Ein Leben für die Indianer

Vielen Menschen in Ost und West wird der Film »Die Söhne der Großen Bärin« ein Begriff sein. Fast in Vergessenheit geraten zu sein scheint jedoch die Autorin, welche die Vorlage zum Film lieferte und damit eines der populärsten Jugendbücher der DDR schuf (das sich aber auch im Westen Deutschlands und in vielen anderen Ländern großer Beliebtheit erfreute): Liselotte Welskopf-Henrich.

Das Verhältnis Liselotte Welskopf-Henrichs zu den Ureinwohnern Nordamerikas war geprägt von lebenslanger, leidenschaftlicher Anteilnahme und von wissenschaftlichem Interesse. Diese Verbundenheit spiegelt sich in ihren Büchern wider, in denen sie sich auf Grundlage von genauer Forschung um eine kulturhistorisch richtige und gerechte Darstellung der Indianer bemühte. Sie versuchte, auf deren Probleme aufmerksam zu machen und setzte sich aktiv für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände ein.

Erik Lorenz erzählt das Leben der außergewöhnlichen Autorin und Wissenschaftlerin – sie war Professorin für Alte Geschichte – und zeigt die Quellen und Beweggründe für ihr belletristisches Schaffen auf. Dabei kommt Liselotte Welskopf-Henrich sehr oft auch selbst zu Wort: in Zitaten oder ganzen Aufsätzen, die in diesem Buch teilweise zum ersten Mal veröffentlicht werden.

Erik Lorenz
Liselotte Welskopf-Henrich
und die Indianer

Eine Biographie
296 S., Festeinband m. Schutzumschlag
ISBN 978-3-938305-14-0
2., erweiterte Auflage 2010

Die Krieger des alten Japan

Dem französischen Kampfkunstexperten und Historiker Roland Habersetzer ist es gelungen, in seinen Geschichten das alte Japan wieder lebendig werden zu lassen.

Der Autor entführt seine Leser in die abenteuerliche Welt der Samurai, Rônin und Ninja. Auf äußerst spannende Weise erzählt er von legendären Helden der japanischen Geschichte. In authentischen Erzählungen, die auf historischen Quellen beruhen, werden Begebenheiten aus dem Leben der »Schwertheiligen« Tsukahara Bokuden und Miyamoto Musashi sowie des »letzten Samurai«, Saigô Takamori, dargestellt. Außerdem finden sich im Buch Berichte über den blutigen Machtkampf zwischen den Minamoto und den Taira im 12. Jahrhundert, den Aufstand der Christen von Shimabara, den Rachefeldzug der 47 Rônin aus Akô und zahlreiche andere berühmte wie auch nahezu in Vergessenheit geratene Ereignisse der japanischen Geschichte.

Zum Inhalt dieses Werkes gehören des weiteren unterhaltsame Kôdan- und Dôjô-Geschichten, die Zenweisheiten vermitteln, und Begebenheiten aus der Welt der Ninja, jener geheimnisvollen Schattenkrieger des japanischen Mittelalters.

Roland Habersetzer, geb. 1942, Träger des 9. Dan im Karate, ist Autor von ca. 70 Werken über die Kampfkünste und vier Romanen.

Roland Habersetzer
Die Krieger des alten Japan
Berühmte Samurai, Rônin und Ninja
Aus dem Französischen
von Frank Elstner
392 S., engl. Broschur
ISBN 978-3-938305-07-2
1. Auflage November 2008

Leseprobe Roland Habersetzer – Die Krieger des alten Japan

Aufstieg und Fall des Klans der Takeda (Auszug)

Grünspecht und Rad

1553 begann eine Serie von Kriegen zwischen Takeda Shingen und Uesugi Kenshin, die eine einzigartige Episode in der Geschichte des japanischen Mittelalters darstellen. Die Auseinandersetzungen, die 1553, 1554, 1555, 1556, 1557 und schließlich 1563 in der Ebene von Kawanakajima stattfanden, glichen einem gewaltigen Schachspiel. Die Zukunft sollte zeigen, daß sie tatsächlich nur den Auftakt zu einem noch größeren Machtspiel darstellten, in dem Tokugawa Ieyasu aus dem Süden, Oda Nobunaga aus dem Westen und Toyotomi Hideyoshi aus dem ferneren Westen um die Macht in ganz Japan ringen sollten. Doch für Shingen wie für Kenshin ging es lediglich um das Gebiet von Kawanakajima, das in der Nähe der heutigen Stadt Nagano liegt, dort, wo die Flüsse Saigawa und Chikumagawa sich vereinigen.

Als ihre Truppen zum vierten Mal aufeinandertrafen, war Ken­shin 32 Jahre alt und Shingen 41. Die 13 000 Mann starke Armee aus Echigo hatte ihr Lager am Ufer des Chikumagawa aufgeschlagen, in der Nähe des Saijo, eines kleinen Berges. Die Takeda waren mit 20 000 Kämpfern deutlich in der Überzahl, und Shingen hatte somit guten Grund zu der Annahme, daß die Schlacht eine klare Entscheidung zu seinen Gunsten bringen würde. Shingen und sein oberster Stratege Yamamoto Kansuke planten, eine als »Grünspecht« (kitsutsuki) bezeichnete Taktik anzuwenden. Gleich dem Specht, der durch seine harten Schnabelhiebe auf einen Baumstamm die darin lebenden Insekten dazu veranlaßt, ihre schützende Behausung zu verlassen, wollte er mit dem Hauptteil seiner Truppen den Gegner vom Berg Saijo aus von hinten angreifen und den nach vorn fliehenden Kämpfern mit seinen restlichen Truppen auflauern und sie vernichtend schlagen. Nachts, im Schutz der Dunkelheit, ließ Takeda Shingen 18 000 seiner Männer den Hügel besteigen, auf der dem Lager Uesugi Kenshins gegenüberliegenden Seite. Doch ihr Angriff ging ins Leere. Mit sicherem Instinkt und gewiß auch aufgrund von Informationen seiner Ninja-Hilfskräfte hatte Uesugi Kenshin seinerseits bereits seine gesamte Streitmacht in den Angriff auf die verbliebenen 2 000 Samurai Takeda Shingens geführt, unter denen sich auch ihr Anführer persönlich befand. Dabei wandte er die gefürchtete »Taktik des Rads« (kuruma gakari) an. Das bedeutete, daß seine Truppen einen kompakten Kreis bildeten und sich beim Vormarsch unaufhörlich um dessen Zentrum drehten, gleich einem gewaltigen Rad. Und wie ein Rad, das mit seinem Reifen Schlamm und Wasser aufspritzen läßt, ohne zu versinken, griff die Kavallerie Uesugis den Gegner unaufhörlich vom Rand des Kreises an, ohne daß die Truppen dabei jemals zum Stillstand kamen oder starre Angriffsflächen boten.

Takeda begriff schnell, daß ihm der unmittelbare Untergang drohte. Seine bei ihm gebliebenen 2 000 Samurai würden vernichtet werden, bevor die 18 000 Kämpfer, selbst wenn sie im Galopp ritten, das Schlachtfeld erreicht hätten. Schon bald waren seine Kräfte auf wenige Hundert reduziert, die sich als lebender Schutzwall um ihren Anführer und ihr Banner scharten. Inmitten von Waffengeklirr, Todesschreien und dem Sirren der Pfeile fanden die letzten Leibgarden Takeda Shingens den Tod. Letzterer blieb reglos vor seinem Zelt sitzen, als beträfe ihn der Tumult, der ringsumher herrschte, nicht im mindesten. Seine Augen folgten einem Reiter, der eine weiße Kopfbedeckung trug und der sich, eingehüllt in eine Staubwolke, die durch die Hufe seines Rappen aufgewirbelt wurde, mit kraftvollen Schwertstreichen einen Weg zu ihm bahnte. So also sah der Tod aus, die Erfüllung seines Karma. Er hatte seinen eingeschworenen Feind, Uesugi Kenshin, erkannt. Zum ersten Male würden sich die beiden Männer Auge in Auge gegenüberstehen. Für keinen von beiden zählte in diesem Moment etwas anderes als die unmittelbar bevorstehende Begegnung. Wie nebenher erschlug Kenshin die letzten Takeda-Samurai, die versuchten, ihren Daimyô zu verteidigen. Schließlich hatte er seinen Feind erreicht und hob das Schwert über dessen Haupt. Noch immer ließ dieser nicht den leisesten Versuch, sich zu verteidigen, erkennen. Er schien stoisch den Gnadenstreich zu erwarten. Es wird berichtet, daß sich folgender Dialog zwischen ihnen entspann.

Uesugi Kenshin. Ausschnitt aus einem Holzschnitt von Yoshitoshi.

»Shingen, endlich! Was sagst du nun zu diesem Augenblick?« fragte Ken­shin triumphierend. Er stand in seinen Steigbügeln, um mit größter Kraft jenen entscheidenden Schwerthieb führen zu können, auf den er sich seit Jahren vorbereitet hatte.

Shingen erwiderte mit ruhiger Stimme und ohne daß sein Gesicht die mindeste Gefühlsregung verriet: »Schmelzender Schnee auf einem glühenden Stein.«

Kenshin warf ihm daraufhin einen zornigen Blick zu und ließ sein Schwert dreimal auf seinen Gegner herabfallen. Shingen hob lediglich einen Arm, und mit seinem Kampffächer gelang es ihm, die ersten beiden Schläge abzulenken. Der dritte Schlag verletzte ihn, und Blut rann von seiner Stirn. Aber ein überlebender Takeda-Samurai hatte sich unbemerkt nähern und mit seinem Schwert ein Sprunggelenk von Kenshins Pferd durchtrennen können. Das Pferd stieg und brach daraufhin zusammen, so daß Kenshins nächster Schwerthieb ins Leere ging. Inzwischen war auch das Gros der Truppen Shingens auf dem Schlachtfeld eingetroffen, und Ken­shin und seine Samurai sahen sich gezwungen, in aller Eile unter heftigen Kämpfen den Rückzug anzutreten. Wieder einmal hatte eine Schlacht unentschieden geendet, und wieder würden die beiden Armeen gegeneinander zu Felde ziehen müssen in jener bereits vom Blute tapferer Krieger getränkten Ebene. Ihre beiden Anführer sollten einander jedoch niemals wiedersehen.

John Okute Sica

Das Wunder vom Little Bighorn

Erzählungen aus der Welt der alten Lakota

Mit einem Vorwort von Liselotte Welskopf-Henrich
Illustrationen von Margaux Allard

Aus dem Englischen
von Frank Elstner

Palisander

Danksagung

Der Verlag dankt Dr. Rudolf Welskopf, Berlin, den Töchtern des Autors Margaret Schmaltz, Creston, und Grace Peigan, Wood Mountain, sowie der Enkeltochter des Autors Margaux Allard, Creston, daß sie dieses Buchprojekt ermöglicht haben. Weiterhin dankt er Ronald Papandrea, Detroit, für seine freundliche Unterstützung bei der Verwirklichung des Projekts und Erik Lorenz, Berlin, für die Bereitstellung des Aufsatzes »Bei den Dakota in den Woodmountains« von Liselotte Welskopf-Henrich.

Abbildungen

Die Fotos 1, 2 sind lizenzfrei. Die Fotos 3, 4, 5 wurden dem Verlag von Margaret Schmaltz, einer Tochter des Autors, zur Verfügung gestellt. Das Foto 6 stammt von Frank Elstner, das Foto 7 von Philipp Schuster.

Die Zeichnung auf dem Einband bzw. auf der Rückseite des Schutzumschlags stammt von John Okute Sica. Die Zeichnung 1 wurde von William Lethbridge (1895-1994), einem Lakota aus Wood Mountain, angefertigt. Alle anderen Zeichnungen stammen von Margaux Allard (White Swallow Woman).

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage November 2009

Titel des Originalmanuskripts: »Reflections From the Sioux World«

© Margaret Schmaltz und Grace Peigan

Deutsch von Frank Elstner

© 2009 by Palisander Verlag, Chemnitz

Vorwort »Bei den Dakota in den Woodmountains«

© Rudolf Welskopf

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Covergestaltung: A. Elstner, unter Verwendung des Gemäldes »Todtengerüste eines Sioux-Chefs« von Karl Bodmer und einer Zeichnung von John Okute Sica

Einbandgestaltung: A. Elstner unter Verwendung einer Zeichnung von John Okute Sica

Lektorat, Redaktion & Layout: Palisander Verlag

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783938305485

www.palisander-verlag.de

Bei den Dakota in den Woodmountains

Im Sommer 1963, dem letzten seines Lebens, begegnete ich John Okute, den seine Stammesgenossen Woonka-pi-sni (»Wurde nicht niedergeschossen«) nannten. Der alte Dakota lebte in den Woodmountains, den Waldbergen, an der Südgrenze Kanadas.

Kartenmaterial und amtliche Verzeichnisse über die Wohnsitze der Indianer in Kanada hatten mich überzeugt, daß ich in jener Gegend heute noch eine der Gruppen der Dakota- (genauer: Lakota-) Teton-Oglala würde finden können, die nach den großartigen Verteidigungskämpfen und der endgültigen Niederlage der Dakota unter Tatanka-yotanka und Tashunka-witko1 1876/77 in Kanada Zuflucht gefunden hatten. Auf der Karte führte eine Bahnlinie bis zu dem Städtchen mit Namen Wood Mountain, und diese dachte ich zunächst mit Hilfe der Greyhound-Buslinien zu erreichen.

Am Busbahnhof der großen Präriestadt Regina setzte ich mich – außerhalb des luftgefilterten Warteraumes – zu den wartenden Indianern, Männern, Frauen, Kindern, ins Freie. Es war sehr heiß; während meines Aufenthaltes in den Präriegegenden im Juli schwankte die Temperatur zwischen -8 und +40 Grad Celsius: An dem Tage, von dem ich spreche, mochten es +35 Grad sein. Die ruhige Würde und Zurückhaltung meiner indianischen Nachbarn auf der Wartebank machten es mir nicht leicht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Als sie mit feinem Gefühl erfaßten, daß ich sie nicht besichtigen oder studieren, auch nicht als diebisch verdächtigen oder als schmutzig betrachten würde, erschien jenes fast unmerkliche Lächeln auf ihrem Gesicht, das den freundschaftlichen Kontakt ermöglichte. Wir hatten leider nicht viel Zeit füreinander; die Busse fuhren in verschiedene Richtungen davon. In Assiniboia, der Endstation der von mir benutzten Buslinie, erfuhr ich, was ich nie für möglich gehalten hätte: der Zug nach Wood Mountain war weg… nun gut, so würde ich mit dem nächsten fahren. Der nächste Zug ging Dienstag… aber jetzt war erst Freitag… das hieß vier Tage verlieren – unmöglich! Fluglinie? Nicht vorhanden. Bus? Nein. Mietwagen? Nicht vorhanden. Taxi? Nicht vorhanden. Offenbar näherte ich mich den Restbeständen des Wilden Westens.

Eine gastfreundliche Kanadierin, die auf meine Verlegenheit aufmerksam geworden war, lud mich in ihr Haus ein. Es war eines jener für ganz Kanada typischen Holzhäuser; Einfamilienhaus, nicht billig, mit Doppelwänden, warm und in der Inneneinrichtung hübsch und zweckmäßig. In der Nacht setzte ein Sturm ein, mit der ganzen Gewalt der Präriestürme, die ungehindert durch einen halben Kontinent brausen und die Gewalt von Meeresstürmen haben. Nicht nur das Haus, auch die Bettstatt zitterte, und ich erinnerte mich des Fluges nach Regina, bei der in der DC 8 die Stewardeß das Essen nicht hatte ausgeben können, weil das Flugzeug in den Böen schwankte. Der Sturm störte mich aber in meinem Holzhaus-Asyl nicht. Ich hörte noch ein letztes mächtiges Krachen, der »Donnervogel« schrie...

Am Morgen war der Himmel blau, aber alle Landstraßen außerhalb des Städtchens waren nach dem Gewitter unpassierbar geworden, tief verschlammt. Vielleicht kam ein Pferd hier noch durch, doch sicher kein Auto. Das bestätigte mir auch meine liebenswürdige Gastgeberin. Wenige Stunden später sollte allerdings nach sachverständiger Voraussage das Unergründliche schon wieder zu steilen und tiefen Furchen getrocknet und für kanadische Autofahrer immerhin passierbar sein. Ich hatte Zeit bis dahin, schlenderte zum Stadtrand, blickte über die weite graugrüne Prärie, trank den unvergeßlichen Eindruck dieses weiten Landes in mich hinein, dessen ehemalige Herren und Söhne ich suchte… und wandte mich dann mißtrauisch meinen Füßen zu, an denen ein Kribbeln aufstieg. Bis zum Knie herauf saßen schon die Moskitos, ununterscheidbar, eine einzige schwarze Masse. Ich floh, verständlicherweise, und zwar in eines der kleinen Cafés, die bis in die entferntesten Gegenden vordringen und still, sauber, ordentlich jedem Gast, auch dem »farbigen«, eine angenehme Reise verbürgen.

Dann kam der scheinbare Zufall, der von so großer Wirkung sein kann. Die Umfrage im Städtchen nach einer Transportgelegenheit zu den Wohnplätzen der Indianer in den Woodmountains hatte Erfolg. Es klingelte an dem Holzhaus. Als ich aus der Tür ging, stand ein Dakota-Teton-Oglala vor mir und lud mich ein, mit ihm und seiner Familie zu den Woodmountains zu fahren. Lange hatte ich die Geschichte und Wesensart dieses Volkes studiert, mit immer erneuten Anstrengungen Zugang gesucht, seinen Wert und sein Recht auf eigenes Leben in den geschichtlichen Formationen und Kämpfen gestaltet – und nun stand ich vor einem seiner Vertreter, der, das fühlte ich sofort, ganz das verkörperte, was ein Dakota ist.

Ich wurde Gast in den Woodmountains. Der junge freie indianische Viehzüchter, dem ich zuerst begegnet war, und seine Familie gehörten zu den Nachfahren jener Gruppen der Teton, die 1877 unter unendlichen Mühen und Gefahren die Black Hills und die umliegenden Prärien, alte Heimat des Stammes, verlassen hatten, nach Kanada ausgewandert waren und dort verblieben sind im Unterschied zu den großen Scharen der Dakota, die nach der Ausrottung der Büffel keine Nahrung in den kanadischen Prärien mehr fanden, und daher in die USA auf die Reservation zurückkehrten. General Custer und seine Truppen waren von den Dakota und ihren Verbündeten besiegt und vernichtet worden, aber neue Truppen rückten nach, und den Dakota mangelte es an Waffen und Munition, die sie nicht selbst herstellen konnten. So mußten sie sich unterwerfen oder gehen. Die kleine Stammesabteilung, die in den Woodmountains eine neue Heimat gefunden hat, lebt von Viehzucht, als Rancher und Cowboys.

Die Woodmountains, 2008. Links: Ehemalige Farm John Okutes Sicas.

Ich saß – in voller Einsamkeit und Abgeschiedenheit – bei dem Ältesten und Häuptling John Okute. Er stand am Ende seines Lebens; langsam sprach er und wog jedes Wort. Die Männer, unter denen er aufgewachsen war, hatten Ta­shunka-witko und Tatanka-yotanka noch gekannt. Er hat es von klein auf geliebt, den Alten zuzuhören und aus der Geschichte und den Mythen der Dakota alles zu erfahren, was er nur erforschen konnte. Daher trug er als Kind schon den Spitznamen »Alter Mann«. Er wußte viel, und sein ganzes Denken und Leben gehörte den Dakota. Ich lauschte auf das, was er mir zu erzählen hatte, während rings­umher der Wind um Bäume und Gräser strich und der Himmel sich blau über der immer noch einsamen weiten Prärie wölbte.

John Okute war freier Rancher gewesen, bis er sich in seinem Alter zurückzog. Seine Blockhütte stand zwischen Wiesen, Busch und Wald. Weit konnte er über das einsame Land schauen. Er freute sich an Kindern und Enkeln, die gesund heranwuchsen und in deren Ranchhaus ich zu Gast sein durfte. Wenige Monate, nachdem ich bei ihm gesessen und auf seine Worte gelauscht, seine Niederschriften gelesen hatte, ist er gestorben, verehrt und betrauert von allen Indianern, die ihn gekannt haben.

Die Witwe John Okutes gab mir das Manuskript, in dem er aufgezeichnet hat, was ihm wichtig und überliefernswert erschien.

Liselotte Welskopf-Henrich, 1965


Der Text des Vorworts wurde dem Aufsatz »Bei den Dakota in den Woodmountains« (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlaß Liselotte Welskopf-Henrich, Nr. 152) entnommen und um einige Passagen aus der Einleitung Liselotte Welskopf-Henrichs zu ihrer Übertragung der Erzählung John Okute Sicas »Der Mann mit dem Namen Mato-wa-wo-yuspa, der Bär der zupackt« (im vorliegenden Buch »Der Mann, den sie Seizing Bear nannten«), ergänzt, die sich in ihrem Nachlaß befindet.

Einleitung

Der Stamm, der sich nicht ergab

Im Jahre 1874 hatte eine Militärexpedition unter General Custer in den Black Hills Gold gefunden. Die Black Hills waren historisches Jagdgebiet der Sioux und der als heilig angesehene Mittelpunkt ihrer Welt. Der Vertrag von Fort Laramie aus dem Jahre 1868 hatte ihnen die Black Hills zur uneingeschränkten und exklusiven Nutzung und Besiedlung zugeschrieben. Nun jedoch strömten zahllose Goldsucher in das Gebirge, und die Regierung versuchte mit allen Mitteln, die Lakota zum Verkauf des Gebietes zu bewegen. Im Winter 1875 beschloß die US-Regierung, die Black Hills mit Gewalt in ihren Besitz zu bringen. Sie erließ den Befehl, daß sämtliche Sioux sich unverzüglich in die bestehenden Reservationen zu begeben hätten. Dies führte zum Aufstand. Tausende Reservationsindianer verließen im Frühjahr 1876 heimlich die Reservationen und schlossen sich den freilebenden Sioux des Westens an. Lieber wollten sie im Kampfe sterben, als den Raub ihres heiligen Stammeslandes zu dulden.

General Custer wurde ausgesandt, um die Aufständischen zu zwingen, sich zu ergeben. Am 25. Juni fand die Schlacht am Little Bighorn River statt. Custers Kavallerieregiment wurde geschlagen, er selbst getötet. Dies war der letzte große Sieg der Lakota und ihrer Verbündeten über die US-Army. Nach dieser Schlacht zerbrach die Einheit der Sioux. Allzu stark waren ihre Gegner, und letztendlich blieb nur die Wahl zwischen Flucht und Unterwerfung. Einige Häuptlinge entschlossen sich, nach Kanada zu gehen. Im Winter 1876 befanden sich in Wood Mountain, Saskatchewan, bereits 2 900 Lakota, davon sehr viele Frauen und Kinder, die auf diese Weise in Sicherheit gebracht worden waren.2 Anfang 1877 trafen sich die Häuptlinge Sitting Bull und Crazy Horse und berieten darüber, ob sie sich ergeben oder nach Kanada fliehen sollten. Crazy Horse ergab sich mit seiner Stammesgruppe am 6. Mai 1877. Etwa zur gleichen Zeit führte Sitting Bull seine Húnkpapa über die kanadische Grenze nach Wood Mountain. Nachdem Crazy Horse im September im Fort Robinson ermordet worden war, flohen weitere Lakota nach Kanada. Es hieß, daß Crazy Horse im Sterben gesagt habe: »Ich wollte schon immer ins ›Land der Großmutter‹3 gehen. In wenigen Augenblicken werde ich tot sein, und dann werde ich mich dorthin begeben. Ich will, daß ihr alle mir folgt.« Unter den Häuptlingen, die 1877 nach Kanada gingen, war auch der Minneconjou Black Moon, der Sitting Bull bereits bei seiner Wahl zum obersten Häuptling der Lakota im Jahre 1869 unterstützt hatte und der mit seiner kleinen Stammesgruppe an der Schlacht am Little Bighorn beteiligt gewesen war.

Im Frühjahr 1878 lebten 5 000 Sioux aus allen sieben Lakotastämmen – Húnkpapa, Oglála, Sičángu (Brulé), Mni­kchówožu (Minneconjou), Itázipčo (Sans Arc), Sihásapa (Blackfeet) und Oóhenunpa (Two Kettles) – in der Gegend um Wood Mountain, dem Standort einer Garnison der berittenen Polizei des Nordwestens, und Willow Bunch, einer nahegelegenen Mestizensiedlung. Sie versuchten, ihr traditionelles, auf der Büffeljagd beruhendes Leben fortzusetzen. Doch immer weniger Büffel kamen, und um 1880 blieben sie vollkommen aus. Es dauerte nicht lange und der übrige Wildbestand in der Region brach ebenfalls zusammen. Unter solchen Umständen Tausende Menschen zu ernähren, erwies sich als nahezu unmöglich. Eine Hungersnot brach aus. Bereits 1878 kehrten die ersten Sioux wieder zurück in die Reservationen in den USA.

Häuptling Tatánka Íyotake, Sitting Bull. Fotografie aus dem Jahre 1885.

Einige Frauen der Lakota heirateten weiße Männer, um das Überleben ihrer Familien in dieser Zeit der Not zu sichern. Oft hatten solche Ehen keinen Bestand. Eine derartige Begebenheit wird in der Erzählung »Ité-ská-wí« geschildert.

Die kanadische Regierung duldete die Indianer als Flüchtlinge, aber sie verweigerte ihnen jegliche weitere Unterstützung und teilte ihnen auch keine Gebiete als Reservationen zu. Sie wollte, daß die Sioux in die USA zurückkehrten, denn zum einen setzte sie die US-Regierung unter Druck und zum anderen waren die Mittel in dem noch jungen Staat beschränkt. Einzelne Kanadier, wie der Händler Jean Louis Légaré und der Offizier der berittenen Polizei James Morrow Walsh versuchten, soweit es in ihren Kräften stand, die Sioux zu unterstützen, doch die Lebensumstände im Stammeslager verschlechterten sich unaufhaltsam. So beschlossen ab Anfang 1881 immer mehr Häuptlinge, sich den Vereinigten Staaten zu ergeben.

Sitting Bull suchte verzweifelt nach Möglichkeiten, mit seiner Stammesgruppe, die nur noch aus wenigen Hundert bestand, in Kanada bleiben zu können, aber er scheiterte. Begleitet von Jean Louis Légaré begab sich der Häuptling mit seinen Leuten nach Fort Randall und ergab sich dort am 11. Juli 1881. Daraufhin lebte er mit seinen Húnkpapa in der Standing-Rock-Reservation, wo er am 15. Dezember 1890 ermordet wurde. Zwei Wochen später fand das Massaker von Wounded Knee statt, und der Widerstandsgeist der Sioux schien für alle Zeiten gebrochen. Eine Lebensweise, eine große Kultur war untergegangen, die gemäß der Überlieferung der Lakota tausend Jahre zuvor durch die Weiße Büffelkalbfrau, Ptésan-win, begründet worden war.

Doch eine kleine Gruppe von etwa 250 Lakota war in Wood Mountain geblieben. Sie hatten sich dafür entschieden, weiter auf traditionelle Weise zu leben, so weit dies möglich war. Während der Wintermonate arbeiteten sie oftmals für weiße Farmer, und während der warmen Jahreszeit zogen sie in kleinen Gruppen auf die Jagd. Diese Zeit wird in der Erzählung »Hánta« widergespiegelt.

Von links nach rechts: Tashúnke Núpawin und Okute Sica, die Eltern des Autors; Núpa Kikté und Ptesán-win, Tashúnke Núpawins Schwester.

Zu den in Kanada Verbliebenen gehörte auch der Minneconjou-Häuptling Black Moon, welcher auch den Namen Loves War trug. Seine Enkeltochter Tashúnke Núpawin, Owns Two Horses, die mit »bürgerlichem« Namen Emma Loves War hieß, hatte zunächst einen Weißen namens Archie LeCaine geheiratet. Sie weigerte sich allerdings, ihm zu folgen, als dieser in eine andere Region Kanadas zog. 1889 heiratete sie Okute Sica.4 Im August 1890 wurde ihr erster Sohn John in der Gegend von Willow Bunch geboren. Ins Geburtenregister wurde er unter dem amtlichen Zunamen seiner Mutter, LeCaine, eingetragen. Später wählte er den Namen seines Vaters als Zunamen, nannte sich jedoch häufig nur John Okute. Sein indianischer Name lautete Woonka-pi-sni.5

Während der ersten neun Jahre seines Lebens lernte John Okute Sica, Woonka-pi-sni, die traditionelle Lebensweise der Lakota kennen und lieben. Seine Eltern und Verwandten lehrten ihn alles, was seit Jahrhunderten den Kindern ihres Volkes an Wissen vermittelt wurde, einschließlich der religiösen Tänze und Zeremonien und magischer Praktiken. Bereits im Alter von sechs Jahren entwickelte er eine ausgeprägte Neugierde für Geschichte und Geschichten, und so liebte er es über alles, den Alten seines Stammes zu lauschen. Dies trug ihm den Spitznamen Alter Mann, Wičá-čala, ein, was als Ehrenname zu verstehen ist, da die Lakota alten Menschen größte Hochachtung entgegenzubringen pflegen.

Sieben Jahre lang, von 1899 bis 1906, besuchte John Okute Sica die Regina Industrial School. Dort erlernte er die englische Sprache und wurde in der Landwirtschaft und im Zimmer­manns­handwerk ausgebildet. 1907 zog er mit seinen Eltern und Geschwistern nach Wood Mountain.

Im Jahre 1910 unternahm sein Vater mit ihm eine denkwürdige Reise zu Pferd. Sie führte sie bis zum Frenchman River, und Okute Sica zeigte seinem Sohn über 30 Plätze, die während der fünf Jahre, die Sitting Bull mit seinem Stamm in Kanada verbracht hatte, von Bedeutung gewesen waren: die Winterlager des Stammes, Sonnentanzplätze, Abbaustätten für roten Ocker, Fleischdepots, Orte der Visionssuche, heilige Objekte und Begräbnisstätten.

John Okute Sica.

John Okute Sica mit seiner Ehefrau Christina und Sohn John. Die Fotografie entstand um 1930.

Die Farm John Okute Sicas.

1909 begann John Okute Sica ein besitzloses Stück Land urbar zu machen. Nachdem er ein Blockhaus, einen Pferdestall und einen Getreidespeicher erbaut hatte, wurde ihm das Landstück im Jahre 1913 offiziell zugesprochen, wobei es ihm zugute kam, daß er einen »weißen« Namen, LeCaine, trug, denn Indianer hatten zu jener Zeit kein Anrecht darauf, Land durch aktive Inbesitznahme zu erwerben. Seine Farm lag mitten in dem Gebiet, das den in Wood Mountain lebenden Lakota 1930 als Reservation zugesprochen wurde. Er lebte als selbständiger und unabhängiger Farmer, bis er 1952 sein Land der Reservation übergab, da er gesundheitlich nicht mehr in der Lage war, seine Farm zu bewirtschaften. 1954 wurde er Häuptling des Stammes, ein Amt, das vor ihm der von ihm hoch verehrte Čanté Ohítika, Brave Heart, ein Veteran der Schlacht am Little Bighorn, und Núpa Kikté, Kills Twice (Big Joe Ferguson), innehatten.6 Häuptling Brave Heart findet sich als »Mighty Heart« in der Erzählung »Eine Spuknacht« wieder.7

John Okute Sica war Christ, was sich auch in manchen seiner Geschichten widerspiegelt. So gesellt er beispielsweise in der Erzählung »Maiden Chief« Wakán Tánka, dem Großen Geist, Engel bei. Für ihn bestand zwischen dem traditionellen Glauben seines Volkes und dem Christentum keinerlei Widerspruch; er betrachtete ersteren als eine Art ursprüngliche Form des letzteren.

Wood Mountain heute

Im Jahre 2007 betrug die Zahl der Stammesmitglieder der Lakota von Wood Mountain 218, von denen jedoch lediglich 13 auf dem Gebiet der Reservation leben. Seit 2005 ist Ellen LeCaine, eine Enkeltochter des Autors, Häuptling des Stammes. In Zusammenarbeit mit anderen traditionsbewußten Familien ist sie bestrebt, alte Bräuche, wie das alljährliche Powwow, aufrechtzuerhalten bzw. sie wiederzubeleben, und den Zusammenhalt der Stammesmitglieder zu stärken. Hierbei werden die Wood-Mountain-Lakota auch von Stammesgenossen aus den alten Reservationen in den USA tatkräftig unterstützt. Auf dem Powwow von 2008, an dem unter anderen ein Ururenkel Sitting Bulls teilnahm, haben die Nachkommen John Okute Sicas ihr Einverständnis zu diesem Buchprojekt erklärt.

Powwow auf der Reservation von Wood Mountain, 2008.

Zum Text

John Okute Sica verfaßte die in diesem Band vereinigten Erzählungen über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten in englischer Sprache. Von Kindheit an war er sich dessen bewußt gewesen, Zeuge des Untergangs der Welt der Sioux zu sein. Es war sein Wunsch, dieser Welt ein literarisches Denkmal zu errichten, indem er getreu davon berichtete, was er von den Alten erfahren hat. Auf diese Weise hat er eine Sammlung von Geschichten geschrieben, die in der indigenen Literatur Nordamerikas einzigartig dastehen dürfte. Die wenigen anderen indianischen Autoren, die selbst noch die traditionelle Lebensweise ihrer Stämme kennenlernten, haben zumeist vorwiegend autobiographische Schriften verfaßt. Auch beherrschten sie oft die englische Sprache nicht ausreichend, so daß sie auf die Hilfe weißer Autoren angewiesen waren. John Okute Sica hingegen verfügte über einen sehr reichen englischen Wortschatz, auch wenn seine Muttersprache Lakota war, und Autobiographisches spielt in seinem Werk nur eine untergeordnete Rolle. Seine Erzählungen stehen ganz in der Tradition der mündlichen Überlieferung seines Stammes und sind in deren kraftvollem Erzählstil verfaßt.

Mit der Erzählung »Maiden Chief« hat John Okute Sica den wahrscheinlich ersten (Kurz-)Roman der Sioux geschaffen. Er beruht auf der Geschichte »Amber Moon«, die ebenfalls in diesen Erzählband aufgenommen wurde und welche eine authentische Begebenheit wiedergibt, die sich wahrscheinlich im 18. oder frühen 19. Jahrhundert zugetragen hat. Der reichhaltige Stoff dieser Erzählung inspirierte den Autor dazu, die Handlung in die Endzeit seines Volkes zu verlegen, d. h., in die Zeit um 1860, ein Kunstgriff, der ihm eine detaillierte Darstellung des Lebens gestattete, das die Generationen seiner Eltern und Großeltern geführt haben und das er zum Teil selbst noch kennengelernt hat.

John Okute Sica und Liselotte Welskopf-Henrich

Ein mit dem Autor befreundeter Lehrer aus Wood Mountain, Michael O’Krancy, hat dessen Geschichten mit der Maschine abgeschrieben und behutsam lektoriert. In dieser Form hat die Witwe des Autors die Texte Liselotte Welskopf-Henrich übergeben, damit sie sie in deutscher Sprache veröffentlichen lassen könne. Trotz größter Bemühungen – die Schriftstellerin übersetzte z. B. drei der Erzählungen selbst ins Deutsche bzw. erzählte sie nach – gelang es Liselotte Welskopf-Henrich nicht, einen Verlag für dieses Projekt zu finden. Sie war jedoch so tief von der Persönlichkeit John Okute Sicas wie auch von seinen Geschichten beeindruckt, daß sie ihn in ihrem Roman »Nacht über der Prärie« in der Gestalt des »Harry Okute«, der in »Wood Hill«, Kanada, lebte, verewigte. Sie verwendete den Vornamen Harry, um die Verbindung zu ihrem Romanzyklus »Die Söhne der Großen Bärin« herzustellen, dessen Hauptheld von den Weißen Harry genannt wurde.

John Okute Sicas Erzählung »Ité-ská-wí« diente als Namensgeberin für ihren letzten Roman, »Das helle Gesicht«. In diesem Roman spielt ein Mädchen gleichen Namens eine wichtige Rolle, und die historische Ité-ská-wí aus der Erzählung wird als dessen Ururgroßmutter dargestellt.8

Das Typoskript der Erzählungen wurde im Nachlaß Liselotte Welskopf-Henrichs aufbewahrt und dem Palisander Verlag durch ihren Sohn, Dr. Rudolf Welskopf, übergeben. Es diente als Grundlage für die Übersetzung.9

Zur Übersetzung

Bei der Übersetzung der Erzählungen wurde größter Wert darauf gelegt, die kraftvolle und poetische Sprache des englischen Originals so getreu wie möglich wiederzugeben. Der Autor benutzt mitunter Begriffe, die heute nicht mehr als »politisch korrekt« gelten, so z. B., wenn er von »Wilden« und »Rassen«, vom »Roten Mann« und vom »Weißen Mann« oder von »Negern« spricht. Diese Begriffe wurden nicht verändert, um die Authentizität zu wahren.

Auch lehnen heute viele Lakota die Bezeichnung Sioux ab, da diese ursprünglich eine abwertende Bedeutung besaß.10 Für John Okute Sica sind »Sioux« und »Lakota« hingegen wertgleiche Synonyme.11

Die Schreibweise der Lakotabegriffe wurde auf vereinfachte Weise an diejenige im »New Lakota Dictionary«12 angepaßt. Für folgende Buchstaben sind Besonderheiten in der Aussprache zu beachten:

Des weiteren wurden Betonungszeichen über Vokalen gesetzt.

Der Autor hat in den meisten Fällen die englischen Namen der indianischen Protagonisten verwendet. Dies wurde in der deutschen Übersetzung beibehalten.

Frank Elstner, September 2009

Im Feindeslager

Die Sonne war längst untergegangen und die Abenddämmerung wich schnell der Dunkelheit der Nacht, als Maiden Chief von weither wieder War Crys Schrei vernahm. Er mußte sich irgendwo in den hinter ihr liegenden Hügeln befinden. Sie hatte den ganzen Tag über hilflos wie ein Neugeborenes in der feuchten Grube gehockt, und noch immer wagte sie sich nicht heraus. Vor allem die Zeit zwischen Sonnenuntergang und Mitternacht erschien ihr unerträglich lang. Sie stöhnte vor Ungeduld. Selbst als die Sterne ihr verrieten, daß Mitternacht verstrichen war, konnte sie noch immer einige Lichter im Lager erblicken, und unaufhörlich wurde eine Trommel geschlagen. Schließlich verlor sie die Geduld und kroch wagemutig aus ihrem elenden, lehmigen Unterschlupf. Auf demselben Weg wie in der Nacht zuvor schlich sie sich wieder zu dem Zelt, in dem ihr Liebster sich befand. Je näher sie dem Lager kam, desto mehr wuchs ihre Furcht vor den Hunden der Assiniboine. Um weniger wehrlos zu sein, beschloß sie, eine Decke und wenn möglich auch einen Gegenstand, den sie als Waffe verwenden könnte, zu stehlen. Die beiden alten, verräucherten Tipis, die auf ihrem Weg den Eingang zum Lager bildeten, erschienen ihr hierfür geeignet, zumal sie glaubte, daß sie alten Frauen gehörten. Als sie eines der Zelte erreicht hatte, erschrak sie fast zu Tode, denn neben dem Eingang schlief ein Hund. Einige Augenblicke lang war sie wie gelähmt vor Panik, doch der Hund wachte nicht auf, und sie beruhigte sich wieder. Ohne sich zu regen, schaute sie sich um und erblickte ein paar Schritte von sich entfernt einen Hakenstock aus Eschenholz, wie man ihn zum Graben verwendete, der gegen ein Fleischgestell gelehnt war. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend näherte sie sich dem Stock. Sie hatte beschlossen, den Hund im Schlaf zu töten, da sie sonst wertvolle Zeit vergeuden und ihr Leben und das ihres Liebsten gefährden würde, indem sie einen anderen Weg aus dem Lager heraus suchen mußte.

In dem Augenblick, als Maiden Chief den Eschenstab zum tödlichen Schlag erhoben hatte, schreckte das Tier auf. Sie schlug zu, doch statt den Kopf zu treffen, traf das Holz mit einem dumpfen Geräusch auf das Genick. Der Hund lag am Boden und zitterte am ganzen Körper, ohne einen Laut von sich zu geben. Maiden Chief ergriff das Tier an den Ohren, um sicherzugehen, daß der Schlag tödlich gewesen war. Ein knirschendes Geräusch verriet ihr, daß das Genick gebrochen war.

Die ganze Zeit über hatte sie das laute Schnarchen von jemandem aus dem Inneren des Zeltes gehört. Sie lauschte aufmerksam, ob noch andere Atemzüge vernehmbar waren, aber außer dem Schnarchen war nichts zu hören. An dem Ende des Zeltes, das sich dem Schläfer gegenüber befand, schob Maiden Chief vorsichtig ihren Arm unter der Zeltwand hindurch, immer gewärtig, auf den Körper eines Menschen zu stoßen. Doch es lag niemand auf der anderen Seite der Wand. Sie griff die Decke, die als Bodenbelag diente und zog sie aus dem Tipi heraus. Indem sie sich die Decke überwarf und den Eschenstab als Krückstock verwendete, verwandelte sie sich in ein hinkendes altes Assiniboineweib.

Sie war noch auf dem Weg zu ihrem Ziel, als plötzlich die Trommeln verstummten. Da Maiden Chief fürchtete, daß jemand, der vom Festplatz heimkehrte, sie fragen könnte, wohin sie unterwegs sei, beschleunigte sie ihre Schritte. Fast hatte sie schon den Hohlweg erreicht, auf dem sie nachts zuvor zum großen Tipi geschlichen war, als sie plötzlich einen Mann erblickte, der direkt auf sie zukam. Mit einer raschen Bewegung zog sie sich die Decke über den Kopf, so daß sie nur noch mit einem Auge aus der Umhüllung sehen konnte, und setzte sich auf einen kleinen Hügel. Sie hielt sich an dem Eschenstab, den sie senkrecht vor sich aufgestellt hatte, fest und begann mit der tiefen, heiseren Stimme einer alten Frau erbarmungswürdig zu weinen. Mit dem freien Auge beobachtete sie währenddessen jede Bewegung des Mannes. Dieser blieb fünf Schritte von ihr entfernt stehen und betrachtete sie. Maiden Chief, ohne den Blick von ihm zu wenden, schluchzte unaufhörlich. »Großmutter«, sagte der Mann, »hörst du mich? Hör auf zu weinen, geh schlafen.« Dreimal wiederholte er die Worte, aber Maiden Chief hörte nicht auf zu jammern, als ob ihr Herz vom Kummer erdrückt würde. Der Mann versuchte nicht, die alte Frau zu trösten und ging weiter. Er nahm wahrscheinlich an, daß die Alte den Verlust eines Verwandten beweinte, der bei dem Angriff der Sioux umgekommen war.

Maiden Chief weinte so lange, bis sie sicher war, daß der Mann außer Hörweite war. Sie war froh, daß sie sich im Lager von Assiniboine befand. Dieser Stamm war einst Mitglied der großen Nation der Sioux gewesen, bis tödliche Streitigkeiten zur Entzweiung geführt hatten. Aus diesem Grunde hatte sie verstehen können, was der Mann gesagt hatte.

Aus dem Tipi, in dem Eagle Bird sich befand, drang noch immer Licht, obwohl der Morgen bereits zu grauen begann. Maiden Chief wollte bereits die Hoffnung aufgeben, ihren Liebsten in dieser Nacht retten zu können, als das Licht endlich erlosch. »Wenigstens will ich mit ihm reden, bevor ich das Lager wieder verlasse«, sprach sie zu sich. Unverzüglich verwandelte sie sich wieder in die alte Assiniboinefrau mit Krückstock und humpelte zur Rückseite des Zeltes. Kaum war sie angelangt, als ihr Liebster sich vernehmlich räusperte. Im nächsten Augenblick wurden unter der Zeltwand ein Gewehr, an dem ein kleiner Lederbeutel befestigt war, und ein Pulverhorn hindurchgeschoben. Sehr langsam und fast ohne ein Geräusch zu verursachen kam Eagle Bird schließlich aus dem Zelt gekrochen, mit den Füßen voran. Kaum war sein ganzer Körper im Freien, hob Maiden Chief ihn auf, als wäre er ein Kind und lud ihn sich über die Schulter. Als sie in dem flachen Hohlweg angelangt war, beschleunigte sie ihre Schritte. Wie ein Wolf, der seine Beute davontrug, eilte Maiden Chief, sich immer wieder in alle Richtungen umschauend, dahin.

Erstaunlich schnell erreichte sie den Ort, an dem sie sich den ganzen Tag über verborgen hatte. Sie wagte nicht weiterzugehen, denn das Licht des neuen Tages war schon so hell, daß sie jedes Tipi im Lager hinter sich erkennen konnte. Sie ließ ihren Liebsten zu Boden gleiten und sagte keuchend: »Folge mir«, während sie wie ein Reptil in der Erde verschwand. Kaum hatte er es mit ihrer Hilfe geschafft, in die Grube zu kriechen, als ein lauter Schrei aus dem Lager ihrer Feinde drang. Kurz darauf sahen die beiden berittene Assiniboine in alle Richtungen ausschwärmen.

»Sie suchen die Umgebung nach uns ab«, sagte Eagle Bird zu seiner Gefährtin.

Andere Assiniboine machten sich zu Fuß auf den Weg. »Sie suchen nach deinen Spuren«, sagte Maiden Chief.

»Ja, und nach den Spuren von jemand anderem, denn du hast eine Decke und einen Stock zurückgelassen, wenn ich mich nicht irre. – Oder lagen die schon dort, als du kamst?« wollte Eagle Bird wissen.

»Ich habe sie liegenlassen. Diese Dinge gehören einer alten Frau, die in dem kleinen rauchgeschwärzten Tipi lebt, das sich zu unserer Linken befand, als wir hierher liefen. Die Alte wird auch ihren Hund vermissen, denn der liegt tot mit gebrochenem Genick gleich bei ihrem Eingang«, erklärte ihm Maiden Chief.

»Wenn wir mit dem Willen des Großen Geistes entkommen, werde ich mit Vergnügen der Geschichte deines Abenteuers lauschen«, erwiderte er.

»Ich glaube nicht, daß sie dir gefallen wird; es ist eine traurige Geschichte«, sagte Maiden Chief. Sie umarmte ihren Liebsten und flüsterte aufgeregt: »Glaubst du, daß diese Männer, die auf uns zukommen, meinen Spuren folgen? Glaubst du, daß sie uns finden werden?«

Eagle Bird antwortete: »Hab keine Angst, meine Geliebte. Die Hand des Großen Geistes beschützt uns. Wenn dem nicht so wäre, hätten wir das alles nicht überstanden. Außerdem würde niemand auf die Idee kommen, daß dieses Loch sich hier befinden könnte, selbst wenn er direkt an seinem Rand stünde. – Wie hast du es überhaupt gefunden?«

»Ich bin offenen Auges hineingefallen«, sagte Maiden Bird. Während sie das Treiben im Lager und in der Umgebung beobachtete, fiel sie plötzlich in Schlaf. Zwei Tage und eine Nacht lang hatte sie kein Auge zugetan, und sie hatte die ganze Zeit über keinen Bissen gegessen und keinen Schluck Wasser getrunken, obwohl ihr ganzer Körper danach gelechzt hatte.

Eagle Bird spielte mit ihrem üppigen Haar, das völlig zerzaust war. Er weinte bitterlich, während er ihr sanft über den Kopf strich. Maiden Chief schlief wie eine Tote und spürte nicht die warmen Tränen ihres Liebsten, die bis zu ihrer Kopfhaut drangen. Er weinte, wie noch nie ein erfahrener Krieger geweint hatte, denn er begriff, daß sein Stolz dem einzigen weiblichen Wesen, dem er je wirklich zugetan war, nichts als Kummer und Leid zugefügt hatte. Er vergoß Tränen über die wunden, geschwollenen Hände dieses reinherzigen Mädchens, die reglos auf seinem Schoß lagen. Er schluchzte wie ein kleines Kind, denn die Lippen, die schön und weich wie eine Rose gewesen waren, waren nun trocken und rissig. Ihre einzige Waffe hatte sie ihm gegeben, und sie hatte ihn mitten aus dem Lager der Feinde holen müssen. Und all dies war einzig und allein seinem Stolz geschuldet.

Den ganzen Tag über tat Eagle Bird nichts anderes, als seine tief schlummernde Verlobte zu betrachten. Er versuchte nicht einmal herauszufinden, was die Feinde taten, die zu Hunderten rastlos auf der Suche nach ihnen waren. Seine Augen ruhten auf der Frau, deren Kopf auf seinen schmerzenden Oberschenkeln lag, und er durchlebte im Geist noch einmal alles, was ihm in den vergangenen anderthalb Monaten widerfahren war. Als er schließlich den Kopf hob, sah er durch das Geflecht der Zweige der Krüppelzedern hindurch, daß die Sonne längst untergegangen war und die Sterne am Himmel wie Reflexe eines fernen Spiegels flackerten.

Auf der Flucht

Das schnelle, hohe Kläffen eines Kojoten, der gekommen war, um das Fleisch von Shoots First und den drei anderen Kriegern, die auf dem Schlachtfeld liegengeblieben waren, zu fressen, weckte Maiden Chief. »Wo bin ich?« rief sie, dann flüsterte sie: »Wer bist du?« Doch bevor Eagle Bird antworte, gab sie sich selbst eine Antwort: »Ohán, ohán« – »oh ja, oh ja«. Dann fragte sie: »Mein Mann, wie spät in der Nacht ist es?«

»Sie hat gerade begonnen«, sagte er.

Sie schob die Zweige auseinander, stand auf und sagte: »Wir müssen schnell von hier weg.« Nachdem sie aus der Grube geklettert waren, lud sie ihren Liebsten auf die Schulter, als wäre er eine Gliederpuppe. Eagle Bird protestierte dagegen, daß sie ihn tragen wollte, aber sie machte sich kurzerhand auf den Weg. Maiden Chief hatte nicht das Leben ihrer Geschlechtsgenossinnen aus dem Osten geführt.25 Seit sie dazu in der Lage war, hatte sie ihrer Mutter bei allen Arbeiten geholfen. Sie hatte gelernt, die schweren Büffelhäute zu gerben, sie hatte Feuerholz aus weiter Entfernung auf ihrem Rücken herbeigetragen, und all diese Tätigkeiten hatten ihre Muskeln gestärkt, so daß sie schließlich so kräftig wie ein Mann war. Schon immer hatte sie die Ponyherde ihres Vaters geliebt und sie zweimal täglich zum Wasser getrieben. Das tägliche Reiten hatte sie so gestählt, daß keine andere Frau sich mit ihr messen konnte. Auch war sie es gewohnt, sich gegen rauhbeinige, liebestolle Freier durchzusetzen, die sie, wie mitunter erforderlich war, ohne weiteres niederringen konnte, ungestüm wie ihr wildes Pony. Den Protesten ihres Liebsten schenkte sie daher nicht die geringste Aufmerksamkeit, und sie ignorierte auch seinen Vorschlag, ein Pony der Assiniboine zu stehlen, damit es sie nach Hause zu ihrem Stamm tragen würde. Als sie aufgebrochen waren, befand sich ihr Stammeslager zehn Tagesreisen zu Pferd entfernt zwischen den Black Hills und dem Powder River. Wenigstens gelang es Eagle Bird, sie davon zu überzeugen, vom Weg abzuweichen, um erst einmal zu einem Bach zu gehen. Ohne auch nur einmal anzuhalten, lief Maiden Chief zu dem Wasserlauf. Zum ersten Mal seit dem Tag der Schlacht konnte sie endlich etwas trinken. Sie wusch das Blut von den Händen, ihr eigenes und das von Shoots First, das eine feste Kruste auf ihren Handrücken gebildet hatte. Sie kämmte ihr Haar, badete ihre Füße und aß die Hälfte des kleinen, nahrhaften Büffelpemmikankuchens, den Eagle Bird vor den Assiniboine hatte verbergen können.

Maiden Chief versprach Eagle Bird, daß sie ihren bereits erschöpften Körper nicht über die Maßen anstrengen würde und immer dann eine Pause einlegen würde, wenn sie sich danach fühlte. Sie hielt ihr Versprechen, und noch viermal machte Maiden Chief in dieser Nacht eine Rast. Schließlich wählte sie eine enge Schlucht als Unterschlupf für den Tag. Sie war von wilden Obstbäumen gesäumt, die genügend Schatten warfen, um die beiden vor den sengenden Strahlen der Sonne zu schützen, die sich bereits zu dieser frühen Stunde ankündigten. Etwa 100 Schritte unterhalb des Zugangs zur Schlucht toste ein kleiner Fluß – ein westlicher Zulauf des Yellowstone River. An den Hängen wuchsen einzelne Eschenahorne. Der Boden des kleinen Canyons war von riesigen Beifußbüschen und Kakteen bedeckt.

Anstatt sich erschöpft zu Boden sinken zu lassen, bahnte Maiden Chief sich zunächst einen Weg zum tosenden Fluß. Sie blieb so lange verschwunden, daß Eagle Bird sich schließlich Sorgen zu machen begann. Er schnitt zwei gegabelte Äste ab, die als Krücken geeignet waren und wollte sich gerade auf die Suche nach ihr begeben, als Maiden Chief plötzlich aus einem nahegelegenen Hohlweg gestiegen kam, sechs junge Wildenten in den Händen. Eagle Bird war außerordentlich stolz auf seine Liebste, die die fast schon ausgewachsenen Tiere ans Ufer getrieben und mit einer Keule getötet hatte.