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Thomas Offermann
Moderne Gitarrentechnik

Thomas Offermann

Moderne Gitarrentechnik

Integrative Bewegungslehre für Gitarristen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bestellnummer SDP 114

ISBN 978-3-7957-8662-5

© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 22285

© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

www.schott-music.com

www.schott-buch.de

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Inhalt

Präludium: Über das Buch

I. Integrative Gitarrentechnik: Eine Einführung

II. Technik – im Widerspruch zur gitarristischen Unschuld?

Was ist Technik?

Welchen Sinn erfüllt Technik?

Wenn wir von »Technik« sprechen, sollte die Begrifflichkeit genau geklärt sein

III. Physiologische Grundlagen für Gitarristen

Muskeln

Die wichtigsten Muskeln der Hand, ihre Lage und Funktion

Lange Fingermuskeln: Flexoren und Extensoren

Die Rotatoren

Kurze Fingermuskeln

Kraft

Schnelligkeit

Langsame Muskeln – schnelle Muskeln

Muskeltonus

Sehnen

Sehnenscheiden

Nerven

Propriozeption

Rezeptoren

Tastsinn

Gelenke

Die Hand

Handgelenk

Karpaltunnel

Finger und Daumen

Ellbogen, Elle und Speiche

Schultergürtel

IV. Halten und Bewegen

Haltung

Historische Annäherung

Aktuelle Tendenzen: Die Fußbank und Alternativen

Die traditionelle Haltung

Konsequenzen

Stabile Sitzhaltung – entspannte Sitzhaltung?

Wie hoch muss die Gitarre gehalten werden?

Bewegungen

Gegenbewegungen

Kompensationen

Musikalische Auswirkungen

Legato

Planting

Vorspannung

Elektromyographie

Kinemetrie

Tonabnehmer

Metronom

Training

V. Technik: Übungen

Einleitung

Wie nun soll das tägliche Technikprogramm aussehen?

Das Vorspannen

Zentrale Bewegungen

Ausbildung des kleinen Fingers (c) der rechten Hand

Gegenbewegungen

Unterschiedliche Trainingsarten

Propriozeption

Wie Technik üben?

Langsam üben – schnell üben

Kontrolle

VI. Warm-up: Propriozeptive Übungen

Propriozeptive Übungen

Rechte Hand: Stumme Übung

Übung zum differenzierten Wahrnehmen des Planting

Übung zur Vermeidung des Anschlagsgeräusches (»aggressives Staccato«)

Weitere Übungen zur Propriozeption

Geschicklichkeitsübung für die rechte Hand mit p, i, m, a, c

Linke Hand

Druckübung linke Hand

Synchronisation linke und rechte Hand

Leichte Übungen für die linke Hand und Synchronisation

VII. Technik der rechten Hand

Die klangliche Überlegenheit des Apoyando

Planting

Die Phasen eines Anschlags

Das Handgelenk

Die Position der rechten Hand und ihrer Finger zu den Saiten

Die Finger

Der Daumen

Kleiner Finger

Akkordanschlag als Grundtechnik der rechten Hand

Der Akkordanschlag

Rechte Hand: Übungen nur mit leeren Saiten?

Übungen

Akkordanschläge

Arpeggien

Daumen und Zeigefinger

Arpeggien: Wechselschlag auf alternierenden Saiten

Zweistimmige Arpeggien

Dreistimmige Arpeggien alternierend mit Daumen

Dreistimmige Arpeggien alternierend mit Daumen in der Praxis

Vorübungen

Vierstimmige Arpeggien alternierend mit Daumen

Fünfstimmige Arpeggien alternierend mit Daumen

Dreistimmige Arpeggien synchron mit Daumen

Die zwölf Arpeggio-Formen

Tremolo

Ausführung des Tremolos

Wie können Sie Tremolo am besten üben?

Tremolo-Praxis

Sextolen

Weitere Übungen

Gegenbewegungen

Rasgueados

Daumentechnik

Training Wechselschlag

Repetitionsübung

Triller mit der rechten Hand

Apoyando

VIII. Technik der linken Hand

Armsteuerung

Die Grundstellung der linken Hand

Das Handgelenk

Die Rolle des Daumens

Wie viel Kraft? Woher? Wie? Wann?

Stretching/Dehnungen

Lagenwechsel

Nebengeräusche: Quietschen und Knarzen

Übungen

Überstreckung/»Unterstreckung« (Abduktion/Adduktion)

Stabilität und Geschicklichkeit

Statische Übungen

Ausführung

Lagenwechsel-Übung

Die nächsten Schritte

Bindungen

Übungen

Bindungs-Kombinationen

Barrée

Weitere Übungen mit fixiertem Finger

Vibrato

Gegenbewegungen

IX. Koordination und Synchronisation

Tonleitern

Sprints

Koordinationsübungen

X. Verdreht und abgeknickt

Sonderbare Körperhaltungen und Handstellungen

XI. Anhang

Literatur und Quellen

Glossar

Präludium: Über das Buch

Warum dieses Buch? Was heißt hier »integrativ«?

Gibt es nicht schon genügend Technik-Bücher für Gitarristen? Die vierbändige Gitarrenschule von Emilio Pujol, Konrad Ragossnigs Leitfaden zum täglichen Üben, die in den achtziger Jahren revolutionäre Carlevaro-Schule, heute Scott Tennants wunderbares Pumping Nylon, Joseph Urshalmis sachverständiges A Conscious Approach to Guitar Technique bis hin zur Neuauflage von Jorge Cardosos Ciencia y Método de la Técnica Guitarrística, um nur einige zu nennen: alles hervorragende und kompetente Annäherungen an das Thema »Technik der klassischen Gitarre«.

Trotzdem ist zu beobachten, dass sich gerade Gitarristen anscheinend oft als jenseits aller physiologischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten empfinden. Immer noch wird auf die heute technisch veraltete Schule Francisco Tárregas verwiesen, der die Gitarre in ihrer heutigen Form erst einführte und damit Pionierarbeit leistete. Fernando Sor hingegen, der in seiner bereits 1830 herausgegebenen Méthode pour la Guitare manch klare und noch heute gültige Anweisung gab, scheint weitgehend vergessen.

Es wird nach wie vor ein Spiel mit verdrehtem, vom Bewegungsablauf abgekoppeltem ruhigen rechten Handgelenk und mit isolierten Fingerbewegungen gelehrt (wofür Gitarristen bei Orthopäden bekannt sind). In der linken Hand wird ein gebeugtes Handgelenk verlangt oder in Kauf genommen, und trotz eines wachsenden Marktes für unterschiedlichste Gitarrenstützen als Ersatz oder Ergänzung zur Fußbank werden einseitige und verdrehte Haltungen zumindest als notwendiges Übel akzeptiert.

Bewegungen des Körpers während des Spielens sind häufig verpönt: In der musikalischen Öffentlichkeit bekannt ist das Bild des introvertierten, bewegungslos sitzenden Gitarristen, der zudem das Zusammenspiel mit anderen Instrumentalkollegen scheut.

Das scheint absurd, besonders wenn man bedenkt, dass viele Gitarristen noch heute gar nicht über die klassische Musikausbildung zur klassischen Gitarre kommen, sondern über die populäre Musik, ihre Herangehensweise also anfangs durchaus nicht »ernst«, sondern eher lustbetont war.

Sehe ich dann manch ehemaligen »Haudegen« in der beschriebenen Haltung mit seiner Konzertgitarre kämpfen, bricht mir das Herz! Denn Gitarre spielen ist mehr als die Erfüllung von außen diktierter technischer Kriterien.

Immer wieder begegnen mir Gitarristen, Studenten und auch erfolgreiche Berufsgitarristen, die über Schmerzen klagen: Viele betrachten dies als unvermeidbares Übel beim Gitarrenspiel.

Wie viele Gitarristen haben aufgehört zu spielen: Rückenschmerzen, Schmerzen in beiden Händen, chronische Sehnenscheidenentzündungen und vieles mehr waren die Ursachen. Die Dunkelziffer derer, die ganz aufgegeben haben, ist so gering nicht.

Wie kommt es, dass manche Gitarristen so leicht und einfach auf dem Instrument zurechtkommen und andere gar das Gitarrenspiel aufgeben? Ist das allein von der Begabung oder vom Glück abhängig, oder gibt es einen Schlüssel, der für alle Gitarristen gültig sein könnte? Gibt es rein physikalische Fakten und physiologische Gesetzmäßigkeiten, einen Blick auf die Gitarrentechnik, der nicht auf undifferenziert tendenziöser Subjektivität oder auf Geschmack basiert, der also viel Freiraum für unterschiedlichste Herangehensweisen lässt?

Es geht mir in diesem Buch um das Aufzeigen eines Weges, bei dem es sich einerseits in vielen Details um eine genaue Bestandsaufnahme der modernen Gitarrentechnik handelt, der aber andererseits heute noch unübliche Herangehensweisen beinhaltet wie das Spiel mit dem kleinen Finger der rechten Hand oder das gezielte Training von Gegenbewegungen. Moderne Gitarrentechnik – Integrative Bewegunslehre für Gitarristen hat das Ziel, Gitarristen ein Gitarrenspiel mit den einfachsten und natürlichsten Mitteln zu ermöglichen. Sie bezieht dafür den ganzen Körper mit ein und setzt sich mit den physischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten von Bewegungen am Instrument und ihrer Entstehung auseinander, die im unmittelbaren und untrennbaren Zusammenhang mit den Gesetzmäßigkeiten der Musik stehen. Damit behandelt sie also nicht nur die Spieltechnik allein, sondern hat spürbare Auswirkungen auf Interpretationen, da sie den Gitarristen in die Lage versetzt, Musik frei von Hemmnissen angemessen zu interpretieren.

Dafür definiert sie Bewegungen und ihre Entstehung, Gegenbewegungen, die Sitzhaltung und widmet sich ausgiebig dem Erkennen und Vermeiden von Kompensationen.

Ich unterrichte seit 1990 an Musikhochschulen und habe meine Herangehensweise an die Gitarre seitdem verfeinert und präzisiert. Ich konnte feststellen, dass viele Gitarristen internationalen Ranges offenbar die gleichen oder ähnliche Rückschlüsse gezogen haben, sich jedoch nicht in der vertiefenden Weise damit auseinandergesetzt haben, wie ich es tat.

Meine vertiefende Auseinandersetzung mit der Gitarrentechnik hat folgenden Grund: Als früherer Leistungssportler hatte ich mich schon oft mit Parallelen zwischen Sport und Musik beschäftigt: In beiden Fällen werden körperliche Höchstleistungen erbracht, die absolute Körperkontrolle, Wissen und Disziplin in Arbeit und Herangehensweise verlangen. In der Musik dient diese Beherrschung natürlich allein der Kunst und nicht der Leistung selbst.

Manchmal kann man sich allerdings fragen, ob diese Gegenüberstellung in allen Fällen Gültigkeit besitzt – gibt es doch im Fußball beispielsweise manchen Künstler wie einen Ronaldinho und unter den Instrumentalisten manchen Spieler, für den nur Athletik, Schnelligkeit und Lautstärke zu zählen scheinen.

Aufgrund einer Erkrankung im Jahre 1996, die schließlich das Ende meiner Konzertkarriere bedeutete, musste ich nach einer vollständigen linksseitigen Lähmung alle Körperbewegungen von Neuem erlernen und kam damit in eine einzigartige Situation: Vielleicht als einziger Gitarrist konnte ich meine Theorien und mein erworbenes Wissen über die Gitarrentechnik am eigenen Leibe erproben. Von vielen Kollegen und mittlerweile Generationen von Studenten wurde ich gedrängt, meine Methode aufzuschreiben.

Die Zusammenarbeit mit dem Bewegungs- und Trainingswissenschaftler Dr. Lars Janshen von der Forschungsgruppe für angewandte Biomechanik an der Humboldt-Universität zu Berlin brachte neue Einsichten und die Gewissheit, dass die Sportwissenschaftler den Musikern weit voraus sind. Bewegungsanalysen mit modernsten technischen Instrumenten und wissenschaftlichen Erkenntnissen werden dort schon seit Jahrzehnten durchgeführt.

So haben wir es im August 2006 mit einigen Gitarren-Probanden an der Humboldt-Universität getan. Der Gedankenaustausch und die Untersuchungsergebnisse bestätigten eindeutig, dass auch auf dem Instrument beispielsweise ein Vorspannen der beteiligten Muskeln unverzichtbar ist. An einer Bewegung sind niemals nur die direkt ausführenden Muskeln beteiligt, sondern diese sind immer abhängig von den Muskeln, die die Extremität an das Instrument anpassen oder heranführen und von denjenigen, die die Extremität kontrollieren. Diese Kontrolle ist nur möglich, wenn auch diese Muskeln vor der Bewegung die notwendige Spannung aufweisen.

Moderne Gitarrentechnik möchte dem Ziel der Vereinfachung des Gitarrenspiels und der Versachlichung der Diskussion um verschiedene technische Ansätze dienen. Sie richtet sich an Konzertgitarristen, Gitarrenpädagogen und -studenten.

Über den Autor

Thomas Offermann zählt gegenwärtig zu den international profiliertesten Gitarrenpädagogen. Konzerte in mehr als 40 Länder der Welt und acht international beachtete CD-Einspielungen mit dem DUO SONARE dokumentieren den herausragenden Stellenwert seiner Arbeit. Gemeinsam mit dem DUO SONARE öffnete Thomas Offermann das Repertoire der klassischen Gitarre für Kompositionen von Musikern wie Chick Corea, Frank Zappa oder Mike Oldfield.

Prof. Dr. Thomas Offermann unterrichtet an der Hochschule für Musik und Theater Rostock eine internationale Soloklasse und ist künstlerischer Leiter der International Guitar Academy Berlin. Seine Arbeit an der Entwicklung einer Integrativen Bewegungslehre Gitarre machen ihn zum vielbeachteten Ratgeber und Vortragenden in Fachkreisen. Komponisten wie René Eespere, Marco de Biasi, Carlo Domeniconi und Benjamin Verdery widmeten Thomas Offermann Werke für Gitarrenensemble.

Seit 2010 ist Thomas Offermann D’Addario’s European Classical Guitar Representative.

I. Integrative Gitarrentechnik: Eine Einführung

»Locker zu spielen ist ein Denkfehler.« Zur Vermeidung von Kompensation benötigen wir eine hohe Grundspannung in beiden Händen, den sogenannten Muskeltonus.

»Ich muss mit großen und nicht mit isolierten Bewegungen spielen lernen.« Die feinen Muskeln (zum Beispiel der Hände) sind immer nur differenzierende Ausführer der übergeordneten Muskeln.

»Üben bedeutet verstehen. Verstehen von Bewegungen heißt Trennung von vorspannender Kraft und Bewegung.«

»Kraft und Schnelligkeit: ein Widerspruch.«

Diese vier Leitsätze bilden gewissermaßen den Leitfaden für Moderne Gitarrentechnik, wobei sie bei manchem spontanes Einverständnis hervorrufen werden und bei anderen dagegen Kopfschütteln.

Die integrative Gitarrentechnik integriert die kleinste Fingerbewegung in einen übergeordneten Bewegungsablauf und erklärt, warum isolierte Bewegungen unphysiologisch, unökonomisch und ungesund sind. Sie beschäftigt sich mit Bedeutung und Funktion der Haltemuskulatur, die die Hände an das Instrument heranführt und kontrolliert. Sie zeigt Gesetzmäßigkeiten auf, die Instrument und Körper vorgeben und nach denen sich der Gitarrist bei seiner Haltung zum Instrument richten muss. Sie bezieht bewusst auch Vergleiche mit dem Sport mit ein: Sportphysiologen definieren zehn unterschiedliche Kraftarten. Begriffe wie Maximalkraft, Schnellkraft und Kraftausdauer gehören dort zum Handwerk.

Doch auch Trainingsmethoden wie Intervalltraining oder mentales Training finden Anwendung. Eine unklare Vorstellung über das Entstehen von Bewegungen geht oft einher mit einer undifferenzierten Technik. Das lässt das Spiel der Gitarre nicht unbeeinflusst: Fehlendes Vorspannen zu einer – insbesondere sehr schnellen – Bewegung führt zu unkontrollierter Artikulation. Die integrative Gitarrentechnik bezieht selbstverständlich künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten mit ein, so beispielsweise Legato oder Dynamik.

Sie beschäftigt sich mit der Eigenwahrnehmung der Lage bzw. der Position der Extremitäten, der Propriozeption, und zeigt Wege auf, wie diese an der Gitarre trainiert werden kann. Die integrative Gitarrentechnik räumt zwei Aspekten erhebliches Gewicht ein: Gegenbewegungen und dem Training des kleinen Fingers der rechten Hand.

Der Übungsteil baut auf einfachsten Übungen von Grundtechniken auf, von denen die weiteren Techniken abgeleitet und variiert werden können. Das Grundprinzip ist hierbei, dass die Hand zunächst als Einheit betrachtet wird, sodass zum Beispiel die Grundtechnik der rechten Hand der Akkordanschlag ist.

In diesem Buch werde ich mich zunächst mit der Analyse der integrativen Gitarrentechnik auseinandersetzen. Wie stellt sie sich im Vergleich zu anderen modernen und historischen Herangehensweisen dar?

Im zweiten Kapitel »Technik – im Widerspruch zur gitarristischen Unschuld?« widme ich mich der Frage, was Technik eigentlich ist und weshalb wir sie benötigen.

Die physiologischen Grundlagen mit für Gitarristen relevanten Fakten stelle ich im Kapitel III dar. Großes Gewicht lege ich auf die Zusammenhänge zwischen ausführender und haltender Muskulatur und der Bedeutung der Nerven und der Eigenwahrnehmung.

Das vierte Kapitel »Halten und Bewegen« setzt sich mit historischen Vorlagen und aktuellen Tendenzen der Spielhaltung auseinander. Die Unterkapitel »Bewegungen«, »Gegenbewegungen«, »Kompensationen« und »Training« stellen das Herzstück des Buches dar.

Das weitaus unterschätzte Thema »Kompensationen« wird in seinen Auswirkungen auf Spieltechnik, Sicherheit und den musikalischen Ausdruck behandelt. Das Kapitel »Training« widmet sich Überschneidungen von Musik und Sport. Wo können Musiker von den Errungenschaften der Sportwissenschaft profitieren? Sicher zum Beispiel im Bezug auf die Einsicht, dass für jede Bewegung eine Vorspannung notwendig ist!

Kapitel V ist eine Einführung in das Thema »Technik: Übungen«. Die Kapitel VI bis VIII widmen sich im Einzelnen den technischen Übungen der integrativen Gitarrentechnik, die sich aus den vorangegangenen Kapiteln ergeben. Sie haben die Themen »Warm-up: Propriozeptive Übungen«, »Technik der rechten Hand« und »Technik der linken Hand«. Umfänglichen Raum wird der Beschäftigung mit dem Umgang mit Technikübungen und Technikprogrammen eingeräumt. Kapitel IX behandelt »Koordination und Synchronisation«.

Im zehnten und letzten Kapitel »Verdreht und abgeknickt« werden einige sonderbare Körper- und Handstellungen abgebildet und diskutiert.

II. Technik – im Widerspruch zur gitarristischen Unschuld?

Was ist Technik?

Spricht man im Zusammenhang mit Instrumentalspiel von Technik, ist dem Wortsinne nach die instrumentale Spieltechnik gemeint. Im Brockhaus findet man unter »Technik« u. a. folgendes: »im weiteren Sinne eine besondere Art des Vorgehens oder der Ausführung einer Handlung (zum Beispiel Maltechnik)«1.

Ist im Zusammenhang mit dem Instrumentalspiel vereinfachend von »Technik« die Rede, begegnet man erstaunlicherweise häufig starken, sich widersprechenden Emotionen: Manche Instrumentalisten lehnen »Technik« rundweg ab, sie fühlen sich allein schon von dem Begriff bedroht. Das Instrumentalspiel an sich soll »kreativ« sein, das reine Wesen der Musik, ihre Unschuld, wird durch stilisierende, kastrierende, zweckoptimierte, ja kalte technische Herangehensweise geradezu geschändet. Der verantwortungsvolle Künstler muss von technischen Erwägungen unberührt bleiben, sonst verliert er seine Authentizität; für seine Begegnung mit der Musik muss er unvoreingenommen sein, seine Emotionen ungezügelt. Hierzu verschmilzt er mit seinem Instrument und wird letztlich selbst zum Kunstwerk. Dann wiederum trifft man auf Interpreten, für die das technische Bewältigen eines Werkes bereits ihre Existenz als Künstler zu rechtfertigen scheint. Oft zwar trefflich mit Hintergrundliteratur belesen und über ihr Tun informiert, stellen sie eine Gegenposition zu den Erstgenannten dar und lassen das emotionale Verständnis für die Musik oft schmerzlich vermissen; das künstlerische Handeln, welches eine Interaktion des Künstlers mit seinen Rezipienten voraussetzt, wird ausgeblendet.

Bei genauer Betrachtung führen beide Haltungen nicht weiter. Das Instrument ist nun einmal ein Fremdkörper, jedes Handeln verlangt eine Technik; es gibt daher auch keine Unschuld im Umgang mit dem Instrument. Der Glaube, alles müsse »natürlich« sein, ist ein Irrtum und am Ende naiv: Selbst eine Banane zu schälen oder einen Apfel zu essen verlangt Technik.

Welchen Sinn erfüllt Technik?

Der Behauptung, Instrumentaltechnik zerstöre möglicherweise unseren natürlichen Zugang zum Instrument, sei mit der Frage entgegnet: Was ist denn der natürliche Zugang zum Instrument? Das Erlernen des Instrumentalspiels ist trotz aller Freude ein mühsamer und langwieriger Prozess, und wenn uns nicht von Beginn an der richtige Weg gewiesen wird, werden wir fehlerhafte Bewegungen erlernen, die unsere Entwicklungsmöglichkeiten manifest einschränken: Wir werden zu fest greifen, kompensierend die Schulter hochziehen und so fort.

Bei der Gitarre hat die Entwicklung der Spieltechnik erst in der jüngsten Vergangenheit stattgefunden, und dies in sehr kurzer Zeit. Heute profitieren auch Schüler und Studenten der Konzertgitarre von den Erfahrungen der Generationen vor ihnen, was Irrwege einschließt, die sie heute nicht mehr gehen müssen. Noch vor zwanzig bis dreißig Jahren galten manche Spieltechniken als Notwendigkeit, die wir heute als gesundheitsschädlich erkannt haben. Dies alles ist Kenntnis von Bewegungsabläufen, dies alles ist Technik.

Es gibt keinen Instinkt, der uns dazu führt, beim Barrée nicht zu stark mit dem Daumen zu drücken, es gibt keinen »Homo instrumentalis«, wohl aber den Homo sapiens, der seine Fähigkeiten durch Erkenntnis geradezu unermesslich ausbauen konnte, und der ist, so sagte schon Arnold Gehlen, ein Mängelwesen, unfähig in der Welt zu bestehen ohne seine Intelligenz. Und diese Intelligenz benötigen wir nicht nur zum Verständnis von Musik, sondern auch zum Verständnis unseres Handelns am und mit dem Instrument.

Der Begriff »Technik« suggeriert vielen etwas fremdkörperhaftes, und dieses Gefühl wird gelegentlich durch dogmatische und oft überkommene Haltungs- oder Bewegungsvorschriften genährt. Solche Vorschriften aber sind grundsätzlich problematisch, da sichtbare Haltungen oder Bewegungen nur Resultat sind und kaum Basis. Zu diesem Resultat führen Muskeln, Sehnen und Gelenke, die bei jedem Menschen unterschiedlich beschaffen und proportioniert sein können. Dorthin führt die Eigenwahrnehmung, die Propriozeption des Schülers oder Studenten, die Verarbeitung dieser Reize im zentralen Nervensystem und Gehirn, und die Signale, die wiederum vom Gehirn an die ausführenden Extremitäten übermittelt werden.

Sichtbares kann nur zur Kontrolle verwendet werden, nicht aber als Ausgangspunkt zum Aufbau einer Spieltechnik. Eine Spieltechnik kann nur auf Basis der körperlichen Beschaffenheit aufgebaut werden. Das einzige Dogma in Zusammenhang mit Technik darf sein, dass Haltung und Bewegungen so natürlich wie möglich gehalten werden müssen – das ist möglich, und dies zu erklären ist die Intention dieses Buches. Das Ergebnis der Erfahrung von Generationen von Gitarristen ist, dass es möglich ist, die Spieltechnik der Konzertgitarre an den natürlichen physiologischen Voraussetzungen des Körpers zu orientieren, Einschränkungen sind ein Anachronismus. Man könnte sagen, dass die Konzertgitarre ihre Pubertät hinter sich gelassen hat, weil willkürliche und allein auf Tradition basierende Technik- und Interpretationsvorstellungen heute überwunden sind. Das Niveau der heute tätigen Interpreten bestätigt diese Aussage. Die Konzertgitarre braucht sich nicht hinter Klavier oder Violine zu verstecken.

Wenn wir von »Technik« sprechen, sollte die Begrifflichkeit genau geklärt sein

Zuerst meint »Technik« am Instrument immer das »Wie«: Wie sitzen wir, wie halten wir unser Instrument, wie die Hände, wie setzen wir sie ein, wie erzeugen wir einen Ton, welche Auswirkungen haben Anforderungen wie unterschiedliche Dynamik, unterschiedliche Tempi auf die ausführenden Hände? Erst wenn wir diese Fragen beantworten können, kommt die Interpretation ins Spiel: Interpretation und Technik sind unauflösbar miteinander verbunden. Eine begrenzte Technik begrenzt immer unseren Ausdruck, Interpretationen hängen gänzlich von den technischen Möglichkeiten ab. Eine ausgereifte Spieltechnik bedeutet ein großes Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten. Widmen sich klassische Interpreten jedoch allein ihren technischen Ausdrucksmöglichkeiten, kann dies zu sterilem Spiel führen.

Vielleicht können die Interpreten klassischer Musik vom selbst komponierenden und improvisierenden Jazz- oder Rockmusiker lernen: Während wir mit den Möglichkeiten, uns auszudrücken, möglichst offen und vielseitig sein müssen, kann ein technisches Manko dort sogar stilprägend wirken (denken wir an Gitarristen wie Frank Zappa, Muddy Waters, Keith Richards und viele mehr).

Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine kurze Bemerkung zur Benennung: Bei interpretierenden im Gegensatz zu improvisierenden Gitarristen spreche ich heute lieber von »Konzertgitarristen« als von »klassischen Gitarristen«. Klassik allein spielen wir schon lange nicht mehr. Längst hat Musik von Piazzolla, aber auch von Zappa, Hendrix oder Oldfield Einzug gehalten in dieses »klassische« Repertoire, zu dem auch Kompositionen von díAngelo, Domeniconi oder Verdery gehören. Der Konzertgitarrist widmet sich der Interpretation durchkomponierter Musik und ist dabei um Perfektion in Ausdruck und Ausführung bemüht. Die Gegensätze verschwimmen heute.

Was den Konzertgitarristen noch auszeichnet, ist die stilistische Vielfalt und die Authentizität, in der die unterschiedlichen Stile interpretiert werden. Doch auch Konzertgitarristen benötigen einen Klang, mit dem sie unverwechselbar sind, eine Art zu interpretieren, an dem der Hörer sie wiedererkennt. Was Konzertgitarristen gelegentlich von ihren Kollegen übernehmen sollten, ist die Intensität, mit der musiziert wird. All das soll für Konzertgitarristen nun natürlich keineswegs heißen, dass ihnen eine schlampige Technik wegen des Wiedererkennungwertes und des persönlichen Ausdrucks ausreichen sollte. Aber es soll unterstreichen, dass auch klassische Interpreten Musik spielen, um Emotionen zu übermitteln, dass sie Musik spielen für die Menschen, die ihnen zuhören, und nicht zum Nachweis der Beherrschung von außen diktierter – meist technischer – Kriterien. Niemals sollte das Studium der Musik – sei sie von Bach oder Carulli – allein zu einer technischen Übung verkommen, weder im Konzert noch im Übeprozess.

Aus diesem Grunde ist es so wichtig, für die »Fitness« der Hände und Finger geeignete Übungen zu entwickeln, die einen freien und unverkrampften Zugang zur Musik ermöglichen. Nehmen wir ein technisch anspruchsvolles Gitarrenwerk wie die Sonata Eroica op. 150 von Mauro Giuliani: Wenn wir Läufe, Arpeggien oder Terzläufe anhand dieses Werkes trainieren, missbrauchen wir es letztendlich. Die Arbeit an solchen Werken muss dem Werk selbst gewidmet werden, der Interpretation. Dies bedeutet: Wie setze ich meine bereits erworbenen technischen Fertigkeiten in diesem Werk um?

Hier kommen wir zur Begrifflichkeit zurück: Sprechen wir von »Technik«, meinen wir häufig auch »Technik üben« oder »Technikprogramme«. Gerade die Konzertgitarre ist außerordentlich dafür geeignet, technische Abläufe aus musikalischen Abläufen zu exzerpieren und separat zu üben, da – zum Beispiel im Gegensatz zum Klavier – beide Hände völlig unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Es besteht auch die Notwendigkeit zu dieser Art, Technik zu üben, weil nämlich die Summe der unterschiedlichen Techniken, die beide Hände in Perfektion ausführen müssen, wohl unvergleichbar ist. Die zweite Hälfte des Buches widmet sich daher ausgiebig technischen Übungen und erklärt genau, wie sie auszuführen sind.

III. Physiologische Grundlagen für Gitarristen

Muskeln

Die Muskels sind die Organe, die für die Ausführung aller aktiven Bewegungen verantwortlich sind. Diejenigen Muskeln, die vor allem für die willkürlichen, aktiven Körperbewegungen zuständig sind (das heißt die Knochen bewegen), werden als Skelettmuskeln bezeichnet. Sie sind damit auch für die Bewegung von Armen, Händen und Fingern zuständig. Die Sehnen der Skelettmuskeln überspannen ein oder mehrere Gelenke, um die Knochen zu bewegen.

Muskeln sind immer mit Knochen verbunden, man spricht bei den Verbindungspunkten von Ursprung und Ansatz, wobei der Ansatz am zu bewegenden Knochen liegt. Ein Muskel kann mehrere Ursprünge haben wie der Bizeps mit zwei (daher Bi-zeps) oder der Trizeps mit drei Ursprüngen (daher Tri-zeps). Muskeln können sich ausschließlich zusammenziehen (kontrahieren), das heißt: Ursprung und Ansatz einander annähern. Zur jeweiligen Gegenbewegung benötigen die Muskeln andere Muskeln, die in die entgegengesetzte Richtung arbeiten.

Muskeln werden im Hinblick auf ihre Zusammenarbeit in gegenspielende und zusammenwirkende unterteilt. Eine gegenspielende bzw. entgegengesetzte Wirkung haben Agonisten (Spieler) und Antagonisten (Gegenspieler). Durch die gegenspielende Einwirkung von Agonisten und Antagonisten werden auch Gelenke fixiert, die ansonsten einer Belastung nachgeben würden. Synergisten dagegen haben eine sich ergänzende Wirkung und arbeiten deshalb bei vielen Bewegungen zusammen.

Als einleuchtendes Beispiel für Antagonisten können wir unsere bekanntesten Muskeln betrachten, nämlich Bizeps und Trizeps. Während der Bizeps vor allem den Arm im Ellbogengelenk beugt, streckt der Trizeps dort. Als Synergisten des Trizeps, zum Beispiel bei Liegestützen, dient die Brustmuskulatur.

Kontrahiert der Agonist, muss der Antagonist nachgeben und umgekehrt. Dieses Zusammenspiel der Agonisten und Antagonisten (das intermuskuläre Zusammenspiel) funktioniert am besten, wenn sich die beiden Muskeln in einem funktionalen Gleichgewicht befinden. Man spricht dann von muskulärer Balance. Ist dieses Gleichgewicht gestört, weil zum Beispiel einer der Muskeln verkürzt ist oder in seiner Kraft nachgelassen hat, kommt es zu sogenannten muskulären Dysbalancen, die meist Fehlbelastungen von Gelenken zur Folge haben. Das intermuskuläre Zusammenspiel wird vom zentralen Nervensystem (ZNS) koordiniert. Diese Information ist für instrumentale Spieltechniken überaus wichtig: Zu jeder Bewegung muss auch die Gegenbewegung trainiert werden, um muskuläre Dysbalancen zu vermeiden. Dies erscheint für die Gitarrentechnik besonders einleuchtend bei repetitiven Techniken der rechten Hand wie Akkordanschlägen.

Für eine gezielte Bewegung arbeitet fast nie ein Muskel allein: Verschiedene Muskeln arbeiten ständig als Synergisten zusammen. Auch diese unbewusste Auswahl der Muskeln geschieht durch das zentrale Nervensystem. Die intramuskuläre Koordination bestimmt, wie stark der einzelne Muskel kontrahiert. Sie wird ebenfalls durch das ZNS kontrolliert.

Muskeln, die Extremitäten an den Körper heranziehen, heißen Adduktoren (Heranführer). Ihre Antagonisten, die Abduktoren (Abspreizer), sorgen dafür, dass die Extremitäten vom Körper weggeführt werden. Das gilt auch für die Hand: Abduktoren spreizen die Finger und Adduktoren führen sie zusammen. Diese Bewegungen führen meist die »kurzen« Fingermuskeln oder »kurzen« Handmuskeln aus: »kurz«, weil sie im Gegensatz zu den »langen« Fingermuskeln in der Hand liegen. Die »langen« Fingermuskeln liegen nicht in der Hand, sondern im Unterarm: Flexoren (Beuger) beugen Finger, ihre Antagonisten sind die Extensoren (Strecker). Für Greif- und Anschlagsbewegungen sowie für Lösungs- und Gegenbewegungen benötigen wir daher an erster Stelle Flexoren und Extensoren. Die Sehnen aller langen Fingermuskeln durchlaufen das Handgelenk.

Rotatoren führen Drehbewegungen aus, zum Beispiel des Unterarms oder des Kopfes. Pronation bedeutet eine Bewegung der Hand mit der Daumenseite einwärts, während Supination eine Bewegung nach außen meint.

Die wichtigsten Muskeln für die Hand, ihre Lage und Funktion

Lange Fingermuskeln: Flexoren und Extensoren

Muskeln erfüllen meist mehrere Funktionen, die hier im Einzelnen aufzuführen den Rahmen sprengen würde. Daher beschränke ich mich auf die im konkreten Kontext wichtigsten Funktionen.

Die langen Fingermuskeln, von denen es 15 gibt, liegen im Unterarm. Das bedeutet, dass alle 24 Sehnen der langen Fingermuskeln durch das Handgelenk geführt werden. Die langen Fingermuskeln sind für das Funktionieren der menschlichen Hand von grundlegender Bedeutung. Würden sie in der Hand liegen, wäre sie überdimensional groß und für feine und geschmeidige Bewegungen nicht geeignet. Durch ihre Entfernung von den zu bewegenden Fingern können sie zudem wesentlich effizienter ihre Kraft ausüben.