Christoph Schwandt
Georges Bizet
Eine Biografie
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Bestellnummer SDP 123
ISBN 978-3-7957-8547-5
© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
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Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer SEM 8418
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Im Schatten des eigenen Meisterwerks
Der Zehnjährige am Conservatoire
»Geschicklichkeit, Kenntnisse und Einfälle«
Für Clovis et Clotilde nach Rom
Statt einer Messe: eine Opera buffa
Vasco da Gama und Roma
Zurück in der Metropole
Iwan der Schreckliche und Leïla
Arrangements und Rhein-Romantik
Die Zigeunerin in Schottland
Keine neue Oper, Heirat, Krieg
Meisterwerke: Jeux d’enfants und Djamileh
Erfolgsmusik zum durchgefallenen Theaterstück
Die Opéra comique Carmen
Anmerkungen
Literatur
Bildnachweis
Werkregister
Personenregister
Georges Bizet ist der Komponist der Oper Carmen.
Allein ihr Erfolg begründete seine Popularität, wenn auch nicht mehr zu seinen Lebzeiten. Der Komponist von Carmen wurde nur mehr im Lichte dieses Werks gesehen. So wurde Bizet als wichtiger Musiker seiner Zeit verkannt, indem man ihn den »Ein-Werk-Komponisten« der Operngeschichte zurechnete, wie es im deutschsprachigen Raum auch Charles Gounod (Faust), Ruggero Leoncavallo (Pagliacci) und Bedřich Smetana (Die verkaufte Braut) zu Unrecht erging. Carmen wurde zudem nicht in der von Bizet ursprünglich intendierten Gestalt bekannt, sondern in einer bearbeiteten, einerseits um Originales gekürzten, andererseits um anderswo Entlehntes ergänzten Fassung. Gesamtschaffen und Persönlichkeit Georges Bizets blieben im Schatten der großen Aufmerksamkeit für das eine Meisterwerk.
»Ich bin überzeugt, dass Carmen in zehn Jahren die populärste Oper der ganzen Welt sein wird. Aber der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland. Carmen hat keinen richtigen Erfolg in Paris gehabt. Bizet starb bald nach ihrer Aufführung als junger Mensch in der Blüte seiner Jahre. Wer weiß, ob nicht infolge der Enttäuschung?«1 So urteilte Peter I. Tschaikowsky, der sich besonders in seiner Oper Pique Dame auf Bizets musikalische Dramaturgie berief und auch – zum Beispiel im Nussknacker-Ballett – deutlich von dessen Instrumentationsstil inspiriert wurde.
Dass Bizet sozusagen an gebrochenem Komponistenherzen gestorben sei, ist viel kolportierte Spekulation; Beweise dafür gibt es nicht. Der zeitliche Zusammenhang zwischen den Schwierigkeiten eines traditionsverhafteten Publikums mit einem provozierenden Meisterwerk und dem frühen Tod eines sein Leben lang kränkelnden Künstlers passte jedoch gut ins Klischee der Musikgeschichtsschreiber des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
»Er lebte in bescheidenen Verhältnissen und musste die verschiedensten Arbeiten annehmen, um Geld zu verdienen.«2 Diese Behauptung zieht sich leitmotivisch durch die meisten Begleittexte von Ton- und Bildträgern, vor allem der Carmen. Richtig ist zwar, dass Bizet mit seiner Arbeit kein reicher Mann wie Giacomo Meyerbeer geworden ist und auch kein Amt, etwa als Professor, innehatte, das ihn materiell versorgte. Er hatte aber auch nie wie Wagner drückende Schulden und musste nicht wie viele komponierende Zeitgenossen einem Brotberuf nachgehen. Bizet lebte in soliden materiellen Verhältnissen und war ein von der Gesellschaft geachteter Mann, ein Ritter der Ehrenlegion.
Carmen wurde in der Tat die bei Weitem populärste Oper. Auch die bekanntesten Bühnenwerke Mozarts, Verdis und Puccinis können nicht konkurrieren, sind sie doch alle in bestimmter Weise an das zentraleuropäische Theaterverständnis gebunden, von Wagners Werken ganz zu schweigen. Von Carmen hingegen gibt es mehrere Schallplattenaufnahmen in russischer Sprache und sogar eine in Mandarin-Chinesisch.3 Prosper Mérimées Carmen-Stoff – durch die Oper Weltliteratur geworden – wurde außerdem, von Bizets kongenialer Musik nicht mehr trennbar, auf unterschiedlichste Weise adaptiert: als Ballett mit originaler Musik wie auch mit Rodion Shchedrins Bizet-Paraphrase4, als Stummfilm (so 1918 von Ernst Lubitsch mit Pola Negri) mit Bizet-Klängen vom Klavier, als aufwendige Kino-Oper, als Hollywood-Musicalfilm Carmen Jones mit Songtexten von Oscar Hammerstein in der Regie von Otto Preminger und als alternatives Musiktheater von Peter Brook. Carlos Saura verband schließlich Tanz und Film mit Carmen.
Georges Bizet wurde zu einem der meistgespielten Komponisten, obwohl außer Carmen und den beiden Suiten mit Musik aus dieser Oper, von denen nur eine autorisiert ist, allein die Orchestersuiten aus L’Arlésienne relativ häufig auf Konzertprogrammen mit sogenannter populärer Klassik stehen. Hier stammt wiederum die zweite nicht von Bizets eigener Hand.
Kurioserweise bekam überdies der Pariser Bizet, dessen einzige wirkliche Auslandsreise5 nach Italien führte, durch den Schauplatz seines Erfolgswerks das Etikett, Spanien in authentischer Musik verewigt zu haben. Die Carmen-Musik ist aber nicht mehr und nicht weniger spanisch als die Musik von Mozarts Figaro oder Beethovens Fidelio, beides Werke, die ebenfalls in und um Sevilla spielen.
Walter Klefisch, der erste deutsche Übersetzer und Heraus geber von Bizet-Briefen, vermerkt mit Recht: »Die Geschichte seines Lebens ist daher weitgehend identisch mit der Geschichte seiner Werke.«6 Aber auch dieser Ansatz zur Würdigung des Komponisten ist heute noch schwierig genug. Eine kritische Gesamtausgabe seiner Werke liegt nicht vor. Die einzige breit angelegte wissenschaftliche Arbeit über das, was Bizet vor Carmen geschaffen hat, konstatiert in diesem Sinne zu Recht »eine jahrhundertlange Entstellung der Originaltexte«.7
Bizets erste Symphonie ist ein genialisches Jugendwerk, das erst über fünfzig Jahre nach seinem Tod wiederentdeckt wurde. Sie galt bis dahin als unbedeutende Schülerarbeit, was auch noch die Fachleute glaubten, die das Manuskript dann verwahrten. Niemand hatte den Nachlass des Künstlers inventarisiert, geschweige denn ihn für eine eventuell interessierte Nachwelt beisammengehalten. Wichtige Korrespondenz wurde von den Erben vernichtet, vieles ging im Zweiten Weltkrieg verloren, ohne vorher kritisch ausgewertet worden zu sein. Charles Pigot, der erste Biograf, berichtete elf Jahre nach dem Tod Bizets viele Fakten und Begebenheiten, die er selbst nur von Dritten erfahren haben kann, und blieb dem Usus der Zeit entsprechend Nachweise schuldig. Vieles davon darf man nach heutigem Kenntnisstand für unwahrscheinlich halten.
Im deutschen Sprachraum wurde der faire und kundige Umgang mit Georges Bizet und seinem Werk zudem dadurch erschwert, dass er namentlich durch Friedrich Nietzsche in eine unsachliche Diskussion um Wagner hineingezogen wurde. Dabei scheint Nietzsches antiwagnerische Eloge auf Bizet und Carmen nichts anderes als eine Caprice des Philosophen gewesen zu sein.8 Auch sind Nietzsches Anmerkungen zu Bizets Oper mit dem Vorbehalt zu würdigen, dass er seinerzeit in Turin wie zuvor in Genua eine italienisch gesungene und in ihrer mangelnden Werknähe fragwürdige Aufführung erlebt hatte und seine Randglossen9 auf die von Julius Hopp übersetzte deutsche Carmen-Fassung machte; Bizets Ästhetik und Dramaturgie hatte er gar nicht unentstellt kennenlernen können.
Die Fachautoren taten das Ihre, indem sie Bizet – von Carmen abgesehen – weitgehend ignorierten. In deutscher Sprache wurde neben einer fundierten Gesamtdarstellung von Leben und Werk des französischen Komponisten aus der Feder Paul Stefan Grünfelds, über deren Vollendung der Autor 1943 im amerikanischen Exil verstarb, nur eine weitere geschrieben, die aus der Zeit kurz nach der Jahrhundertwende datiert. Adolf Weissmann meinte schon damals über Bizet: »… auch ihm ist das tragische Vorrecht der Großen, mißverstanden zu werden, in reichstem Maße zuteil geworden. Man begreift heute nicht warum … Wagner mißzuverstehen, hatte Deutschland ein gutes Recht; Bizet konnte nur Frankreich mißverstehen. In der Tat war Bizet fast der einzige, der Wagner begriffen hatte, um ihm ausweichen zu können. Kaum war Carmen nach Deutschland gekommen, so erteilte man Frankreich eine Lektion, wie das Land seine Propheten zu ehren habe.«10 Selbst der allerehrenwerte Musikwissenschaftler Guido Adler kolportierte Missverständnisse und Gerüchte, wie die angebliche Existenz von drei Symphonien Bizets neben den Orchestersuiten, und behauptet gar: »Bizet kommt von der Operette her.«11 Auch bei Eduard Hanslick ist (wohl aufgrund schlichter Unkenntnis der Werke) von Les Pêcheurs de perles und La Jolie fille de Perth als »komischen Opern« zu lesen, und dass ihr Komponist ein angestauntes und preisgekröntes Wunderkind gewesen sei.12
Bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts fanden dann zwar die übrigen Werke des Carmen-Komponisten etwas mehr verdiente Beachtung, die meisten grundsätzlichen Missverständnisse um Bizet aber blieben.
Georges Bizet wurde in ein Elternhaus geboren, das ihn wie selbstverständlich auf den Weg zur Musik führte. Es war bei Weitem mehr als ein »musikalisches Elternhaus« des gebildeten Bürgertums. Bei den Bizets war durch die Beschäftigung mit der Musik der Aufstieg vom einfachen Handwerkerdasein zu mittelständischem Ansehen gelungen. Der Vater Adolphe Bizet (1810–1886) war aus Rouen gebürtig. Bei seiner Heirat mit der um fünf Jahre jüngeren Aimée Delsarte im Jahre 1837 – er war gerade nach Paris gezogen – gab er als Beruf noch Friseur und Perückenmacher an. Schon bei der Eintragung der Geburt des später Georges genannten Sohnes Alexandre César Léopold bezeichnete er sich aber als Gesangslehrer.
Der Drang zur Musik war bei Adolphe Bizet zeitlebens bestimmend gewesen, die unkünstlerische Berufstätigkeit vermutlich nur eine Absicherung des realistischen Mannes, der sein nicht unbedingt herausragendes Talent richtig einzuschätzen vermochte. Einige Kompositionen des alten Bizet liegen in Archiven, mehr als anekdotische Bedeutung haben sie sicherlich nicht. Als Gesangslehrer konnte Adolphe aber durchaus Erfolge vorweisen: Sein Schüler Hector Gruyer hätte beinahe in der Uraufführung von Charles Gounods Faust die Titelpartie übernommen, war den zugegeben außergewöhnlichen Ansprüchen der Partie dann aber doch nicht gewachsen. Gruyer machte immerhin unter dem Namen Guardi in Italien Karriere und wurde in seiner Heimat Ritter der Ehrenlegion.
Georges Bizets Mutter stammte ebenfalls aus Nordfrankreich. Sie kam in Cambrai in einer Familie zur Welt, in der nicht nur der Kunst gehuldigt wurde, sondern auch anderen, für bürgerliche Verhältnisse unkonventionellen Interessen. Ihr Vater Jean-Nicolas Delsarte (die eventuell italienische oder spanische Herkunft des Namens ist nicht belegt) brachte seine Familie an den Rand des Ruins, indem er sich als Erfinder versuchte, nachdem er schon als Rechtsanwalt, Cafetier und Weinhändler nicht reüssiert hatte. Auch einer seiner Söhne, François Alexandre Delsarte, wurde ein in Paris angesehener Gesangslehrer und machte sich dadurch verdient, dass er die Werke Lullys, Glucks und Rameaus in Les Archives du chant herausgab. Später wandte er sich verstärkt dem Schauspiel- und Bewegungsunterricht zu. Seine Methode, die postum durch einen Schüler in den USA bekannt wurde, hatte als »Delsartism« noch auf den frühen Ausdruckstanz des 20. Jahrhunderts großen Einfluss.
Musik hatte im Haus der Bizets in der Pariser Rue de la Tour d’Auvergne Nr. 26 – später zog die Familie in der gleichen Straße ein paar Häuser weiter – ihren festen Platz. Das Kind, das am 25. Oktober 1838 dort zur Welt kam, hörte später die Schüler des Vaters singen und ihn selbst Klavier spielen. Auch die Mutter soll eine gute Pianistin gewesen sein, von ihr lernte Georges schon bald nicht nur Buchstaben lesen, sondern gleichzeitig auch Noten. Georges Bizets Bindung an die Mutter war sehr eng. Die erste längere Trennung des immerhin schon Neunzehnjährigen von ihr war eine ernste Zäsur im Leben des Musikers, als er auf seine erste Reise ging, weg von der Heimatstadt über die Provence nach Italien. Georges Bizet war ein Kind der Stadt und außerdem keineswegs ein mediterraner Typ, als den ihn die Nachwelt nicht zuletzt wegen Carmen und deren spanischem Kolorit gern sehen wollte.
Selbstverständlich lernte der junge Georges Klavier spielen. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass das Klavier in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur ein Instrument zum Musizieren war, sondern auch das gewährleistete, was später die elektronischen Medien und Wiedergabegeräte von Tonträgern übernahmen, nämlich Symphonik und Opern durch Klavierarrangements oder gar Spielen aus der Partitur kennenzulernen. Man kann annehmen, dass im Haus des Gesangslehrers Adolphe Bizet neben den üblichen Klassikern Mozart und Beethoven, das heißt deren Klavierkompositionen und entsprechenden zwei- oder vierhändigen Bearbeitungen der Symphonien, auch die damals gängigen Opern von Auber und Boieldieu, Bellini und Donizetti als Klavierauszüge im Notenschrank standen. Liedkompositionen nach dem Geschmack der Zeit von französischen Komponisten wie auch die für den Gesangsunterricht unerlässlichen italienischen Alten Meister werden ebenfalls vorhanden gewesen sein.
Am Klavier hat Bizet sein musikalisches Vorstellungsvermögen entwickelt, das später zum Klangfarbengespür und transparenten Orchestersatz des erwachsenen Komponisten reifte. Gewiss kam er als Kind auch in Berührung mit der Literatur, die in seiner Zeit gelesen wurde. Von mancher Seite wurde Bizet später auf diesem Sektor Ignoranz unterstellt, dafür gibt es aber ebenso wenig Belege wie für tatsächliche außergewöhnliche literarische Vorlieben des Heranwachsenden, sodass man von einer herkunftsgemäßen Allgemeinbildung Bizets auch im außermusikalischen Bereich ausgehen kann, wenngleich es noch keine Schulpflicht gab. Im Kreise der Familie seines Onkels François Delsarte nahm Georges auch an Musikstunden für seine Cousins teil, die ihnen deren Mutter erteilte. Delsartes Frau Rosine war die Tochter eines bekannten Opernsängers und, von Luigi Cherubini gefördert, schon mit dreizehn Jahren Hilfslehrerin am Conservatoire gewesen.
Die Eltern Bizet erkannten die außergewöhnliche musikalische Auffassungsgabe des Jungen und seine starke pianistische Begabung. Nur ein einziges Mal gehörte musikalische Zusammenhänge soll er ohne Mühe auf Anhieb nachgesungen oder nachgespielt haben. Dass er in professionellem Rahmen weiter ausgebildet werden sollte, stand bald fest.
Das erforderliche Mindestalter von zehn Jahren für die Aufnahme am Pariser Conservatoire, dem Daniel-François-Esprit Auber als Direktor vorstand, hatte der Junge aber noch nicht erreicht. Durch Vermittlung eines Bekannten des Vaters konnte man jedoch bei Joseph Émile Meifred vorsprechen, der Hornist und Mitglied der Studienkommission des Conservatoire war, und sich um Georges’ vorzeitige Aufnahme in das Institut bemühen. Die infrage kommenden Klassen waren alle belegt, sodass ihn zunächst Antoine François Marmontel nur im Klavierspiel unterrichtete – und zwar inoffiziell –, was durch Onkel Delsartes Beziehungen ermöglicht wurde. Noch vor seinem zehnten Geburtstag wurde Georges Bizet im Oktober 1848 dann aber als ordentlicher Schüler des Conservatoire aufgenommen. Im Studienfach Solfège, der klassischen Gehör- und Gesangsgrundausbildung, errang er auf Anhieb nach dem ersten Studienjahr einen ersten Preis. (Die Konkurrenz um Preise als regelmäßige Examinierungen sind ein noch heute üblicher Bewertungsmodus, der typisch für das elite- und traditionsbezogene französische Ausbildungssystem ist.)
Aus Amerika kam 1849 ein Zwölfjähriger zur Ausbildung bei Marmontel an das Conservatoire, dem der Ruf vorausging, ein Wunderkind zu sein. Mit dem ein Jahr jüngeren Bizet schloss er rasch Freundschaft: Ernest Guiraud, der Sohn eines ausgewanderten französischen Musikers; dieser Jean-Baptiste Guiraud hatte immerhin 1827 beim Kompositionswettbewerb um den Prix de Rome den ersten Platz belegt, als sich Hector Berlioz zum ersten Mal und vergeblich daran beteiligte. Zusammen mit seinem Kommilitonen Alphonse Gilbert hatte Guiraud senior daraufhin auch eine Oper schreiben dürfen (Charles V. et Duguesclin), die 1827 in Paris herausgebracht worden war, aber durchfiel. Sohn Guiraud besaß den gleichen Ehrgeiz wie der Vater. Er arbeitete an einem David, der schließlich auch 1853 in seiner Geburtsstadt New Orleans aufgeführt wurde.
Zu Bizets Konservatoriumsstunden kam bald privater Tonsatzund Kontrapunktunterricht bei dem alten Pierre Joseph Guillaume Zimmermann, der spontan vom Talent des neuen Schülers angetan war. Dieser hatte selbst bei Luigi Cherubini gelernt; ein Schüler Zimmermanns seinerseits – und späterer Schwiegersohn – war Charles Gounod, der ihn auch bisweilen bei den Stunden für Bizet vertrat. Gounod hatte damals gerade entschieden, sich nicht zum Priester weihen zu lassen, nachdem er sich längere Zeit bei den Karmelitern auf den geistlichen Stand vorbereitet hatte. So kam Georges Bizet in Kontakt mit bedeutenden Komponisten seiner Stadt, seiner Zeit – und mit deren Tradition. Charles Gounod, zwanzig Jahre älter als Bizet, begleitete seinen Lebensweg als väterlich-kollegialer Freund und Förderer.
Das Geburtsjahr Georges Bizets war das achte Regierungsjahr des sogenannten Bürgerkönigs gewesen, wobei unter den Bürgern zuerst die Großbürger zu verstehen waren. In der Februar-Revolution des Jahres 1848 hatten die republikanischen Kräfte dann über Louis-Philippe obsiegt. Im Dezember wurde der Neffe Napoleons I., Prinz Louis-Napoléon, zum Staatspräsidenten gewählt, der sich 1852 dann zum Kaiser Napoleon III. ausrufen sollte.
Paris, eine äußerlich noch von der Zeit vor der ersten Revolution geprägte Stadt, zog immer mehr Menschen aus der Provinz und aus dem Ausland an, sodass Napoleon III. mithilfe des Präfekten des Seine-Départements Georges-Eugène Haussmann daran ging, durch eine großzügige und radikale Sanierung eine ganz neue Stadt zu schaffen. Paris wuchs immer weiter und sollte 1860 schließlich 1,7 Millionen Einwohner haben. (In Berlin lebten zur gleichen Zeit nicht einmal ein Drittel so viel Menschen.) Die Stadt, die der heranwachsende Bizet tagtäglich erlebte, war bestimmt von gigantischen stadtplanerischen Maßnahmen: alte Straßen und Viertel wurden abgerissen, um Platz für das neue, großzügige System von Boulevards, Avenuen und Straßen zu schaffen, das noch heute das Erscheinungsbild der französischen Metropole prägt. Diese zum Teil brutalen Eingriffe in ein gewachsenes Gemeinwesen waren allerdings nicht nur sachlich – vor allem hygienisch (wegen der Kanalisation) und verkehrstechnisch – bedingt; das neue Paris war eine Prestigeangelegenheit der Grande Nation. Der neue urbane Lebensstil galt als Inbegriff der Zivilisation. Ein größerer Gegensatz zum Leben auf dem Lande war nicht vorstellbar als der, den man erlebte, wenn man aus der Provinz in das Paris dieser Jahre kam. Napoleon III. wollte die schönste und modernste Hauptstadt haben, auch als metropole Kulturzentrale. Haussmann ließ schließlich auch das Palais Garnier planen, das neue Haus der Grand Opéra. Diese von Ludwig XIV. als Théâtre de l’Académie Royale de Musique ins Leben gerufene erste Pariser Opernbühne spielte in der Rue Lepeletier; die Opéra Comique in der Rue Favart gab es auch schon als Institution seit über hundert Jahren.
Opéra comique bezeichnet zugleich die Gattung eines musikalischen Bühnenwerks mit gesprochenen Dialogen. Anfänglich waren es auch in der Tat ausschließlich heitere Stoffe, die in Opéra comiques dargestellt wurden. Ihre »Musiknummern« waren in sich geschlossener und eingängiger als die Arien und Ensembles der Grand opéra, wo der übergeordnete musikalische Zusammenhang zwar stärker, der äußere Effekt aber oft wichtiger war als die Dynamik der Spielhandlung. In der Grand opéra konnte man den affirmativen künstlerischen Ausdruck des Selbstverständnisses der Restaurationszeit erkennen, wie später die Werke Jacques Offenbachs kritisches Spiegelbild des Zweiten Kaiserreichs werden sollten. Sie entwickelten sich aus der heiteren Komponente der Opéra comique. In der Opéra comique selbst wurden mittlerweile ernste Stoffe und Charaktere den buffonesken gleichberechtigt gegenübergestellt.
Auf den Spielplänen standen in den Jahren, als das Interesse des Konservatoriumsschülers Bizet an der Oper erwachte, Erfolgsstücke wie Boieldieus La Dame blanche, Aubers La Muette de Portici und Werke von Hérold, Méhul, Jacques Fromental Halévy, Adolphe Adam, aber auch Operetten von Florimond Hervé und bald schon von Offenbach. In Georges Bizets Geburtsjahr 1838 vollendete Hector Berlioz seine Oper Benvenuto Cellini, nachdem er acht Jahre zuvor ein weit in die Zukunft weisendes symphonisches Schlüsselwerk, die Symphonie fantastique, geschaffen hatte. 1836 erlebte Paris die Uraufführung von Meyerbeers Hugenotten. Neben den französischen Komponisten spielte man auch Luigi Cherubini und Gaspare Spontini, die aber zur französischen Operntradition gerechnet werden müssen. Die Opern von Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti, Gioachino Rossini und heute weniger bekannten italienischen Komponisten wurden in Paris ebenfalls dargeboten, zumeist von speziellen italienischen Opernkompanien. Donizetti und Rossini hatten für Paris auch Opern in französischer Sprache in stilistischer Annäherung an die dortigen Konventionen geschrieben.13 Auch der junge Giuseppe Verdi hatte seine Lombardi 1847 zu der nicht wirklich ganz neuen französischen Oper Jérusalem für die Rue Lepeletier umgearbeitet. In Deutschland war es die Zeit Webers, Marschners, Lortzings, von Flotows, des jungen Wagner und ebenfalls Meyerbeers.
Was der junge Bizet von den Opern hielt, die er auf den Pariser Bühnen kennenlernte, ist aus den wenigen überlieferten Zeugnissen schwer zu ergründen. Die meisten Komponisten waren einflussreiche Akteure des aktuellen hauptstädtischen Musiklebens, mit denen man es sich besser nicht verdarb.
Erste Kompositionen des Studenten Bizet, die erhalten sind, werden auf das Frühjahr 1850 datiert. Es handelt sich bezeichnenderweise um Vokalisen, also Gesangsetüden, die wohl für Schüler des Vaters geschrieben wurden. Auch kleine Klavierstücke entstanden in den frühen Konservatoriumsjahren. 1851 war er im Publikum, als Gounods neue Oper Sappho uraufgeführt wurde.
Er konzentrierte sich aber bei allem erwachenden Interesse am Theater auf die Studien bei Marmontel. Das Klavier war das Instrument, mit dem er sich einerseits selbst ausdrücken konnte, mit dem er andererseits die Musik anderer entdeckte. Ein pianistisches Wunderkind im Virtuosensinne wird er bei aller herausragenden Begabung aber wohl nicht gewesen sein, denn ein premier prix blieb ihm 1851 beim ersten Versuch, ihn – immerhin mit Chopins f-Moll-Konzert – zu erlangen, versagt. Beim zweiten Versuch musste er ihn sich dann mit einem anderen teilen.
Nach knapp vier Studienjahren bei Marmontel, in denen er sich das zentrale pianistische Repertoire, also Bach, Mozart, Beethoven, Händel und Werke der französischen Clavecinisten erarbeitet hatte, wechselte Georges Bizet 1852 in die Orgelklasse von François Benoist. Bizet war durch seine Eltern in keiner Weise religiös erzogen worden. Adolphe Bizet hatte der antirömischen Église Catholique Française angehört. Der Weg führte sicherlich aus rein musikalischem Interesse zur Orgelbank und nicht wie bei anderen Komponisten aus der Koinzidenz von Musikalität und Bekenntnis. Wichtig für den jungen Musiker war nicht zuletzt die Unterweisung in der Kunstfertigkeit der Fuge, die mit den Stunden bei Benoist einherging. Dieser war früher chef de chant, also Verantwortlicher für das Partienstudium der Solisten an der Opéra gewesen. Benoist hatte sich auch als Komponist im weltlichen Bereich versucht und 1839 zusammen mit Ambroise Thomas und anderen im Auftrag der Opéra das Ballett La Gipsy (Die Zigeunerin) komponiert, in dem die Star-Ballerina Fanny Elßler brillierte, die fünf Jahre später Louis-Désiré Véron, den Direktor der Opéra, heiratete.
Bizet hatte, obwohl sich die Affinität zur Vokalmusik immer deutlicher abzeichnete, keinen Hang zur geistlichen Musik. Auch der Einfluss des frommen Charles Gounod sollte daran nichts ändern. Dass die Nachwelt Bizets Melodien liturgische Texte unterlegte, hätte den Komponisten wahrscheinlich amüsiert.
1853 starb Zimmermann, und Bizet fand einen neuen Kompositionslehrer in Jacques François Fromental Élie Halévy. Dessen Vater hatte noch den Namen Lévy getragen und war aus dem fränkischen Fürth nach Frankreich gekommen. Halévy, 1799 in Paris geboren, lehrte schon seit zwanzig Jahren am Conservatoire, wo er auch selbst studiert hatte – wie Bizet schon vor Vollendung des zehnten Lebensjahres aufgenommen. Er war wie Zimmermann Schüler Cherubinis und hatte an der Opéra von 1833 bis 1845 als chef de chant gewirkt. Halévy schrieb etliche heitere Opern im Nachfolgestil Aubers und Boieldieus. Sein größter und andauernder Erfolg war aber La Juive (Die Jüdin), uraufgeführt 1835. Dieses Werk ist eine Grand opéra ganz nach Meyerbeers Vorbild, also ein umfangreiches, in jeder Hinsicht dramatisches und vor allem aufwendiges Werk in fünf Akten. Richard Wagner wertete Halévys Talent als »pathetisch und hochtragisch« und fand, dass das »Gemeine und Triviale … vollkommen gebannt; der Zuschnitt immer auf das Ganze berechnet« sei, und erkannte in seiner Musik die »dramatische Melodie«.14
Die Gattung der Grand opéra hatte zu der Zeit, als Bizet Halévys Schüler wurde, ihren kreativen Zenit schon lange hinter sich. Meyerbeer hatte auf eigene Art die starre Form der Nummernoper zugunsten der dramatischen Wirkung überwunden. Seine musikalische Erfindungskraft war aber letztlich seinem souveränen Bühneninstinkt nicht ebenbürtig. Er hatte den zwischenrevolutionären »Zeitgeist« und den Geschmack des sich etablierenden städtischen Bürgertums geschickt getroffen und die Nachfrage nach repräsentativen coups de théâtre bedient.
Heinrich Heine, der seit 1831 in Paris lebte, hatte 1847 nach der Pariser Premiere der Oper I due Foscari des jungen Giuseppe Verdi festgestellt: »Ob sie ein Meisterstück sind, will ich dahingestellt sein lassen, aber es lebt in ihnen ein frischer Lebensatem, und auch die Faktur ist original. In Ermangelung des Guten befriedigt sich das Publikum an dem Neuen. Verdi ist jetzt der Mann des Tages in der musikalischen Welt, seitdem Bellini gestorben, Rossini und Donizetti bei lebendigem Leibe tot sind und Meyerbeer ebenfalls schon das fatale hippokratische Zeichen im Antlitz trägt. In der Gunst des hiesigen Publikums hat der letztere beinahe schon aufgehört zu leben. Wie gerne wir es auch verschwiegen, so müssen wir doch endlich gestehen, daß der Meyerbeersche Ruhm, diese ebenso künstliche als kostspielige Maschine, etwas in Stockung geraten. Ist in dem feinen Getriebe irgendeine Schraube oder Stiftchen losgegangen?«15
Und auch die Opéra comique hatte sich in ihrer einstmals hochgeschätzten Form überlebt; die Zeit für Jacques Offenbach und sein neues unterhaltendes Musiktheater war gekommen. – Der fünfzehnjährige Bizet mag gespürt haben, dass die Tage der bisherigen Opernformen vorbei waren, als er Schüler eines angesehenen Opernkomponisten wurde. Auch Ernest Guiraud wechselte nun in Halévys Klasse. Doch dieser Freund Bizets sollte, auch wenn er den Vorsatz ausdrücklich hatte, selbst kein bedeutender Opernkomponist werden, immerhin aber Lehrer am Conservatoire, wo er später Claude Debussy, Erik Satie und Paul Dukas unterrichtete.