Ewald Arenz
Don Fernando
erbt Amerika
Fantastischer Roman
ars vivendi
Die Originalausgabe erschien 1996 im G&S Verlag, Zirndorf
Überarbeitete und behutsam korrigierte Neuausgabe im ars vivendi verlag
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage August 2012)
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Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-86913-188-7
Obgleich Nürnberg im Allgemeinen für eine schöne Stadt gehalten wird, so sind sich doch die Bewohner der richtigen deutschen Großstädte darin einig, dass es eine Strafe ist, in Nürnberg zu wohnen.
Die wenigsten bedenken dabei, wie schlimm es erst sein muss, über siebenhundert Jahre lang in Nürnberg leben zu müssen.
Noch schlimmer allerdings erscheint es, in Nürnberg tot zu sein.
1
»… und wenn wir erst bedenken, meine Damen und Herren, liebe Russen«, sagte der Bürgermeister soeben zu der russischen Delegation, machte eine kleine Pause für den Dolmetscher und sprach weiter: »dass aus Nürnberg seit jeher Waren in alle Welt gehen; nicht umsonst heißt es: ›Nürnberger Tand geht in alle Land‹, wie wir unten am Hauptmarkt auf der Apotheke sehr schön gemalt lesen können; wenn wir das erst bedenken …«
Er verstrickte sich in seiner eigenen Diktion und stockte.
Der Dolmetscher grinste verstohlen. Dieser Spruch mit dem Tand hatte ihm schwer zu schaffen gemacht.
»Hau mi nauf«, flüsterte der Bürgermeister und suchte in seinen Papieren. Die russische Delegation gähnte. Sie hatte am Abend zuvor mit Vertretern der Nürnberger Industrie- und Handelskammer essen müssen. Und weil immer alle glauben, der Russe an sich schütte jeden Abend Unmengen an Wodka in sich hinein, hatten Igor Jenewgij, Pawel Chruschtschow (er konnte nichts für seinen Namen und war die ständigen Anspielungen schon seit Jahren leid) und Pjeta Weiß eben Unmengen an Wodka in sich hineinschütten müssen. Nun stellten alle drei bedauernd fest, dass sie offensichtlich keine Russen an sich waren, denn sie konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. Der Bürgermeister hingegen war auf der Höhe seiner Leistungskraft und suchte energisch in seinen Papieren nach der Klimax – seiner Rede, versteht sich.
Kathrin Gottsched hingegen stand an eine Säule gelehnt und hatte ihren Block dankbar sinken lassen. Sie arbeitete mittlerweile seit über drei Jahren bei der Zeitung und musste immer noch diese miesen Jobs machen, weil alle ihre Kollegen sich vor dem Bürgermeister drückten. Ihre körperliche Verfassung bewegte sich in etwa auf dem gleichen Niveau wie die der russischen Delegation. Sie hatte zwar nicht getrunken, aber den halben Abend mit ihrem Freund – jetzt Exfreund – Christoph diskutiert. Genauer gesagt, hatte sie diskutiert und er getrunken. Kathrin mochte Christoph, das stand außer Frage. Was sie definitiv nicht mochte, war seine Art zu leben. Christoph hatte vor einem halben Jahr zum Doktor der Physik promoviert. Selbstverständlich hatte er keinen Job bekommen – die Stellenaussichten für Physiker entsprachen im Augenblick denen von Fünfjährigen auf die Kanzlerschaft. Christoph war nicht unglücklich darüber, hatte ein schäbiges Büro gemietet und an dessen Tür ein Schild gehängt, auf dem »Braintrust – Problemlösungen jeder Art« stand, und behauptete seitdem, sein Beruf sei »Ideenhändler«. Das Problem war nur, dass technische Probleme, die ein arbeitsloser Physiker lösen kann, meistens von den Physikern gelöst werden, die Arbeit haben. Aber das ignorierte Christoph und behauptete, seine Lösungen seien kosmischer Art. Er fand, dass die meisten Lösungen zehn weitere Schwierigkeiten nach sich zögen, und verwies auf die Erfindung von Sex als Lösung des Fortpflanzungsproblems, auf die Atomkraft als Lösung des Energieproblems und generell auf die Einführung des öffentlichen Nahverkehrs. Wenn er nur einmal einen Auftrag bekäme, würde er Kathrin zeigen, dass seine Problemlösungen echte Lösungen wären. Danach wäre alles gut. Wenn er nur ein Problem bekommen würde.
Na gut, dachte Kathrin, das hatte er jetzt. Gestern Abend hatten sie sich getrennt. Und dann war sie nach Hause gegangen, hatte sich Tee gemacht und blöderweise auch noch geheult. Und natürlich hatte sie nicht schlafen können und dann musste sie auch schon wieder zu diesem Termin. Ein absolut mieser Anfang eines miesen Tages. Sie fühlte sich zerschlagen und widmete sich der Pflege ihrer gut genährten Abneigung gegen den Bürgermeister, dessen Reden sie seit Jahren mitstenografierte, nur um in der Redaktion resigniert festzustellen, dass sich ihre Notizen wie ein Ei dem anderen glichen und sich ihre Artikel in den Schubladen stapelten, weil sie sowieso nie gedruckt wurden. Gedruckt wurden die Fotos. Eigentlich hätte sie zu Hause bleiben können. ›Warum erschießen ihn eigentlich die Russen nicht einfach?‹, überlegte sie. ›Es wäre ganz leicht. Da drüben, der Lange mit dem Mantel, er zieht seine Kalaschnikow und – bamm bamm bamm bamm – legt ihn einfach um. Und ich bin mit meinem Bericht auf der Titelseite.‹
»Hau mi nauf!«, sagte der Bürgermeister wieder, diesmal jedoch lauter und überraschter. Denn die Doppeltüren des Saales waren soeben aufgesprengt worden. Ein Mann mit strengem Kinnbart blickte suchend in den Saal, entdeckte den Bürgermeister, stieß die Türen ganz auf und ging hinein. Der Mann klirrte ungewöhnlich laut. Das kam von der Rüstung, die er anhatte, dem Schwert, das an seiner Seite hing, und dem Visier, das offensichtlich dazu neigte, immer wieder herunterzuklappen. Zehn bis zwölf ziemlich große Ritter folgten ihm, ebenso klirrend, sie sagten zu ihrem Anführer irgendetwas, das sich für Kathrins Ohren nur entfernt wie Deutsch anhörte, der erste Ritter nickte und zeigte auf den Bürgermeister. Darauf traten zwei von ihnen vor, nahmen den Bürgermeister in die Mitte und schleppten ihn aus dem Saal. Der Anführer machte eine etwas steife Verbeugung vor Kathrin, winkte den Russen zu und folgte seinen Leuten, die den strampelnden Bürgermeister eben die Treppe hinunterschafften – und zwar, wenn man dem rhythmischen Bumm Bumm Bumm trauen konnte, mit dem Kopf nach unten. Die russische Delegation klatschte begeistert, Kathrin schoss ein Foto nach dem anderen und der Dolmetscher hob beide Daumen, um seine Anerkennung auszudrücken, als er durch das offene Fenster sah, wie man den Bürgermeister an den Schweif eines der wartenden Pferde band. Kathrin freute sich. Nun hatte die Stadt sich ausnahmsweise etwas einfallen lassen, und ihr Artikel würde bestimmt erscheinen, wenn auch nur auf der Lokalseite. Zufrieden schaltete sie die Kamera aus und kam mit Igor ins Gespräch, als sie zusammen mit der Delegation den Raum verließ. Die Russen verstanden alle ziemlich gut Deutsch, weswegen der Dolmetscher zunächst beleidigt war, sich aber wieder aufheitern ließ, da sich alle über das gelungene Ende des Empfangs freuten und Igor den Dolmetscher und Kathrin zum Frühstück einlud. ›Doch kein so mieser Tag‹, dachte sie erheitert, als sie in die kalte Januarluft hinaustrat und auf die Stadt hinabsah.
2
Das Adjektiv, das Christoph beim Aufwachen bei noch geschlossenen Augen durch den Kopf schwirrte, war »grauenvoll«. Interessanterweise sah er es gedruckt vor seinem inneren Auge, samt Ausrufezeichen. Das Wort war offensichtlich auf der Suche nach einem Hauptwort. Christoph wollte es nicht aufhalten – er wollte schlafen. Aber es schien, als ob das »grauenvoll« beim Durchsuchen seines Kopfes einen ziemlichen Lärm machte. Es zischte unzufrieden, als es die Worte »Nacht«, »Besäufnis«, »Musik«, »Kneipe« und »körperlicher Zustand« auf ihre Tauglichkeit prüfte. Dann klapperte es mit dem Ausrufezeichen an irgendwelchen Eisenstäben entlang, was einen schrecklichen Lärm ergab. Christoph wollte dem Wort helfen und bot geistesgegenwärtig »Lärm« an. Der Erfolg war, dass sich das »grauenvoll« wütend im Kreis zu drehen begann und Christoph schlecht wurde.
Ziemlich schlecht.
Nahezu – aber nicht ganz – grauenvoll schlecht.
Christoph riss die Augen auf, stand vom Boden auf, wo er offenbar geschlafen hatte, und tastete sich über Bébé hinweg, der auch auf dem Boden lag, zum Klo. Als er es nicht fand, merkte er, dass er nicht in seiner eigenen Wohnung war. Er drückte eine Tür auf und sah eine Frau, die eben Eier und Kaffee kochte und mit einem Schneebesen auf den Töpfen Schlagzeug spielte.
Sie sah Christoph, grinste ihn an und sagte fröhlich: »Guten Morgen! Na, wieder fit?«
Christoph sah sie blicklos an, probierte kurz, ob die Wörter »fit« oder »Morgen« zu »grauenvoll« passten, kam zu einem schmerzhaft negativen Ergebnis und krächzte: »Klo?«
»Hier lang, Junge«, sagte die Frau fröhlich und öffnete die Tür gegenüber. Christoph wankte in ein rosafarbenes Bad, das keine heilende Wirkung auf seine Übelkeit hatte, erwog kurz, sich zu übergeben, entschied sich dagegen und begann, viel Wasser zu trinken. Das schien zu helfen. Als allerdings die Übelkeit nachließ, drängte sich die Erinnerung an den vergangenen Abend in sein Gedächtnis, weigerte sich jedoch beleidigt, ihn darüber aufzuklären, in wessen Wohnung er sich befand und wer die junge Frau in der Küche war. Das sah alles gar nicht gut aus. Dieser Tag begann nicht schön. Christoph sah in den Spiegel und konnte förmlich spüren, wie sich das Wort »grauenvoll« mit befriedigtem Klicken an das Wort »Tag« anhängte. Das sollte offensichtlich eine dauerhafte Beziehung werden.
Und dann übergab er sich doch.
Auf dem Hauptmarkt war der Betrieb zu dieser Vormittagsstunde eher mäßig. Im Januar lassen die Touristenströme immer stark nach – und der Obstmarkt ist nicht von so berauschender Anziehungskraft, dass um zehn Uhr morgens kein Durchkommen mehr wäre. Dennoch fand die kleine Gruppe Ritter zu Pferde einige Aufmerksamkeit, als sie, von der Burg herabkommend, beim Schönen Brunnen auf den Hauptmarkt einbog. Das lag zum einen an den prächtigen Rüstungen, die sie trugen und die sich in der tiefstehenden Januarsonne sehr hübsch ausnahmen – wenngleich hie und da jemand kritisch bemerkte, dass echte Rüstungen nie so silbern glänzen würden –, zum anderen jedoch daran, dass der Bürgermeister an den Schwanz des letzten Pferdes gebunden war und hinterhergeschleift wurde, wobei er jämmerlich um Hilfe schrie.
»Schade«, bemerkte einer der Marktleute, »sie hätten ihm auch was Altes anziehen sollen. So ist es irgendwie unecht. Aber eine schöne Idee!«
Der Anführer der Gruppe war im Vergleich zu seinen Kollegen eher klein gewachsen, aber dafür trug er eine schäbige Pfauenfeder am Helm. Auch hier waren sich Hausfrauen und Marktleute einig, dass man sich mit den Kostümen etwas mehr Mühe hätte geben können. Der Trupp bahnte sich einen Weg am Rathaus entlang, kümmerte sich nicht um die Hochzeitsgesellschaft, die eben vor dem Tor des Rathauses fotografiert werden sollte und ziemlich ungehalten Platz machte, bog an der Frauenkirche ab und zog stadtaufwärts gen Lorenzkirche. Der Bürgermeister im Schlepptau schrie jämmerlich. Einige Punks, die am Eingang zur U-Bahn herumhingen, machten abfällige Bemerkungen über die Wahlkampfstrategien der CSU, aber sie schlossen sich trotzdem an. Unter Protest natürlich.
Als der kleine Trupp mit dem mittlerweile langen Tross auf dem großen freien Platz vor den imposanten Türmen der Lorenzkirche angekommen war, stiegen alle Ritter, bis auf den Anführer, ab. Die Menge hatte den üblichen Kreis gebildet und hie und da flogen auch schon Münzen in einen der achtlos beiseitegestellten Helme. Die Ritter nahmen mit geübten Griffen einige Holzstangen und -klötze aus den Packtaschen und hatten sie im Nu zu Pranger und Richtblock zusammengebaut, die nun genau in der Mitte des Platzes standen. Der Bürgermeister hing in seinen Fesseln und kreischte mit rotem Kopf: »So helft doch, helft doch!« und erhielt einen kleinen Extraapplaus. Einer der Ritter setzte ein Horn an und blies ein Signal. Daraufhin entrollte der Anführer ein Pergament und verlas in einer unverständlichen Sprache einige Sätze. Dann zog er seinen Degen und hielt ihn hoch in die Luft. Ein Raunen ging durch die Menge und es wurde einen Augenblick still. Es war ein außerordentlich schöner Degen – er sah aus, als würde er leuchten. Augenblicklich zerrten zwei Ritter den Bürgermeister zum Richtblock und zwangen seinen Kopf in den Pranger. Die Menge brüllte vor Lachen, weil das Gesicht des Bürgermeisters so komisch aussah. Der Ritter ließ den Degen in einer komplizierten Figur singend durch die Luft kreisen und dann genau vor dem Gesicht des Bürgermeisters in das Pflaster sinken, wo der Degen schwankend steckenblieb.
Erst klatschte die Menge, aber als der Bürgermeister blau anlief und offenbar einen Herzinfarkt vortäuschte, fanden sie diese Art Wahlkampf nicht mehr lustig, gingen einfach auseinander, taten so, als hätten sie nichts gesehen, und fuhren fort, ihre Einkäufe zu erledigen. Währenddessen packten die Ritter wieder zusammen, hoben den strampelnden und vor Wut kreischenden Bürgermeister auf ein Pferd und verschwanden schnell und leise, wobei einer der Ritter fluchend seinen Helm noch einmal abnahm und diverse Münzen ausschüttete, die darin lagen. Nur die Punks fanden den Auftritt cool und einer von ihnen beschloss sogar, von nun an konservativ zu wählen.
Sie hätten den Auftritt unter Umständen noch cooler gefunden, wenn sie gesehen hätten, dass die Ritter direkt hinter der Kirche von ihren Pferden stiegen, ihnen die Sättel und den Bürgermeister abnahmen und in einen Kleinbus wechselten, der in der Einfahrt zur Parkgarage der Deutschen Bank stand.
Die Pferde – nunmehr im wahrsten Sinne des Wortes ungebunden – begaben sich zu Karstadt und fanden die Feinkostabteilung. Im Gegensatz zum Bürgermeister war der Tag für sie ein voller Erfolg.
Christoph war – für sich betrachtet – nicht das, was ein unbeteiligter Beobachter für den Durchschnitt der menschlichen Rasse gehalten hätte. Zum einen war er dafür zu intelligent und zum anderen teilte er die Verachtung einzelner Individuen für den Rest der Menschheit nicht im gleichen Maße. Er neigte dazu, die Dinge in einem anderen Licht zu sehen. Durch eine ungewöhnliche Kindheit, in der viele Bücher, eigenwillige Geschwister, ein abgelegenes Juradorf und etwas sonderbare Eltern eine tragende Rolle gespielt hatten, war er zu einem Mann geworden, der weder sich selbst noch die Umwelt wirklich ernst nahm. Er konnte durchaus hervorragend vorgeben, vernünftig und erwachsen und ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, aber innerlich amüsierte er sich dabei. Das Problem war: Er sah immer noch einen Sinn im Leben, glaubte, das Ganze würde doch noch zu irgendeinem Ziel führen und hielt die meisten Menschen im Innersten für gut.
Nachdem das aber weder in unserem Jahrhundert noch in überhaupt irgendeinem Zeitraum der bekannten Historie en vogue ist und war (die meisten Leute, die diesen Modetrend zu etablieren versuchten, endeten entweder am Kreuz oder auf dem Scheiterhaufen) und Christoph zudem – wie schon oben angemerkt – intelligent war, sagte er vorsichtshalber das, woran er glaubte, als sei es nicht ernst gemeint. Was ihm den Ruf eines brillanten Zynikers einbrachte.
Im Augenblick allerdings war er sich nicht sicher, ob sich eine dreißig Jahre alte, gut fundierte Weltsicht gegen einen Kater durchsetzen konnte, der gerade erst zehn Minuten alt war. Er verschob dieses Problem auf später. Zuerst musste er herausfinden, wo er war. Das Bad war kein echter Anhaltspunkt, außerdem waren die rosafarbenen Kacheln nicht gut für seinen Magen. Er öffnete das Dachfenster, stellte sich auf die Toilette, wobei ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, den Deckel zu schließen, und sah hinaus. Die kalte Luft war ein Schock. Aber sie öffnete ihm wenigstens vollständig die Augen. Über den Rand des Daches hinweg konnte er auf die Straße hinuntersehen. Offensichtlich war er im dritten Stock eines Hauses am Burgberg. ›Aha‹, dachte er, ›Nürnberg. Immerhin.‹
Dann musste links oben die Burg sein. Er verdrehte den Kopf, um nach oben zu sehen. Keine gute Idee, fand sein Magen, aber er kämpfte die Übelkeit nieder. Von unten klangen Hufschläge herauf. Er sah einen Trupp Ritter den Berg hinabreiten. Na toll! Wenn heute irgendein Fest in der Stadt war, wurde ihm garantiert das Auto abgeschleppt.
Wenn er mit dem Auto gefahren war.
Vielleicht waren sie ja mit Bébés Auto gekommen. Wenn er nur wüsste, wer diese Frau war und ob sie nun Bébé oder ihn abgeschleppt und den jeweils anderen nur in Kauf genommen hatte. In moralischer Hinsicht war das irgendwie wichtig. Denn er war ja nun seit gestern solo, Bébé hingegen …
Christoph wusch sich mit kaltem Wasser, kramte nach Handtüchern und einer Zahnbürste, fand keine neue und benutzte kaltblütig eine der gebrauchten. Diesen schalen Alkoholgeschmack loszuwerden, war ein gewisses Infektionsrisiko wert. Dann verließ er das Bad und ging zurück in das Zimmer, in dem er sich vorhin gefunden hatte. Bébé und die junge Frau saßen beim Frühstück – Bébé mehr am Kaffee, obwohl er ein Hörnchen auf dem Teller hatte. Ein kurzer Augenkontakt genügte und Christoph wusste, dass Bébé genauso wenig ahnte, wie sie hierhergekommen waren. Das konnte ein wirklich fantastisches Frühstück werden!
Christoph setzte sich, goss sich Kaffee ein und lächelte die junge Frau unsicher an: »Äh, sag mal, wann sind wir eigentlich heimgekommen?«
»Ungefähr gegen fünf, würd’ ich mal sagen.«
Bébé schaltete sich ein: »Und von wo?«
Die junge Frau lachte ungläubig: »Jetzt habt ihr wahrscheinlich auch vergessen, wie ich heiße, ja?«
»Nö, kein Gedanke …«, beeilte sich Bébé zu antworten und Christoph sagte: »Nie im Leben! Nach so einer Nacht …«
»Eben«, sagte ihre Gastgeberin und lächelte breit.
Christoph hätte sich ohrfeigen können. Da war die Chance gewesen und er hatte sie nicht wahrgenommen. Unter dem Tisch trat er Bébé, gerade, als der ihn auch treten wollte. Als Physiker, der er war, hätte Christoph genau erklären können, nach welchen Gesetzen zwei Körper im Normalraum nicht zur selben Zeit am selben Platz sein können, weshalb ihrer beider Knie nach oben schießen mussten und den Tisch plötzlich gewaltig beschleunigten. Die Tischkante traf die Frau am Kinn und ließ sie in ihrem Stuhl hintüber kippen. Kaffee und Orangensaft gewannen gegen den Tisch das Rennen, wer zuerst auf der jungen Frau landen würde, die Brötchen flogen in den Gang und der Tee kam zwischen Christoph und Bébé herunter, wobei sich die Designerglaskanne verabschiedete. Das Tischtuch segelte irgendwie verspätet herab und landete elegant auf dem Gastgeberhaufen. Christoph machte einen schwachen Versuch, den Tee aus dem CD-Player zu entfernen, auf dem er zu sitzen gekommen war, schloss ihn dann jedoch einfach. Bébé war in die Marmelade getreten und benutzte einen Stofffetzen zum Säubern, der sich jedoch bedauerlicherweise als Teil einer Seidenbluse erwies. Erschwerend kam hinzu, dass die Frau eben diese Seidenbluse anhatte und ein kurzes, aber erbittertes Ringen um den Stoff einsetzte. Bébé war noch nicht ausreichend nüchtern, um sämtliche Kausalzusammenhänge zu erkennen, aber schon wieder gefestigt genug, um als Sieger im Kampf um die Bluse hervorzugehen. Ein reißendes Geräusch begleitete die teilweise Entkleidung der halb unter dem Tisch begrabenen Frau. Außerdem waren die Spiegeleier in die Bügelwäsche gefallen. Bébé stieß den Korb schnell unter das Sofa. Christoph hob bewundernd den rechten Daumen, was Bébé mit einer bescheidenen Geste zurückwies.
»Sorry«, sagte er dann mit belegter Stimme nach einer kurzen Pause in Richtung des Tisches, der kläglich seine Stahlrohrbeine in die Luft streckte.
»Würdet ihr bitte den Tisch von mir nehmen«, kam eine eisige Stimme vom Boden. Man hatte nicht den Eindruck, als müsse die Besitzerin dieser Stimme ein breites Grinsen unverfälschten Glücks unterdrücken. Um genau zu sein, wäre kein freundschaftliches Gefühl je auf den Gedanken gekommen, sich von dieser Stimme zu jemandem tragen zu lassen. Es wäre vielmehr weinend davongehuscht, hätte sich in einer Ecke verkrochen und beschlossen, sich niemals wieder einer Stimme anzuvertrauen.
»Klar, Gisela«, sagte Christoph, der mittlerweile auf den Namen und die Beine gekommen war, und reichte ihr eine Hand. Gisela stand auf und kämpfte nicht nur um ihr körperliches Gleichgewicht. Sie sah auf Bébé und Christoph, dann wieder auf den Rest des Frühstücks und die zerstörte Wohnung und sagte dann frostig: »Nicola! Der Name ist Nicola!«
Bébé sah Christoph an. Christoph sah Bébé an. Das war peinlich. Keinem von beiden fiel auf die Schnelle ein geistreicher Spruch ein. Nicola schien aber auf so etwas zu warten. Bébé stieß Christoph heimlich an.
»Ääääh …«, sagte Christoph.
»Vielleicht geht ihr jetzt besser«, sagte Nicola.
Christoph und Bébé rafften ihre restlichen Klamotten zusammen und flohen. Erst, als sie unten auf der Straße standen und sich ansahen, mussten sie lachen.
»Fängt klasse an, der Tag«, sagte Bébé.
»Mhm«, antwortete Christoph, »hat was, der Tag. Ich habe nämlich meinen Tabaksbeutel bei Gisela vergessen. Gehst du noch mal hoch?«
»Ohne Frage, Alter«, sagte Bébé, »ich hoffe nur, dass ich zu besoffen war und nichts mit Gisela angefangen habe.«
»Besser, du kannst dich nicht erinnern. Macht sicher keinen Spaß mit der Frau, wenn ihr schon ein Tisch zu schwer ist.«
Bébé grinste: »Gehen wir Kaffeetrinken, Alter?«
»Immer!«, antwortete Christoph und versuchte auch ein Grinsen. Es klappte ganz gut. War wohl doch kein so grauenvoller Tag.
3
Einer der Gründe, warum die Entdeckung Amerikas durch Erik den Roten kein voller Erfolg war, lag daran, dass in dem Augenblick, als Erik aus seinem Boot sprang und gerade sagen wollte: »Das hier für mich, der Rest für euch!«, ein Raumschiff mittlerer Größe mit einem grauenvollen Kreischen in die Atmosphäre eintrat und über Eriks Kopf hinweg nach Süden schoss. Die Druckwelle zerfetzte den Wikingern die Segel von Emma, wie Erik sein Schiff in sentimentaler Erinnerung an seine Jugendliebe getauft hatte. Außerdem wurde Erik mit dem Gesicht in den Strand gepresst, und die Westküste Labradors ist nicht für ihren feinen weißen Sand berühmt. Als Erik sein Gesicht aus der toten Robbe nahm, fragte sein Bruder Leif, der Barde, vom Bugrand herunter:
»Äh, Erik … Vielleicht möchte Thor nicht, dass wir in dieses Land kommen?«, woraufhin Erik wütend zurückbrüllte:
»Vielleicht ist Thor einfach ein Riesenar…«
BUMMMM!
Das war der Überschallknall, als das Raumschiff zum zweiten Mal die Erde umkreiste, weil es Mexiko nicht gefunden hatte. Die Druckwelle kam nicht ganz hinterher, gab sich aber redliche Mühe und schubste Eriks Kopf zurück auf den Strand.
Erik sah der Robbe tief in die gebrochenen Augen. Hatte keinen Sinn, sich eine andere Robbe zu suchen. Diese hier kannte er schon. Vielleicht würde er sich sogar an sie gewöhnen – wenn der Luftdruck ihm nicht die Trommelfelle platzen ließ.
Diesmal nahm die Druckwelle die Masten und Leif mit, der sich nicht rechtzeitig geduckt und schon immer eine Vorliebe für lose, weite Kleidung gehabt hatte.
Der Rest ist bekannt. Erik besiedelte das Land nicht und Leif wurde zunächst Mitglied eines Stammes im Mittleren Westen der späteren USA, die sich – nach einer ihrer bevorzugten Drogen – »Mescaleros« nannten. Aus historischer Sicht macht das keinen Unterschied, außer dass McDonald’s heute Eriksen’s hieße und Fishburger verkaufen würde. Leifs interessante Karriere begann erst ein paar Jahre später.
Der Pilot an Bord des Raumschiffes fand Südamerika beim zweiten Überflug auf Anhieb und setzte zum Sinkflug an.
»Fantastisch«, sagte er zu Gilead, der neben ihm stand, »sieh dir diese Landebahn an. Da hat sich einiges getan seit dem letzten Mal.«
»Das letzte Mal war nach Ortszeit vor 1336 Jahren«, sagte Gilead düster, »und ich wäre dir dankbar, wenn du mich einfach absetzen würdest, ohne die Architektur zu bewundern.«
»Okay, okay, Gilly-Boy«, sagte Misrah, woraufhin Gilead deutlich zusammenzuckte. »Ich bin ja nur der Pilot und du der große Verbannte. Mexico, hä? Von hier haust du nicht ab, Gilly-Sugar.«
Nach Gileads blutunterlaufenen Augen zu schließen, schätzte er gerade die Chance ab, den Piloten zu töten und trotzdem heil landen zu können. Sie stand extrem schlecht. Gilead konnte nicht einmal einen Scooter anständig landen.
»Mexico ist was anderes als Atlantis, Gilly-Honey, die bauen hier keine Raketen. Und Atlantis ist untergegangen, Gilly-Maus. Keine Raketen für dich.«
»Fesselballons!«, sagte Gilead düster.
»Was?«
»Fesselballons. Sie haben schon Fesselballons entwickelt.«
»Ist nicht wahr?«
Der Pilot war ehrlich erschrocken.
»Doch«, sagte Gilead boshaft, »und sie arbeiten schon an Düsenantrieben. Große Menschenopfer und so, riesige Flugwerke; unterirdisch. Sind ziemlich schlau, diese Azteken!«
Der Pilot sah ihn zweifelnd an.
»Doch, doch«, bekräftigte Gilead. »Wofür, meinst du, haben sie diese Landebahn angelegt, auf die du gerade runtergehst? In zehn, zwanzig Jahren bin ich wieder draußen.«
»Ich höre überhaupt nicht hin«, sagte der Pilot und sang laut: »Halleluja, halleluja, der Tag ist da, der Tag ist da …«
Er landete auf einer der Bahnen, die von den Azteken auf den südamerikanischen Hochebenen angelegt worden waren. Mit seinen Düsentriebwerken zerstörte er unabsichtlich den geheimen Eingang zu den aztekischen Flugwerken und schloss damit sämtliche hochkarätigen aztekischen Wissenschaftler in ihren Labors für – na ja, fast – immer ein. Da sie gerade dabei waren, ihre ersten Propellermaschinen zu entwickeln, als der Pilot den Granit ihrer Tore verschmolz, hatte Cortés ein paar Jahre später leichtes Spiel mit den restlichen Azteken. Denn die waren nach diesem Erlebnis konsequenterweise dazu übergegangen, ihre Regierung und ihr Wohlergehen nie wieder der Intelligenzija anzuvertrauen. Ganz im Gegenteil hatten sie nun traditionell den jeweils Dümmsten aller Stämme zum König bestimmt. Die moderne Archäologie sucht deshalb vergeblich nach Spuren einer hochstehenden späten Kultur der Azteken. Es gibt keine.
Außer den Flugwerken.
Sie standen neben dem Schiff. Das Metall der Düsen zog sich knisternd zusammen, als es abkühlte. Kein Mensch war zu sehen.
»Also, tschüs!« sagte der Pilot und wollte einsteigen.
»Halt!«, sagte Gilead. »Du kennst doch die Vorschriften, oder?«
Er zitierte aus dem Kopf: »Der Verbannte ist an einem Teil der Erde abzusetzen, wo die örtliche Bevölkerung ihm freundlich gesonnen ist und sein Überleben gesichert ist. Urteil 26773 des Sironischen Gerichtshofs zur Verbannungsgesetzgebung. Und hier ist keine örtliche Bevölkerung.«
Der Pilot war nicht überzeugt. Wenn er jetzt noch einmal aufsteigen müsste, käme er zu spät zur Abendvorstellung im Kristallan.
»Es gibt Ameisen«, wandte er ein. »Örtliche Bevölkerung.«
»Sind mir nicht freundlich gesonnen.«
»Aber du kannst sie essen. Dein Überleben ist gesichert.«
»Oder sie essen mich. Nein, nein, mein Lieber: örtliche Bevölkerung und freundlich gesonnen und gesichertes Überleben!«
Der Pilot knirschte mit den Zähnen, forderte ihn mit einer außerordentlich obszönen Geste zum Einsteigen auf, stieg zum Oberdeck und veranlasste die Automatik, die Luke wütend zuknallen zu lassen.
Man kann wütend Fahrrad fahren. Das ist meistens schlecht für die Haut im Ellenbogen- und Kniebereich.
Man kann auch wütend Auto fahren. In den meisten Fällen regeln das die Versicherungsunternehmen, und die Hinterbliebenen kaufen sich ein neues Auto.
Man kann nicht wütend ein Raumschiff fliegen. Das regelt kein Versicherungsunternehmen. Und die Seen in der schwäbischen Eifel sind nicht das Ergebnis von Meteoriten, obwohl die Eifel ein Teil der Erde ist, in dem es, kurz bevor die Seen überraschend entstanden, eine örtliche Bevölkerung gab, die freundlich war und die das Überleben jedes Fremden gesichert hätte.
Man kann den Bevölkerungsteilen, die nicht dort waren, wo die Seen entstanden, nicht verdenken, dass sie nach der Fertigstellung des neuen Naherholungsgebietes nicht mehr freundlich gegenüber Fremden waren und deren Überleben auch nicht mehr gesichert war.
»Wo sind wir?«
»Tot!«
»Wo, nicht was, du Pilot!«1
1 Ursprünglich war »Pilot« nie ein Schimpfwort. Allerdings reichte Gileads besondere Aussprache dieses Worts, um den überlebenden Bauern die Schamröte ins Gesicht zu treiben. Deshalb übernahmen sie es sofort, aber aufgrund der bekannt schlampigen Aussprache der Schwaben wurde das Wort, vom Mittelhochdeutschen ausgehend, zu »Idiot« verballhornt. Dass das neue Wort »Pilot« heute nahezu die gleiche Bedeutung wie vor tausend Jahren hat, ist ein unglaublicher Zufall.
»Wir waren zuletzt über Festland.«
»Kontinent?«
»Europa.«
»Scheiße. Land?«
»Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation.«
»Scheiße. Gebiet?«
»Schwaben.«
»Oh Gott!«
Einer der Gründe dafür, dass Schwabens Entdeckung durch Gilead einen solch unglaublichen Effekt auf die Geschichte hatte, ist der Umstand, dass sich der Stauferkaiser gerade nach einem Burggrafen für die kaiserliche Pfalz umsah. Denn Graf Friedrich von Hohenzollern war bedauerlicherweise gerade in dem Gebiet zur Jagd gewesen, das dann so bestürzend plötzlich als Seengebiet ausgewiesen wurde. Nachdem sich Gilead dem Grafen im Aussehen angepasst hatte, ernannte ihn der Kaiser zum Burggrafen von Nürnberg. Wie bekannt ist, sind einige Hohenzollern später dann nach Brandenburg gezogen, wurden dort zwangsläufig Preußen, die Preußen wurden Großmacht, einten Deutschland und verloren zwei Weltkriege. Deshalb ist Nürnberg heute auch keine halb zerfallene, alte und hässliche Stadt wie etwa Liverpool, sondern eine prosperierende Metropole, deren Hausmauern allerdings meistens aus Steinen anderer Hausmauern gebaut wurden. Für die meisten dieser Dinge war Gilead persönlich verantwortlich. Allerdings hatte er sich vor dem 20. Jahrhundert aus der aktiven Politik zurückgezogen und kann daher nicht für die letzten beiden Kriege haftbar gemacht werden.
Die meisten Historiker lehnen übrigens die These ab, dass ein geschichtliches Unrecht durch gute Taten wieder ausgeglichen werden kann. Trotzdem sind sich viele deutsche Geschichtswissenschaftler stillschweigend darüber einig, dass Bismarcks Entscheidung, das Deutsche Reich ohne Österreich zu gründen, den Krieg 1866 zumindest teilweise rechtfertigte.
Paris hätte ein Deutschland mit Österreich sowieso nie akzeptiert.
Und alle Historiker stimmen darin überein, dass in ästhetischen Fragen das Paris des 19. Jahrhunderts tonangebend war.
4
Physische Unsterblichkeit ist im Universum nicht vorgesehen. Über die Unsterblichkeit der Seele herrscht Unklarheit in der Terminologie. Die meisten Bewohner des Universums, also die Erdbewohner und die Bewohner des Planeten Siron im Sternensystem Beteigeuze, sind sich allerdings darüber einig, dass physische Unsterblichkeit ein nettes Ideal ist.
Aber Schönheit ist auch ein nettes Ideal, und die Leute heiraten trotzdem.
Das hat mit einem universellen Grundprinzip zu tun, nach dem der Mensch (ob auf Siron oder Terra) Ideale generell gut findet, sich dann aber umdreht und einen Ersatz sucht, der meistens auch mehr Spaß macht. Manche heiraten trotzdem.
Ebenso verhält es sich mit der Unsterblichkeit. Die Bewohner der nördlichen Erdhalbkugel sind ihr – relativ gesehen – schon um hundert Prozent näher gekommen. Das mittlere Sterbealter liegt nicht mehr bei 34, sondern bei etwas über siebzig Jahren. Ein schöner Erfolg.
Die Bewohner Sirons dagegen machen nur Fortschritte im Promillebereich. Allerdings ist eine Erhöhung der Lebenserwartung von einem Promille schon beachtlich, wenn man bedenkt, dass das durchschnittliche Sterbealter eines Sironen bei 25.363 Erdjahren liegt.
Auf Siron war nämlich mit der Entwicklung der bemannten Raumfahrt ein bisher im gesamten Universum noch nie dagewesenes Phänomen aufgetreten: Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Universums hatte ein technischer Fortschritt einen positiven Nebeneffekt. Ähnlich wie die NASA ihren Raketenmüll außerhalb des Geländes von Cape Canaveral ablagerten und sich nicht im Geringsten um die Wirkung der Strahlung auf die Anwohner kümmerten, geschah das auch bei Port Noxin auf Siron, nur etwa anderthalb Jahrzehntausende früher. Als man dort nach einiger Zeit feststellte, dass der Hausmeister im Hauptgebäude, die Putzfrauen und das Bodenpersonal seit mehr als achtzig Jahren auf der Gehaltsliste standen, folgte eine Untersuchung, deren Ergebnisse zunächst streng geheim gehalten wurden. Nicht, weil Unsterblichkeit – oder extrem lange Sterblichkeit – so teuer war; sie war im Gegenteil sehr, sehr billig. Aber man fürchtete eine Bevölkerungsexplosion, gegen die das irdische China wie ein Pfennigkracher gewirkt hätte.
Aber, wie gesagt, es war ein einzigartiges Phänomen, das sich von selbst regelte: Man erkannte, dass sich der Beginn der Fruchtbarkeit immer weiter nach hinten verschob, je länger die Menschen lebten. Ausnahmsweise verkraftete der Planet einen menschlichen Eingriff in die Natur.
Natürlich glaubten die Sironer, diese Ausnahme sei jetzt die Regel, und begannen, ihren Planeten extrem auszubeuten.
Das ging nicht gut.
Überhaupt nicht.
Als bekannt wurde, wie man sozusagen unsterblich werden konnte, setzte ein Run auf die Müllhalden von Port Noxin ein. Dann stellte man fest, dass schon der strahlende Abfall aus den Sironischen Kraftwerken reichte, und man begann, all die Salzbergwerke aufzubrechen, in denen die Sironer Tausende von Fässern gelagert hatten, damit sich die nächste Generation darum kümmerte. Kein Mensch war jemals auf den Gedanken gekommen, der Abfall könnte ungefährlich sein. Aber da er jetzt sogar als äußerst nützlich erschien, beschloss man, ihn auch in den Bereichen der Chemiefabrikation und der Landwirtschaft zu verwenden. Deshalb dauerte es eine Zeit, bis man entdeckte, dass die volle Lebenserwartung eines Sironers bei weit über achthundert Jahren lag. Denn selbst eine Quasiunsterblichkeit schützt nicht vor den üblen Folgen massiver Düngemittelvergiftung durch mehrere Jahrhunderte lange Fast-Food-Ernährung.
Als man auf Siron endlich umdachte, war es für den Planeten fast schon zu spät. Der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre lag bei 4 1/2 Prozent und der Meeresspiegel war um 23 Meter gestiegen. Es gab kein Ozonloch mehr, sondern einzelne Ozonwölkchen von wenigen Quadratkilometern Durchmesser, die verloren über den Planeten segelten – immer dorthin, wo sie am nötigsten gebraucht wurden. Aber dafür dachte man nun gründlich um und erließ Umweltgesetze. Danach brauchte man keine Schilder mehr, die das Betreten des Rasens oder das unkontrollierte Fällen von Bäumen verboten. Auf die Zerstörung sauerstoffspendender Pflanzen stand eine Strafe von fünfhundert Jahren Gefängnis oder eine Geldstrafe, die das Bruttoeinkommen des größten Kontinents überstieg. Die meisten Delinquenten wählten das Gefängnis – bis auf einen ehemaligen Chemiefabrikanten namens Krupp, der sich erbot, die Geldstrafe zu zahlen. Allerdings gehörte ihm zu diesem Zeitpunkt der größte Kontinent.
Glücklicherweise erinnerte sich einer der Richter an einen alten Sozialisierungsparagraphen aus der Zeit vor der Langlebigkeit und enteignete Krupp in einer halbstündigen Gerichtssitzung. Danach ging es mit Siron wirklich aufwärts.
Der Planet erholte sich über die Jahrhunderte, und zum ersten Mal in der Existenz des Universums übergab eine Generation der nächsten einen Planeten, der sauberer war, als sie ihn selbst erhalten hatte.
Die meisten Gesetze wurden im Allgemeinen eingehalten – vor allem, weil man nicht mehr darauf hoffen konnte, nach dem Gefängnisaufenthalt neue Leute kennenzulernen. Die Gesellschaft wurde ein bisschen starr und man begann, Störenfriede immer mal wieder ein wenig zu verbannen. Hier dreihundert Jahre, dort fünfhundert Jahre, ab und zu achthundert bis tausend Jahre. Meistens waren es Leute wie Gilead, die in einer kurzlebigen Gesellschaft einige zwanzig Jahre Durcheinander stiften und die man im Allgemeinen in Künstler und Kriminelle einteilt. Bei Gilead war man sich zum Zeitpunkt seiner Verbannung nicht sicher, welcher der beiden Gruppen er angehörte, aber man war sich sehr sicher, dass es gut sei, ihn auf alle Fälle ein wenig zu verbannen. Siron war keine kurzlebige Gesellschaft mehr. Siron brauchte keine großen Künstler und keine Kriminellen. Man hatte auf dem Gebiet des Fernsehens wirklich bedeutende Fortschritte gemacht.
Nur verbannte man diese Leute leider auf den einzigen anderen bewohnbaren Planeten im Universum: auf die Erde.
5
Bébé und Christoph saßen im Café Querschnitt und hielten sich an ihren Kaffeetassen fest. Christoph hatte sich, um seinem Kater zu zeigen, wer der Boss ist, ein Frühstück bestellt. Das stand jetzt vor ihm und schmollte.
»Du willst dein Frühstück nicht essen, oder?«, fragte Bébé, der angestrengt versuchte, nicht auf den Tisch zu starren, und sagte, als Christoph nicht antwortete: »Dann stell es bitte irgendwohin, wo ich es nicht sehen kann, ja?«
»Ich muss mich erst mit ihm anfreunden. Ich kann das nicht so plötzlich wie du: Einfach über das Essen herfallen, wenn es auf den Tisch gebracht wird.«
»Ich werde nie wieder über Essen herfallen«, murmelte Bébé düster. »Ich bin wahrscheinlich tot.«
»Und wie ist es mit Trinken?«, fragte Christoph boshaft, obwohl ihm selbst nicht ganz wohl war. »Wirst du auch nie wieder was trinken?«
»Nie!«, sagte Bébé im Brustton der Überzeugung.
»Und was ist mit Kaffee?«
»Kaffee ist kein Trinken, Kaffee ist ein Antidot.«
Und zur Bedienung gewandt bestellte er noch eine Tasse.
»Kaffee ist was?«, fragte Christoph nach.
»Ein Antidot. Asterix und Kleopatra, wo Obelix den vergifteten Kuchen isst …«
Christoph betrachtete ihn liebevoll: »Redest du irre?«
»Lass mich in Ruhe, ich bin tot.«
»Antitot?«
»Was?«
»Wie bitte?«
»Wer hat diesen Dialog geschrieben? Kafka?«
»Kaffka? Kannst du nicht mal Kaffeekanne richtig sagen? Du bist tief gesunken, Bébé.«
»Deshalb sitze ich hier mit dir, nachdem uns eine Ische aus einer Wohnung geworfen hat, die ich vorher noch nie gesehen habe und die ich nie wieder sehen will. Warum hast du dich eigentlich von der Puppe abschleppen lassen? Die war doch alt, mindestens 25.«
»Konnte ich ja gestern nicht sehen. Ich war völlig betrunken. Außerdem hat sie nicht mich, sondern dich abgeschleppt und ich bin bloß mit, weil ich ja immer bloß mitgehe, um auf dich aufzupassen. Rockmusiker an sich sollten keine feste Beziehung haben, wegen der Groupies und so. Aber du musst ja immer was Besonderes sein!«
»Halt die Klappe.«
»Alles klar.«
Es ging ihnen schon viel besser. Sie beschlossen, zunächst im Café zu bleiben, weil doch nichts Besseres nachkommen würde. Eine Stunde später hatte Christoph endlich sein Frühstück gegessen und Bébé bestellte einen Kognak. Christoph machte ihn darauf aufmerksam, dass er doch tot sei, und Bébé meinte dann, das sei schon in Ordnung, weil Kognak auf Tote wie ein Antitot wirke. Und das war prima.
Gegen 11 Uhr verließen sie das Querschnitt schon wieder ziemlich hergestellt und machten sich auf die Suche nach Bébés Auto.
»Hoffentlich haben wir es nicht über der Burg abgestellt!«, sagte Christoph, als sie am Rathaus vorbeigingen. »Da gehe ich dann nämlich nicht hoch. Ich warte lieber und du holst das Auto, okay?«
»Nein!«, antwortete Bébé bestimmt. »Das ist nicht okay! Wir suchen das Auto zusammen. Außerdem steht es auf dem Egidienplatz.«
»Nie im Leben!«, protestierte Christoph. »In der Ecke waren wir gestern gar nicht.«
»Kannst du dich so genau erinnern?«, fragte Bébé anzüglich. »Du weißt ja nicht mal, ob du mit Gisela …«
»Mit Sicherheit nicht!«, schnappte Christoph. »So betrunken kann ich gar nicht werden.«
Bébé grinste sich eins und sie wanderten den Egidienberg hinauf, wo sie sein Auto tatsächlich fanden.