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Gerd Gigerenzer

Risiko

Wie man die richtigen Entscheidungen trifft

Aus dem Englischen von Hainer Kober

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erscheint 2013 unter dem Titel »Risk Savvy.
How to Make Good Decisions« bei Penguin, New York.

1. Auflage

© 2013 by Gerd Gigerenzer

© 2013 by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: buxdesign, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-11990-4

www.cbertelsmann.de

Für Raine und Thalia

Inhalt

Teil I
Die Psychologie des Risikos

Kapitel 1
Sind Menschen dumm?

Regenwahrscheinlichkeit

Pillenangst

Terroristen bedienen sich unserer Gehirne

Sind die Menschen vom Umgang mit Risiken hoffnungslos überfordert?

Risikokompetent werden

Kapitel 2
Gewissheit ist eine Illusion

Die Illusion der Gewissheit

Risiko und Ungewissheit

Bekannte Risiken

Ungewissheit

Risiko nicht mit Ungewissheit verwechseln

Die Null-Risiko-Illusion

Die Truthahn-Illusion

Die Suche nach Gewissheit

Kapitel 3
Defensives Entscheiden

Irren ist menschlich

Ein System, das keine Fehler macht, ist nicht intelligent

Positive und negative Fehlerkulturen

Defensives Entscheiden

Defensive Medizin

Was ist zu tun?

Prozedere über Leistung

Kapitel 4
Warum fürchten wir, was uns höchstwahrscheinlich nicht umbringt?

Soziale Nachahmung

Biologisch vorbereitetes Lernen

Innere Kontrolle kann gegen Angst helfen

Teil II
Risikokompetent werden

Kapitel 5
Alles was glänzt

Finanzexperten: Götter oder Schimpansen?

Wie man selbst ein nobelpreisgekröntes Portfolio übertrifft

Weniger ist mehr: Einsteins Regel

Schon mal üben, reich zu sein

Die Mutter aller Faustregeln: Vertrauen

Sichere Investition: Mach es einfach

Kapitel 6
Führungsstil und Intuition

Die Verleumdung der Intuition

Treffen Manager gute Bauchentscheidungen?

Die Intuition verbergen und dabei der Firma schaden

Sind Bauchgefühle überall tabu?

Der Werkzeugkasten der Führungskraft

Ein guter Grund kann besser sein als viele

Weniger ist mehr

Vom Wesen des Führens

Kapitel 7
Spiel und Spaß

Let’s Make a Deal

Straßengauner

Wie Spielkasinos Sie täuschen

Sport und Freizeit

Kapitel 8
Von Herzensdingen und Partnerwahl

Wen soll man heiraten?

Partnerwahl

Eine Münze werfen, ohne auf das Ergebnis zu schauen

Intuition und der richtige Liebespartner

Wie Gleichheit zu Ungleichheit führt

Risikokommunikation

Kapitel 9
Was Ärzte wissen müssen

Warum Luxushotels ihre Sterne nicht mögen

Ärzten dabei helfen, Testergebnisse zu verstehen

Furcht

Jeder kann Testergebnisse verstehen

Pränatal-Screening

Gentechnologie erfordert risikokompetente Eltern und Ärzte

Das Versagen der medizinischen Fakultäten

Das SIC-Syndrom

Weniger ist (oft) mehr

Freier Zugang zu Informationen

Kapitel 10
Gesundheit: Keine Entscheidung über mich ohne mich

Wie sich Rudy Giuliani täuschen ließ

Früherkennung von Prostatakrebs

Verstehen Ärzte Überlebensraten?

Wie angesehene Institutionen Sie täuschen

Screening auf Brustkrebs

Frauen infantilisieren

Was wissen Männer und Frauen?

Vorsorge ist besser als Früherkennung

Risikokompetenz ist die beste Waffe gegen Krebs

Keine Entscheidung über mich ohne mich

Kapitel 11
Banken, Kühe und andere gefährliche Dinge

Einfache Regeln für eine sicherere Welt

Schockrisiken

Regierungen

Teil III
Früh in den Startlöchern

Kapitel 12
Die Schule revolutionieren

Risikokompetenz lehren

Viertklässler schaffen es

Zwei Grundprinzipien des Unterrichts

Gesundheitskompetenz

Finanzkompetenz

Digitale Risikokompetenz

Jeder kann lernen, mit Risiko und Ungewissheit umzugehen

Dank

Literatur

Glossar

Personenregister

Sachregister

Abbildungsnachweis

Teil I
Die Psychologie des Risikos

Ungewissheit ist gerade die Bedingung, die den Menschen zur Entfaltung seiner Kräfte zwingt.

Erich Fromm

Das Leben selbst birgt ein gewisses Risiko

Harold Macmillan

Kapitel 1
Sind Menschen dumm?

Wissen ist das beste Mittel gegen Furcht.

Ralph Waldo Emerson

Erinnern Sie sich an den Vulkanausbruch auf Island mit seiner Aschewolke? Die Immobilienkrise? Was ist mit dem Rinderwahnsinn? Jede neue Krise macht uns Sorge, bis wir sie vergessen und uns wegen der nächsten sorgen. Viele von uns saßen in überfüllten Flughäfen fest, sahen sich durch wertlos gewordene Pensionsfonds ruiniert oder hatten Angst davor, sich ein saftiges Steak schmecken zu lassen. Wenn etwas schiefgeht, erzählt man uns, künftige Krisen ließen sich durch bessere Technik, mehr Gesetze oder aufwendigere Bürokratie verhindern. Wie können wir uns vor der nächsten Finanzkrise schützen? Strengere Vorschriften, kleinere Banken und bessere Berater. Wie können wir uns vor der Bedrohung durch den Terrorismus schützen? Größeres Polizeiaufgebot, Ganzkörperscanner, weitere Einschränkung der individuellen Freiheit. Was können wir gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen tun? Steuererhöhungen, Rationalisierung, bessere Genmarker.

Ein Punkt fehlt auf dieser Liste: der risikokompetente Bürger. Das hat einen Grund.

»Menschen sind fehlbar: faul, dumm, gierig und schwach«, verkündet ein Artikel im Economist.1 Es heißt, wir seien irrationale Sklaven unserer Marotten und Begierden, süchtig nach Sex, Nikotin und elektronischen Spielzeugen. 20-Jährige kleben beim Autofahren an ihren Handys, ohne sich klarzumachen, dass sie damit ihre Reaktionszeit auf die eines 70-Jährigen verlangsamen. Ein Fünftel der Amerikaner glaubt, dass sie zu dem bestverdienenden 1 Prozent der Bevölkerung gehören, und noch einmal so viele glauben, dass sie demnächst zu dieser Gruppe zählen werden. Banker haben eine geringe Meinung von der Fähigkeit der Menschen, Geld zu investieren, und mehr als ein Arzt hat mir erzählt, den meisten seiner Patienten fehle es an der nötigen Intelligenz; es sei deshalb zwecklos, ihnen Gesundheitsinformationen zu geben, die sie in den falschen Hals bekommen könnten. All das lässt darauf schließen, dass die Bezeichnung Homo sapiens (»der weise Mensch«) Etikettenschwindel ist. Irgendetwas ist schiefgelaufen mit unseren Genen. Die Evolution scheint uns drittklassige geistige Software angedreht und unsere Gehirne falsch verdrahtet zu haben. Mit einem Wort: Otto Normalverbraucher braucht ständige Anleitung wie ein Kind seine Eltern. Obwohl wir in der Hightech-Welt des 21. Jahrhunderts leben, ist eine gewisse Form der Bevormundung die einzig mögliche Strategie: Schließen wir die Türen, rufen wir die Fachleute zusammen und sagen wir der Öffentlichkeit, was das Beste für sie ist.

Nach dieser fatalistischen Botschaft werden Sie in diesem Buch vergebens suchen.2 Das Problem ist nicht einfach individuelle Dummheit, sondern das Phänomen einer risikoinkompetenten Gesellschaft.

Risikointelligenz ist eine Grundvoraussetzung, um sich in einer modernen technologischen Gesellschaft zurechtzufinden. Die halsbrecherische Geschwindigkeit der technischen Entwicklung wird die Risikointelligenz im 21. Jahrhundert so unentbehrlich machen, wie es Lesen und Schreiben in früheren Jahrhunderten waren. Ohne sie setzen Sie Ihre Gesundheit und Ihr Geld aufs Spiel oder steigern sich möglicherweise in unrealistische Ängste und Hoffnungen hinein. Man sollte meinen, dass die Grundlagen der Risikointelligenz bereits vermittelt werden. Doch man wird in Schulen, juristischen und medizinischen Fakultäten und auch sonst vergebens danach suchen. Infolgedessen sind die meisten von uns risikoinkompetent.

Wenn ich den allgemeineren Begriff »risikokompetent« (risk savvy) verwende, meine ich damit mehr als Risikointelligenz, nämlich die Fähigkeit, auch mit Situationen umzugehen, in denen nicht alle Risiken bekannt sind und berechnet werden können. »Risikokompetenz« ist nicht das Gleiche wie »Risikoscheu«. Ohne die Bereitschaft, Risiken einzugehen, gäbe es keine Innovation mehr, würden Spaß und Mut der Vergangenheit angehören. Risikokompetent zu sein heißt auch nicht, sich in einen tollkühnen Draufgänger oder Basejumper zu verwandeln, der die Möglichkeit, auf die Nase zu fallen, ausblendet. Ohne ein zuträgliches Maß an Vorsicht gäbe es die Menschheit schon lange nicht mehr.

Man könnte meinen: Wozu die Mühe, da man sich doch an Fachleute wenden kann? Aber so einfach ist das nicht. Weil die bittere Erfahrung lehrt, dass Expertenrat gefährlich sein kann. Viele Ärzte, Finanzberater und andere Risikoexperten sind selbst nicht in der Lage, Risiken richtig einzuschätzen oder sie anderen verständlich zu machen. Schlimmer noch, nicht wenige befinden sich in Interessenkonflikten oder haben solche Angst vor rechtlichen Konsequenzen, dass sie ihren Patienten oder Klienten Ratschläge erteilen, die sie ihren eigenen Angehörigen nie geben würden. Sie haben keine Wahl, Sie müssen selber denken.

Ich möchte Sie einladen, mir in die Welt der Ungewissheit und des Risikos zu folgen. Beginnen wir mit Wetterberichten und einem sehr geringen Wagnis – nämlich pitschnass zu werden.

Regenwahrscheinlichkeit

In einer Wettervorhersage des amerikanischen Fernsehens wurden die Aussichten für das Wochenende einmal wie folgt angegeben:

Die Wahrscheinlichkeit, dass es am Samstag regnen wird, beträgt 50 Prozent. Die Aussicht, dass es am Sonntag regnet, liegt ebenfalls bei 50 Prozent. Daher wird es am Wochenende mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent regnen.

Die meisten von uns werden darüber lächeln.3 Aber wissen Sie, was es bedeutet, wenn es im Wetterbericht heißt, dass es morgen mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent regnen wird? 30 Prozent von was? Ich lebe in Berlin. Die meisten Berliner glauben, es werde morgen während 30 Prozent der Zeit regnen, das heißt sieben bis acht Stunden. Andere meinen, es werde in 30 Prozent der Region regnen, das heißt höchstwahrscheinlich nicht dort, wo sie wohnen. Die meisten New Yorker halten beides für Unsinn. Sie sind der Überzeugung, es werde an 30 Prozent der Tage, für die diese Vorhersage gemacht wurde, Regen geben, das heißt, morgen werde es höchstwahrscheinlich nicht regnen.4

Sind die Leute völlig verwirrt? Nicht unbedingt. Zum Teil liegt es daran, dass viele Experten nie gelernt haben, Wahrscheinlichkeiten richtig zu erklären. Wenn sie verständlich machen könnten, auf welche Kategorie sich die Regenwahrscheinlichkeit bezieht – Zeit? Region? Tage? –, würde die Verwirrung verschwinden. Tatsächlich wollen die Meteorologen damit sagen, dass es an 30 Prozent der Tage regnet, auf die sich die Vorhersage bezieht. Und »Regen« bezieht sich auf jede Menge oberhalb einer winzigen Schwelle, wie 0,1 Millimeter.5 Auf sich selbst gestellt, suchen sich die Menschen eine Referenzklasse aus, die ihnen sinnvoll erscheint – etwa wie viele Stunden, wo oder wie stark es regnet. Fantasievollere Befragte finden noch andere Klassen. Eine Frau in New York: »Ich weiß, was 30 Prozent bedeuten: Drei Meteorologen denken, es wird regnen, und sieben nicht.«

Ich sehe das folgendermaßen: Neue Vorhersagetechniken haben den Meteorologen die Möglichkeit gegeben, rein verbale Äußerungen der Gewissheit (»Morgen wird es regnen«) oder der Wahrscheinlichkeit (»Es ist möglich, dass …«) durch numerische Exaktheit zu ersetzen. Aber größere Exaktheit hat nicht zu größerer Klarheit über die Bedeutung der Nachricht geführt. Die Verwirrung bezüglich der Niederschlagswahrscheinlichkeit hat vielmehr bestanden, seit diese in den USA 1965 zum allerersten Mal in der Wettervorhersage genannt wurde. Diese Verwirrung ist nicht auf Regen beschränkt, sondern macht sich stets bemerkbar, wenn eine Wahrscheinlichkeit mit einem einzelnen Ereignis verknüpft wird – zum Beispiel: »Wenn Sie ein Antidepressivum nehmen, haben Sie eine 30-prozentige Wahrscheinlichkeit, ein sexuelles Problem zu bekommen.« Heißt das, dass 30 Prozent aller Menschen ein sexuelles Problem entwickeln oder dass Sie selbst ein Problem bei 30 Prozent Ihrer sexuellen Begegnungen haben werden? Die Auflösung dieses weitverbreiteten und lang andauernden Wirrwarrs ist überraschend einfach:

1 Bagehot, Wink und Wink, in: The Economist, 26. Juli 2008.

2 Die Wissenschaftszeitschrift Nature berichtete über die Debatte zwischen jenen, die Menschen im Grunde genommen für unfähig im Umgang mit Risiken halten, und Leuten wie mir, die eine etwas positivere Auffassung von der menschlichen Natur haben (Bond 2009). Im pessimistischen Lager behauptet der Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler (1991, S. 4), es sei »davon auszugehen, dass geistige Illusionen eher die Regel als die Ausnahme sind«, der Kognitionswissenschaftler Massimo Piatelli-Palmarini (1991, S. 35), dass »unsere Art durchgehend wahrscheinlichkeitsblind ist«, der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould (1992, S. 469), dass »unser Verstand (aus welchen Gründen auch immer) nicht dafür gemacht ist, sich an den Wahrscheinlichkeitsregeln zu orientieren«, und der Wirtschaftswissenschaftler Dan Ariely (2008), dass »wir nicht nur irrational, sondern vorhersagbar irrational handeln – dass unsere Irrationalität sich immer wieder auf dieselbe Weise manifestiert« (S. 21), während der Psychologe Daniel Kahneman (2012, S. 516) sogar weiterging und geistige Illusionen einem biologisch alten »System 1« zuschreibt, das nur »schwer erziehbar« sei. Ich lehne dieses düstere Bild ab. Kognitive Illusionen sind nicht fest verdrahtet. Es gibt einfache Instrumente für den Umgang mit Risiko und Ungewissheit, die jeder rasch lernen kann (Gigerenzer 2000, 2008; Gigerenzer et al. 2012). Mehr davon in diesem Buch.

3 Paulos 1988. Wie hoch ist die tatsächliche Wahrscheinlichkeit, dass es am Wochenende regnet? Wenn die beiden Ereignisse unabhängig voneinander sind, liegt die Wahrscheinlichkeit für Regen am Wochenende bei 0,75 oder – in Prozent ausgedrückt – bei 75 Prozent. Um auf diese Zahl zu kommen, berechnen wir zunächst die Wahrscheinlichkeit, dass es am Samstag nicht regnet (0,5) und multiplizieren sie mit der Wahrscheinlichkeit, dass es am Sonntag keinen Niederschlag gibt (0,5), was 0,25 (25 Prozent) ergibt. Das ist die Wahrscheinlichkeit, dass es an keinem der beiden Tage regnen wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass es regnen wird, beträgt also 75 Prozent. Der Einfachheit halber werde ich Wahrscheinlichkeiten im Fortgang dieses Buches überall in Prozentsätzen ausdrücken.

4 Gigerenzer, Hertwig et al. 2005.

5 Doch selbst Meteorologen sind nicht immer einer Meinung. Beispielsweise erklärte das Königlich-Niederländische Meteorologische Institut 2003 die Regenwahrscheinlichkeit durch eine Kombination aus »Region« und »subjektiver Sicherheit des Meteorologen«:

»Wenn die Wahrscheinlichkeit mehr als 90 Prozent beträgt, kann man damit rechnen, dass es in jeder Region Hollands regnet. Je höher der Prozentsatz, desto sicherer ist sich der Meteorologe, dass es regnen wird. Einige Beispiele:

10–30 % – Fast gar nicht – Fast nirgends

30–70 % – Möglicherweise – An einigen Orten

70–90 % – Ziemlich gute Aussichten – In fast allen Regionen«

Dazu Robert Mureau vom Königlich-Niederländischen Meteorologischen Institut: »Wir sind uns bewusst, dass Wahrscheinlichkeiten in der Öffentlichkeit nicht sehr gut verstanden werden. In unseren terminologischen Definitionen sind auch wir nicht sehr klar gewesen, was die Verwirrung noch verstärkt haben dürfte« (Gigerenzer, Hertwig et al. 2005, S. 627).

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Abbildung 1.1: Was bedeutet »Es wird morgen mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent regnen«? Einige glauben, es werde morgen 30 Prozent der Zeit regnen (oberes Bild). Andere meinen, es werde morgen in 30 Prozent der Region regnen (mittleres Bild). Wiederum andere sind schließlich der Ansicht, dass drei Meteorologen denken, es werde regnen, während sieben das nicht tun (unteres Bild). Tatsächlich wollen die Meteorologen etwas anderes damit sagen: dass es an 30 Prozent der Tage regnen wird, für die diese Vorhersage gilt. Das Problem ist nicht nur im Kopf der Menschen, sondern besteht auch in der Unfähigkeit von Experten, verständlich zu sagen, was sie meinen.

Frage stets nach der Referenzklasse: Prozent von was?

Wenn man Meteorologen beim Fernsehen beibringen würde, wie man den Zuschauern solche Sachverhalte vermittelt, bräuchte man noch nicht einmal zu fragen.

Pitschnass zu werden ist ein geringes Risiko, obwohl die Niederschlagswahrscheinlichkeit in manchen Fällen – für Autorennen etwa – durchaus eine Rolle spielt. Vor einem Grand-Prix-Rennen der Formel 1 ist eine der meistdiskutierten Fragen die Wettervorhersage – die Wahl der richtigen Reifen ist entscheidend für den Sieg. Gleiches gilt für die NASA: Die Wettervorhersage ist ausschlaggebend für die Entscheidung, ob der Start eines Spaceshuttle stattfinden kann oder verschoben werden muss – wie der Challenger-Unfall tragisch zeigte. Doch für die meisten Leute geht es nur darum, ob sie einen Familienausflug unnötigerweise absagen oder nasse Füße bekommen. Vielleicht missverstehen die Menschen die Niederschlagswahrscheinlich nur deshalb, weil so wenig auf dem Spiel steht. Sind wir risikokompetenter, wenn es um etwas wirklich Wichtiges geht?

Pillenangst

Großbritannien hat viele Traditionen, eine von ihnen ist die Angst vor Antibabypillen. Seit Anfang der 60er-Jahre werden die Frauen alle paar Jahre durch Berichte aufgeschreckt, dass die Pille Thrombosen verursachen kann – potenziell lebensbedrohliche Blutgerinnsel in Beinen oder Lunge. Berühmt ist die Schreckensnachricht, die das britische Komitee für Arzneimittelsicherheit herausgab: Die Antibabypillen der dritten Generation verdoppeln das Thromboserisiko – das heißt, sie erhöhen es um 100 Prozent. Kann man mehr Sicherheit verlangen? Diese erschreckende Information wurde in sogenannten Dear Doctor Letters an 190000 praktische Ärzte, Apotheker und die Leiter von Gesundheitsämtern weitergegeben und in einer Eilmeldung an die Medien übermittelt. Überall im Land schrillten die Alarmglocken. Viele besorgte Frauen setzten die Pille ab, was zu unerwünschten Schwangerschaften und Abtreibungen führte.6

Fragt sich nur, wie viel sind 100 Prozent? Die Studien, auf die sich die Warnung stützte, hatten gezeigt, dass von je 7000 Frauen, welche die Vorgängerpille der zweiten Generation genommen hatten, eine Frau eine Thrombose bekam und dass die Zahl sich bei Frauen, die Pillen der dritten Generation nahmen, auf zwei erhöhte. Das heißt, die absolute Risikozunahme betrug nur 1 von 7000, während die relative Risikozunahme tatsächlich bei 100 Prozent lag. Wie gesehen, können relative Risiken – im Gegensatz zu absoluten Risiken – beunruhigend groß erscheinen und viel Staub aufwirbeln. Hätten das Komitee und die Medien die absoluten Risiken genannt, so hätten wohl nur wenige Frauen Panik bekommen und die Pille abgesetzt. Höchstwahrscheinlich hätte niemand die Meldung auch nur zur Kenntnis genommen.

Diese eine Warnung führte im folgenden Jahr in England und Wales zu geschätzten 13000 (!) zusätzlichen Abtreibungen. Doch das Unheil währte länger als ein Jahr. Vor der Meldung gingen die Abtreibungsraten stetig zurück, aber danach kehrte sich dieser Trend um, und die Abtreibungshäufigkeit stieg in den folgenden Jahren wieder an. Die Frauen hatten das Vertrauen in orale Kontrazeptiva verloren, und die Pillenverkäufe gingen stark zurück. Nicht alle unerwünschten Schwangerschaften wurden abgebrochen; auf jede Abtreibung kam eine zusätzliche Geburt. Die Zunahme der Abtreibungen und der Geburten war besonders ausgeprägt bei Mädchen unter 16 – dort kam es zu 800 zusätzlichen Schwangerschaften.

Paradoxerweise bergen Schwangerschaften und Abtreibungen ein größeres Thromboserisiko als die Pillen der dritten Generation. Die Pillenangst schadete den Frauen, schadete dem National Health Service [dem britischen Gesundheitssystem] und sogar den Aktienkursen der Pharmaindustrie. Die durch Schwangerschaftsabbrüche verursachten Kosten für den National Health Service werden auf vier bis sechs Millionen Pfund geschätzt. Zu den wenigen Profiteuren gehören die Journalisten, die eine Geschichte für die Titelseiten hatten.

Eine unerwünschte Schwangerschaft ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Hören wir eine junge Frau:

»Als ich feststellte, dass ich schwanger war, waren mein Partner und ich seit zwei Jahren zusammen. Seine erste Reaktion war: ›Komm wieder, wenn’s weg ist.‹ Ich habe ihn rausgeschmissen und versucht, eine Lösung zu finden. Ich wollte unbedingt aufs College. Obwohl ich mich verzweifelt bemühte, eine Zukunft für uns zu finden, wurde mir klar, dass wir keine hatten. Eines wollte ich auf keinen Fall: mich vom Staat oder – schlimmer noch – von einem Mann abhängig zu machen. Daher habe ich mich auf den letzten Drücker zu einer Abtreibung entschlossen. Das ist jetzt zwei Tage her, und ich habe einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen. Mein Verstand sagt mir, es war die beste Entscheidung, aber mein Herz weint. Ich weiß, ich habe ein Leben umgebracht, und diese Schuld werde ich mir nie vergeben. All meine Lebensenergie ist dahin. Warum habe ich das getan? Wie konnte ich es zulassen? Ich hasse mich.«

Die Tradition der Pillenängste dauert bis auf den heutigen Tag an, und immer bedient sie sich des gleichen Tricks. Die Lösung sind nicht bessere Pillen und raffiniertere Abtreibungstechniken, sondern risikokompetente junge Frauen und Männer. Es wäre nicht besonders schwierig, Teenagern den einfachen Unterschied zwischen einem relativen Risiko (»100 Prozent«) und einem absoluten Risiko (»1 von 7000«) zu erklären. Schließlich sind viele Leute, alte wie junge, mit Sportstatistiken verschiedenster Art vertraut – Prozentsatz der Asse beim Tennis oder des Ballbesitzes beim Fußball. Doch bis auf den heutigen Tag gelingt es Journalisten, Ängste mit großen Zahlen zu wecken, woraufhin die Öffentlichkeit Jahr für Jahr auf vorhersehbare Weise in Panik gerät.

Auch hier bringt eine einfache Regel Abhilfe.

Frage stets: Wie groß ist die absolute Risikozunahme?

Journalisten sind nicht die Einzigen, die unsere Emotionen mithilfe von Zahlen manipulieren. Auch führende medizinische Zeitschriften, Gesundheitsbroschüren und das Internet unterrichten die Öffentlichkeit in Form relativer Veränderungen, weil größere Zahlen bessere Schlagzeilen liefern. 2009 hat das angesehene British Medical Journal zwei Artikel zum Thema orale Kontrazeptiva und Thrombose veröffentlicht: Der eine nannte in seinem Abstract, der kurzen Zusammenfassung, die absoluten Zahlen, während der andere einmal mehr mit den relativen Risiken hausieren ging und berichtete: »Orale Kontrazeptiva erhöhten das Risiko von Venenthrombosen um das Fünffache.«7 Jeder Herausgeber hat die ethische Verantwortung, für eine transparente Berichterstattung zu sorgen. Doch trotz unserer Hightech-Medizin bleiben verständliche Informationen für Patienten und Ärzte in der Regel die Ausnahme.

Wer ungerechtfertigte Ängste schürt und unerwünschte Schwangerschaften verschuldet, handelt moralisch höchst fragwürdig. Dies gehört auf die Tagesordnung jeder Ethikkommission und jedes Gesundheitsministeriums. Aber dem ist nicht so. Nach der Veröffentlichung meines Buchs Das Einmaleins der Skepsis, in dem ich darlege, wie man Öffentlichkeit und Ärzteschaft helfen könnte, Zahlen zu verstehen, besuchte mich der Neurowissenschaftler Mike Gazzaniga, der damals Dekan des Dartmouth College war. Empört über die Art und Weise, wie die Öffentlichkeit durch die Verwendung von relativen Risiken und anderen Mitteln an der Nase herumgeführt wird, sagte er, er werde dieses Problem dem US-amerikanischen Ethikrat (President’s Council on Bioethics) vortragen, dem er angehöre. Schließlich werde die amerikanische Öffentlichkeit ebenso häufig durch Zahlen getäuscht wie die britische, und es sei eines der wenigen ethischen Probleme, für das man eine Lösung wisse. Über andere, weniger eindeutige Probleme wie Abtreibung, Stammzellen und Gentests führe der Rat endlose Diskussionen. Ich bin Gazzaniga dankbar für den Versuch. Doch der Ethikrat hat die Irreführung der Öffentlichkeit nie als ein akutes Problem anerkannt und sich nie damit befasst.

Wenn die Ethikkomitees die Menschen schon nicht schützen, warum tun es dann nicht wenigstens die Ärzte? Die überraschende Antwort lautet, dass viele Ärzte selbst nicht wissen, wie sie Risiken vermitteln sollen – eine Fertigkeit, die im Medizinstudium nur selten gelehrt wird. Die verheerende Wirkung der Dear-Doctor-Briefe zeigt, dass sich viele von ihnen von den relativen Risiken beeindrucken lassen. Wieder einmal brauchen auch die Experten Nachhilfe. Sonst sind sie und die betroffenen Frauen bei der nächsten Pillenangst möglicherweise genauso unvorbereitet wie vorher, sodass es wiederum zu einer Abtreibungswelle kommt.

Ich habe Hunderten von Journalisten den Unterschied zwischen relativen und absoluten Risiken erklärt, woraufhin viele damit aufhörten, ihre Leser unnötig zu beunruhigen, und absolute Zahlen verwendeten – um dann feststellen zu müssen, dass ihre Chefredakteure die großen Zahlen wieder einführten. Möglicherweise sind wir nicht immer in der Lage, den Menschen Einhalt zu gebieten, die mit unseren Ängsten spielen, aber wir können lernen, ihre Tricks zu durchschauen.

Terroristen bedienen sich unserer Gehirne

Die meisten Menschen erinnern sich genau, wo sie am 11. September 2001 waren. Die Bilder der Flugzeuge, die in die Zwillingstürme des World Trade Center krachen, haben sich unauslöschlich in unser Gedächtnis gegraben. Inzwischen scheint alles über den tragischen Angriff gesagt zu sein. Um künftige Angriffe zu verhindern, richtete der drei Jahre später veröffentlichte 9/11 Commission’s Report [Bericht der Untersuchungskommission zu den Anschlägen des 11. September] sein Augenmerk vor allem auf die Frage, wie sich der Terrorismus von Al-Qaida entwickelte, und auf diplomatische Strategien, Justizreformen und technische Maßnahmen. Eine Maßnahme jedoch vernachlässigte der 636-seitige Bericht – nämlich risikokompetente Bürger.

Drehen wir die Uhr zurück auf den Dezember 2001. Stellen Sie sich vor, Sie leben in New York und möchten nach Washington, D. C., reisen. Würden Sie fliegen oder mit dem Auto fahren?

Wir wissen, dass viele Amerikaner nach dem Anschlag nicht mehr flogen. Blieben sie zu Hause oder stiegen sie ins Auto? Um eine Antwort zu finden, habe ich mir die Beförderungsstatistik angesehen. In den Monaten nach dem Anschlag nahmen die im Auto zurückgelegten Kilometer beträchtlich zu. Besonders deutlich war die Zunahme bei den ländlichen Interstate Highways, auf denen der Fernverkehr rollt: bis zu fünf Prozent in den drei Monaten nach dem Anschlag.8 Zum Vergleich: In den Monaten vor dem Anschlag (Januar bis August) waren die Zahlen für die individuellen Autokilometer pro Monat gegenüber 2000 nur um knapp ein Prozent angestiegen, was der üblichen jährlichen Zunahme entspricht. Diese zusätzliche Autonutzung hielt zwölf Monate an und ging dann wieder auf ihr Normalmaß zurück. Zu diesem Zeitpunkt war das Feuer in den Zwillingstürmen aus der täglichen Medienberichterstattung verschwunden.

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Abbildung 1.2: Der zweite Schlag der Terroristen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 stieg die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle in den USA über einen Zeitraum von zwölf Monaten an. Dadurch kamen schätzungsweise 1600 Amerikaner bei dem Versuch, das Risiko des Fliegens zu vermeiden, auf der Straße ums Leben.
Die Zahlen werden als Abweichungen von der 5-Jahres-Basislinie 1996–2000 (der Nulllinie) wiedergegeben. Vor dem September 2001 lag die Zahl der tödlichen Unfälle pro Monat nahe der Nulllinie. In den zwölf Monaten nach dem Anschlag überstieg sie jeden Monat die Nulllinie und übertraf in den meisten Fällen das Maximum der Vorjahre (die senkrechten Balken zeigen das jeweilige Maximum und Minimum an). Die Spitzen nach dem 11. September decken sich mit Terrorismuswarnungen.

Die Zunahme des Straßenverkehrs hatte ernüchternde Konsequenzen. Vor dem Anschlag entsprach die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle weitgehend dem Durchschnitt der vorausgegangenen fünf Jahre (Nulllinie in Abbildung 1.2). Doch in jedem der zwölf Monate nach dem 11. September lag die Zahl der tödlichen Unfälle über dem Durchschnitt und meist sogar noch höher als alle Werte aus den vorangegangenen fünf Jahren. Alles in allem sind etwa 1600 Amerikaner infolge ihrer Entscheidung, die Risiken des Fliegens zu vermeiden, auf der Straße umgekommen.

Diese Todesrate ist sechsmal so hoch wie die Gesamtzahl der Passagiere (256), die bei den vier Todesflügen starben. Alle diese Opfer des Straßenverkehrs könnten noch leben, wenn sie geflogen wären, statt sich für das Auto zu entscheiden. Von 2002 bis 2005 haben US-amerikanische Fluggesellschaften 2,5 Milliarden Passagiere befördert. Nicht ein einziger starb bei einem Flugzeugabsturz. Obwohl stets berichtet wird, bei den Anschlägen vom 11. September seien 3000 Amerikaner ums Leben gekommen, müsste man also eigentlich noch einmal die Hälfte dazurechnen.

Verleihen wir der Statistik ein Gesicht, aber das glückliche von jemandem, der dem Tod knapp entrann.

Justin Klabin, ein 26-jähriger Rugbyspieler und Feuerwehrmann, hatte über den Hudson River hinweg den Einsturz der Zwillingstürme beobachtet. Mit seiner Feuerwehreinheit war er zum Ground Zero gerast. Nach diesem zutiefst aufwühlenden Erlebnis beschloss er, nicht mehr zu fliegen. Einen Monat später traten seine Freundin und er eine Urlaubsreise nach Florida an – mit dem Auto. Ihr Pick-up schaffte die gut 1500 Kilometer der Hinfahrt problemlos. Doch nach einem langen Autotag auf der Rückreise gab es einen lauten Knall: Beide Vorderreifen hatten sich wie Skier beim Schneepflug nach innen gedreht. Die Spurstange, die die Lenksäule mit den Rädern verbindet, war gebrochen. Der Pick-up konnte keinen Meter weiterfahren. Zum Glück geschah das Unglück, als sie auf einen Parkplatz in South Carolina abbogen. Wäre die Spurstange ein paar Minuten früher, bei 120 Stundenkilometern, gebrochen, hätten Klabin und seine Freundin wohl zu den vielen unglückseligen Reisenden gezählt, die ihr Leben bei dem Versuch verloren haben, das Risiko des Fliegens zu meiden.

Terroristen schlagen zweimal zu: zuerst mit physischer Gewalt und dann mithilfe unserer Gehirne. Der erste Schlag zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Für die Entwicklung riesiger bürokratischer Strukturen, wie der Homeland Security, und neuer Technologien, wie Ganzkörperscanner, die nackte Hautoberfläche unter der Kleidung sichtbar machen, hat man Milliarden ausgegeben. Der zweite Schlag hingegen bleibt fast unbemerkt. Bei den Vorträgen, die ich weltweit, von Singapur bis Wiesbaden, vor Nachrichtendiensten und Antiterrorbehörden über Risikomanagement hielt, zeigten sich meine Gastgeber immer wieder überrascht, weil sie diesen Aspekt nie berücksichtigt hatten. Bin Laden, der Gründer von Al-Qaida, erklärte einmal genüsslich, wie wenig Geld er aufwenden musste, um Amerika einen ungeheuren Schaden zuzufügen: »Al-Qaida hat für das Unternehmen 500000 Dollar ausgegeben, während Amerika durch den Vorfall und seine Folgen – nach zurückhaltendsten Schätzungen – mehr als 500 Milliarden Dollar verlor. Mit anderen Worten: Jeder Dollar von Al-Qaida hat eine Million Dollar vernichtet.«9 Es mag schwierig sein, Selbstmordattentate von Terroristen zu vereiteln, aber es ist gewiss leichter, sie daran zu hindern, unsere Gehirne als Waffen zu gebrauchen.

Welche psychologische Regel unseres Gehirns machen sich die Terroristen dabei eigentlich zunutze? Ereignisse mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, bei denen viele Menschen plötzlich getötet werden, sogenannte Schockrisiken (Dread Risks)10, bringen eine unbewusste Faustregel zur Anwendung:

Wenn viele Menschen gleichzeitig sterben, reagiere mit Furcht und vermeide die Situation.

Dabei gilt die Furcht nicht dem Sterben an sich, sondern dem Umstand, dass viele Menschen zur gleichen Zeit – oder in kurzen Zeitabständen – gemeinsam ihr Leben verlieren. Bei solchen Anlässen, etwa den Anschlägen vom 11. September, reagiert unser evolutionär geprägtes Gehirn mit großer Angst. Doch wenn genauso viele oder mehr Menschen über einen längeren Zeitraum verteilt sterben, beispielsweise bei Auto- und Motorradunfällen, bleiben wir eher gelassen. Allein in den Vereinigten Staaten von Amerika sterben jedes Jahr rund 35000 Menschen bei Verkehrsunfällen, trotzdem haben nur wenige Leute beim Autofahren Angst. Anders, als manchmal behauptet wird, liegt das nicht einfach an dem psychologischen Aspekt, dass Menschen beim Autofahren – im Gegensatz zum Fliegen – Kontrolle haben. Leute, die neben oder gar hinter dem Fahrer sitzen, haben auch keine Kontrolle und trotzdem wenig Angst. Paradoxerweise haben wir keine Angst davor, bei einem Unfall zu sterben, sondern zusammen mit vielen anderen umzukommen. Wir fürchten den seltenen Kernkraftwerksunfall, nicht die stetige Sterberate, die die Luftverschmutzung durch Kohlekraftwerke bewirkt. Wir fürchten die Schweinegrippepandemie, nachdem mehrere zehntausend mögliche Todesfälle angekündigt wurden – zu denen es nie kam –, während nur wenige Angst davor haben, zu den Zehntausenden zu gehören, die jedes Jahr tatsächlich der normalen Grippe zum Opfer fallen.

Woher kommt dieser Hang, Schockrisiken zu fürchten? Wahrscheinlich gab es eine Zeit in der Menschheitsgeschichte, als dies eine vernünftige Reaktion war. Über weite Strecken der Evolution lebten die Menschen in kleinen Verbänden von Jägern und Sammlern, die zwanzig bis fünfzig Personen umfassten und selten mehr als hundert Mitglieder aufwiesen – ähnlich entsprechenden Verbänden, die es heute noch gibt. In so kleinen Gruppen konnte der schlagartige Verlust vieler Leben das Risiko erhöhen, Raubtieren zum Opfer zu fallen oder zu verhungern, und damit das Überleben der ganzen Gruppe gefährden.11 Doch was in der Vergangenheit vernünftig war, muss es heute nicht mehr sein. In modernen Gesellschaften ist das Überleben des Individuums nicht mehr auf die Unterstützung und den Schutz von Kleingruppen oder Stämmen angewiesen. Trotzdem lässt sich diese psychologische Reaktion immer noch leicht hervorrufen. Bis auf den heutigen Tag sind reale oder vorgestellte Katastrophen in der Lage, Panikreaktionen auszulösen.

Diese »Althirn-Furcht« vor Schockrisiken kann jeden Anflug von rationalem Denken in den neueren Teilen unseres Gehirns unterdrücken. So schrieb mir ein Professor der Loyola University in Chicago: »Nach dem 11. September erklärte ich meiner Frau, dass es gefährlicher ist, mit dem Auto zu fahren, als zu fliegen; doch alle Mühe war vergebens.« Argumente tragen selten den Sieg über die Furcht davon, besonders wenn ein Ehepartner den anderen zu überzeugen versucht. Doch es gibt eine einfache Faustregel, die unserem Professor hätte helfen können:

Wenn ein Konflikt zwischen der Vernunft und einer starken Emotion vorliegt, verzichte auf Argumente. Mache dir lieber eine gegensätzliche und stärkere Emotion zunutze.

Ein Gefühl, das sich im Gegensatz zur Furcht vor Schockrisiken befindet, ist die elterliche Sorge. Der Professor hätte seiner Frau vor Augen führen können, dass sie mit Fernreisen im Auto das Leben ihrer Kinder – nicht nur ihres Ehemanns – gefährdet. Elterngefühle sind eher in der Lage, die schleichende Furcht vor dem Fliegen zu überwinden. Ein intelligentes »Neuhirn« kann eine evolutionär bedingte Furcht gegen eine andere ausspielen, um besser in einer modernen Welt zu überleben. Evolution ist kein Schicksal.

Der zweite Schlag der Terroristen geht in seiner Wirkung sogar noch über die geschilderten Zusammenhänge hinaus. Er hat zu einer Aufweichung der Bürgerrechte geführt: Vor dem 11. September galten Leibesvisitationen ohne triftigen Grund als Menschenrechtsverletzungen; heute hält man ihre Duldung für eine Bürgerpflicht. Dafür sind wir bereit, einiges hinzunehmen – in langen Schlangen auf Flughäfen ausharren, Flüssigkeiten in Plastiktüten verstauen, Schuhe, Gürtel und Jacken ablegen, den eigenen Körper von Fremden abtasten lassen. Höhere Ausgaben für Flugsicherheit haben im Gegenzug zu schlechteren Dienstleistungen und beengtem Sitzen geführt, als würden die Fluggesellschaften um den schlechtesten Service konkurrieren. Die Menschen sind ängstlicher geworden, sind nicht mehr so unbeschwert wie früher. Nicht zuletzt haben die Kriege in Afghanistan und Irak mehr als eine Billion Dollar gekostet, vom Leben Tausender Soldaten und einer sehr viel größeren Zahl von Zivilisten ganz zu schweigen. Diese finanziellen Belastungen haben vermutlich auch eine Rolle gespielt beim Ausbruch der Finanzkrise 2008.12

Resilienz ist die Fähigkeit, Stress zu bewältigen und ohne nachteilige Auswirkungen wieder in das normale Verhalten »zurückzuspringen«. Wenn wir wissen, woher die Angst vor Schockrisiken kommt, wenn wir lernen, sie zu bekämpfen, indem wir uns gegensätzliche Gefühle zunutze machen, falls uns die Vernunft nicht weiterhilft, und wenn wir die Risiken des Fliegens richtig einzuschätzen lernen, dann verfügen wir schon über drei Instrumente der Risikokompetenz. Sollte sich jemals ein ähnlicher Anschlag wiederholen, werden wir unsere Gehirne nicht mehr so leicht für einen zweiten Schlag missbrauchen lassen.

Kommen wir noch einmal auf die Frage zurück, die ich oben gestellt habe: fliegen oder fahren? Nehmen wir wieder an, Sie leben in New York und möchten nach Washington reisen. Sie haben nur ein Ziel: lebend anzukommen. Wie viele Kilometer müssten sie mit dem Auto fahren, bis das Risiko eines tödlichen Unfalls genauso hoch wäre wie bei einem Nonstopflug? Diese Frage habe ich bei meinen Vorträgen Dutzenden von Expertengremien gestellt. Die Antworten waren bunt gemischt: 1000 Kilometer, 10000 Kilometer, dreimal um die Erde. Doch die genaueste Schätzung lautet: 20 Kilometer. Wenn sie mit Ihrem Auto heil am Flughafen ankommen, haben Sie den gefährlichsten Teil ihrer Reise wahrscheinlich schon hinter sich.

Sind die Menschen vom Umgang mit Risiken hoffnungslos überfordert?

Wie können so viele Menschen nicht merken, dass sie die Niederschlagswahrscheinlichkeit nicht verstehen? Ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen in Kauf nehmen, weil sie den Unterschied zwischen relativen und absoluten Risiken nicht kennen? Oder sogar vom Regen in die Traufe kommen? Schließlich leben sie mit den Niederschlagswahrscheinlichkeiten und Pillenängsten seit Mitte der 60er-Jahre, und die Angst vor Schockrisiken wiederholt sich mit jeder neuen Bedrohung, vom Rinderwahnsinn über SARS bis zur Vogelgrippe, in einem scheinbar endlosen Kreislauf. Warum lernen die Menschen nicht?

Nach Meinung vieler Experten sind die Menschen hoffnungslos überfordert. Versuche, sie von ihren Irrtümern zu befreien, schlügen in der Regel fehl. Ausgehend von dieser zutiefst pessimistischen Einschätzung der allgemeinen Öffentlichkeit, präsentiert eine Veröffentlichung von Deutsche Bank Research eine Liste mit Verstößen, die wir »Homer Simpsons« gegen die Vernunft begehen.13 In populärwissenschaftlichen Büchern hat man diese Botschaft rasch aufgegriffen und verkündet nun, Homo sapiens sei »vorhersagbar irrational« und brauche »Anstöße« zum vernünftigen Verhalten durch die wenigen zurechnungsfähigen Menschen auf der Erde.14

Ich sehe das anders. Unser Bildungssystem ist erschreckend blind im Hinblick auf Risikointelligenz. Wir lehren unsere Kinder die Mathematik der Sicherheit – Geometrie und Trigonometrie –, aber nicht die der Ungewissheit: Statistisches Denken. Und wir unterrichten unsere Kinder in Biologie, aber nicht in Psychologie, die ihre Ängste und Wünsche prägt. Selbst viele Experten sind nicht dazu ausgebildet, der Öffentlichkeit Risiken verständlich zu vermitteln, was höchst schockierend ist. Und es kann durchaus Interesse daran bestehen, die Menschen zu erschrecken: um einen Artikel auf die Titelseite zu bekommen, Menschen einzureden, die Abschaffung der Bürgerrechte sei legitim, oder ein Produkt zu verkaufen. Alle diese äußeren Gründe tragen zu dem Problem bei.

Die gute Nachricht lautet: Es gibt eine Lösung. Wer hätte vor ein paar hundert Jahren gedacht, dass eines Tages so viele Menschen auf der Erde lesen und schreiben lernen würden? Wir werden sehen, dass jeder, der es will, risikokompetent werden kann. Gestützt auf meine Forschungsarbeiten und die anderer Kollegen, werde ich darlegen, dass

1. jeder den Umgang mit Risiko und Ungewissheit lernen kann. In diesem Buch werde ich Prinzipien erläutern, die leicht zu verstehen sind für jeden, der den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

2. Experten eher ein Teil des Problems sind als die Lösung. Viele Fachleute haben selber Probleme, Risiken zu verstehen, keine angemessenen Kommunikationsfähigkeiten oder Interessen, die sich nicht mit den ihren decken. Aus solchen Gründen gehen riesige Banken pleite. Wenig ist gewonnen, wenn man risikoinkompetente Institutionen zur Anleitung der Öffentlichkeit einsetzt.

3. weniger mehr ist. Wenn wir vor einem komplexen Problem stehen, suchen wir nach einer komplexen Lösung. Und wenn diese nicht klappt, suchen wir nach einer noch komplexeren Lösung. In einer ungewissen Welt ist das ein großer Fehler. Nicht immer verlangen komplexe Probleme komplexe Lösungen. Allzu komplizierte Systeme – egal, ob Finanzderivate oder Steuersysteme – sind schwer zu verstehen, leicht zu missbrauchen oder potenziell gefährlich. Und sie sind nicht geeignet, den Menschen Vertrauen einzuflößen. Dagegen können uns einfache Regeln klüger und die Welt sicherer machen.

»Kompetent« heißt sachkundig, versiert und klug. Doch risikokompetent ist mehr, als gut informiert zu sein. Man braucht Mut, um einer ungewissen Zukunft zu begegnen, um sich gegen Experten zu behaupten und um kritische Fragen zu stellen. Wir können die Fernbedienung für unsere Emotionen wieder selbst in die Hand nehmen. Es bedarf einer gewaltigen psychologischen Umstellung, um den eigenen Verstand ohne Anleitung durch andere zu nutzen. Eine solche innere Revolution sorgt für mehr Aufklärung und weniger Angst im Leben. Ich habe dieses Buch geschrieben, um die Menschen zu mehr Risikokompetenz zu ermutigen.

Risikokompetent werden

In seinem Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« beginnt Immanuel Kant mit den folgenden Worten:15

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«

Positive Freiheit 16

Risikokompetente Bürger sind die unverzichtbaren Säulen einer Gesellschaft, die bereit ist zur positiven Freiheit. Wie die drei Beispiele zeigen, läuft Risikokompetenz auf ein grundlegendes Verständnis unserer intuitiven Psychologie und unserer statistischen Informationen hinaus. Nur mit diesen beiden Fertigkeiten und einer Portion Neugier und Mut werden wir in der Lage sein, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. In dem Buch Das Einmaleins der Skepsis – Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken habe ich mich mit Risiken und statistischem Denken befasst, und in Bauchentscheidungen – Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition ging es um Ungewissheit und intuitive Psychologie. Im vorliegenden Buch bringe ich diese beiden Strategien für den Umgang mit einer ungewissen Welt zusammen.

6 Furedi 1999.

7 Vgl. Gigerenzer, Wegwarth und Feufel 2010.

8 Gigerenzer 2004, 2006. Nachfolgende Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Gaissmaier und Gigerenzer (2012) liefern eine regionale Analyse der Zahlen der Verkehrsopfer. Der Fall von Justin Klabin wird in seinem Buch 9/11: A FireFighter’s story (2003, Imprintbooks) geschildert und nacherzählt in: Ripley 2009, S. 71 f. Beim Jahrestreffen der Society for Risk Analysis vom 6. bis 8. Dezember 2009 führte Robert G. Ross aus, dass die höchsten Ausschläge der Zahl tödlicher Unfälle in Abbildung 1.2 parallel zu Terrorismuswarnungen nach dem 11. September 2001 zu verzeichnen waren.

9 Daveed Gartenstein-Ross: »Bin Laden’s ›war of a thousand cuts‹ will live on«, in: The Atlantic, 3. Mai 2011.

10 Als Paul Slovic (1987) den Begriff »Dread-Risk« vorschlug, verstand er darunter subjektiv wahrgenommene Faktoren wie Mangel an Kontrolle, Bedrohungs- und Katastrophenpotenzial sowie ungleichgewichtige Verteilung von Risiko und Nutzen. Ich verwende ihn im engeren Sinne, wie ich es im Text angebe.

11 In Übereinstimmung mit dieser Erklärung berichten junge Erwachsene, dass sie Ereignisse (Krankheiten, Fabrikunfälle oder Erdbeben), bei denen 100 Menschen ums Leben kommen, mehr fürchten als Zwischenfälle mit zehn Toten, während ihre Furcht gleich bleibt, unabhängig davon, ob es 100 oder 1000 Todesfälle gibt. Der psychologische Grenzwert von 100 ist charakteristisch für die Angst vor Todesfällen, spielt aber keine Rolle bei finanziellen Einbußen, wo ein Verlust von 1000 Dollar mehr gefürchtet wird als einer von 100 Dollar (Galesic und Garcia-Retamero 2012).

12 Joseph Stiglitz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. September 2011, S. 19.

13 Schneider 2010.

14 Beim »harten« Paternalismus alter Schule ging man davon aus, dass die Menschen selbstsüchtig seien und straffer Führung bedürften, um den Interessen der Gesellschaft auf die beste Weise zu dienen – etwa Gesetzen zu gehorchen und Steuern zu zahlen. In ihrem Buch Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt schlugen Thaler und Sunstein (2009) einen »weichen« Paternalismus vor, der die Menschen sanft »anstößt«, Entscheidungen zu treffen, die in ihrem eigenen Interesse liegen. Zwar verzichtet der sanfte Paternalismus auf Gewalt, ist aber radikaler als der harte Paternalismus, indem er voraussetzt, dass die Menschen noch nicht einmal wissen, was in ihrem eigenen Interesse ist (Rebonato 2012). Die neue These lautet, dass die Menschen systematischen kognitiven Täuschungen unterlägen und dass daher der Paternalismus erforderlich sei, um ihr Verhalten zu verändern. Doch das Argument ist falsch: Kognitive Verzerrungen sind keine Rechtfertigung für Paternalismus (Berg und Gigerenzer 2007). Vor allem sind kognitive Beeinträchtigungen nicht in unsere Gene eingeschrieben, sondern resultieren in hohem Maße aus einem Mangel an geistiger Anregung – Anregung, wie sie beispielsweise die Schule bietet. So kann ein geringer IQ, der häufig als angeboren gilt, durch Förderung erheblich verbessert werden (Nisbett 2009). Warum zum Beispiel haben Kinder, die vor dem 15. September geboren wurden, einen höheren IQ als Kinder, die nach diesem Datum zur Welt gekommen sind? Weil die meisten Länder um den 15. September einen Stichtag haben, der festlegt, dass Kinder, die danach geboren werden, noch ein weiteres Jahr auf den Schulbesuch warten müssen. Dieser Umstand ermöglichte die Durchführung eines natürlichen Experiments. Als man die Intelligenz von Kindern, die den Vorteil hatten, bei Schulbeginn ein Jahr älter zu sein, mit der Intelligenz von Kindern verglich, die den Vorteil eines zusätzlichen Schuljahres hatten, stellte sich heraus, dass ein Schuljahr im Hinblick auf den Intelligenzquotienten doppelt so viel brachte wie ein Lebensjahr (S. 42).

15 Kant 1784, S. 481. Aufklärung ist großteils immer noch eine Aufgabe der Zukunft.

16 Mill 1869 (Berlin 1967).