DSA_Der_erste_Kaiser.jpg
Daniel_Joedemann_Autorenfoto.tif

Biografie

Daniel Jödemann wurde 1978 in Bielefeld geboren und lebt heute in Wuppertal.

Mit der Welt des Schwarzen Auges kam er erstmals Anfang der 90er Jahre in Berührung. Nach mehreren erfolgreichen Teilnahmen an Abenteuerwettbewerben begann er 2004 schließlich auch offiziell für Das Schwarze Auge zu schreiben und war seitdem an vielen Publikationen als Autor beteiligt (unter anderem an den Regionalspielhilfen Angroschs Kinder, Aus Licht und Traum, Am Großen Fluss und Herz des Reiches, sowie den Abenteuern und Anthologien Kar Domadrosch, Skaldensänge, Invasion der Verdammten, Die letzte Wacht, Mächte des Schicksals und Sphärenklänge). Zwei Bände (die Anthologie Ehrenhändel und die Regionalspielhilfe Land des schwarzen Bären) hat er auch als Redakteur betreut.

Neben seiner Tätigkeit als Autor ist Daniel Jödemann auch als Illustrator tätig und hat für zahlreiche Publikationen (vor allem für die Rollenspiele Das Schwarze Auge und Cthulhu) Stadtpläne und Karten angefertigt.

Die letzte Kaiserin ist sein zweiter Roman, der erste erschien 2007 unter dem Titel In den Nebeln Havenas.

 

Weitere Informationen unter www.daniel-joedemann.de

Titel

Daniel Jödemann

Der letzte Kaiser

Die zwei Kaiser – Band II

Ein Roman in der Welt von
Das Schwarze Auge
©

Originalausgabe

Ulisses_Logo_6cm_2010_sw1.tif

 

Impressum

Ulisses Spiele
Band 11038PDF

Titelbild: Arndt Drechsler
Aventurienkarte:
Daniel Jödemann

Lektorat: Florian Don-Schauen
Buchgestaltung: Ralf Berszuck
E-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright ©2012 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.
DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN und DERE
sind eingetragene Marken.
Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Buch-ISBN 978-3-89064-247-5
E-Book-ISBN 978-3-86889-828-6

 

 

Mit Dank an

Frank Bartels, Peter Diehn, Florian Don-Schauen, Nina Jödemann, Tom Ritzinger, Thomas Römer, Mark Wachholz und Tyll Zybura

 

Kaiser_Aventurien-Karte_Neu.tif

»Mut ist nicht etwa gleichbedeutend mit Furchtlosigkeit, sondern mit der Erkenntnis, dass es noch etwas Schlimmeres gibt als die Furcht.«

—Kaiser Murak-Horas, 1471 Horas

»Das, was wir so voller Stolz ›Geschichte‹ nennen, ist lediglich die eine Version vergangener Ereignisse, auf die sich die nachfolgenden Generationen einigen konnten.«

—Erzwissensbewahrer Abelmir von Marvinko, 2513 Horas

Was bisher geschah

Im Jahre 1475 Horas erhält Hela von Bosparan, die brillante Erzmagierin und Kronprinzessin des Bosparanischen Reichs, die Nachricht vom Tod ihres Vaters Murak-Horas, der zuvor das Diamantene Sultanat der Tulamiden erobert hatte. Als Erinnerung an ihren geliebten Vater bleibt ihr der Stern von Elem, ein kostbarer Rubin und Kriegsbeute Muraks aus seinem Feldzug. Die Prinzessin schwört Rache an den Tulamiden und lässt ihre Wut am Hofstaat aus. Dabei kommen auch die Eltern der dreijährigen Vallusa ums Leben.

Dreizehn Jahre später trifft der tulamidische Abenteurer Raul al‘Ahjan auf den Krieger Baduar vom Eberstamm. Die beiden freunden sich miteinander an und reisen nach Gareth, einer aufstrebenden Stadt im Norden des Bosparanischen Reichs. Raul hat in jungen Jahren seine Familie durch bosparanische Legionäre verloren, die auf Befehl der neuen Kaiserin – nun Hela-Horas genannt – hart gegen die ›Mörder‹ Muraks vorgingen und die Tulamiden grausam unterdrückten. Raul träumt davon, das Leben eines Helden aus den tulamidischen Märchen zu führen, große Taten zu vollbringen und sich schließlich mit einer schönen Prinzessin zur Ruhe zu setzen.

Zur gleichen Zeit steigt der Tulamide Salim al‘Thona zum Anführer der Prätorianer, der Leibgarde der Horas, auf. Nachdem er den Untergang seines eigenen Volks hatte miterleben müssen, hat er beschlossen, sich auf die Seite der Sieger zu stellen – die Seite der allmächtigen Kaiserin. Seine Stellvertreterin Perinope von Caletta verfolgt Salims Ergebenheit jedoch mit wachsender Eifersucht und zunehmendem Misstrauen.

Bestärkt von dem alten tulamidischen Zauberer Rashid Omar, der die Kaiserin seit Jahren unterrichten muss, beginnt Hela-Horas über ihren Urahn Fran-Horas, genannt ›den Blutigen‹, nachzuforschen, der vor fünf Jahrhunderten die verheerende Dämonenschlacht entfesselte und damit die Dunklen Zeiten einleitete. Während dieser Schlacht rief Fran-Horas mehrere Erzdämonen auf Dere herab, die blutige Ernte unter Freund und Feind hielten. Die Kaiserin beginnt damit, sieben mächtige Paraphernalia zu sammeln, die gemeinsam das Heptaphernalium ergeben – Zauberwerk, das benötigt wird, um Frans Ritual zu wiederholen. Fran-Horas besaß jedoch lediglich vier Bestandteile, als er seine Beschwörung vollzog. Salim sucht nun im Auftrag der Kaiserin in verschiedenen Teilen des Reichs nach diesen Paraphernalia.

In Gareth und in den Nordprovinzen des Bosparanischen Reichs macht sich Raul derweil durch mehrere Heldentaten einen Namen. Ihm ist es auch zu verdanken, dass der Angriff eines Orkheers auf Gareth abgewehrt wird. Nun beginnen die Menschen ihn erstmals Raul den Großen zu nennen, Erzählungen von seinen Taten machen die Runde. Zu dieser Zeit schließt sich Raul und Baduar eine junge Leibeigene mit Namen Lutisana an, eine geborene Kämpferin, die von Baduar ausgebildet wird. Sie ist in Raul verliebt, allerdings zu schüchtern, um ihm ihre Gefühle zu gestehen.

Im Jahr 1490 Horas lernt Raul Vallusa kennen, die als Prinzessin Vallusa von Bosparan von Hela-Horas im Kaiserpalast aufgezogen wurde und mit einer bosparanischen Delegation nach Gareth gekommen ist. Von dem Gedanken besessen, die Prinzessin für sich zu erobern, hält er bei einem geheimen Treffen um ihre Hand an und bittet sie, mit ihm zu kommen. Vallusa lehnt ab, um die Bürger Gareths nicht zu gefährden, die andernfalls für ihr Verschwinden hätten büßen müssen.

Raul ist allerdings nicht bereit, aufzugeben. Er fasst den Entschluss, Vallusa nach Bosparan zu folgen und sie aus dem Horaspalast zu entführen, wie es eines wahren Helden würdig ist. Baduar begleitet seinen Kameraden in die Hauptstadt des Reichs, wo die beiden erkennen müssen, dass ihre Aufgabe unmöglich erscheint, da die Zitadelle der Horaskaiser uneinnehmbar ist. Selbst die adlige Offizierin Leonore vom Berg, unter der Baduar gedient hat, vermag ihnen nicht zu helfen.

In der Zwischenzeit lässt Hela-Horas, von ihrer Macht und ihren Erfolgen verblendet, den Vorstehern der zwölf Kirchen mitteilen, dass sie plant, das Linke und das Rechte Szepter der Macht wieder in ihren Händen zu vereinen und sich zur Göttin erheben zu lassen. Beides ist den Horaskaiserin seit Jahrhunderten verboten, doch nur Wenige sind mutig genug gegen das Vorhaben der Horas zu protestieren, diese werden im Auftrag der Kaiserin von Salim al’Thona beseitigt und durch der Horas ergebene Geweihte und Offiziere ersetzt.

Raul und Baduar gelingt es schließlich, gemeinsam mit der Einbrecherin Raneola in die Horaszitadelle einzudringen, sie werden dort allerdings gestellt.

Am nächsten Tag, dem 7. Praios 1491 Horas, vereint Hela-Horas die beiden Szepter der Macht in ihren Händen und lässt sich unter dem Jubel der Bosparaner zur ›Herrin aller Menschen und Götter‹ ausrufen.

 

Die Kerker der Kaiserin

Das grelle, blendende Licht näherte sich Raul unerbittlich, die Hitze des weißglühenden Eisens schob sich über sein schweißbedecktes Gesicht. Gleich würde seine Haut Blasen werfen, sein Auge schmelzen. Doch die rauen Hände, die seine Lider aufhielten, kannten kein Erbarmen. Ihr Götter, lasst mich ohnmächtig werden!, flehte er. Das Zischen des glühenden Eisens übertönte sogar das heftige Klopfen seines Herzens. Plötzlich zog sich das Licht wieder zurück. Die drückende Hitze ließ endlich nach, doch noch immer tanzten grelle Lichter vor seinen Augen.

Blutunterlaufene, wässrige Augen schoben sich in sein Gesichtsfeld. »Noch mal«, schnarrte eine Stimme. »Du bist übers Aquädukt hereingekrochen, gekrochen wie ‘ne Ratte. Nun gut, Ratte, das glaub ich dir. Doch ein weiteres Mal die Frage: Wie heißt du?«

Raul blinzelte, als der entsetzliche Druck auf seine Lider nachließ. Er presste die Augen zusammen, öffnete sie wieder. Die tanzenden Sterne verschwanden nicht. Erst jetzt bemerkte er, dass er unwillkürlich den Atem angehalten hatte, langsam ließ er die Luft wieder entweichen. Unter seinem Rücken spürte er hartes, grobes Holz, doch aus seinen gemarterten Gliedern war jedes Gefühl gewichen, er konnte weder Beine noch Arme bewegen. Schwere Eisenringe hielten ihn an dem Tisch fest, auch sein Kopf war fest eingespannt, er vermochte nur noch die Augen zu bewegen. Seine Arme waren über seinem Kopf, am Ende des Tisches festgekettet. Das blasse Gesicht über ihm zog sich zurück und gab die Sicht auf die grobe Steindecke frei. Flackernder Lichtschein huschte über die Decke, höhnisch grinsende Schattenfratzen schauten auf ihn herab. Irgendwo knackten Holzscheite in einem Feuer.

Entsetzlicher Schmerz jagte durch seinen Rücken und zog sich durch seinen ganzen Leib. Rauls Schrei übertönte sogar das laute Knarren des Tischs. Jeden Moment würden seine Knochen brechen, seine Glieder aus ihren Gelenken gerissen. Dann ebbte der Schmerz wieder ab, er stöhnte und atmete stoßweise ein und aus. Sein geschundener Körper vermochte also noch immer Schmerzen zu empfinden, sein Peiniger war ein wahrer Meister seines Fachs.

»Noch eine Umdrehung mehr und es reißt dir die Arme raus, Ratte«, meldete sich die schnarrende Stimme wieder. »Die Arme sind’s immer als Erstes. Wie lautet dein Name? Woher kommst du?«

»Dalchim«, stieß Raul hervor. »Mein Name ist Dalchim. Aus Punin.« Er hatte lange genug Widerstand geleistet, der Folterknecht würde erwarten, dass er allmählich aufgab.

»So?« Die Augen kehrten wieder zurück. Leiser Triumph funkelte in ihnen, doch in der Stimme des Mannes schwang noch immer Misstrauen mit. »Dann sag mir, Dalchim aus Punin: Was wolltest du in der Zitadelle?«

»Gold!«, stöhnte er. »Silber … was immer wir finden …«

»Und da gab’s nichts Einfacheres für euch? Komm schon, Ihre Majestät wird sicher Gnade walten lassen, wenn du die Wahrheit sagst.«

Das harte Gesicht seines Peinigers und die steinerne Decke verschwammen vor seinen Augen.

»Wer hat dir geholfen, Ratte? Jemand aus der Zitadelle?«

Der Schmerz, der einfach nicht enden wollte, übermannte seine Sinne, die schnarrende Stimme wurde leiser. Nun würde er endlich ohnmächtig werden.

»Na ja, dein Kamerad wird sicherlich gesprächiger sein …«

Nein! Er zwang sich, wach zu bleiben. »Niemand hat uns geholfen«, stieß er hastig hervor. »Wir … wir hofften, dass das Aquädukt nicht bewacht wird.«

»Seit wann sind Ratten wie du so gerissen? Tulamidenratten?«

»Ich bin’s nicht, Sahib … bin nicht gerissen.« Tränen füllten seine Augen. Gut, das würde hoffentlich helfen.

Das Gesicht zog sich wieder zurück. »Hattest einfach nur Glück, was? Kann’s kaum glauben …« Sein Peiniger spuckte geräuschvoll aus. »›Sahib‹ nennt er mich. Dreckige tulamidische Ratte, will mich wohl beleidigen. Denkt, ich versteh’s nicht … Halt ihn fest.« Wieder zwangen kräftige Finger seine Augenlider auf.

»Nein, nicht, Sa… Herr, bitte nicht!«, stieß Raul hervor. Nun bettelte und flehte er also. War es schon soweit? Hatte er aufgegeben?

Drückende Hitze legte sich über seinen Kopf, das weißglühende Eisen schob sich wieder vor seine Augen.

»Weißt du, als dreckige Tulamidenratte bist du nur ein Stück Vieh oder ein Sklave – gleich von dem Moment an, als deine Hurenmutter dich ausgeworfen hat. So sagt’s das Gesetz, das die Kaiserin gemacht hat.« Das grelle Licht bohrte sich in seine Augen. »Und als ein Stück Vieh kann ich mit dir machen, was man eben mit Vieh macht …«

Raul schrie, als Schmerzen durch seinen Schädel jagten, die er sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht hätte ausmalen können.

***

Raul schlug hart auf dem glatten Steinboden auf. Quietschend fiel hinter ihm die schwere Tür ins Schloss, ein Schlüsselbund klirrte hell, dann entfernten sich Schritte. Er zog die Beine an und versuchte, sich auf Händen und Knien aufzurichten, doch seine tauben Glieder versagten ihm den Dienst, er schlug wieder auf dem Boden auf. »Baduar?«, murmelte er. Leise, gleichmäßige Atemgeräusche waren zu hören.

Noch immer tanzten grelle Sterne vor seinen Augen, noch immer hatte er den brechreizerregenden Gestank von verbranntem Fleisch in der Nase. Ist es das? Ist es so, wenn man erblindet?

Eine Zeit lang lag er einfach nur da, atmete tief ein und aus und blinzelte dabei immer wieder. Irgendwann kehrte das Gefühl in seine Arme und Beine zurück – und mit ihm der Schmerz. Der raue, von den Füßen zahlloser Inhaftierter in vielen Jahrhunderten glattgeschabte Boden unter seinen Händen war ebenso kühl wie die Luft in der Zelle. Durch das grelle Licht nahm er vage Schemen und Umrisse wahr. Die hellen Sterne verblassten immer mehr und machten der Dunkelheit Raum. Raul kroch über den Boden, bis er an eine Wand stieß. Er hob den Kopf. Nach einer Weile konnte er die Umrisse des Kerkerfensters erkennen, und dann Lichtpunkte, so winzig wie Stecknadelköpfe. Lange starrte er aus dem schmalen Fenster, durch das er seinen Leitstern am Himmelszelt ausmachen konnte. Das Fenster war eher ein schmaler Schacht, mehrere Klafter hoch und an beiden Enden vergittert. Die Freiheit schien zum Greifen nahe, wann immer er durch diesen Schacht aufsah und tagsüber den blauen Himmel oder des Nachts die Sterne beobachtete – jenen kleinen Ausschnitt des Himmelszelts, der ihm noch immer zugänglich war, den ihm auch die Kerkermeister nicht nehmen konnten. Doch selbst wenn es ihm gelingen würde, die starken Eisengitter mit bloßen Händen herauszubrechen, kam eine Flucht nicht in Frage. Der Schacht war zu schmal, um sich hindurchzuschieben, auch die vielen Wochen bei schalem Wasser und hartem Brot hatten ihn dazu nicht ausreichend abmagern lassen.

In der Nacht, in der er das erste Mal auf jenen schwach leuchtenden rötlichen Lichtpunkt aufmerksam geworden war, hatte er sich ebenso hilflos gefühlt wie jetzt. Seine Mutter hatte ihn auf das Dach hinaufgeschickt, als die Legionäre gekommen waren, der Stern hatte hoch über ihrem Haus gestanden und ihn getröstet, während ihre Schreie durch das Haus gellten. Sein Vater hatte ihm als Kind oft die Sterne gezeigt und ihm von dem listigen Gott Feqz erzählt, und dass dieser Gott auch Raul nach seinem Tode als funkelnden Edelstein an das Himmelszelt zaubern würde. Welche dieser Sterne waren wohl seine Eltern, und welche seine Brüder? Und würde er einen Platz in ihrer Nähe erhalten?

Sein Leitstern hatte ihn immer sicher geführt, manchmal hatte er sich sogar vorgestellt, dass Feqz diesen Stern allein für ihn an den Nachthimmel gesetzt hatte, um ihn auf seinem Weg zu begleiten, vielleicht sogar, um immer ein Auge auf ihn haben zu können. Doch inzwischen spendete ihm der Anblick keinen Trost mehr. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Wärter sie zu ihrer Hinrichtung führen würden.

Raul ließ seinen Blick durch die beengte Zelle wandern. Nur noch wenige Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen. Eine massive, mit Eisen beschlagene Tür führte zum Gang, zwei stabile Pritschen mit verlausten Wolldecken standen an den Wänden. Baduar schlief fest, seine Decke hob und senkte sich langsam. Wände, Boden und Decke der Zell bestanden aus festem Stein – es gab keine Schwachstelle, keine Möglichkeit, sich ins Freie zu graben oder die Tür aufzubrechen. In einer Ecke stand ein Aborteimer, irgendwo quiekte leise eine Ratte. Überall auf den Wänden waren Namen und Nachrichten eingekratzt, einige Insassen hatten sogar Strichlisten darüber geführt, wie lange sie hier eingesperrt gewesen waren. Er hatte sich in den vergangenen Wochen oft gefragt, welchen Sinn es hatte, den eigenen Namen in der Wand seines Kerkers zu verewigen. Wollten die Unglücklichen, die vor ihnen gekommen waren, nicht vergessen werden? Es war bedrückend, die endlosen Reihen von Namen anzustarren – Menschen, die denselben Weg gegangen waren, jeder Name eine Geschichte, die kein glückliches Ende genommen hatte. Irgendwann hatte er dann aber doch erstmals einen Strich in die Wand gekratzt. Hoffentlich würde es ihm helfen, bei Verstand zu bleiben, wenn er nicht vergaß, wie lange ihre Haft schon andauerte. Langsam hob er die Hand zu seiner Wange, zu der Stelle, wo ihn das glühende Eisen berührt hatte. Er zuckte wieder zurück, Schmerz zog sich durch seinen Schädel. Im fahlen Sternenlicht sah das Blut an seinen Fingern schwarz aus.

»Steh auf«, presste Raul hervor und zog sich empor. An die Wand gestützt, taumelte er zu seiner Pritsche. Sie quietschte leise unter seinem Gewicht. Er schaute zu Baduar hinüber. Diese Nacht war offenbar eine der wenigen, in denen sein Kamerad nicht von Albträumen gepeinigt wurde. In den ersten ein, zwei Wochen ihrer Gefangenschaft war Baduar kaum ansprechbar gewesen. Die Prätorianer, die sie gestellt hatten, hatten ihn übel zugerichtet und ihm mehrere Rippen und die Nase gebrochen. Baduar hatte sich gewehrt und auch den Großteil der Prügel abbekommen. Raul hatte lange in der Furcht gelebt, dass sein Kamerad die Haft nicht überstehen würde, er hatte ihn so gut es eben ging versorgt und ihm seine eigenen Rationen an Brot und Wasser überlassen.

Ein ferner Gongschlag war durch das Fenster zu hören. Elf weitere Schläge folgten. Er nahm einen schmalen Stein auf und kratzte einen neuen Strich in die Wand über seinem Lager. Dann zählte er nach: 41 Striche. Warum hielt man sie nur so lange gefangen? Doch andererseits – dass Einbrecher bis in den Horaspalast und in die unmittelbare Nähe der Kaiserin gelangen, geschah sicher nicht oft.

»Nein, nein«, ächzte Baduar plötzlich. Er schlug mit den Armen um sich. »Raneola! Nein!« Er trat die Decke von sich, bäumte sich noch einmal auf und fiel wieder zurück auf sein Lager. Raul stand auf und deckte ihn wieder zu.

Die Gewissensbisse, die an ihm nagten, waren in den vergangenen Wochen nicht geschwunden, als ob die Prätorianer seine Schuldgefühle mit ihm in die beengte Zelle eingesperrt hätten. Baduar war ihm nur aus Freundschaft gefolgt, um dafür zu sorgen, dass Raul sich nicht in Schwierigkeiten brachte – so hatte er es ausgedrückt. Nun würde Baduar einen ebenso ehr- wie sinnlosen Tod sterben. Und dann war da noch Raneola … Das sommersprossige Gesicht der tapferen Einbrecherin hatte auch Raul in seine Träume hinein verfolgt, es war aber vor allem ein Bild, das immer wieder vor seinem geistigen Auge aufstieg: Raneola, den Dolch zum Stoß erhoben, einen ungläubigen Ausdruck auf dem Gesicht, als die dunkelhaarige Centuria ihr das Schwert in den Bauch rammte. Die Miene der Prätorianerin dagegen war grausam, sogar triumphierend – Raul wusste jedoch mittlerweile nicht mehr, ob sie wirklich so ausgesehen oder ob sein Verstand dies inzwischen hinzugedichtet hatte.

»He, du.«

Er sah auf. Baduar schlief ruhig. Raul trat er an die Tür und spähte durch das kleine, vergitterte Fenster. Der Gang wurde von einer einzelnen Fackel, die irgendwo, weit rechts von ihm an der Wand hängen musste, schwach erleuchtet. Die Stimme kam aus der Nachbarzelle. »Was ist?«

»Ich hab deinen Freund gehört. Träumt er auch von Spinnen, die ihn von innen auffressen? Viele wimmelnde, kleine, schwarze Spinnen?«

Raul seufzte und lehnte die Stirn gegen das grobe Holz der schweren Kerkertür. »Sicher doch, Paki.«

Ihr Zellennachbar hatte sich ihm in ihrer ersten Nacht hier unten vorgestellt. Paki hatte einen deutlich hörbaren tulamidischen Akzent und sprach bisweilen sogar Tulamidya – jedenfalls, wenn ihm danach zumute war.

Paki kicherte. »Sag ihm, wenn er das nächste Mal von Spinnen träumt, soll er ganz fest an Spatzen denken. Spatzen fressen Spinnen. Dann kann er wieder schlafen.«

Raul nickte, auch wenn sein Gesprächspartner dies nicht sehen konnte. »Danke, Paki, ich werde es ihm ausrichten.«

»He, sag mal: Wie oft haben sie dich schon geholt? Sag es.« Der Tulamide klang sehr eifrig.

»Zweimal«, antwortete Raul.

»Und deinen Freund?«

»Einmal.«

Als sie ihn das erste Mal abgeholt hatten, hatte er einen festen Vorsatz gehabt: Er wollte weder Vallusa noch Baduar oder Gareth in Gefahr bringen. Eher würde er sterben, als den wahren Hintergrund ihres Einbruchs oder aber seinen oder Baduars Namen preiszugeben. Doch irgendwann würden sie wieder kommen. Würde er dann die Kraft haben, erneut zu lügen?

»Das ist doch gar nichts. Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft sie mich schon geholt haben«, krähte Paki und ergänzte dann stolz: »Die Schöne Kaiserin foltert mich persönlich, weißt du.«

Raul schüttelte den Kopf.

»Ich bin etwas ganz, ganz Besonderes, sie foltert mich sehr gerne«, fuhr sein Zellennachbar fort, »sie kommt mich alle paar Wochen besuchen, die Schöne Kaiserin selbst. Sie fragt mich nichts, jedenfalls nicht mehr, sie schätzt einfach die Zeit, die sie mit mir verbringen kann.« Paki seufzte und schwieg für einen Moment. »Ich hoffe, sie hat bald wieder einmal etwas Zeit für mich, hoffentlich hat sie mich nicht vergessen. Sie ist dieser Tage wohl sehr beschäftigt …«

»Paki, bitte«, begann Raul.

»Hast du die Kaiserin schon einmal gesehen?«

»Nein.«

»Oh, du wirst mich verstehen, wenn du sie erst einmal zu Gesicht bekommen hast. Ihr Haar gleicht einem Wasserfall aus flüssigem Gold, ihre Augen sind so klar wie Eis, ihre Haut …«

Da Paki heute Nacht ein wenig klarer und vernünftiger klang als sonst, wagte Raul einen Vorstoß: »Paki, wie lange, hast du gesagt, bist du schon hier?«

Der Angesprochene überlegte geraume Zeit. »965 Tage.«

66 – das war die umfangreichste Sammlung an Strichen, die Raul an den Wänden seiner Zelle gezählt hatte, die längste Zeit, die ein Insasse hier verbracht hatte. Dennoch hakte er nach: »Und woher kommst du?«

»O Effendi, ich bin der Sohn eines mächtigen Fürsten aus dem Land der Ersten Sonne. Mein Vater herrscht über alles Land und alle Menschen zwischen Ras El‘Bir und dem ehrwürdigen Mhanadi.« Wieder schwang hörbar Stolz in seiner Stimme mit.

Derartige Behauptungen hörte Raul nicht zum ersten Mal. Baduar hatte schließlich ausgesprochen, was auch er insgeheim befürchtete: dass Paki die lange Zeit im Kerker und die wiederholte Folter seinen Verstand gekostet hatten. War dies auch sein Schicksal? Würde man ihn hier verrotten lassen, würden die Bosparaner sich vielleicht nicht einmal die Mühe machen, ihn und Baduar hinzurichten?

»Paki«, setzte er noch einmal an.

»Ruhe!«, unterbrach ihn eine harsche Stimme.

Raul trat sofort von der Tür zurück, schwere Schritte waren im Gang zu hören, und dann das helle, vertraute Klimpern eines Schlüsselbunds. Schließlich tauchte ein pockennarbiges Gesicht hinter dem vergitterten Fenster auf. »Zurück mit dir, verlauster Dreckstulamide!«

Er gehorchte und wich weiter zurück.

»Die Schöne Kaiserin! Die Schöne Kaiserin!«, krähte Paki plötzlich. »Ich bin hier, Eure Kaiserliche Majestät, hier!«

Das Narbengesicht verschwand vom Fenster. »Zurück mit dir!«, bellte der Wärter, ein dumpfer Schlag war zu hören, doch die aufgeregten Rufe wollten nicht enden. »Gib Ruhe oder ich brech‘ dir beide Beine!« Nun verstummte Paki. Es war aber weiterhin ein leises, verzücktes Wimmern zu hören.

Der Wärter trat wieder vor die Zelle und vergewisserte sich, dass sich die Insassen in seinem Blickfeld befanden. Baduar war von dem Lärm wach geworden und richtete sich auf. Raul hob beruhigend die Hand, doch sein Herz raste. War der Wärter alleine gekommen? Sie kamen sonst immer zu dritt, um einen von ihnen zum Verhör abzuholen. Wenn er schnell war …

Schlüssel klimperten, das Schloss knackte, die Tür schwang quietschend auf. Der Wärter wog eine eisenbeschlagene Keule in der Rechten. »Du machst jetzt ganz genau, was ich sage, Bürschchen …« Dann wurde er von einem dumpfen Knall unterbrochen. Die Augen des Wärters weiteten sich, ein verblüffter Ausdruck trat auf sein Gesicht, langsam fiel er vorneüber und schlug auf dem Steinboden auf. Raul starrte den reglosen Mann ungläubig an, dann sah er auf … Das konnte nicht sein, er musste träumen!

Die schlanke, junge Frau ließ ihr Schwert wieder sinken. Sie lächelte erleichtert, und in diesem Moment schien die Sonne aufzugehen, eine wohlige Wärme erfüllte seinen Körper und verdrängte die Schmerzen, den Hunger und den Durst. Er schaute in ihre großen, rehbraunen Augen, sein Blick wanderte zu dem breiten, freundlichen Mund, der spitzen Nase, der makellosen, hellen Haut und zu dem golden schimmernden Haar. Viele Nächte hatte er wach gelegen und damit verbracht, sich diesen Anblick, diese Gesichtszüge wieder in Erinnerung zu rufen. Er hatte noch nie etwas Schöneres, noch nie etwas Vollkommeneres gesehen. Wenn dies ein Traum war, dann wollte er nicht mehr aufwachen.

»Prinzessin Vallusa?« Baduars Stimme rief ihn wieder zurück. Doch die Erscheinung war zu seiner Verwunderung noch immer da und trat nun in ihre Zelle ein.

»Baduar? Raul? Geht es Euch gut?« Sie schaute von Baduar zu Raul und wieder zurück. Ihre Augen weiteten sich plötzlich, sie hob die Hand, wie um ihn an der Wange zu berühren, verharrte dann aber wieder.

Raul lachte, obwohl sein Körper sich schon damit abgefunden haben musste, dass er nie wieder lachen würde. Er träumte nicht! Das Lachen schmerzte, seine Lungen protestierten, doch er wollte nicht aufhören, Glückseligkeit durchfuhr ihn und hauchte ihm neuen Lebensmut ein. »Liebste Prinzessin!«, rief er aus und schlang ganz und gar nicht würdevoll die Arme um Vallusa. Sie erstarrte für einen Moment, doch dann drückte sie ihn ebenfalls kurz an sich. Er hatte sich noch nie besser gefühlt als in diesem Augenblick. Dennoch trat er hastig wieder zurück. »Ich muss Euch um Verzeihung bitten, Eure Kaiserliche Hoheit, ich bin wirklich nicht angemessen gekleidet.« Er deutete auf die schmutzigen Lumpen, die er trug, und verneigte sich entschuldigend.

Die Prinzessin starrte ihn ungläubig an, dann lachte sie kurz und hell auf. Baduar schien ebenso wenig fassen zu können, wer dort vor ihm stand.

»Wir sollten uns besser beeilen«, erklärte Vallusa rasch. »Wir haben nicht viel Zeit, früher oder später wird uns jemand vermissen.«

Baduar rappelte sich auf und machte sich daran, den reglosen Wärter in die Zelle zu ziehen.

Raul konnte sich immer noch nicht sattsehen. Die Prinzessin trug ein rotes Wams, darunter eine weiße Tunika mit langen Ärmeln und eine ebenfalls weiße Hose, dazu Reitstiefel und einen weiten Umhang aus feiner roter Wolle mit goldbesticktem Saum, unter dessen Kapuze blondes Haar zu sehen war.

»Sagt«, begann sie vorsichtig, »Ihr habt doch nichts Unrechtes getan? Da man Euch eingesperrt hat, meine ich?«

»Nein«, bekräftigte Raul rasch. »Wir sind gekommen, um Euch zu erretten, wir haben nichts verbrochen.«

Ein flüchtiges Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht der Prinzessin. »Das hatte ich gehofft. Ich habe vor etwa einer Woche von Eurer Gefangennahme erfahren, leider hat es einige Tage gedauert, bis ich wagen konnte, Euch zu befreien.« Sie steckte ihr reich verziertes Schwert fort, schob die Ärmel an ihren Handgelenken zurück und nahm zwei gravierte silberne Armreife ab. Raul nahm sie entgegen und drehte sie zwischen den Händen. Das Gesicht, das ihm aus dem glänzend polierten Metall entgegensah, war das eines Fremden: ein wild wuchernder Bart, eingefallene Wangen, eine schmale, blutige Wunde, die sich über seine linke Gesichtshälfte zog, gefährlich nahe an seinem Auge.

»Erinnert Ihr Euch noch an den Tag, an dem Ihr mir einen dieser Reife zum Geschenk gemacht habt?«, erkundigte sich Vallusa leise.

»Natürlich.« Die Nacht, als sie beide auf das Dach der Feste von Gareth geklettert waren, schien nicht erst wenige Monde, sondern bereits viele Jahre zurückzuliegen.

»Ihr habt mir damals ein Angebot gemacht, Raul al‘Ahjan«, fuhr Vallusa fort, »und ich würde gerne wissen, ob dieses Angebot noch immer Gültigkeit hat – auch nach all dem, was Euch hier widerfahren ist.« Als er nicht sofort antwortete, ergänzte sie noch rasch: »Und wenn nicht, dann bitte ich Euch zumindest, mich auf der Flucht mit Euch zu nehmen. Nur bis wir Bosparan hinter uns gelassen haben.«

Raul strahlte über das ganze Gesicht. Er verneigte sich leicht. »Liebste Prinzessin, es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr mein Angebot annehmen würdet.«

Vallusa senkte lächelnd den Blick.

»Ich will Euch ja nicht stören, aber wir haben es wirklich eilig.« Baduar hatte bereits den Wärter gefesselt, geknebelt und ihm Schlüsselbund und Keule abgenommen.

Vallusa nickte: »Die Kerkerwärter sollten inzwischen kein Problem mehr darstellen, es gibt aber immer noch die Wachen, die oben die Stellung halten. Der diensthabende Centurio glaubt, dass die Prinzessin sich lediglich ein Abenteuer erlaubt und Gefangene aus der Nähe sehen möchte, doch auf dem Rückweg müssen wir anders verfahren.« Sie zog ihr Schwert und stieg über den gefesselten Wärter hinweg. »Folgt mir und bleibt dicht hinter mir.« Sie trat hinaus auf den Gang.

»So hast du dir das doch ganz sicher nicht vorgestellt, oder?«, erkundigte sich Baduar leise und brachte sogar ein schiefes Grinsen zustande. »Dass die liebliche Prinzessin den garstigen Drachen bezwingt«, er stieß den Wärter mit dem Fuß an, »und den unerschrockenen Helden erretten kommt?«

Raul verzog das Gesicht, war insgeheim aber froh, dass Baduar wieder Mut gefasst hatte. Sie folgten Vallusa hinaus auf den Gang.

»Wartet! Wartet!«, ertönte da eine Stimme. »Nehmt mich mit! Majestät, bitte!«

»Ruhe!«, zischte Baduar.

»Bitte, Effendi!«, krähte Paki erneut. »Bittebittebitte!«

Raul sah zu der Prinzessin, die am Fuß der Treppe auf sie wartete, dann zu der Nachbarzelle. Paki einfach hier zurückzulassen und der Willkür der Wärter und Folterknechte auszuliefern war undenkbar. Er bedeutete Baduar, die Zelle zu öffnen.

Dieser schüttelte den Kopf: »Er wird uns verraten, er kann nicht den Mund halten!«

»Er wird uns erst recht verraten, wenn wir ihn hier lassen, Habibi«, erwiderte Raul bestimmt. »Uns – und die Prinzessin.«

»Was ist mit Euch?«, rief Vallusa gedämpft von der Treppe her. »Wir müssen weiter!«

Baduar zögerte. Dann seufzte er und schloss die Tür der Nachbarzelle auf.

»Shokran! Seid bedankt, seid vielmals bedankt!«

Raul zuckte zusammen, als die schmächtige, abgemagerte Gestalt aus der Zelle gestolpert kam. Paki konnte sich zumindest auf den Beinen halten, wenn er also wirklich schon so lange hier unten war, wie er behauptete, dann hatte man ihn doch bei einigermaßen guter Gesundheit gehalten. Er trug auch nur noch Lumpen am Leib, seine Haut war blass und hatte schon lange kein Sonnenlicht mehr gesehen. Seine dunklen Haare und ein krauser Vollbart standen ihm verfilzt vom Kopf ab. Doch die zahlreichen, schlecht verheilten Narben in seinem Gesicht und an seinen Armen und der fiebrige Glanz in den dunklen Augen erzählten eine Geschichte, die er lieber nicht hören wollte.

Pakis Augen weiteten sich. Er machte einige behutsame Schritte und hob die zitternden Hände. »Majestät«, krächzte er, Tränen rannen über seine Wange.

Vallusa wich einen Schritt zurück und packte ihr Schwert fester. Langsam sank Paki vor ihr auf die Knie, griff nach einem Zipfel ihres Umhangs und küsste ihn mit rissigen Lippen. »Eure Majestät«, murmelte er dabei immer wieder, »Eure Majestät …«

Raul half dem Tulamiden auf die Füße. »Dies ist nicht die Schöne Kaiserin, Paki, beruhige dich.«

»Nicht die Schöne Kaiserin?« Er starrte Raul aus tränenfeuchten Augen an und schaute dann wieder zu Vallusa, die das Gesicht verzogen hatte und ihre Abneigung kaum verbergen konnte.

»Nein.«

»Schluss damit«, unterbrach die Prinzessin sie harsch. »Folgt mir, aber gebt keinen Laut von Euch!« Dabei blickte sie Paki besonders nachdrücklich an.

Vallusa ging voran. Am oberen Ende der schmalen Treppe schaute sie sich zunächst einmal um, dann gab sie den Männern lächelnd einen Wink. Sie traten in einen niedrigen, von Fackeln erleuchteten Raum, in dem an einem langen Holztisch vier Wärter saßen oder lagen. Doch die Männer und Frauen schliefen allesamt, einige schnarchten sogar laut. Offenbar waren sie alle an Ort und Stelle eingenickt, einer hielt noch immer einen Becher in der Hand, eine Frau war von ihrem Hocker gerutscht und lag in einer Pfütze. Auf dem Tisch stand ein kleines Weinfässchen. An einer Wand hingen Fesseln und Ketten, auf einem Tisch daneben brannte eine einzelne Kerze vor einer Büste der Kaiserin.

Vallusa deutete auf das Fässchen: »›Traue den Tulamiden nicht, selbst wenn sie Geschenke bringen‹, wie man in Bosparan sagt.« Sie stutzte, ihr Lächeln schwand. »Verzeiht mir bitte«, ergänzte sie sofort in Rauls Richtung.

Er winkte ab, während Paki leise kichernd einen der Wärter mit dem Finger anstieß. »Schon gut. Wie geht es weiter?«

Die Prinzessin deutete zu einer nahen Holztür: »Ich glaube, dort werden die Ausrüstung der Wärter und beschlagnahmte Habseligkeiten der Gefangenen aufbewahrt. Kleidet Euch in bosparanische Uniformen, aber beeilt Euch. Ich halte solange Wache. «

Baduar öffnete die Kammer und begann nach Kleidung und Waffen für die drei Männer zu suchen. Er händigte Raul und Paki Wappenröcke in den kaiserlichen Farben sowie Kurzschwerter aus. Raul hatte alle Mühe, Paki dazu zu überreden, seine Uniform auch anzuziehen.

Raul streifte seinen Wappenrock über und vernahm dann einen überraschten Ausruf, sofort griff er nach seinem Schwert. Baduar hatte ihre Habseligkeiten gefunden, er hielt zwei Waffen in den Händen. Die eine war ein Langschwert, Hagrondriar, das Schwert, das seine Mutter ihm hinterlassen hatte. In der anderen Hand hielt er einen schmalen Dolch mit silbernem Griff. Baduar wandte sich an Vallusa: »Die Frau, die mit uns kam … Ist sie …?«

Die Prinzessin zögerte. »Ich weiß nichts von einer weiteren Gefangenen.« Baduar nickte langsam und steckte den Dolch in seinen Gürtel. »Und mein Szimitar?«, erkundigte sich Raul hoffnungsvoll.

Baduar schaute sich noch einmal in der Kammer um. »Tut mir leid, keine tulamidischen Säbel.«

Dies hatte Raul befürchtet, er hatte seinen Szimitar auch nicht bei sich getragen, als die Prätorianer sie gefangen genommen hatten, die Waffe war ihm schon kurz nach Betreten der Zitadelle abhanden gekommen. Er nahm einen Helm entgegen und setzte ihn auf – der Wangenschutz schränkte seine Sicht stark ein, verbarg aber auch einen Großteil seines Gesichts. Zumindest auf den ersten Blick sollte sie so aber niemand von gewöhnlichen Legionären unterscheiden können.

Vallusa ging den Männern voran und folgte einem Gang bis zu einer schweren, doppelflügeligen Tür, in die in Augenhöhe eine Klappe eingelassen war. Auf dieser Seite waren kein Schloss und kein Türgriff zu sehen. Die Prinzessin bedeutete ihren Begleitern, sich zu ducken, und klopfte. Die Klappe wurde aufgeschoben.

»Eure Kaiserliche Hoheit … Wo ist der Wärter?«

Vallusa winkte ab. »Bei seinen Kameraden, Centurio. Öffnet.« Ihre Stimme klang fest und befehlsgewohnt.

Raul richtete sich wieder auf, als die Klappe zugeschoben wurde, und Baduar tat es ihm nach, auch Vallusa hob ihr Schwert. Ein schwerer Riegel wurde zurückgezogen, dann schwang die Tür auf. Baduar warf sich sofort nach vorne und stieß die Wache zu Boden, Vallusa schlüpfte, ohne auch nur einen Moment zu zögern, an ihm vorbei. Raul, von plötzlicher Sorge gepackt, folgte ihnen rasch. Vallusa drang auf einen zweiten Mann ein, der es geschafft hatte, seine Waffe zu ziehen, obwohl die Verblüffung in seinen Augen nicht zu übersehen war. Der Wachmann parierte mühsam den ersten Angriff der Prinzessin, dann war Raul heran und schlug nach seinem Waffenarm. Der Mann verlor sein Schwert, Raul verpasste ihm einen zweiten Streich, der ihn zu Boden gehen ließ, dann schlug Vallusa ihn von hinten nieder. Baduar hatte den Centurio ebenfalls in Borons Reich der Träume geschickt.

Die drei zuckten zusammen, als lauter Jubel durch den dunklen Gang hallte. Raul presste Paki die Hand auf den Mund. »Still!«, befahl er. Der junge Tulamide verstummte tatsächlich und nickte langsam. Vorsichtig nahm Raul die Hand wieder herunter. Paki schwieg, er legte nun sogar seine eigene Hand auf den Mund.

»Hab ich es nicht gesagt?«, raunte Baduar. »Er wird uns verraten!«

»Das wird er n…«, begann Raul, Vallusas erschrockener Aufschrei unterbrach ihn. Raul und Baduar wirbelten herum, die Waffen abwehrbereit erhoben. Rauls Herz setzte einen Augenblick lang aus. Wenige Schritte entfernt schälte sich eine hoch aufragende, breitschultrige Gestalt aus den Schatten, ein wuchtiges Zweihandschwert angriffsbereit erhoben. Der Mann trug eine schwarze Rüstung, auf der reich verzierten Brustplatte war ein blutroter Mantikor abgebildet – das Wappentier Kors mit dem Leib eines Löwen, Menschenkopf und Skorpionschwanz. Einen Helm trug er nicht, und so war die von Brandnarben entstellte Gesichtshälfte des Mannes gut zu erkennen. Dies war Salim al’Thona, der gefürchtete Anführer der kaiserlichen Leibgarde, dessen ehrfurchtgebietender Beiname im ganzen Bosparanischen Reich bekannt war.

 

 

Der Stier vom Szinto

Salim zog Ingrasîl und beschleunigte seine Schritte. Vier Inhaftierte konnte er leicht alleine überwältigen, dennoch war es vielleicht klüger, kein Risiko einzugehen – draußen auf dem Hof waren Wachen unterwegs, einen Alarmruf würden sie sicher hören. In diesem Moment bemerkten ihn die Ausbrecher. Eine der Personen, eine schlanke Gestalt in Weiß mit einem roten Umhang, wandte sich zu ihm um und gab einen erschrockenen Laut von sich – Salim verharrte. Vallusa – die kleine Prinzessin Vallusa?

Die Männer in ihrer Begleitung trugen zwar Wappenröcke in den kaiserlichen Farben, ihre Haare unter den Helmen waren jedoch lang und verfilzt, ihre Haut schmutzig und blass. Hatten die drei es geschafft, die Prinzessin zu überrumpeln? Wurde sie etwa gezwungen, ihnen bei der Flucht zu helfen? Doch wie hatte es überhaupt so weit kommen können? Sie alle, selbst Vallusa, starrten ihn nun mit großen Augen an.

Salims Blick fiel auf einen stämmigen Mann mit dunklem Bart: War dies nicht Raul al‘Ahjan, der Tulamide, der die Garether in der Schlacht gegen die Orks angeführt hatte? Eben jener Raul, der auf dem Empfang für die Prinzessin so überaus forsch aufgetreten war? Doch wie kam er hierher, nach Bosparan, und in den Kerker der Horaszitadelle? Und vor allem: Wieso wusste er nichts davon – er, der Tribun der kaiserlichen Leibgarde?

Seine Überraschung wuchs weiter, als Raul vortrat und sich schützend vor die Prinzessin stellte. »Ich kann Euch nicht gestatten, uns aufzuhalten, Sahib«, erklärte er ruhig und hob sein Schwert.

Raul hatte keinerlei Aussicht darauf, gegen ihn zu bestehen, selbst wenn seine Kameraden ihm zur Hilfe kamen. Salims Blick wanderte von Rauls entschlossener Miene zu Vallusa, die immer noch keine Anstalten machte, den Männern zu entkommen. »Lasst die Prinzessin gehen«, befahl er mit fester Stimme und zielte mit der Spitze Ingrasîls auf Rauls Brust. Die drei Männer standen viel zu nah bei der Prinzessin. Er war schnell, aber womöglich nicht schnell genug. Rauls Augen huschten kurz zu Vallusa, die seinen Blick erwiderte. Salim runzelte die Stirn. Was ging hier nur vor?

»Tribun«, begann Vallusa nun mit leiser Stimme. »Euer Pflichtgefühl ehrt Euch, und ich weiß, dass Ihr der Horas treu ergeben seid. Doch diese Männer hier haben nichts verbrochen, oder zumindest nichts, was ihr derzeitiges Schicksal rechtfertigen würde. Ich allein bin für ihre Flucht verantwortlich. Deshalb bitte ich Euch: Lasst sie ziehen. Danach werde ich mich vor der Kaiserin verantworten.«

»Er wird uns nicht gehen lassen, Prinzessin«, warf Raul sofort ein. Er schien wild entschlossen zu sein, es mit ihm aufzunehmen, hinter ihm hob sein hünenhafter Kamerad das Schwert.

Vallusa schaute ihn immer noch mit ihren großen, braunen Augen an. Er hatte an jenem Tag zum ersten Mal in diese Augen geblickt, als er auch erstmals der Schönen Kaiserin begegnet war. Er zögerte, dann senkte er das Schwert. »Vielleicht ist es nicht nötig, sofort Alarm zu schlagen«, begann er behutsam und achtete dabei genau auf Rauls und Vallusas Reaktion. »Vielleicht bin ich ja zu spät hier gewesen, um Zeuge dessen zu werden, was vorgefallen ist.«

Raul und die Prinzessin wechselten einen Blick miteinander. »Warum?«, erkundigte Vallusa sich dann behutsam. »Warum würdet Ihr das für uns tun, Tribun?«

»Glaubt Ihr denn wirklich, ich könnte irgendetwas tun, das Euch ein Leid zufügt, Eure Kaiserliche Hoheit? Ich habe Euch aus den Armen Eurer Mutter gezogen, an dem Tag, als Eure Eltern starben. Wie könnte ich dann heute etwas tun, das Euch schaden würde?«

Die Prinzessin starrte ihn immer noch stumm an, doch ihr Blick ging in weite Ferne.

»Ich traue ihm nicht«, regte sich da erstmals der hünenhafte Krieger mit dem zerzausten Vollbart. Salim hatte auch diesen Mann schon einmal gesehen, ebenfalls in Gareth. Wie lautete noch sein Name? »Er ist ein Prätorianer, ihr Tribun, die rechte Hand der Kaiserin. Ihr wisst genau, was der Stier vom Szinto im Namen der Horas getan hat. Wir können ihm nicht trauen.«

Der Vierte im Bunde, ein schmächtiger Häftling mit verfilztem Haar, hatte noch kein Wort von sich gegeben, er presste stattdessen immerzu eine Hand auf den Mund.

Raul zögerte, er schaute wieder zu der Prinzessin an seiner Seite. Raul war der Wortführer, sein Kamerad würde auf ihn hören. Raul jedoch würde auf Vallusa hören. Als Salim einen halben Schritt aus den Schatten heraus machte, hoben Raul und der hünenhafter Krieger ihre Schwerter. Vallusa starrte ihn an, ihr Mund öffnete sich, es kam aber kein Laut über ihre Lippen. Unwillkürlich zuckte ihre Hand zu ihrer linken Wange empor, zu jener Gesichtshälfte, die bei Salim von Brandnarben entstellt war. Auch diese Narben trug er seit dem Tag, an dem er nach Bosparan gekommen war. Schließlich nickte sie langsam. »Ich glaube ihm, er wird uns nicht verraten.« Sie tastete nach Rauls Hand und ergriff diese.

Salim senkte den Blick. »Wie Dalchim und Djadulea …«

»Was?«

Offenbar hatte er seine letzten Worte laut ausgesprochen. Raul schaute ihn stirnrunzelnd an. Salim winkte ab: »Ein Märchen, das mir mein Vater als Kind bisweilen erzählte: Dalchim al’Fessir und Prinzessin Djadulea. Seltsam, dass es mir nach so langer Zeit wieder in den Sinn kommt.«

Raul musterte Salim lange. Dann nickte er seinen Kameraden zu: »Gehen wir.«

Der Hüne mochte diese Antwort offenbar nicht, gab aber keine Widerworte. Er zögerte, dann wandte er sich noch einmal an Salim: »Die Centuria, die uns festgesetzt hat, wie lautet ihr Name?«

Salim runzelte die Stirn: »Wen meint Ihr?«

»Ich kenne ihren Namen nicht«, fuhr der Krieger fort. »Aber sie hatte sehr kurze, schwarze Haare, eine gebogene Nase, dunklere Haut …«

»Wartet – Peri? Ihr sprecht von Perinope von Caletta? Sie hat Euch verhaftet?« Wie konnte das sein? Wieso hatte Peri es nicht für nötig gehalten, ihm darüber Bericht zu erstatten, dass sie Eindringlinge in den Palast – diese Eindringlinge – gestellt hatte?

»Perinope von Caletta ...«, wiederholte der Krieger leise und so langsam, als wolle er sich den Namen genau einprägen.

Vallusa nickte ihren Begleitern zu. »Ich kann uns aus der Zitadelle herausbringen. Aber wir müssen uns beeilen.« Sie wandte sich noch einmal an Salim: »Ich danke Euch, Tribun.«

Raul nickte ihm zu: »Shokran, Sahib.«

Salim neigte ebenfalls den Kopf. »Ich kann Euch allerdings nicht versprechen, dass unsere nächste Begegnung ebenso enden wird – sollten unsere Wege sich noch einmal kreuzen.«

Raul deutete eine vorsichtige Verbeugung an: »Das ist mir sehr wohl bewusst.« Er wandte sich ab und folgte Vallusa. Sein hünenhafter Begleiter musterte Salim noch einmal, dann schloss er sich Raul an. Salims Blick fiel auf den dritten Mann, der ihn immer noch unbewegt ansah. Seine Augen kamen ihm bekannt vor, irgendwie … Er zuckte erschrocken zusammen. Unmöglich! Der Tulamide wandte sich nun ebenfalls zum Gehen. »Hureyah«, murmelte Salim leise.

Der Mann drehte sich noch einmal um. »Hureyah!«, rief er laut aus und hob die geballte Faust empor. Dann presste er aber sofort wieder die Hand auf den Mund. Rasch wandte er sich wieder ab und verschwand in den Schatten.

Salim war wie vom Donner gerührt. Dies war der Attentäter gewesen, der vor Jahren versucht hatte, die Kaiserin zu morden, an dem Tag, an dem er von der Horas zum Tribun ihrer Leibgarde ernannt worden war. Der junge Tulamide hatte damals Freiheit für sein Volk verlangt – für das Volk, dem auch er angehörte.

Er starrte weiter in die Schatten, in denen Raul und Vallusa verschwunden waren.