Freiheit, die ich meine
Grenzerfahrungen
Gewinn und Verlust
20 Jahre Einigkeit und Recht und Freiheit
Die kleine Einheit
Was verbindet die Partnerstädte Greifswald und Osnabrück?
Wer nichts wagt, der darf nichts hoffen
Rudolstädter Freigeist in Schillers Provinz
Schiefer als Pisa
Mit dem Oberkirchturm steht oder fällt Bad Frankenhausens Geschichte
Verstecker und Entblößer
Parum kämpft gegen Google Street View, Oberstaufen rief die Kameras herbei. Warum?
Vaterlandsriesen
Deutsches Volk und deutscher Gott zu Leipzig und Köln
Die freie Entwicklung aller
Karl Marx im neuen Deutschland
Kronzeugen des Arbeiterstaats
Zwei Wege ostdeutscher Erkenntnis: Erich Loest und Fritz Klein
Das Blut der Befreiung
Ungarische Revolutionserfahrungen
Bürgerdämmerung
Daig, Fasnacht, Gägägä – Basels begüterte Freiheit
Gottes Hochhäuser
Eine französische Himmelfahrt ins Herz der Gotik
Sehen und Glauben
Der See Genezareth: Urozean des Christentums und Israels Zisterne
Der Träumer und sein Traum
Unterwegs zu Martin Luther King
Die Band spielt weiter
Die Auferstehung von New Orleans
Die ewige Band
Fairport Convention können nicht sterben
Der weiße Papst der schwarzen Kunst
Johnny Winters späte Wiederkehr
Der Schmerzensmann
Der Freitod des Jenaer Nationaltorwarts Robert Enke
Heimspiel in der Ewigkeit
Der Fan-Friedhof des Hamburger Sportvereins sucht Bewohner
Quellenverzeichnis
Unbeherrschte Geschichten
Ch. Links Verlag, Berlin
Das Buch erscheint auf Wunsch des Autors in nichtreformierter Rechtschreibung.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, Juni 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von März 2012)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0 www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines Gemäldes von Caspar David Friedrich: »Der Chasseur im Walde« (1813)
eISBN: 978-3-86284-171-4
Gewidmet dem Andenken von Michael John (1965–2011), Kopf und Herz der »Erfurter Herbstlese«
Grenzerfahrungen
Ich bedarf äußerlich der Enge,
um innerlich ins Weite zu gehen.
Theodor Storm
All the years the people said
He’s acting like a kid
He did not know he could not fly
So he did
Guy Clark: »The Coat«
Da stand sie, blond und braungebrannt, in einem weißen Leinenkleid. Sie war sehr schön, soviel sah der Junge im kühlen Dämmer des Flurs. Sie lachte, gab ihm die Hand und erfragte seinen Namen. Er sagte: Mein Vater ist noch im Dorf unterwegs. Meine Mutter ist im Garten, dort kann man das Klingeln nicht hören. Möchten Sie ein Glas Apfelmost?
Er führte sie in Vaters Pfarramtszimmer, das nicht grundlos betreten werden sollte. Aber dies war ein Grund. Er plazierte sie gegenüber der Bücherwand, unter Dürers Apostelbildern. Er eilte in den Keller, griff aus dem Regal eine verstaubte Flasche und lief in die Küche, erregt und froh. Auf dem Most schwamm ein Häutchen Schimmel. Das schwappte er in den Ausguß und füllte ein großes Glas, randvoll. Er trank einen Schluck ab und trug das Glas ins Amtszimmer. Dort saß das Mädchen im Gespräch mit dem Vater. Der Vater sagte: Das ist unser Zweitältester. Sie lachte wieder und griff dem Jungen ins Haar: Wir kennen uns schon.
Folgendes war vorgefallen: Das Mädchen hatte dem Vater einen Brief geschrieben und eine unerhörte Bitte vorgetragen. Sie wohne im Erzgebirge, wie ihr Freund. Der sei nun Soldat, grenznah stationiert bei Dingelstedt, in Mönchhai. Niemals bekomme er Urlaub, höchstens Ausgang. Sie sehne sich so sehr. Ob es möglich wäre, im Dingelstedter Pfarrhaus eine Nacht beieinander zu sein?
Ein solches Ersuchen forderte in den sechziger Jahren vom lutherischen Pfarrhaus nichts Geringeres als den sittlichen Grenzdurchbruch.
Mönchhai lag oben im Huy. Die Garnison war ein Unort, der den romantischen Wald realsozialistisch unterbrach. Schlagartig endeten die dichten Buchen und entbargen ein ödes Kasernengelände. Einzelne Soldaten sah man nie, nur Marschzüge uniformer Hammelherden, wie sie, in anderer Wolle, auch von den Schäfern durchs Harzvorland getrieben wurden. Die Kinder der Offiziere besuchten die Dingelstedter Schule. Der Vater des Klassenprimus war Oberleutnant, wie die alte Lehrerin bedeutsam wissen ließ. Dem arroganten Sprößling begegnete sie mit einer Servilität, die ihn nicht angenehmer machte.
Das Militär galt wenig in der DDR-Bevölkerung. Die Wiederbewaffnung lag noch nicht lange zurück. Der Schutz des Staates und seiner deutsch-deutschen Grenze war kein Bedürfnis der Ostharzer Bauern. Im Volk kursierte noch der Fluch: Dem Deutschen, der je wieder ein Gewehr ergreift, soll die Hand abfallen. Die älteren Frauen des Dorfes trugen Schwarz. Die Männer waren irgendwann »aus der Gefangenschaft heimgekehrt« – bei weitem nicht alle. Auf den Anrichten der Bauernstuben lächelten Porträtphotos junger Militärs, geziert mit Trauerflor. Die Nationale Volksarmee der DDR erfreute sich der Spottbezeichnung Hoffmanns Trachtengruppe. Heinz Hoffmann hieß der Armeegeneral. Drill und Bräuche waren roher als bei der Bundeswehr. NVA-Rekruten wurden möglichst fern ihrer Heimat stationiert.
Transatlantisch weit lag das Erzgebirge vom Huy. Die Eltern berieten sich. Dann schrieb der Vater dem Mädchen: Wir freuen uns auf Ihr Kommen. – Ein Stündchen später betrat auch der Freund das Pfarrhaus: ein Hering in Uniform. Das Mädchen umhalste ihn, schluchzend, glücklichen Unsinn stammelnd. Er sagte: Mädel, dein letzter Brief, ich konnt’s nicht mehr erwarten. Der Junge dachte: Was schreibt sie dem, der ist häßlich, warum liebt sie ihn? Für schön und also liebenswert hielt er den Musketier d’Artagnan oder den Ritter von Pardaillan, der degenschwingend über die Kinoleinwand tobte und weibslustig jauchzte: Hoho, ich bin ein Gascogner! Der Hering ähnelte dem Vater auf den alten Wehrmachtphotos: genauso dünn und scheu, abstoßend kostümiert. Und doch hatte der Vater die schöne Mutter gewonnen.
Nun deckte die Mutter in der Sommerstube den Abendbrottisch. Es war Freitagabend, aber der Vater sprach das feierliche Sonntagsgebet: »Aller Augen warten auf dich, Herr, denn du gibst ihnen Speise zu seiner Zeit. Du tust deine Hand auf und erfüllest alles, was lebet, mit Wohlgefallen.« Das Paar betete mit. Ansonsten sprach der Soldat kaum. Wurde ihm das Brot gereicht, die Wurst, der Rollmops, dankte er mit knappem Nicken. Das Mädchen sprudelte. Krankenschwester war sie und schwärmte von Annaberg, in einem drolligen Dialekt. Am wunderbarsten aber sei das Meer, der Kampf von Wogen und Wind, die Insel Hiddensee. Dort finde man Freiheit, am Ende der Welt.
Die Julischwüle drückte. Im Garten vor dem Fenster huschten die Schwalben. Zur Unterhaltung wußte der Junge wenig beizusteuern. Kennerische Äußerungen über Wismut Aue quittierte der Soldat mit Desinteresse. Fußball sei landsmannschaftliches Dauergequatsche in der Verrücktenanstalt NVA. Da erzählte der Junge einen der damals beliebten Anstaltswitze: Zwei Verrückte wollen fliehen. Drei Mauern müssen sie nachts überwinden und dann das große Tor. Aber wie? Per Räuberleiter überklettern sie die Hindernisse. Der eine Ausbrecher sitzt bereits auf der dritten Mauer und starrt aufs Tor, da ruft der andere von unten: Können wir das Tor öffnen? – Nein, auf keinen Fall! – Warum denn nicht? – Es ist schon offen!
Gutmütiges Gelächter. Nur der Soldat sagte kränkend: Witz komm raus, du bist umzingelt. Es donnerte. Der Vater schloß die Fenster und verhieß: Heute gibt’s noch was! Das Paar blickte sich an. Endlich lächelte auch der Soldat. Die Buttermilch zeichnete dem Mädchen einen kleinen weißen Bart auf die verschwitzte Oberlippe. Dann sagten die beiden artig Gute Nacht. Sie verließen die Sommerstube und schritten, die Treppe knarrte, zum Fremdenzimmer empor. Der Junge sah ihnen nach und ersehnte etwas Namenloses – den Brief, die Insel, das Meer. Das Verschwinden des Soldaten und der Kindheit. Den Wald, der das Geheimnis des Kindes war. Es zog den Schlüssel aus der Tür. / Es warf ihn in die Sonne und er schmolz. / Das Haus war leer, fort war das letzte Tier. / Es lagen bloß noch ein paar Steine hier / und nachts zum Feuermachen etwas Holz. / Der Morgen war von Tau und Asche kalt. / Es ging auf einen Weg in einen Wald. / Der Engel sah es und vergaß es bald.
Einige Wochen später nächtigten Mädchen und Soldat nochmals im Dingelstedter Pfarrhaus. Nichts davon meldet die Erinnerung, aber einen Satz des Genossen Heinz Hoffmann: »Wer unsere Grenze nicht respektiert, der bekommt die Kugel zu spüren.«
Unsere Grenze wurde respektiert. So lautet die Kurzantwort auf die Frage: Wie habt ihr in der Diktatur gelebt? Die Frage, eine Anklage, ist altbundesdeutscher Herkunft. So fragten die Achtundsechziger, als sie von ihren Vätern und vom NS-Rechtsnachfolger BRD die schonungslose Offenlegung der braunen Vergangenheit verlangten. Dementsprechend müßten nun auch die Spät- und Nachgeborenen der »zweiten deutschen Diktatur« endlich Rechenschaft von ihren Eltern fordern: Wie konntet ihr leben mit Stasi und Stacheldraht? Was habt ihr getan? Wo blieb euer freiheitliches Aufbegehren?
Ausführlich wäre zu erwidern: Die DDR war nicht Nazideutschland, die Ostdeutschen arrangierten sich mit den Gegebenheiten des Kalten Kriegs. Die meisten Menschen sind pragmatisch. Sie wollen gewohnheitlich leben oder Karriere machen und passen sich den Verhältnissen an. Wenn die sich wandeln, wandeln sie mit. Mehrheit läuft immer zur Mehrheit, unbeschadet der Ideologie. Das wissen die Ideologen der Diktatur. Das Volk ist nie verläßlich überzeugt. Man kann ihm nicht trauen. Grenzschutz tut not und das bewaffnete Mantra: Die Machtfrage ist geklärt!
Die Staatsmacht durchdrang das Volk, das seine Grenzen kannte. Die Grenze kannte es nicht. Es gehört zu den erstaunlichen Eigenheiten der grenzfixierten DDR-Erinnerung, daß der Bürger den hochgerüsteten Limes gar nicht zu Gesicht bekam, es sei denn als Grenzsoldat oder in Berlin. Die Macht umzäunte das Land. Das Volk entzog sich der Macht nach innen. Die Macht war der Staat DDR. Das Volk wohnte im gleichnamigen Land, nach Möglichkeit privat. Die Staatsmacht hätte gern auch das private Land erobert. Zu »staatlichen Anlässen« marschierte die Staatsjugend auf und skandierte: DDR UNSER VATERLAND! Blaublusiges Jungvolk bekannte: MEINE HEIMAT DDR! Auch der Nichtpionier sang mit, als die geliebte Klassenleiterin, schwungvoll dirigierend, »Unsere Heimat« anstimmte. Die Zukunftssonne schien, die Harzer Bauernkinder zwitscherten und brummten, Frau Schmädig sang hellauf vor: Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, / unsere Heimat sind auch all die Bäume im Wald. / Unsere Heimat ist das Gras auf der Wiese, / das Korn auf dem Feld und die Vögel / in der Luft und die Tiere der Erde / und die Fische im Fluß sind die Heimat. / Und wir lieben die Heimat, die schöne / und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, / weil sie unserem Volke gehört.
Heute klingt das ökologisch. Damals intonierte dieses Pionierlied von Herbert Keller und Hans Naumilkat DDR-Ideologie als Sentiment. Der Staat betrieb die Verstaatlichung der Heimat als Verheimatung des Staats. Der Effekt hielt sich – in Grenzen. DDR-Identität war nur als parteiisches Bewußtsein möglich, nicht als naturwüchsiges Empfinden. Die rabiate Vernutzung der Natur nährte und zerstörte den Industriestaat DDR, der Giftluft und verseuchte Flüsse produzierte und die Wälder sterben ließ. Die überlebende Natur blieb ein nichtsozialistischer Rückzugsraum: Heimat.
Was ist des Deutschen Vaterland? Der Junge kannte das deutsche Urasyl: den Wald, der gleich hinterm Pfarrhaus begann. Alltäglich lief er in den Wald. Der Huy barg die Klauswiese und die Gletschertöpfe, die Daneilshöhle und den Schwedenstein. Der Wald gebar Märchen, ihm galten altdeutsche Lieder: Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar. Und: Dunkler Wald, grün gestalt’t, wie viel zählst du Zweiglein? Und: Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben? Und: O Thäler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald, du meiner Lust und Wehen andächt’ger Aufenthalt.
In jedem Sommer verreiste die Familie für drei Wochen. Urlaub hieß: größere Wälder, Steigerung des Waldgefühls. 1961 war Elend im Harz beurlaubt worden. Zehn Tage vor dem Mauerbau hatte der Junge eine alpine Erfahrung gemacht, die dann für 28 Jahre verboten blieb: die Besteigung des Brockens. 1962 fuhren wir ins thüringische Finsterbergen, 1963 nach Schnepfenthal in Thüringen. 1964 erwählten die Eltern die Wartburgstadt Eisenach, 1965 Wilhelmsdorf (Thüringen). Der dichte Tann der Erinnerung hütet kirchliche Erholungsheime. Durch ächzende Treppenhäuser wandeln biedere Paare, toben zur Bravheit ermahnte Pastorenkinder. Andachtsglocken hallen und pünktliche Gongs, die dreimal täglich zum Gemeinschaftsmahl rufen. Am Kopf der Tafel präsidiert eine greise Diakonisse in weißgrauer Schwesterntracht und spricht das Tischgebet. Man setzt sich. Dann klappert Aluminium an Porzellan.
Nicht der Brocken wurde zur prägsamsten Erfahrung des 61er Urlaubs, sondern eine wahrhaft lutherstarke Tat wider die Diktatur. Auf der weißgedeckten Mittagstafel stand ein Sparschwein, mit ordnungspolizeilicher Funktion. Für jeden Klecks aufs Tischtuch war dem Schwein ein Groschen zu zahlen. Die Erwachsenen, autoritär geprägt, fügten sich diesem Gottesgesetz. Eines Mittags gab es Grießbrei mit Kirschsaft. Der Junge kleckerte dreimal. 30 Pfennig Strafe? Er griff zum Saftkännchen und übergoß das weiße Tuch, bis sich die drei kleinen Flecke zu einem kirschroten See verbanden. Die Diakonisse erstarrte. Dann bebte ihr Häubchen. Dann reckte sie die dürren Hände zitternd gen Himmel. Dann krähte sie: Aaaah!! Warum tust du das?
Damit mein Vati nur zehn Pfennig bezahlen muß.
Eine Pfarrfrau kicherte. Ansonsten schwieg die Tischgemeinde. Erstmals bemerkte der Junge die DDR-typische Art der Kritik: das innere Kopfschütteln. Der Vater, immer korrekt, büßte den Groschen ins Schwein. Nach Tisch tadelte er die Tat.
Aber Vati, jetzt mußtest du bloß einen Groschen bezahlen.
Ja, aber der Saft war alle.
Dann ging es wieder in den Wald. Unablässig wurde gewandert. Dem Brocken folgten Leisten-, Bären-, Zeterklippen. Thüringens Brocken war der Große Inselsberg. Auch der Rennsteig wurde bestiegen, die Hohe Sonne, die Wilde Sau. Man begab sich bergeinwärts. Unter Tage funkelten die Wunder der Baumannshöhle und der Feengrotten. Überall waberten Sagen: Roßtrappe und Regenstein, Tannhäusers Hörselberg, Elisabeths Rosenwunder. Wie Noahs Arche schwamm die Wartburg auf wogenden Wäldern und barg den kaiserflüchtigen Luther. Der hatte 1521 inkognito, als Junker Jörg, in einer kleinen Kajüte sein Tintenfaß nach dem Teufel geschmissen und das griechische Neue Testament verlutherdeutscht, inklusive des protestantischen Imperativs: »Die Wahrheit wird euch frei machen.« (Johannes 8,32) Das christliche Leben beschrieb er paradox, als Freiheit und Verantwortung: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.«
Mitunter stoppte der Vater das Wandern. Man möge innehalten, schweigen, den Klang des Waldes erlauschen. Die Waldwelt atmete und rauschte – hier fast still, dort wie verborgenes Wasser. Fand man das Wasser, ließ es sich trinken und wusch die Früchte des Walds. Mitgeführte Beutel füllten sich mit Him-, Brom- und Heidelbeeren. Zahlreiche Pilze wurden erlegt. Das Pilzbuch lehrte die Unterscheidung der köstlichen Marone vom unbekömmlichen Bovist und dem Fliegenpilz, der um so tödlicher sei, je weiter westlich er wachse. In Spanien morde er fast schon beim Anblick. Da lebte man doch sicherer im Osten, in der DDR.
Es konnte jedoch geschehen, daß man an Drahtverhaue stieß. Schilder warnten: ACHTUNG SPERRGEBIET! Derlei war bekannt aus dem Grimmschen Märchen von Jorinde und Joringel. Man kehrte besser um und wählte erlaubte Pfade zum Ausflugsziel. Gebogene Bilderschildchen am Wanderstab, sogenannte Stocknägel, bezeugten die geschauten Orte. Nach dem Besuch der Wartburg war der Stock des Jungen voll. Nun hatte er also die Welt bereist. Für weitere Taten blieb kein Raum. Allmählich erkannte er auch die wechselseitige Durchwaltung von Natur und Geist. Er studierte Wanderkarten und fand jeden Hügel, Rain und Weiher längst benannt. Nur die kleinen Dinge blieben namenlos und also frei. Freiheit schien, worauf niemand Anspruch erhob, was kein anderer fühlte, was jeder übersah: ureigene Erfahrung individueller Welt. Man brauchte zu dieser Freiheit kein anderes Land, nur Freimut und frische Augen.
Gibt es ursprüngliches Naturgefühl? – Wo immer man Berührung sucht. – In unserer grundbucherfaßten, funktional gescannten Kulturlandschaft? – Auch im Stadtpark, sogar im Blumenkasten, gemäß Eugène Ionescos Satz: »Man läßt uns nicht leben, also leben wir im Detail.« Der Kickelhahn bei Ilmenau ist technisch Forstwald, seelisch die Höhe von »Wandrers Nachtlied«: Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest du auch.
Glücklicherweise bleibt Natur sich selber fremd. Weder kennt der Brocken seinen Namen noch Heinrich Heines Diktum: »Der Brocken ist ein Deutscher.« Anderseits wird der Brocken niemals Türke oder Puertoricaner, trotz internationalen Zulaufs und Thilo Sarrazin. Auch die Bepflanzung deutscher Höhen mit nationalistischem Denkmalschwulst war eine nachhaltige Okkupation von Natur, wie alle geweihten Stätten und Heiligen Ländereien. Die Urkunden, die der Vater seinen Konfirmanden überreichte, zeigten Caspar David Friedrichs berühmtes Gemälde »Das Kreuz im Gebirge«. Steil ragt der gekreuzigte Christus aus einem Felsmassiv, ein Ecce Homo naturalis, den die Gloriole des Sonnenuntergangs verklärt. Ist das Kitsch? Andachtsmystik? Glaubenskunst? – All das, auch Nationalvision. Friedrichs deutschtiefe Motive – die knorrigen Eichen, die rabenüberflogenen Felder, die Kirchhöfe, die gotischen Ruinen im Wald – mischen Naturempfindung und Ideologie. Man sieht drei verschneite Fichten und weiß: Das sind, verdeutscht, die Kreuze von Golgatha. »Der Chasseur im Walde« aus dem Befreiungsjahr 1813: Napoleons Soldat steht verirrt im Fichtenforst. Dieser Wald ist Deutschland und wird ihn verschlingen, unerbittlich wie Ernst Moritz Arndt: Das ist des Deutschen Vaterland, / wo Zorn vertilgt den welschen Tand, / wo jeder Franzmann heißet Feind, / wo jeder Deutsche heißet Freund.
Vom Völkischen und seiner Feindsucht wußte der Junge aus den mordlustigen Jugendbüchern des Vaters. Er las sie mit Erregung und blieb von ihrem Gift verschont. Warum, wird bald erzählt. Zunächst geschah im Sommer 1966 eine Urlaubsrevolution. Die Familie verließ den Wald. Der Vater jagte den Trabant nach Norden. Bereits nach zwei Tagen erreichten wir das Meer. Erstmals erlebte der Junge das Ende des Lands. Der Horizont war uferlos. Der Blick stieß an kein Ziel. Man mußte nicht schweigen, nichts erlauschen. Diese Welt rauschte laut und unverborgen. Alles lag frei. Daß man es Ostsee nannte, war dem Meer egal.
Kein Wald ist wie ein zweiter. Alle Meere sind das Meer. Die Insel fand er später.
Wünsche, zu rasch erfüllt, sind Naschwerk. Träume, zu lange bewahrt, verderben. Ein Traum seit Kindertagen war die schimmernde Stadt des väterlichen Buchs »Der Löwe von Flandern«. Seit 1989 lag sie innerhalb deiner erreichbaren Welt, wurde aber nicht heißhungrig verschlungen wie London und Paris. Sie blieb unbesucht, bis zum Sommer 2011. Nun mußte es sein.
Der Zug von Brüssel braucht nur eine Stunde. Du verläßt den Bahnhof und wirst sofort historisch entrückt. Das Rollköfferchen lärmt auf dem Buckelpflaster wie ein flämisches Fuhrwerk, mit dir als Pferd. Giebelfronten säumen die Gassen. Madonnen lächeln aus blumengeschmückten Erkern. Du querst die erste Gracht. Du passierst den Klosterhof der mildtätigen Beginen und die umfluteten Mauern des Sint-Jans-Hospitals. Am Rozenhoedkaai offenbart sich Brügge mit sentimentalischer Pracht: antike Brücken, efeubewucherte Wasserfronten, kragendes Fachwerk, die himmelstürmende Gotik der Onze-Lieve-Vrouwekerk. Rechts ragt der Belfried, aus dessen Filialen das Carillon die Stadt mit Glockenspiel überschüttet.
Du machst Quartier und läßt dich treiben. Am Burgplatz fehlt die Burg, aber das Rathaus zieren Skulpturen der flandrischen Heldengeschichte. Deren Supermänner besuchst du später, denn jetzt beginnt in der nahen Heiligbloedbasiliek die Verehrung des Heiligen Bluts. Im Jahre 1149 kehrte Dietrich von Elsass vom zweiten Kreuzzug zurück, in Begleitung einiger Tropfen vom Blute Christi, die er der Stadt Brügge vermachte. Bis heute wird die Reliquie alljährlich zur Heiligblutprozession durch die Stadt getragen und jeden Freitag angebetet. Es ist Freitag, 14 Uhr. Die Kapelle strömt voll. Auf einer doppeltreppigen Empore sitzt, weiß gewandet, ein geistlicher Herr. Vor ihm liegt die heilige Ampulle wie eine goldgefaßte Wasserwaage. Das Volk prozessiert die rechte Treppe empor, spendet in ein Kästchen, verneigt sich über der Ampulle und küßt das Glas. Der Zeremonienmeister überreicht ein kleines Leporello mit Bild und Gebet; zugleich wischt er wie ein virtuoser Lapsteel-Gitarrist über die Ampulle und reinigt sie zum nächsten Kuß. Du reihst dich ein, trittst herzu und spendest eine griechische Zwei-Euro-Münze: Europa, nackt und rittlings auf dem Stier. Du erblickst die rostrosa Blutkonserve, küßt nicht, aber neigst dein schlohes Haupt. Das reicht und wird mit dem Leporello belohnt.
Bist du nun sündenfrei? – Sowenig wie ein Katholik.
Zum Markt ist es nicht weit. Da protzen sie, die bronzenen Freiheitshelden des flandrischen Volks: Pieter de Coninck und Jan Breydel. Mit Schwert und Löwenfahne regieren sie pompös den weiten Platz. Ihr Monument wurde 1887 vom Nationalismus geformt. Die Epoche forderte, daß Pathos wallte. Völkische Romantiker erfanden idealische Vergangenheiten. Charakter hieß Trutz. Frauen fühlten edel, Recken stritten kühn. Es gab eine Kinderzeit, da hieltest du solch ritterlichen Schwulst für tatsächliche Geschichte.
Die tatsächliche Geschichte geschah im Jahre 1302. In den Städten Flanderns schwelte seit langem der Bürgerstreit zwischen Klauwaerts und Leliaerts, den separatistischen »Klauen« des flandrischen Wappenlöwen und den handelsbeflissenen »Lilien«, die Frankreich zuneigten. Der französische König Philipp der Schöne nutzte den Zwist und eroberte Flandern. Sein Statthalter Jacques de Chatillon unterdrückte die Brügger derart, daß sie sich erhoben und in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai alles ermordeten, was französisch schien.
Der historische Vorgang ist unter dem zynischen Begriff »Brügger Frühmette« überliefert. Die nationalistische Ausmalung lieferte Hendrik Conscience (1812 –1883) mit seinem Roman »Der Löwe von Flandern«. 1838 veröffentlicht, gehört der bluttriefende Schinken zur Literaturgattung Freiheitsgeheul. Er befand sich in Vaters Jugendbibliothek. Sie überstand den 8. April 1945, die Bombardierung Halberstadts, inmitten völkisch-militaristischer Prosa wie Josef Magnus Wehners »Sieben vor Verdun« und Werner Jansens »Geier um Marienburg«. »Der Löwe von Flandern« war ein Ahn dieser Schwarten.
Du entsinnst dich behaglicher Lektüre im Schaukelstuhl des Dingelstedter Bücherzimmers. Der Sommerregen rauscht, der Löwe brüllt, auf deinem Schoß schnurrt der Kater Muck. Ach, was muß man oft von bösen Völkern hören oder lesen! Franzosen, die bei Conscience »Französlinge« heißen, sind Gefäße übler Eigenschaften. Sie putzen sich, sie reden weibisch, sie sind verseucht vom welschen Krämergeist. Wohl gibt es Ausnahmen edlen Geblüts, so Karl von Valois, den Bruder Philipp des Schönen. Auch der König ist zur Seelenregung fähig, aber Wachs in den Händen seiner teuflischen Gemahlin Johanna von Navarra. Deren Gauleiter Chatillon will bereits auf Seite 11 einen jungen Flamen hängen, der ihm kecke Antwort gab. Letzterer ist niemand anders als Jan Breydel, Zunftmeister der Fleischer von Brügge. »Langes, blondes Haar wallte auf seine breiten Schultern herab. Feurige blaue Augen sprühten unter dichten Brauen hervor. (…) ›Weh dem, der mich anrührt!‹ rief er ihnen mit dröhnender Stimme zu. ›Flanderns Raben fressen keinen Vlaemen! Sie fressen lieber Franzosenfleisch!‹«
Zum Hängen kommt es nicht. Breydel entspringt. Alsbald begegnen wir seinem Helden-Kollegen, dem Zunftmeister der Brügger Weber. Pieter de Coninck scheint von besonnener Art. Breydel und de Coninck sind Volkes Faust und Stirn. Der eine dürstet allzeit nach Franzosenblut, der andere plant die Freiheit strategisch. Entmannt ist der flandrische Adel. Robrecht van Bethune, der Löwe von Flandern, schmachtet im Franzosenkerker. Machteld, seine edle Tochter, leidet und betet unablässig, wie’s Frauen geziemt. Seufzer entringen sich der holden Brust, derweil die Brügger Handwerkskammer mal wieder die Franzosen überfällt: »›Seht, Brüder‹, rief Breydel, ›ich beginne das Schlachten! Mir nach!‹ Wie sich ein Pflug selbst eine Spur in die Erde gräbt, so bahnte sich Breydel einen Weg durch die Franzosen. Jeder Schlag mit seinem Beil kostete einem Feind das Leben, und das Blut seiner Schlachtopfer strömte in Bächen von seinem Wams. Wütend wie er warfen sich die anderen Vlaemen von allen Seiten auf die Söldner, und ihr Jauchzen übertönte das Todesgeschrei der Franzosen.«
Dies ist natürlich nur ein kleines Vorgeplänkel. Zur »Brügger Frühmette« rauscht das Blut dann wie der Trusetaler Wasserfall, und in der Goldenen Sporenschlacht von Kortrijk, die Flanderns Freiheit bringt, ist des Metzelns kein Ende. »Wat walsch is, valsch is! Slaed al dood!« Unter dem Schlachtruf »Vlaenderen den Leeuw!« mähen die Klingen. »So ging es den ganzen Tag, bis nicht ein einziger Franzose oder französisch Gesinnter mehr zu finden war.« Der Löwe von Flandern verkündet die frohe Botschaft: »Flandern ist frei, das Vaterland ist gerächt, der schwarze Löwe hat alle Lilien zerrissen, und alle Fremden sind erschlagen.« Endlich jubelt auch die edle Machteld: »Solches Glück konnte ich nicht erwarten, soviel wagte ich nicht von Gott in meinen Gebeten zu verlangen!«
Die Freudenträne quillt, denn dies ist Freiheit: gereinigtes Volk, rassische Homogenität, kollektives Ich. Du bist nichts, dein Volk ist alles. Abweichlern und Andersdenkenden ergeht es wie dem Webermeister Brakels, einem Kompromißler, der mit den Franzosen kungelt: »›Ich will nicht‹, sprach Breydel mit gebieterischem Blick zu seinen Leuten, ›daß das Blut dieser Schlange eure Beile befleckt. Er soll dem Volke ausgeliefert werden.‹ Der Befehl war noch nicht ausgesprochen, als schon ein Mann aus der Schar hervortrat und Brakels eine Schnur um den Hals warf; dann rissen sie den Verräter rücklings über und schleiften ihn aus dem Zelte. Seine bangen Schreie verschmolzen mit dem stürmischen Jauchzen der Menge. Nachdem sie ihn rund um das Lager geschleift hatten, kamen sie unter johlendem Geheul zu dem Feuer und zogen ihn vier-, fünfmal durch die Glut, bis er ganz unkenntlich geworden war.«
Was jauchzte die Menge? Wir sind das Volk?
Zweierlei erschüttert den Wiederleser nach viereinhalb Jahrzehnten. Da ist zunächst der wohlige Sadismus des Autors Conscience, dessen literarische Mordlust seine Helden schmückt. Breydel wirkt wie ein idealtypischer SS-Führer, ist aber weitgehend erfunden. De Conincks Rolle soll verbürgt sein. Individuelle Menschenkenntnis waltet keine; gerühmt wird die jederzeitige Bereitschaft des Volkes zum Pogrom. Consciences Vater war Franzose. Der Erstling des Sohns »In ’t wonderjaer 1566« feierte den niederländischen Freiheitskampf und erzürnte den Vater derart, daß er den Filius aus dem Hause warf.
»Der Löwe von Flandern« wurde zum Kultbuch flämischen Nationalbewußtseins. Ein anonymes Nachwort von 1916 bemerkt »Züge, die uns etwas zu kraß anmuten. Aber man muß das Wesen eines Grenzstammes anders werten als das der Kernbevölkerung, die den Grenzkämpfen zumeist entrückt bleibt. Die Erbitterung immerwährenden Ringens verleiht dem Volkscharakter eine trotzige Härte (…) Um so mehr aber kann man stolz sein auf die glühende Vaterlandsliebe, auf die rückhaltslose Aufopferungsfähigkeit, die zähe Treue und die heldenhafte Kraft, die aus all diesen Kämpfen hervorleuchten und eines Deutschen würdig sind.« Denn Flamenkämpfe sind Germanenkämpfe, also deutsches Ringen, und so »wird Consciences ›Löwe von Flandern‹ eines der Werke bleiben, das immer wieder mit flammenden Worten zu Felde zieht gegen materialistische Überschätzung irdischen Wohllebens und kaufmännischer Erfolge und für die idealen Aufgaben und Ziele der Deutschen eintritt«.
»Der Löwe von Flandern« erschien auch in der DDR: 1971 im Verlag Neues Leben als Band 143 der Reihe »Spannend erzählt« und 1980 als Nummer 358 der »Romanzeitung« von Volk und Welt. Die zitierte Ausgabe druckte der Berliner Wilhelm Borngräber Verlag mitten im Ersten Weltkrieg, gewissermaßen zur Verstärkung der Westfront. Programmatisch vorgeschaltet ist Heinrich Hoffmann von Fallerslebens Gedicht »An den Stamm der Vlaemen« von 1840: Suche nicht dein Heil im Westen! / In der Fremde wohnt kein Glück: / Suchst Du Deines Glückes Festen, / Kehre in Dich selbst zurück! (…) Treu bewahr’ in Deiner Mitte / Vor dem welschen Übermut / Deine Sprach’ und Deine Sitte / Deiner Väter Gut und Blut.
Aber wie konnte ich diese massenmörderische Prosa kindlich ungerührt verschlingen? Gleiches galt für den Kampf um Troja, für die Blutorgie der Nibelungen in Etzels brennender Burg, ja sogar für die Heilige Schrift, deren Exzesse den unbefangenen Leser verstören müssen. Am 3. Juni 2011 hielt Friedrich Dieckmann beim Evangelischen Kirchentag in der Dresdner Matthäi-Kirche eine Bibelarbeit. Gleich eingangs klagte er über den ihm zugeteilten alttestamentlichen Text aus dem 5. Buch Mose. Viel lieber hätte er Matthäus 5–7 ausgelegt, die Bergpredigt Jesu. Das war begreiflich. Die Bergpredigt ist das Zentrum der christlichen Botschaft und ihr liebster Zitatenschatz. Von der ihm gewiesenen Passage war Friedrich Dieckmann entsetzt. Und in der Schilderung der Landnahme, der gottesvölkischen Eroberung des Gelobten Landes Kanaan, habe er »mit völlig ahistorischem Schauder auf Schritt und Tritt die Sprache des Genozids« gefunden.
Dieckmann floh zu Luther und dessen Entdeckung, »daß der Christengott kein gerechter, sondern ein barmherziger Gott ist, und daß der Inhalt des Evangeliums nicht das Gesetz ist, sondern die Gnade«. Die Aufklärung habe dann die christliche Offenbarung im Namen der befreiten Vernunft rational unterminiert. Später begannen, wieder im Namen der Freiheit, zwei säkulare »Heilsgeschichten« vorgeblicher Kollektiv-Erwählung, deren elitärer Anspruch in ungeheure Verbrechen mündete: der klassenkämpferische Marxismus mit den Folgen der lenin-trotzkischen Oktoberrevolution und der nationalsozialistische Rassismus mit seiner arischen Blutsdoktrin. Die Bergpredigt Jesu aber, so beschloß Friedrich Dieckmann seinen Geschwindmarsch, sei die vollkommene Gestalt auch der guten Sätze des ihm gewiesenen Texts. »Jedes Volk halte sich für das auserwählte Volk dieser Predigt (…) und halte sie wie für sich und die Seinen geschaffen!«
Was hatte der Dresdner Bibelarbeiter beschrieben? Den Weg des Humanen: von der Nationalgottheit zum universalen Gott, vom Volk zur Menschheit und zur freien Individualität, die auch »das Volk« befreit. Das aber braucht Zeit: Entwicklungsgeschichte. Die Bibel ist eine geschichtliche Schriftensammlung und nicht vom Himmel gefallen. Überdies hat das erwählte Volk des Alten Testaments in seinem Gott selbst den strengsten Richter. Aber wie machtnah korrumpierte sich der deutsche Protestantismus – von Luther, der seinen Fürsten als Schutzmacht brauchte, bis zum nationalen Luthertum mit der wilhelminischen Allianz von Thron und Altar. Warum gab es nicht schon im Ersten Weltkrieg eine Bekennende Kirche gegen dieses gotteslästerliche »Gott mit uns«? Friedrich Dieckmann, 1937 geboren, verbrachte Kinderjahre im unzerstörten Dresden. Dessen Untergang war dann das Finale des deutschen Nationalismus, der als Befreiungsbewegung begann und ins flammende Inferno führte.
Heute kopiert Dresden sein klassisches Stadtbild. Brügge hat es nie verloren. In Brügge fuhr ich Grachtenboot durch die Originalgeschichte, umwimmelt vom touristischen Weltbürgertum. Ich stieg auf den Belford und sah von weit oben die Zwerglein De Coninck und Breydel. Ich lief in die Museen, zu den flämischen Meistern Hans Memling, Gerard David, Jan van Eyck. Draußen standen die Türme, Plätze, Paläste der Altbrügger Bilder wie vor vielhundert Jahren.
Den Abend verbrachte ich in einer Herzkammer der Stadt. Die brummgemütliche Restauration »’t Brugs Beertje« hält 300 belgische Biersorten vorrätig. Ich probierte sie alle. Die Kneiperin Daisy Claeys servierte mir Orval Trappist, Lindemans Gueuze, Liefmans Kriek, Val-Dieu … Zum Trunk erklangen Bachs Brandenburgische Konzerte. Ich schmökerte im »Löwen von Flandern« und orderte zwecks Ehrung des Autors Hendrik Conscience das Brügger Superbräu Straffe Hendrik Tripel (9 %). Da, Zunftmeister Breydel war schon wieder bei seinem einzigen Thema: »Die Freiheit ohne Kampf ginge mir wider die Seele; jetzt (…) kann mich nur der Anblick strömenden Blutes zufriedenstellen.«
Mich stellte der Anblick strömenden Bieres zufrieden. Daisy Claeys brachte mir ein Rodebach Grand Cru, als, auf Seite 195, De Coninck Breydel endlich fragte: »Wer gab uns das Recht, zu morden und zu brennen? Wer hat solchen Taten, die auf Erden mit dem Tod, bei Gott mit Verdammnis bestraft werden, bei uns Gesetzesrechte verliehen?« Breydel murrt: »Sagt, wer gab es denn den Franzosen?« De Coninck nennt deren König. »Das vergossene Blut zeugt wider den Herrn, der gebietet, nicht wider den Diener, der gehorcht. Aber wir, die wir ohne Befehl, nur aus freiem Willen zu Werke gehen, sind auch vor Gott und der Welt verantwortlich für unsere Taten; auf unsere Häupter fällt das durch uns vergossene Blut zurück.«
Ich dachte rauschhaft klar: Es gibt nur freie Menschen, jeder an seinem Ort. Es gab keinen König in der DDR. Es gab einen Schießbefehl? Es gab arme kleine Mauerschützen, die morden mußten? Es gibt das 5. Gebot: Du sollst nicht töten. Es gibt Notwehr; die Mauer war vorgeblich Notwehr des Staats. Es gab keine Pflicht, an dessen Grenze zu dienen. Es gibt attraktiv entlohnte Auslandseinsätze der Bundeswehr. Es gibt Deutschlands Triumphe beim Waffenexport. Es gibt polit-moralische Rechtfertigungen, immer. Es gibt, zu allen Zeiten, killergeiles Kriegerglück … Es war genug. Daisy Claeys brachte mir noch ein Pilaarbitjer, für den Weg ins Bett. Auf dem Etikett stand: »Bier met een ziel«. Der Zecher entfernte sich wie in der Apostelgeschichte der frischgetaufte Kämmerer aus Mohrenland: »Er zog aber seine Straße fröhlich.«
Zwei Wochen nach Brügge ermordete der Rassist Anders Brevik in Oslo 77 Menschen, im Namen der christlich-antiislamischen Reinheit. Er sah sich als Tempelritter. Das Christentum sei ihm abgesprochen, wie allen, die im Zeichen des Kreuzes oder sonstwie »christlich« Menschen töten. Andere müssen entscheiden, ob Mörder, die sich auf den Koran berufen, Moslems sind. Jesus wurde Opfer, weil er kein Täter war. Die Bergpredigt und die Passionsgeschichte Jesu, früh vermittelt, umhüllten den Jungen als Schutzhaut gegen jedwede Faszination von Gewalt. Kein Militär sollte ihm jemals nahe kommen, keine völkische Blutsmoral, keine Doktrin vom gerechten Krieg. Der Junge glaubte, der universale Mord, so kurz vor seiner Geburt beendet, habe die Deutschen bekehrt und gelehrt: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Jeder intelligente, fühlende Mensch, dachte der Junge, müßte so empfinden. Diese Naivität verteidige ich als Erkenntnis meines Lebens.
Nicht unberühmter als Brügge war die Stadt meiner ersten Auslandsreise. Im Sommer 1974 besuchten die Eltern Prag und kehrten schwärmerisch erfüllt zurück. Im März 1975 fuhr ich ihrer Freude nach. Der Zug verließ Sangerhausen, wo wir seit 1968 lebten. Schon an der Hasentorbrücke war ich enthusiastisch aufgeregt. In Riestedt beflügelte mich bereits die Souveränität des Weltenbummlers. Nach dem Blankenheimer Tunnel kannte der Weltmann kein Halten. Im Waggon befand sich eine mansfeldische Schönheit. Ich sprach sie an. Sie sprach zurück, was unverzüglich jeden Zweifel an ihrer Herkunft beseitigte: Ich bin de Moni. Störts dich, wennich rooche?
Es störte keineswegs. Moni quarzte und lachte. Sie schäkerte proletarisch. Sie sprach: Wennde von Sangerhausen bist, denn biste bestimmt oft im Faß. – Das Faß war eine beliebte Lokalität, in der ich sowenig verkehrte wie in der Totenschenke und im Eschental, wonach Moni gleichfalls fragte. Ich hatte Attraktiveres zu bieten und schwärmte von Prag. Das wirkte. Meiner, du hastes jut, stöhnte die Schöne. Du jehst ins U Fleku, und ich muß in Teutschenthal raus.
Drei Jahrzehnte später würde aus Teutschenthal der abgewikkelte Kalikumpel Schultze, alias Horst Krause, nach Louisiana aufbrechen, in Michael Schorrs gottvollem Sachsen-Anhalt-Road-movie »Schultze gets the Blues«. Daran ließ sich 1975 noch nicht denken. Das Mansfelder Revier war eine unterirdische Buddelkiste der DDR-Rohstoffindustrie. Die Kupfer- und Kalischächte förderten emsig, die Loren rollten, die Halden wuchsen, de Moni roochte. Es stellte sich heraus, daß sie von Prag lediglich die sagenhafte Schwarzbierkneipe U Fleku kannte, und auch die bloß vom Hörensagen. Sie sagte: Ürjendwann bin ich ma dran. Herzklopfend lud ich sie ein, mich auf meiner nächsten Prag-Reise zu begleiten. Sie sagte: Meiner, du bistn janz Feiner, leider binch verloubt.
Mit diesem Schicksalssatz schieden wir voneinander.
Dann war Halle erreicht. Dann der riesige Leipziger Hauptbahnhof. Dann Dresden und die Elbe. Der Zug durcheilte das Tal des behäbigen Stroms. Vom jenseitigen Ufer stiegen Rebenhänge auf, später die prahlerischen Elbsandsteine. Bei Rathen kraulte ein Raddampfer nach Norden. Droben auf ihrem Felssporn thronte die Festung Königstein. Bad Schandau: Paßkontrolle DDR! Die gefürchtete Prozedur verlief glimpflich, trotz Parka und langem Haar. Endlich Ausland! Fremdsprachige Wälder und Felder! Auch die Elbe hieß nun Labe. Die nächste Bahnhofsstimme plärrte: Usti nad Labem, Usti nad Labem! Jedes undeutsche Wort, jeder Skoda, also Nichttrabant, jeder kugelige Kirchturm verhieß Freiheit, denn der Reisende war weniger nach Prag als zu sich selbst unterwegs.
Man darf nicht erwarten, daß ich den wahren Zustand des Landes spürte, die deprimierte Mehltau-Tschechoslowakei der Husakschen »Normalisierung«, die dem Prager Frühling folgte. Wer das tragische Jahrhundert der Tschechen nachempfinden möchte, lese Pavel Kohouts Autobiographie »Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel«. Kohout, 1928 in Prag geboren, wandelte sich vom Kommunisten zum Co-Autor der Charta 77, an der Seite seines »Beinahe-Bruders« Václav Havel. Er wurde Staatsfeind, Demokrat, Österreicher, Halb-Heimkehrer nach der Samtenen Revolution von 1989. Seinen Onkel Karel erschossen die Nazis, wie 1942 seinen ersten Mentor, den orthodoxen Priester Vladimir Petrek, der die Heydrich-Attentäter versteckt hatte. Kohout schreibt auch über Prag 1945 und bezeugt die Rache an den Deutschen: »(…) als der stechende Geruch verbrannter Überreste angeblicher Gestapoleute die Stadtmitte verpestete, begann er zu begreifen, daß die Sternstunden einer Nation auch Menschen auf den Plan rufen, die im Namen der geliebten Heimat ihre Kollaboration verdecken oder ihre Perversionen befriedigen (…) Ich war leider noch nicht reif genug, um die Worte meines Vaters zu verstehen, die selbsternannten Rächer unterschieden sich nur wenig von den Mördern von Lidice.«
Vom demokratischen Westen 1938 im Stich gelassen, per Münchner Abkommen Hitler ausgeliefert, hätten die Tschechoslowaken nach 1945 für Stalins Welt votiert. »Demokratie hat man verspottet als Metapher der Krise, ökonomisch und politisch. Die Nation wurde heilig, inklusive Sozialismus. Und so geschah es, daß die Tschechen, als das einzige Volk des zukünftigen Ostblocks, sich 1946 ihre Diktatur mit dem Stimmzettel besorgt haben. (…) Es waren deswegen viele, die den Tod des Diktators im März 1953 nicht heimlich feierten, sondern ihre Taschentücher naß weinten, weil sie befürchteten, daß der Damm gegen die germanische Revanche bricht, die vom ganzen Westen unterstützt wurde. (…) Alle wollten das Gute und beschleunigten den Gulag.«
Dann rollten 1968 die Panzer des Warschauer Pakts. Das Scheitern des freiheitlichen Sozialismus-Experiments wird meist nur in Form des militärischen Schlußakkords erinnert. In Wahrheit vollzog sich eine vielmonatige Hängepartie zwischen Moskau und Prag, aus DDR-Sicht minutiös nachzulesen in Hartmut Zwahrs Tagebuch »Die erfrorenen Flügel der Schwalbe«. Ich war damals zwölf und entsinne mich dramatischer Westradio-Kommentare, deren freiheitlicher Orgelton vermutlich dem Sound zum Ungarn-Aufstand 1956 entsprach. Und dann schlug die ČSSR die Sowjetunion sensationell im Eishockey, und das Prager Tschechenvolk zog vor die Moskowiter Besatzerbotschaft und brüllte: Rache für den August!
Politischer dachte ich erst, nachdem 1971 in der DDR der ewige Ulbricht stürzte. Sein Entmachter Honecker gab zunächst den Halbliberalen. Die Haare durften wachsen, der Empfang westlicher Sender wurde nicht länger kriminalisiert. Der neue DDR-Regent begehrte außenpolitische Anerkennung und unterzeichnete die menschenrechtliche Schlußakte von Helsinki. 1975 war Wolf Biermann noch nicht ausgebürgert, hatte sich der Pfarrer Oskar Brüsewitz noch nicht verbrannt. Prag war schön.
Ich bestaunte am Rathaus die Aposteluhr, ich flanierte um den Altstädter Ring. Sodann erkundete ich Josefov, das ehemalige jüdische Ghetto, und den alten Friedhof, dessen hebräisch bemeißelte Grabplatten sich zu Gebirgen untergegangenen Lebens türmten. Jenseits der Moldau stieg ich zum Hradschin hoch, beschaute den Veitsdom und knipste die teuflischen Wasserspeier. Nahebei lag das Goldene Gäßchen, in dessen Häuslein Nr. 22 einst Franz Kafka lebte. Gelesen hatte ich noch nichts von ihm. Ich lief zurück ins Tal. Auf der Karlsbrücke bedachte ich das Schicksal des steinernen Märtyrers Nepomuk. Im Jahre 1393 hatte Johannes von Pomuk, Beichtvater der böhmischen Königin, sich geweigert, das ihm Anvertraute dem eifersüchtigen Gatten Johann IV. zu berichten. Sein Nein machte Pomuk zum Ne-Pomuk und zur Wasserleiche, denn der König ließ ihn in der Moldau ersäufen. In Wahrheit mußte Pomuk sterben, weil er kirchliche Rechte vor staatlichem Zugriff bewahrte. So oder so: ein Blutzeuge der Opposition. Besäße ich seinen Todesmut?
Auch das U Fleku ließ sich finden. Hier soff die Blues- und Tramperszene der DDR Schwarzbier und war sich selbst genug. Ich hatte dafür kein Geld. Mir fehlten acht von 80 Kronen für ein Album des amerikanischen Jazz-Schlagzeugers Buddy Rich. Ich erbettelte die Münzen zu Nepomuks Füßen, ergatterte die Platte und schwebte die letzten beiden Tage glückshungrig und nahrungslos durch die Goldene Stadt. Ich schlief im Gästehaus der Böhmischen Brüder. Die anderen Zimmer bewohnten zwei westdeutsche Theologiestudenten und eine Holländerin. Saskia hieß sie und hatte einen Gipsfuß, der, mit einer Plastetüte überzogen, sie an der Erkundung des regnerischen Prag nicht hinderte. Saskia war patent. Ihr vertraute ich an, daß ich aus der Lehre geflogen war, daß ich Theologie studieren wollte, daß ich zweifelte, wozu ich wirklich tauge. Saskia sagte: Das kannst du wissen, wenn du probierst. Zweifeln ist besser als Schaf sein.
Ein Brief hat sich erhalten, vom 3. 6.1975. Königin Juliana ziert das Kuvert. Drinnen steht in Mädchenschrift auf Linienpapier: »Genau wie Du denke ich auch sehr oft an Prag zurück, wenn ich hier so ganz alleine in meinem Häuschen sitze. Dann schaue ich mich die Karten, Zetteln, u.s.w. an und werde nostalgisch, in sofern möglich. Ja, es ist schon schade, daß der Belichtungsmesser kaputt war. So schlimm ist es aber auch nicht, denn träumen (= nicht mehr so genau wissen) ist manchmal schöner . . . . . . . Ich habe mich gefreut, daß es mit dem Theologiestudium klappt bei Dir. Ich habe mich eine Zeit lang überlegt ob ich vielleicht auch nicht Theologie studieren möchte. An sich möchte ich es nämlich sehr gerne, nur bin ich da glaube ich noch nicht reif (oder fertigsicher) genug für. Bei uns ist am Anfang des Studiums noch nix sicher oder fest, nur wird davon ausgegangen, daß Jesus gestorben ist für uns Menschen, und nach 3 Tagen wieder aufgestanden. Ich glaube nicht daß ich so von dieser These weiterstudieren konnte, weil ich mit der ganzen Glaubensfrage noch gar nicht fertig bin. Wenn ich bete, oder danke, ist das eigentlich konkret zu ›Einem‹? Warum beten wir und danken weniger (kaum)? Wie ist das mit Nächstenliebe und Eifersucht? So gibt es noch 1000 Sachen. Christoph, das Papierchen ist fast voll. Ich hoffe es geht dir gut, und vielleicht fährst Du noch mal nach Prag? Gottes Segen. Deine Saskia«
Die DDR galt Saskia nicht als menschenunwürdiges Kuriosum, sondern schlicht als anderes Land. Das tat gut. Im Herbst 1975 begann ich das Studium am Theologischen Seminar Leipzig. Im Frühjahr 1976 reiste ich wieder nach Prag, in Begleitung meines Kommilitonen Michael Möller. Dies wurde eine andere Fahrt. Michael haßte die DDR, den Ostblock, die kommunistische Diktatur. Ich photographierte die malerische Stadt, er schmuggelte oppositionelle Texte und rügte mein versöhnlerisches Reden über das System. Ich träumte in die Moldau, er fand mich schuldhaft versponnen, da ich den Verhältnissen nicht prinzipiell, sondern immer nur ästhetisch und ironisch widerstünde. Die Naturen sind verschieden, doch im entscheidenden Punkt hatte Michael recht. Stalins Greuel, seine »Reinigungen«, seinen Massenmord am eigenen Volk, sein Gemetzel auch der Kommunisten wollte ich kaum glauben. Derlei war dem Maximalmörder Hitler vorbehalten, und den hatte Stalin abgeschafft. Pavel Kohout würde mich verstehen: »Mein Leben mit Stalin dauerte deshalb länger, weil mich gerade seine Rote Armee vor dem mörderischen Hitler rettete. Um so schwerer war es dann für mich, in ihm einen anderen Hitler zu entdecken.«
Michaels Vater zählte zu jenen sendungsbewußten Pfarrern, die aus dem Westen in die DDR übergesiedelt waren, um jenseits bürgerlicher Sicherheiten an der Glaubensfront ihren christlichen Dienst zu tun. Michaels Verwandtschaft lebte in der Bundesrepublik. Er besaß die verbotenen Bücher von Alexander Solschenizyn, Lew Kopelew, Milan Machowecz … Solschenizyns »Der erste Kreis der Hölle« öffnete mir die Augen zum Gulag. Die Hölle ließ sich weder leugnen noch verdrängen.
Michael verlieh seine Schätze so mutig wie unvorsichtig. 1977 wurde er verhaftet, von der Staatsmacht des »Leselandes DDR«. Fünf Studenten des Theologischen Seminars Leipzig gerieten meinerzeit in Haft. Michael kam bald wieder frei, nach einer bittenden Intervention der evangelischen Kirche. Rainer Vorwergk wurde aus dem Studium zur NVA einberufen, verweigerte aber jeglichen Armeedienst aus Glaubensgründen. Das brachte ihm zwei Jahre Gefängnis, von denen er vier Monate erlitt. Am Ende seiner Kräfte erklärte er sich wenigstens bereit, Bausoldat zu werden, worauf man ihn aus der Haft entließ und zur Fahne zog. Bernd Albani demonstrierte 1978 für Rudolf Bahro, den Autor des linksreformistischen Buchs »Die Alternative«, vor dem Leipziger Hauptbahnhof mit einem Bauchposter, das er mit der fehlerhaften Parole FREIHEIT FÜR WOLFGANG BAHRO! geschmückt hatte – zufällig an jenem Tag, als Bahros geheimer Prozeß begann. Bahro bekam acht Jahre, Bernd immerhin sechs Wochen, ohne Verhandlung, per Strafbefehl, wegen »Beeinträchtigung der Tätigkeit staatlicher Organe« gemäß § 214,1: Sein provokatives Schild habe andere Bürger aufhetzen wollen, damit die Organe der Deutschen Demokratischen Republik nicht so frei und unbelastet Recht sprechen könnten, wie es ihrem humanen Wesen entsprach.