt. So entsteht ein Mosaik aus Meilensteinen der Astronomie, Meilensteine, die Ptolemäus und Kopernikus setzten, aber auch Meilensteine, die eher im Verborgenen entstanden. Sie führen zu den ersten, in der männlich dominierten Astronomie wissenschaftlich tätigen Frauen oder zu Gelehrten, deren wissenschaftliche Leistungen bis heute unterschätzt oder gar unbekannt geblieben sind.

Der Leser mag entscheiden, ob es gleichermaßen gelungen ist, bekannten Themen neue Seiten abzugewinnen, wie mit neuen Themen auf Entdeckungsreisen zu führen.

Jürgen Hamel, Berlin

1. Religiöse Kulte,
steinerne Weltbilder und ein
geschmiedeter Himmel

Astronomie in alter Zeit – Fiktion oder Realität?

Noch vor wenigen Jahren schien es ein Risiko zu sein, archäologischen Funden eine astronomische Seite abgewinnen zu wollen. Nur wenige Fundstätten und Objekte konnten benannt werden. Die weithin bekannte Anlage von Stonehenge, der Kultwagen von Trundholm und wenig mehr schienen eine Ausnahme zu sein und vielleicht gar ein Zufall? Was es sonst noch gab, wie die keltischen Radkreuze, bronzezeitliche Ornamente von Kreis und Spirale, blieb in diesem Rahmen der Forschungssituation stark umstritten.

Sehr in Misskredit wurde die gesamte Problematik dadurch gebracht, dass während der Zeit des Nationalsozialismus eine ideologisch geprägte Denkrichtung dazu verführte, eine „germanische Himmelskunde“ zu begründen, die fast wahllos archäologischen Funden eine himmelskundliche Deutung beilegte und diese einem „germanischen Wesen“ zuzuschreiben suchte. Es störte die Urheber nicht, dass diesem „Wesen“ gleichermaßen Funde der Steinzeit, Bronzezeit oder der Eisenzeit einverleibt wurden, und man begann, himmelskundliche Beziehungen allgegenwärtig zu finden.

Ich erinnere mich sehr gut daran, dass Vorträge zum Thema „Astronomie in alter Zeit“ noch Anfang der 1980er Jahre mit viel Skepsis aufgenommen wurden. Dennoch hatte sich damals die Forschungssituation grundlegend geändert. Längst war es erwiesen, dass der Himmel in der reichen und differenzierten Geisteswelt der Menschen früher Kulturen eine fundamentale Rolle spielte. Doch in der Bezeichnung dessen, was man fand, zog Vorsicht ein. Ausdrücke, wie „Stonehenge – ein neolithischer Finsterniscomputer“, „vorgeschichtliche Sternwarten“ oder „Sonnenwarten“ und Ähnliches traten zurück. Im Zusammenhang mit den materiellen Lebensgrundlagen und der Gesamtheit der uns erschließbaren Lebensumstände offenbarten sich Grundzüge der Geisteswelt mit vielfältigen Fruchtbarkeits- und Totenkulten, die einen deutlichen Bezug zum Himmel aufwiesen. Anders gesagt, die Menschen der frühen Kulturen betrieben keine Himmels- oder Kalenderkunde. Aber sie entwickelten das Bild einer einheitlichen Welt, in der der Mensch gleichermaßen in Beziehung zur irdischen wie zur himmlischen Umwelt, zu den Leben spendenden und lebensbestimmenden Himmelskörpern trat. Himmel, Erde und Mensch bildeten eine Einheit, in der alles miteinander in Verbindung stand. Und schon früh entwickelte sich eine Vorstellung von einem Leben nach dem Tod, von einem „Jenseits“, das mit einiger Wahrscheinlichkeit als eine himmlische Welt gedacht wurde. Für den Weg dorthin wurde den Verstorbenen Nahrung sowie Dinge des alltäglichen Lebens und Zeichen ihrer einstigen irdischen sozialen Stellung mitgegeben – Töpfe, Werkzeug, Schmuck, Waffen. Dies natürlich wechselnd in den Zeiten.

Was wir heute an materiellen Hinterlassenschaften vom Denken unserer Uralt-Vorfahren besitzen, ist zwar einerseits wenig und manchmal in der Interpretation umstritten, aber doch ausreichend, um zu erkennen, dass sie keine kulturlosen Wilden waren, sondern wir ihrem Geistesleben, ihrem Wissen um Naturdinge, also mithin ihrer Intelligenz unsere Achtung schulden.

Die Einbeziehung der Himmelskörper in alte Kulte ist zeitlich und territorial recht unterschiedlich. Bei aller Vorsicht der Interpretation werden uns aber Fruchtbarkeits- und Totenkulte erkennbar, die wiederum eng miteinander verbunden sind. Gleichermaßen handelt es sich um das Leben und den Tod von Menschen, Tieren und Himmelskörpern, vor allem der Sonne und des Mondes. Für die Erforschung dieser Dinge stellt es sich als sehr problematisch dar, dass es keinerlei schriftliche Aufzeichnungen der uns vertrauten Art gibt. Methodisch geht es um die Deutung von Symbolen und die Orientierung von Bauten in bestimmte Himmelsrichtungen. Doch ein Symbol erschließt sich erst im Kontext des Denkens der Menschen, die es gebrauchen – und um dieses Denken zu erschließen, dient das Symbol. Eine vertrackte Situation, die sich nur in einer vergleichenden Analyse von Symbolen löst. Und auf diesem Wege gelangen in den vergangenen, sagen wir 20 Jahren, erstaunliche Erkenntnisse.

Die Sonne im Angesicht der Toten

Hinsichtlich der Orientierung von Bauten in bestimmte Himmelsrichtungen, die durch den Auf- und Untergang vor allem der Sonne gegeben sind, darf man nicht unbedingt die Genauigkeit erwarten, mit der wir heute Bauwerke im Gelände orientieren. Jede Zeit verwirklicht die Genauigkeit, die sie aufgrund ihrer technischen Möglichkeiten und ihres Genauigkeitsempfindens in der Lage ist zu geben. Vielfach, oder gar in den meisten Fällen, wird nicht ein Punkt am Horizont gradgenau getroffen, sondern eine Richtung. Sehen wir uns dazu Beispiele an.

Vor etwa 8800 Jahren, in der jüngeren Mittelsteinzeit, wurden in Holheim in der Nähe von Nördlingen, in der Großen Ofnethöhle, die Schädel von 20 Kindern, neun Frauen und vier Männern rituell beigesetzt. Die Schädel waren durch Schlagverletzungen teilweise stark zertrümmert, mit Schmuck aus durchbohrten Hirschzähnen und mehr als 4000 Schneckenhäusern in rote Ockererde gebettet. Dabei sind die Schädel nach Westen gerichtet, dorthin, wo das Licht der untergehenden Sonne in die Höhle scheint. Es gibt wohl kaum eine andere Deutung der Befunde als anzunehmen, dass die 33 Menschen rituell getötet wurden und die rote Farbe, die Farbe des Blutes, der Lebenskraft, der Sonne am Abend – aber ebenso am Morgen – ein Symbol für Tod und Wiedergeburt in einem anderen Leben, in einem anderen Bereich der Welt darstellte. Sollte mit der gewaltsamen Tötung irgendein Einfluss auf das mythische Sonnenwesen ausgeübt werden? Wurde ihm am Abendhimmel Kraft gegeben, um am Morgen wieder erneuert, neu geboren, zu erscheinen? So könnten wir es uns denken, wissen tun wir es nicht.

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Der Faldouet-Dolmen auf Jersey mit Zugangsausrichtung nach Osten.

Die Bestattung von Toten nach bestimmten Himmelrichtungen, nach möglichen Blickrichtungen, tritt immer wieder auf. In der Aunjetitzer Kultur des östlichen Mitteleuropas, einschließlich Sachsen-Anhalt und Thüringen (2300 bis 1600 v. Chr.), erfolgte die Bestattung in Hockstellung auf der rechten Körperseite mit der Blickrichtung nach Osten. Während der Glockenbecherkultur (um 2000 v. Chr.) gibt es sogar eine geschlechtlich differenzierte Beziehung zur Sonne – mit dem Blick zur aufgehenden Sonne lagen die Frauen auf der linken, die Männer auf der rechten Seite bestattet. Neolithische Gräber in Mecklenburg-Vorpommern (um 2500 bis 2000 v. Chr.) wurden so angelegt, dass deren Zugänge bei etwa 71 Prozent in die südliche Richtung wiesen. Hier spielte zweifellos die Sonne mit ihrer größten „Machtentfaltung“ zur Tagesmitte den gedanklichen Ausgangspunkt. Aber offenbar war der kultischen Bedeutung mit einer Orientierung in die südliche Richtung Genüge getan, eine größere Präzision wurde nicht erreicht und lag sicher außerhalb der Vorstellungswelt der alten Mecklenburger.

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Die Ausrichtung der Zugänge von 98 steinzeitlichen Grabbauten in Mecklenburg-Vorpommern.

Prähistorische Grabbauten zeugen von ausgefeilten Vorstellungen eines Lebens nach dem Tode und stehen in vielfacher Beziehung zu den Gestirnen, die in mythischen Weltbildern eine herausragende Rolle spielen – Grabbauten wurden zu Kultstätten zur Verehrung der Ahnen. Die Komplexität von Toten-, Gestirns- und Fruchtbarkeitskulten ist ein übereinstimmendes Merkmal aller frühen Kulturen, in den ägyptischen oder mesopotamischen Stromtälern, bei unseren steinzeitlichen, keltischen, germanischen oder slawischen Vorfahren, den Indianern Nord-, Mittel- und Südamerikas oder in der Gedankenwelt heutiger Naturvölker. Die frühe Himmelskunde repräsentiert nicht nur Aspekte der Entwicklung der Astronomie, sondern ebenso der Astrologie und Kosmologie mit engen Bezügen zur Geschichte des religiösen Denkens – eine bedeutsame Verknüpfung rationaler und nichtrationaler Denkinhalte.

Kalenderbauten und heilige Stätten

In Verbindung mit dem Jahreslauf der Sonne, ihrer wechselnden Höhe am Himmel, ihren unterschiedlichen Auf- und Untergangspunkten am Horizont, wurden vorzeitliche Kultanlagen und archäologische Funde auch zu Objekten einer alten Kalenderrechnung. Und noch unser Kalender und seine Feiertage sind in dieser Jahrtausende alten Tradition bei wichtigen Eckpunkten an das Naturgeschehen gebunden: Natürlich der Beginn der Jahreszeiten, der Jahreswechsel, Weihnachten, Ostern, Pfingsten und anderes.

Das bekannteste Beispiel aus der prähistorischen Astronomie ist bis heute Stonehenge (s. auch folgende Abb.), eine monumentale Anlage, 130 Kilometer westlich von London. Stonehenge entstand wahrscheinlich in drei Bauphasen zwischen 3000 und 1500 v. Chr. Der heutige Zustand vermittelt einen unvollständigen Eindruck des einstigen Aussehens, da zahlreiche Steine trotz größter Umsicht der Erbauer umstürzten oder entfernt wurden. Dem heutigen Besucher erschließt sich nicht mehr die tiefe Gedankenwelt der einstigen Erbauer. Doch im Ergebnis archäologischer Untersuchungen gelang eine exakte Rekonstruktion: Im Zentrum stößt man auf den etwa 31 Meter im Durchmesser fassenden Steinkreis, den „Sarsenkreis“, der durch 30 mächtige, etwa vier Meter hohe Steinblöcke gebildet wird, mit überliegenden Steinen zu einem geschlossenen Kreis verbunden. Dieser Kreis umschließt fünf Steintore. Von kleineren Steinsetzungen innerhalb der Anlage abgesehen, wird Stonehenge nach außen hin von den 56 „Aubrey-Löchern“ abgeschlossen und von einem Wall begrenzt, hinter dem sich aufrechtstehend der „Heelstein“ befindet.

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Teilansicht von Stonehenge.

Bereits im Jahr 1740 wurde die Ausrichtung der Hauptachse des Bauwerkes auf den Aufgangspunkt der Sonne zur Sommersonnenwende, also dem Sommeranfang, vermutet. Dies konnte der Astrophysiker Norman Lockyer 1901 nach genauen Untersuchungen bestätigen. Somit stellte sich Stonehenge zunächst als eine gewaltige Kalenderanlage dar, denn die systematische Beobachtung der Sonnenaufgangsorte machte es möglich, durch ihre Wiederkehr an einem bestimmten Horizontpunkt den Zeitraum eines Jahres festzustellen. Auf den ersten Blick könnte man sich damit zufrieden geben. Bei näherer Betrachtung drängt sich allerdings die Frage auf, warum eine kalendarische Markierung mit solch gewaltigem Bau festgehalten werden sollte. Die Steine der hufeisenförmigen Zentralanlage sind mit etwa 50 Tonnen Masse die größten im prähistorischen England bearbeiteten und ragen bis zu sieben Meter aus dem Boden. Die Aufstellung der Steintore kann zwar durch Rampen oder den Bau von Holzgerüsten erklärt werden, dennoch bleibt dies eine technische Meisterleistung, mit Anstrengungen verbunden, die nur Menschen auf sich nehmen, die ein festgegründetes Motiv besitzen.

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Schematische Darstellung der Anlage von Stonehenge mit der Visur zum Aufgangsort der Sonne zur Sommersonnenwende.

Den Ansatz dafür gibt das mythische Weltbild der Erbauer, soweit uns heute eine Erklärung überhaupt gelingen kann: Stonehenge ging über die Funktion eines „Sonnenobservatoriums“, eines Kalenderbaus, hinaus, es war ein heiliger Ort kultischer Verehrung der Sonne als Spenderin allen Lebens. Die Sonne bringt die Jahreszeiten, ihr Lauf markiert den Kreislauf der Natur mit Geburt, Tod und Wiedergeburt. Wurde die Sonne überhaupt zum Sinnbild periodischer Folgen? Verbanden die Menschen die Lebenszyklen der Sonne mit ihren eigenen, von der Geburt zum Tod und vom Tod zur Wiedergeburt in einem anderen, unbekannten Teil der Welt?

Nach erneuten Untersuchungen um 1963 gelangen in Stonehenge überraschende Befunde: Nicht nur zur Sommersonnenwende wurde die Sonne beobachtet, sondern ebenso zur Winterwende, dem Winteranfang, weiterhin wurde in Stonehenge der Mond in seiner nördlichsten beziehungsweise seiner südlichsten Stellung am Himmel beobachtet. Der Festlegung dieser Linien in einem Bauwerk mussten jahrelange systematische Studien der Bewegungen am Himmel vorausgegangen sein. Dies beweist eine entwickelte Fähigkeit zur räumlich-geometrischen Vorstellung. Die Erbauer mussten empfänglich gewesen sein für die Feststellung von Regelmäßigkeiten und den Unterschied im ruhigen, konstanten Lauf der Gestirne zu den unsteten Vorgängen auf der Erde. Schon hier zeigt sich, dass die Menschen damals in der Lage waren, abstrakt zu denken, hinter unsteten Erscheinungen das Wesen der Dinge zu suchen, eine Vorstellung von Maß und Zahl zu entwickeln und sich hierzu auch schriftliche Aufzeichnungen zu machen, ohne dabei Zahlen und Buchstaben zu verwenden.

Die bei Stonehenge konstatierten Sonnen- und Mondortungen finden sich ferner bei mehreren kreisförmigen Steinsetzungen in Großbritannien und auf dem europäischen Festland. Hierzu gehört, um aus der Fülle einiges zu nennen, die Steinsetzung von Callanish auf der Insel Lewis (Äußere Hebriden), Visuren am „Ring of Brogar“ auf den Orkney-Inseln oder die Ausrichtung der Steinreihen von Carnac in Frankreich. In Kintraw (Westschottland) sieht man die Sonne zur Wintersonnenwende von einem mit aufrecht stehenden Steinen besetzten Hügel aus hinter einer entfernten Hügelspitze untergehen – ein beeindruckender Effekt dadurch, dass die Sonne, bevor sie endgültig versinkt, in einem Einschnitt des Horizontprofils wie ein verglimmendes Feuer kurz auflodert. Ihre Erklärung finden solche Orientierungen in der Verbindung zum Totenkult. Es lag durchaus nahe, das Reich der Toten im Westen, dort, wo die Sonne täglich untergeht, anzunehmen.

Sonnen- und Himmelsscheiben

In der Bronzezeit finden wir eine Zunahme astraler Kultsymbole. Dass diese in erster Linie Sonnensymbole sind, kann für eine Gesellschaft, deren materielle Produktion auf Feldwirtschaft und Viehzucht beruht, nicht verwundern. In allen bronze- und eisenzeitlichen Kulturkreisen war die Spirale als astrales Symbol verbreitet. Ob mit diesem Symbol der jährliche Lauf der Sonne über und unter dem Horizont in Spiralform dargestellt werden sollte, ist fraglich, aber denkbar. Näher liegt die Deutung, vor allem der Doppelspirale, als Symbol der Um- und Wiederkehr, des an die Sonne gebundenen Zyklus des Naturgeschehens. In diesem Zusammenhang ist an den Kultwagen von Trundholm zu denken (s. auch folgende Abb.), ein Beispiel höchster Kunstfertigkeit des bronzezeitlichen Menschen (um 1400 v. Chr.), ebenso Zeugnis hoher Geisteskultur. Ein kleines Pferdchen zieht eine mit Goldblech bezogene Bronzescheibe. Legt bereits die golden leuchtende Scheibe den Gedanken an eine Beziehung zu bronzezeitlichen Sonnenkulten nahe, dann noch mehr die Ornamentik der Scheibe: kleine Zeichnungen konzentrischer Kreise sowie Spiralen, die in Kreiszonen angeordnet sind. In der Erlebniswelt des bronzezeitlichen Menschen liegt dem sicherlich die Bewegung der Sonne am Himmel im Verlauf des täglichen und jahreszeitlichen Geschehens zugrunde, während das Pferd mit dem Sonnenwagen die Jahresbewegung der Sonne auf Kreisen, oder besser auf einer Spirale, versinnbildlicht. Die Verbindung des Sonnensymbols mit einem Pferd ist auf bronzezeitlichen Gegenständen ein häufiges Motiv und, ohne an eine direkte Abhängigkeit zu denken, sei an den viel späteren Sonnenwagen des Helios erinnert.

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Der bronzezeitliche Kultwagen von Trundholm (um 1400 v. Chr.), Rekonstruktionszeichnung.

Wiederum wissen wir nichts über die rituellen Handlungen, bei denen der Trundholmer Wagen eine zentrale Rolle spielte. Es dürfte jedoch klar sein, dass es hier um die Bewegung der Sonne im Laufe des Tages und des Jahres ging, die wechselnde Kraft eines mächtigen Sonnenwesens (um die Bezeichnung als Sonnengott zu vermeiden). Auf die damit verbundenen tiefen Überlegungen der Trundholmer Menschen deutet der Befund, dass zwar die Vorderseite mit Ornamenten im Goldblech verziert ist, die von einem umlaufenden Strahlenkranz abgeschlossen werden, aber die Rückseite „dunkel“ blieb, ohne Goldauflage und ohne Strahlenkranz. Die Gestaltung erfolgte in der Art, dass die goldene Seite vom Pferdchen von links nach rechts – oder Ost nach West –, die dunkle von West nach Ost gezogen wird. Symbolisiert der Kultwagen von Trundholm das kosmologische Bild der Bewegung der Sonne um die Erde, gezogen von einem Pferd, am Tag über der Erde, bei Nacht unter ihr, um bis zum Morgen an ihren östlichen Ausgangspunkt zurückzukehren? In diesem Bild wäre es dann gut erklärbar, dass das Sonnenwesen im Winter an Kraft verliert, sich nur mühsam über den Horizont erhebt und eine lange Nachtreise vor sich hat, hingegen im Sommer sich hoch an den Himmel schwingt und vor Kraft kaum dazu zu bringen ist, des Nachts unter den Horizont zu tauchen.

Der Trundholmer Wagen wurde 1902 aus einem Moor geborgen. Die Fundumstände ergaben, dass die Sonne und ihr Wagen teilweise zerstört und dann regelrecht im Moor bestattet wurden. Aus einem uns unbekannten Grund verlor der Wagen offenbar die Kraft eines sakralen Gegenstandes, wurde durch das Zerbrechen entweiht und aus der gegenwärtigen Welt verbannt. Möglicherweise hängt dies mit veränderten Religionsvorstellungen zusammen, denn nach etwa 1300 v. Chr. treten in Skandinavien Spiralmuster deutlich zurück und verschwinden schließlich ganz. Musste in diesem geistigen Zusammenhang der Kultwagen von Trundholm untergehen?

So tiefe und verzweigte religiöse und gleichzeitig kosmologische Vorstellungen in den bronzezeitlichen Gesellschaften waren das Produkt einer bereits sehr differenzierten Gesellschaftsstruktur. Die in Stammesverbänden organisierten Menschen lebten in strengen sozialen Hierarchien. Es gab Menschen der Oberschichten, Häuptlinge und abhängige Oberhäupter, die aus der Produktion der Nahrungsmittel ausgeschieden waren, denen die Ausübung der Kulte oblag und zugleich die Leitung aller Tätigkeiten des Lebens der Gemeinschaft. Diese geistige Elite stand in einem besonderen Verhältnis zu allen göttlichen Wesen, damit auch zur Sonne und dem Mond; ihr oblag die Beobachtung des Himmels und sie besaß insofern ein besonderes Ansehen und eine besondere Macht. Diese Macht stützte sich auch auf privaten Reichtum, den Besitz verschiedener materieller Güter sowie bestimmter Verteilungs- und Handelsprivilegien. Anhand der bronzezeitlichen Grabhügel, der „Fürstengräber“, denen die Überzahl einfacher Grablegungen gegenübersteht, lässt sich diese soziale Struktur erkennen.

Die Bewegung der Sonne scheint für den bronzezeitlichen Menschen ein Gegenstand angestrengten Denkens gewesen zu sein. Natürlich musste diese Bewegung Vorbilder im sinnlich Erfahrbaren besitzen. Insofern die vielen Darstellungen von Sonnenpferden über die Zeiten und Kulturen hinweg. Eine andere Lösung lag nahe, die Bewegung auf einem Schiff. Dass diese Vorstellung besonders von Skandinavien bis nach Norddeutschland verbreitet war, ist kaum verwunderlich. Dort war das Schiff wichtigstes Verkehrsmittel, für den Waren- und Nachrichtenaustausch, für die Reise und damit als Sinnbild für Bewegung und Beweglichkeit überhaupt, akzeptabel als Gegenstand der Mythologie, schließlich vielleicht gar selbst heilig, als schwimmende Kultanlage. Dies legt auch ein Fund von mehr als 100 Miniaturschiffchen aus Dänemark nahe, von denen einige Sonnensymbole als konzentrische Kreise aufweisen.

Das Schiff für die Reise der Sonne taucht etwa um 1500 v. Chr. auf und hält sich für etwa 1000 Jahre. Auf bronzenen Gegenständen und Felsbildern finden sich Tausende von Schiffsbildern. Als Sonnenbarken sind sie dadurch zu erkennen, dass sich auf einer großen Zahl von ihnen Sonnendarstellungen als Kreis oder Radkreuz finden, beziehungsweise sie in ein mit der Sonne verbundenes Bildprogramm eingebunden sind. Derartige Bilder finden sich vorrangig auf Schwertern, auf Rasiermessern, die durch ihre „Schiffsform“ eine solche Gestaltung scheinbar geradezu herausforderten, und als Felszeichnungen. Vielfach wurde die Verbindung mit der Sonne durch die Gestaltung des Stevens als Pferdekopf verstärkt und damit in der Kombination zweier Sonnensymbole, des älteren Pferdes und des neueren Schiffes eine mythische Verstärkung geschaffen.

Wie schon die beiden Seiten der Sonnenscheibe des Trundholmer Wagens die Tages- und Nachtbewegung der Sonne zu symbolisieren scheinen, findet sich Ähnliches in Verbindung mit dem Schiffssymbol, nämlich Schiffe, die von rechts nach links beziehungsweise von links nach rechts fahren und dabei neben dem Pferd noch von weiteren Tieren, wie Fisch, Schlange und Vogel begleitet werden. Ein interessantes Detail besteht darin, dass die von rechts nach links unter der Erde (in der Unterwelt?) schwimmenden Nacht-Schiffe nicht mit einer Sonnendarstellung verbunden sind, da sie einer Zeit angehören, zu der die Sonne unsichtbar ist, um am Morgen, bei der Übergabe an das von Ost nach West schwimmende Tag-Schiff, gewissermaßen neu geboren zu werden. Besonders ausgefeilte und mythologisch reichhaltige Darstellungen der Sonnenbarke finden wir verblüffenderweise auf bronzezeitlichen Rasiermessern. Dies scheint mit der bereits erwähnten, schiffsförmigen Gestalt der Rasiermesser zusammenzuhängen. Möglicherweise wurden diese in großer Zahl bekannten Rasiermesser jungen Männern bei Zeremonien zur Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen übergeben und wirklich als solche verwendet, wie vielfache Abnutzungs- und Schliffspuren nahe legen. Auf einem etwa 3000 Jahre alten Rasiermesser aus Jütland sehen wir den Moment abgebildet, in dem das Sonnenpferd die Sonne von dem nach rechts, nach Westen, schwimmenden Tagesschiff mit Pferdekopfbug übernimmt, und dem nach links, unter der Erde nach Osten schwimmenden Schiff übergibt.

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Rasiermesser mit Sonnenbarken und Sonnenpferd, Jütland, 11. bis 10. Jahrhundert v. Chr.

Unter den archäologischen Funden von internationaler Bedeutung, die eine Beziehung zu frühen Kenntnissen vom Himmel aufweisen, sticht seit kurzer Zeit die „Himmelsscheibe von Nebra“, der geschmiedete Himmel der Bronzezeit, hervor. Selten hat ein Gegenstand aus ferner Zeit ein solches öffentliches Interesse bekommen – wissenschaftlich völlig zu Recht. Und dann verstärkte natürlich noch der Fundkrimi die allgemeine Aufmerksamkeit, das Auffinden durch völlig unqualifizierte Raubgräber, der Verkauf an Zwischenhändler in der Schweiz, die verfilmungsreife Kontaktaufnahme mit den Hehlern und die schließliche Übernahme durch die schweizerische Polizei bis zur Aufnahme in die Sammlung des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle an der Saale.

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Die Himmelsscheibe von Nebra.

Lassen wir diese Dinge beiseite, erwähnen aber doch auch noch den gerichtlichen Streit um die Rechte der Vermarktung der Himmelsscheibe. Die geplante Vermarktung bis zum Äußersten ist in diesem Fall angesichts der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Situation in Sachsen-Anhalt durchaus zu verstehen. Ironischerweise heißt ein Kapitel im hervorragenden Begleitband zur Ausstellung der Himmelsscheibe im Jahre 2005 in Halle „Blühende Landschaften – Mitteldeutschland in der frühen Bronzezeit“.

Die Scheibe selbst müsste eigentlich kaum noch beschrieben werden. Deshalb eher steckbriefartig: Material: Grün oxidierte Bronze mit Goldauflagen, Durchmesser: 32 Zentimeter, Dicke: 1,8 bis 4,5 Millimeter, Gewicht: 2,3 Kilogramm, Alter: etwa 3500 bis 4000 Jahre, Zeit der Niederlegung: 1600 v. Chr. Darstellungen aus Goldfolie: 25 regellos verteilte sowie sieben nach einem geometrischen Muster angeordnete Plättchen mit einem Durchmesser von 8,5 bis zwölf Millimetern, ein scheibenförmiges und ein sichelförmiges Objekt, an den Rändern gegenüberstehend zwei Kreisbögen (davon einer verloren) und ein stärker gekrümmter, von feinen, kurzer Strichen umrahmter Bogen. Die gesamte Scheibe ist am Rand umlaufend mit kleinen Löchern versehen. Die Rückseite ist leer, mit Fertigungsspuren der Darstellung auf der Vorderseite.

Erkennbar ist die Herstellung in mehreren Phasen, zunächst deutlich dadurch, dass wenigstens die beiden Randbögen jünger als die Plättchen sind, weil durch den einen Bogen zwei Plättchen verdeckt sind und wegen der Darstellung des zweiten, heute fehlenden Bogens ein Plättchen unschön versetzt wurde. Ganz offensichtlich stammt auch die Lochung am Rand aus späterer Zeit, weil sie ziemlich rabiat die beiden Randbögen und den kurzen Bogen anschneiden. Genaue Untersuchungen gehen von bis zu fünf Herstellungsschritten aus, die sich über eine Zeit von etwa 100 bis 400 Jahren erstreckt haben könnten. Die Altersbestimmung der Himmelsscheibe erfolgte mittels der Fundbeigaben, besonders der Beile und Schwerter, die glücklicherweise in ihrer Gestaltung in teilweise recht kurzen Zeiträumen Veränderungen erlebten, die gut datiert sind. Zudem fand sich an einem der Schwerter ein Stückchen Birkenrinde, das eine separate Altersbestimmung mittels der C-14-Methode erlaubte und in guter Übereinstimmung mit den archäologischen Befunden die Jahre zwischen 1560 und 1600 v. Chr. ergab.

Wie schon der Kultwagen von Trundholm wurde die Himmelsscheibe von Nebra, benannt nach ihrem Fundort in Sachsen-Anhalt, aus nicht erkennbaren Gründen gemeinsam mit zwei Schwertern, zwei Beilen, einem Meißel und zwei Armspiralen rituell begraben, wobei die Scheibe eine aufrecht stehende Lage zwischen Steinplatten bekam. Zugehörige menschliche Überreste gibt es nicht. Der Begräbnisplatz liegt auf der Kuppe eines Hügels, des „Mittelberges“, von dem man einen weiten Blick auf das Harzmassiv mit Brocken und Kyffhäuser hat.

Soweit die sicheren Fakten, doch nun die Interpretationen, für die es anfangs noch einen Konsens geben kann, während sich dann bald die Geister scheiden. Insofern möchte ich es mir erlauben, zunächst meine Sicht darzustellen, um dann jedoch auf weitere Darstellungen einzugehen. Was ist also auf der Himmelsscheibe zu sehen? Es sind 25 regellos verteilte Sterne sowie ein Sternhaufen, die Plejaden (das Siebengestirn). Sie bilden gewissermaßen den Hintergrund. Rechts, so die gängige Orientierung der Scheibe, sehen wir die Mondsichel, während links die Sonnenscheibe dargestellt ist. An beiden Rändern sind mit einem goldenen Bogen die Auf- beziehungsweise Untergangsweiten der Sonne im Laufe des Jahres dargestellt. Dies ist die Wanderung der Auf- und Untergangspunkte der Sonne am Horizont zwischen Winter- und Sommeranfang, die in unseren geografischen Breiten etwa 83 Grad beträgt. Für den kleineren Goldbogen unter Sonne und Mond scheint es mir plausibel, eine heilige Sonnenbarke zu sehen.

Damit wäre die Himmelsscheibe von Nebra eine symbolische Darstellung des Weltbildes der Menschen vor mehr als 3600 Jahren im heutigen Sachsen-Anhalt. Die ganze Existenz dieser Darstellung lässt darauf schließen, dass die Menschen dem Himmel eine grundsätzliche Bedeutung für ihr irdisches Leben beilegten, sie sich in eine einheitliche Welt gestellt sahen. Die Himmelskörper schienen darin im weitesten Sinne überirdisch zu sein, mit ihrer Ruhe und Konstanz das irdische Leben zu bestimmen. Und da man gewohnt war, die ganze Welt als belebt zu sehen, schien es dringend geraten zu sein, den Wesen des Himmels eine tiefe Verehrung entgegenzubringen, sie in kultischen Zeremonien zu verehren, sie anzuregen, weiterhin durch ihre Einwirkung irdisches Leben in der gewohnten Weise zu erhalten.

Für die Himmelsscheibe bedeutet die Darstellung: Es gibt Sterne und unter ihnen eine besonders auffällige Gruppe, die auf dem Weg des Mondes am Himmel liegt und manchmal von ihm sogar verdeckt werden kann. Diese Gruppe könnte die Plejaden darstellen, die in der Tat ein äußerst auffallendes, einmaliges Objekt des Himmels sind, das in der Mythologie vieler Völker eine große Rolle spielt. Gegen diese Deutung wurde eingewendet, dass mit bloßem Auge in den Plejaden in der Tat nur sechs Sterne sichtbar sind. Man muss diese Diskrepanz zur Kenntnis nehmen, sie lässt sich wohl kaum entkräften. Allerdings: die Plejaden werden immer wieder mit der Zahl Sieben in Verbindung gebracht. Akkadisch heißen sie Sebettu, die Sieben, bei den Indianern sind sie sieben Tänzer oder sieben Mädchen. Und auch die griechische Mythologie sieht die Plejaden als „Siebengestirn“: Es sind die sieben Töchter des Atlas und der Pleione. Also liegt die Plejaden-Identifizierung doch sehr nahe.

Dass die große Sichelgestalt der Mond ist, wurde nie bestritten. Dagegen gibt es für den großen Goldkreis zwei Sichtweisen: Sonne und Vollmond, wobei derzeit die Vollmonddeutung wohl sogar die meisten Befürworter hat. Dennoch möchte ich an einer Identifizierung als Sonne festhalten, denn: Nach allem, was wir nach Tausenden von Funden und Verzierungen aus der Bronzezeit wissen, war die Religion dieser Zeit klar auf die Sonne ausgerichtet, was für eine bäuerlich orientierte Kultur auch ganz selbstverständlich erscheint. Außerdem, wenn der untere Bogen die Sonnenbarke darstellt, für die allein wir aus diesen Zeiten unzählige von Darstellungen haben, und die Randbögen die Winkel der Auf- und Untergangspunkte der Sonne am Horizont darstellen – warum fehlt dann auf der Himmelsscheibe das Sonnenwesen, das auf der Barke seine Tages- und Nachtreise sowie seinen Jahreslauf unternimmt?

Demnach wäre auf der Himmelscheibe die tägliche und jährliche Bewegung der Sonne das zentrale Motiv, wie wir es insgesamt aus bronzezeitlichen Weltvorstellungen kennen. Gegenüber sonstigen Darstellungen wird hier jedoch sowohl der Sternhimmel, als auch der Mond eingeführt, wofür es bislang aus diesen Zeiten kein vergleichbares Bildprogramm gibt. Alles Weitere jedoch erscheint mir eine Überinterpretation der Himmelsscheibe zu sein. So glaube ich nicht, dass die Winkel der Horizontbögen so genau dargestellt wurden, dass man rechnerisch auf die geografische Position des Herstellungsortes der Scheibe schließen kann. So exakt sind die Enden der beiden Bögen ja gar nicht gestaltet, dass man aus ihnen Bruchteile eines Winkelgrades ersehen könnte. Ich denke auch nicht, dass mit der Himmelsscheibe ein konkretes, einzelnes Himmelsereignis, etwa eine Sonnen- oder Mondfinsternis, dargestellt wurde, oder die Scheibe zur Visur auf bestimmte Horizontpunkte diente. Doch ich muss zugeben, dass – derzeit – eine Entscheidung zwischen einer von mir vertretenen Minimaldeutung und verschiedenen Maximaldeutungen mehr eine Glaubensfrage, als eine der wissenschaftlichen Beweisbarkeit ist. Lediglich für die Darstellung der Sonne anstatt des häufig angenommenen Vollmondes gibt es gewichtige Gründe, wie ich sie oben anführte, weshalb ich dies doch für recht sicher erwiesen halte.

Meiner Ansicht nach wurde damals eine mathematische Genauigkeit der Darstellung nicht beabsichtigt, oder vielleicht besser, allenfalls in den Grenzen gegeben, die dem Genauigkeitsempfinden der damaligen Menschen entsprach. Eine solche Reduzierung schränkt die Bedeutung der Himmelsscheibe für die Kulturgeschichte in keiner Weise ein. Bei aller Beschränktheit unserer Kenntnisse hinsichtlich der Details der mit der Himmelsscheibe verbundenen Kulthandlungen gewährt sie uns jedoch einen beeindruckenden Einblick in das Denken der Menschen vor Jahrtausenden. Und das in einer Weise, die vor dem Auffinden der Scheibe kaum jemand zu hoffen gewagt hatte. Denn eine Darstellung des Himmels, zwar symbolisch, aber doch in einer wenigstens teilweise geradezu naturalistischen Art der Gestaltung, kennen wir aus diesen Zeiten ansonsten überhaupt nicht. Die Himmelsscheibe ist somit weltweit ein einzigartiger Gegenstand und hat insofern auch in der internationalen Fachwelt einen tiefen Eindruck hinterlassen.

Um noch einen Aspekt dieser Bedeutung anzuführen: Die Herstellung der Scheibe für sich ist schon genügend interessant. Doch um die Scheibe zu entwerfen, sind damals zwei Ebenen zu beachten gewesen. Zunächst mussten die Menschen in der Verschiebung der Auf- und Untergangspunkte und damit in der Jahresbewegung der Sonne überhaupt eine Regelmäßigkeit erkennen. Dies kann nur das Resultat langer Beobachtungen der Sonnenbewegung aus mehreren Generationen von ein und demselben Beobachtungsort gewesen sein. Denn nur bei einer Beobachtung von einem festen Punkt aus lässt sich die Verschiebung der Auf- und Untergangsorte der Sonne genau genug erfassen. Und um diese Beobachtungen aufzuzeichnen und grafisch auf der Scheibe umzusetzen, bedarf es nicht geringer Fähigkeiten der Abstraktion und der Vorstellung von Zahl und Maß. Erst der nächste Schritt war dann die Einbindung dieser Regelmäßigkeiten in ein Weltbild und erst daraus resultierte das Motiv, die genau bestimmten Veränderungen bildlich auf der Himmelsscheibe mit einer richtigen Gradzahl in den Horizontbögen darzustellen. Die der Himmelsscheibe von Nebra zugrunde liegenden Beobachtungen dürften demnach weit vor die Zeit um 2000 v. Chr. zurückzudatieren sein.

Die Herstellung der Himmelsscheibe bedurfte eines klaren und offenbar sehr differenzierten Weltbildes, das hier in ein bestimmtes Bildprogramm umgesetzt wurde. Die Himmelsscheibe fügte sich bereits damals in eine lange Tradition eines entwickelten Weltbildes ein. So sehen wir in ihr das Produkt einer langen und zielgerichteten Naturbeobachtung der bronzezeitlichen Bewohner Sachsen-Anhalts und erahnen etwas von ihrem Denken, ihrer Erfassung der Einheit von Himmel und Erde und der Stellung des Menschen in der Welt, verbunden mit einer kultisch motivierten Kalenderrechnung.

Nach diesen Weltbildbetrachtungen und dem Schwelgen in Großartigkeit und Einmaligkeit noch einige nüchterne technische Aspekte: Durch genaue Materialuntersuchungen, Röntgenfluoreszenz- und Neutronenaktivierungsanalysen gelang es, die Herkunftsorte der verarbeiteten Bronze und des Goldes festzustellen. Denn die Metalle kamen ja nicht in hochreiner Form zur Verarbeitung, sondern weisen Beimengungen auf, deren Anteile auf den Ort der bergbaulichen Gewinnung und Verhüttung hinweisen. Demnach kommt das verarbeitete Kupfer aus dem Ostalpenraum, wohl aus dem bronzezeitlichen Bergbaugebiet von Mitterberg bei Bischofshofen. Dagegen weist die Analyse des Goldes auf eine Herkunft aus Siebenbürgen hin. Allerdings gibt es hinsichtlich des Gehaltes an Zinn und Silber signifikante Unterschiede zwischen den Sternen, Sonne und Mond als eine Gruppe, dem rechten Horizontbogen und dem am linken verlorenen Horizontbogen versetzten Stern als zweite Gruppe sowie dem Sonnenschiffchen als drittes. Die konkreten Schlussfolgerungen daraus sind noch nicht bis ins Letzte klar, verweisen aber erneut auf verschiedene Herstellungsphasen der Scheibe.

Die Herkunft der Materialien für die Scheibe aus so unterschiedlichen Gegenden ist keine Überraschung. Längst wissen wir, dass während der Bronzezeit europaweite Handelswege von Skandinavien bis Griechenland, zumeist entlang der großen Flüsse, führten. Damit war auch die Möglichkeit eines Kulturaustausches über weite Strecken gegeben. Die weiten Fernhandelsbeziehungen führten dazu, dass heute die Bronzezeit als erste gesamteuropäische Epoche gesehen wird. Im heutigen Sachsen-Anhalt, besonders im Gebiet um Halle an der Saale, eingeschlossen Nebra, entwickelte sich eine auf der Gewinnung und dem Handel mit Salz beruhende Kulturlandschaft, die sich im reichhaltigen archäologischen Material widerspiegelt. Auf dem Mittelberg in der Nähe von Nebra muss sich ein in diesen Zusammenhängen stehendes, bedeutendes Kultzentrum befunden haben, in dem die Sonne und der Himmel insgesamt eine kultische Verehrung genossen. Und wenn auch diese Verehrung typisch bronzezeitlich ist, so steht doch die Art und Weise der bildlichen Umsetzung dieses Weltbildes auf der Himmelsscheibe von Nebra, gerade wegen ihrer nüchternen, geradezu rationalen Darstellung, bislang ohne jegliches Vorbild da.

Himmelskulte in prähistorischer Zeit

Ich sprach von den Traditionen der Himmelsbeobachtungen, in die die Himmelsscheibe von Nebra gestellt werden kann. Für diese gibt es interessanterweise in der näheren Umgebung von Nebra ein noch etwa 3000 Jahre älteres Objekt, die Kreisgrabenanlage von Goseck im Landkreis Weißenfels (s. auch folgende Abb.). Die Anlage wurde schon 1991 durch Luftbildvermessungen entdeckt und wird seit 2002 genauer untersucht. Nach sicherlich noch immer vorläufigen Resultaten stellt sich Folgendes dar: Der Kreisgraben weist einen Durchmesser von etwa 75 Metern auf, ist 1,50 Meter tief und 1,50 bis 2,50 Meter breit. Innerhalb dieser so eingegrenzten Fläche wurden zwei hölzerne Palisadenringe errichtet, die drei noch heute gut lokalisierbare schmale Durchgänge aufwiesen. Im Zentrum der Anlage konnten keine Baulichkeiten gefunden werden. Die Funde aus den Grabungen, Bruchstücke von Gefäßen, Feuersteinklingen und anderes, machten es möglich, die Anlage in die Zeit von 5000 bis 4800 v. Chr., der steinzeitlichen Epoche der Stichbandkeramik, zu datieren. Zudem kamen zahlreiche Tierknochen zum Vorschein, besonders Rinderschädelteile sowie Hörner, diese bevorzugt in den Eingangsbereichen.

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Rekonstruktionszeichnung der Ringwallanlage von Goseck.

Für die Geschichte der Himmelskunde ist folgender Befund von großem Interesse: In der Mitte der Anlage stehend blickt man durch das südöstliche Tor genau in die Richtung des Sonnenaufgangs zur Wintersonnenwende (Winteranfang) und durch das südwestliche Tor in die Richtung des Sonnenuntergangs an diesem Tag. Diese Richtungen sind so gut festgelegt, dass sich die Kreisgrabenanlage von Goseck als Kultstätte erweist, an der der jährliche Lauf der Sonne durch Beobachtung der wechselnden Auf- und Untergangspunkte am Horizont verfolgt und mit uns völlig unbekannten Zeremonien begleitet wurde. Dem „Sonnenpriester“ – diese spekulative Bezeichnung möge man mir gestatten – stellte sich das himmlische Geschehen so dar: Er beobachtete, wie sich seit dem Sommer der Aufgangsort der Sonne von der östlichen Richtung, von links, immer mehr seiner Visur durch das südöstliche Tor annähert. Andererseits rückt der Untergangsort immer mehr von Westen, von rechts, an die Visierrichtung durch das südwestliche Tor. Dabei wird der Tagbogen der Sonne und ihre maximale Höhe immer geringer. Um die Zeit der Wintersonnenwende schließlich kann der Beobachter den Auf- und Untergang der Sonne durch beide Tore beobachten. Bald danach nimmt er wahr, dass sich die Punkte bereits wieder in Richtung Osten beziehungsweise Westen verschieben.

Bei der Beobachtung dieses Himmelsschauspiels dürfen wir wiederum keine Tagesgenauigkeit erwarten. Einige Tage vor und nach der Wintersonnenwende verlangsamt sich die tägliche Verschiebung der Auf- und Untergangsorte der Sonne so, dass sie einer einfachen Visur, selbst unter Verwendung von Visierhilfen, kaum zugänglich gewesen sein wird. Hinzu kommen dann natürlich noch die Unbilden des Wetters, deren Einfluss jedoch durch einen langen Zeitraum der Beobachtungen minimiert werden kann. Ich denke, man wird den Kreisgrabenbeobachtern nicht Unrecht in der Annahme tun, dass sie mit einer qualitativen Feststellung der Sonnenwenden und ihrer mythischen Deutung zufrieden waren. Und die könnte lauten: Der Sonnengott – sicherlich wieder ein zu neuzeitlicher Begriff – nähert sich der Zeit seiner geringsten Kraft und Machtentfaltung, er ist müde, er hat Kämpfe gegen die Dunkelheit zu führen und der Mensch muss dem Bringer allen Lebens zur Seite stehen. Die Hilfe, welche die Menschen der Sonne erweisen konnten, sah man sicher in magischen Handlungen zur Stärkung ihrer Kraft, zur Vertreibung der Dunkelheit, vielleicht gar in der Herumführung eines Sonnensymbols. Indem die Menschen das Abbild der Sonne bewegten, konnten sie annehmen, damit auch der Sonne selbst zu ihrer erneuten Höherbewegung am Himmel zu verhelfen. Denn es ist ein uralter Grundzug magischen Denkens, dass man das, was man mit dem Abbild eines Objektes, Wesens oder Menschen tut, mit dem Abgebildeten selbst tut – man vergleiche die Marter oder das Verbrennen einer Strohpuppe.

Schon vor fast 7000 Jahren lebten im heutigen Sachsen-Anhalt Menschen, die ein Weltbild entwickelt hatten, in dem der Himmel, sicherlich vor allem die Sonne, eine zentrale Rolle spielte, die sich und ihr ganzes Leben in enger Beziehung zum Ablauf himmlischer Vorgänge sahen. Anlagen der Art, wie das Kreisgrabenwerk von Goseck, dürfen wir uns als heilige Stätten eines größeren Siedlungsgebietes vorstellen. Die geistige Nähe zur Himmelsscheibe von Nebra ist auffallend, denn auch hier sind ja in Gestalt der Randbögen die Auf- und Untergangsrichtungen der Sonne im Laufe des Jahres vergegenständlicht. Damit will ich nicht die direkte geistige Verbindung über die zwischen beiden liegenden 3000 Jahre hinweg behaupten, aber auf jeden Fall unterstützt Goseck die schon erwähnte lange geistesgeschichtliche Tradition, in der die Himmelsscheibe steht. Und auch für Goseck trifft zu, was für Nebra hinsichtlich der Langfristigkeit der Beobachtung himmlischer Vorgänge gesagt wurde, die erforderlich ist, bevor ein dementsprechendes Bauwerk errichtet werden kann. Und die Projektanten der Kreisgrabenanlage hatten sich ebenso wie ihre späteren Priesterkollegen in Nebra nach einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung aus den Prozessen der Gewinnung von Nahrungsmittel und handwerklicher Arbeiten im Kreis ihrer Gemeinschaften herausgelöst. Sie konnten sich geistigen Tätigkeiten widmen, sich in ein bevorzugtes Verhältnis zu den Göttern stellen, ein Weltbild entwickeln, in solchen Bauten, wie der Grabenanlage vergegenständlichen und damit die Kontinuität des Lebens, wie es sich ihnen darstellte, sichern.

Wie schon gesagt, wissen wir natürlich nicht, was für Zeremonien in der Anlage von Goseck zur Wintersonnenwende stattfanden. Sicher hingegen ist, dass etwas getan wurde. Und die Ausrichtung von Bauten in der Weise, dass Beobachtungen möglich wurden oder Beleuchtungseffekte, ist eine Sache, die sich über die Zeiten, über geografische Territorien und ethnische Zugehörigkeiten hinweg immer wieder findet. Bauwerke wurden so errichtet, dass sich an bestimmten Tagen des Jahres Beleuchtungseffekte einstellen, die nicht nur optisch wirksam sind, sondern eine kultische Funktion erfüllen. Dazu gehört das schon näher vorgestellte Stonehenge mit einem Alter von 3500 bis 5000 Jahren und auch das einigen Bauphasen von Stonehenge zeitlich nahestehende gewaltige Ganggrab von Newgrange, nordöstlich von Dublin, dessen kultische Intention dem allerdings wesentlich älteren Goseck nahe steht.

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Schema des Ganggrabes von Newgrange, Irland.

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Eingangskonstruktion (oben) und Gesamtansicht des Ganggrabes von Newgrange, Irland.

Das Ganggrab von Newgrange wurde vor 4700 bis 5500 Jahren nach sorgfältiger Planung in der Weise angelegt, dass die Sonnenstrahlen zur Wintersonnenwende, wenn die Sonne beginnt höher zu steigen und länger zu scheinen, bis zum Ende des 19 Meter tiefen Ganges vordringen. Die Länge des Ganges bewirkt eine so starke Bündelung, dass zwar das Sonnenlicht auch wenige Tage zuvor und danach die kreuzförmige Kammer am Ende erreicht, aber nur am entscheidenden Tag selbst das beeindruckende Schauspiel eintritt. Wir wissen nicht, welche Riten mit diesem Effekt verbunden waren, wer in der Kammer des Schauspiels harrte und welche Botschaft die Beteiligten anschließend dem auf freiem Feld wartenden Volk zu verkünden hatten. Aber es wird eine Botschaft der Art gewesen sein, dass nach einer Zeit des Niedergangs der Sonnengott nun im Begriff ist, seine Macht zurückzugewinnen, er im Kampf mit den Mächten der Finsternis siegte, mit seinem Lichtstrahl den Bund mit den Menschen erneuert hat und das Wachstum der Pflanzen und Tiere, Licht und Wärme verheißt. Mehrere gewaltige Steine der Grabanlage sind über und über mit Spiralen bedeckt.

Und um noch Beispiele heranzuziehen, die zeigen, in welch verschiedenen Kulturen und verschiedenen Zeiten Beleuchtungsphänomene eine religiöse, weltbildtragende Rolle spielen: An der um 455 n. Chr. erbauten Kukulcán-Pyramide der Maya in Chichén Itzá (Mexiko) „läuft“ an den Tagen des Frühlings- und Herbstanfangs der Schatten der untergehenden Sonne in eigenartiger Weise am Leib einer steinernen Schlange empor, bevor das ganze Bauwerk in Dunkel gehüllt ist. Dort wo der letzte Lichtfleck verschwindet, befindet sich eine Kammer mit dem juwelenbesetzten Standbild des heiligen Jaguars. Dieses Schauspiel durch schattenwerfende Kanten setzt gute Kenntnisse vom Sonnenlauf an einem bestimmten Beobachtungsort voraus. Ein im Prinzip ähnliches Phänomen wird in dem etwa 1800 Jahre zuvor erbauten großen Tempel von Ramses II. in Abu Simbel bei Assuan (um 1260 v. Chr.) erzeugt. An zwei Tagen des Jahres, dem 18. Oktober, dem Neujahrsfest des ägyptischen Jahres zu Ramses‘ Zeiten, und am 22. Februar leuchtet die Sonne bei ihrem Aufgang für kurze Zeit tief in den Tempel hinein, um am Ende eines 60 Meter langen Ganges die Statue des Pharao zu treffen. Für Ramses und seine Zeitgenossen war das keine Spielerei; der Bau des Tempels wurde sorgfältig angelegt, damit die in dem langen Gang gebündelten Sonnenstrahlen das Bild des gottgleichen Pharao trafen – Leben und Wiedergeburt für Ramses sichernd, durch die Berührung mit dem Sonnengott die Göttlichkeit des Pharao bekräftigend.

2. Die Suche nach der Erklärung der Himmelserscheinungen