LYNSAY SANDS
VAMPIR ZU VERSCHENKEN
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Ralph Sander
Titel
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Epilog
Impressum
LYNSAY SANDS
VAMPIR ZU VERSCHENKEN
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Ralph Sander
1
»Du bist spät dran«, knurrte Lucian zur Begrüßung.
Armand Argeneau verzog das Gesicht, als er ihm gegenüber am einzigen besetzten Tisch im ganzen Diner Platz nahm. Ein »Hallo, wie geht’s denn so?« wäre ganz nett gewesen, aber das hätte Armand niemals von seinem älteren Bruder erwartet. Lucian war nun mal nicht der warmherzige, verbindliche Typ.
»Ich konnte nicht eher weg. Auf der Farm gab es noch einiges zu erledigen«, antwortete Armand gelassen. Mit einem kurzen, desinteressierten Blick nahm er das Gericht zur Kenntnis, das auf dem Teller seines Gegenübers lag, bevor er sich im Lokal umsah. Es war bereits nach neun, und das Diner würde bald schließen. Sie beide waren die einzigen Gäste. Nicht einmal die Bedienung war zu sehen, aber vermutlich half sie hinten in der Küche beim Zusammenräumen und Putzen.
»Was auch sonst?«, murmelte Lucian, legte die Gabel zur Seite und griff nach dem knusprigen Brötchen, das noch warm sein musste, da der großzügige Belag darauf teilweise geschmolzen war. »Man kann schließlich nicht erwarten, dass dein Weizen von allein wächst, nicht wahr?«
Mit einem gereizten Gesichtsausdruck sah Armand zu, wie Lucian genussvoll von dem Brötchen abbiss und darauf herumkaute. »Ein wenig Respekt vor einem Farmer, der das Getreide anbaut, das du gerade isst, wäre vielleicht nicht verkehrt. Erst recht nicht, wenn es dir tatsächlich so gut schmeckt, wie es den Anschein hat.«
»Es schmeckt mir tatsächlich«, meinte Lucian mit einem Grinsen und zog dann fragend eine Braue in die Höhe. »Bist du etwa neidisch?«
Armand schüttelte den Kopf und sah nach draußen, doch in Wahrheit empfand er tatsächlich so etwas wie Neid. Dass Lucians Appetit zurückgekehrt war, lag einzig und allein an der Tatsache, dass er seine Lebensgefährtin gefunden hatte. Dadurch waren alte Gelüste wiedererwacht, an denen sie beide schon vor langer Zeit jegliches Interesse verloren hatten. Es gab keinen alleinlebenden Unsterblichen, der Lucian nicht darum beneidet hätte.
»Und?« Er richtete seinen Blick wieder auf Lucian, der das Brötchen beiseitegelegt hatte und stattdessen versuchte, die Erbsen auf seinem Teller auf die Gabel zu spießen. »Was gibt es so Wichtiges, dass du extra hergekommen bist, um dich mit mir zu treffen? Und warum wolltest du unbedingt, dass ich zu diesem Lokal komme? Die fünf Minuten bis zur Farm hättest du auch noch fahren können.«
Lucian gab es auf, den Erbsen noch weiter hinterherzujagen, stattdessen schob er sie ins Kartoffelpüree und bugsierte sie in dieser Kombination auf die Gabel. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, aber ich will nicht, dass jemand bei dir zu Hause etwas davon mitbekommt.«
»Bei mir zu Hause ist niemand«, entgegnete Armand mit tonloser Stimme und sah fasziniert dabei zu, wie Lucian die Gabel in den Mund schob und zu kauen begann. Seinem Mienenspiel und den lustvollen Lauten nach zu urteilen musste ihm das Essen ausgezeichnet schmecken, was auf Armand einigermaßen deprimierend wirkte, weil ihm nicht einmal der Geruch verlockend erschien – ganz zu schweigen davon, wie das Ganze aussah: braunes Fleisch, blasses Püree mit brauner Soße, dazu eklig grüne Erbsen. Appetitlich wirkte das keineswegs. Unwillkürlich verzog er das Gesicht, als Lucian schluckte. »Und um was für einen Gefallen geht es?«, wollte er wissen.
Lucian stutzte und zog die Augenbrauen hoch. »Willst du mich gar nicht fragen, wie es Thomas und seiner neuen Lebensgefährtin geht?«
Armand kniff unwillkürlich die Lippen zusammen, als die Rede auf seinen Sohn und dessen Frau kam, dennoch konnte er sich die Frage nicht verkneifen: »Wie geht es ihnen?«
»Bestens. Momentan sind sie in Kanada zu Besuch.« Lucian widmete sich wieder seinem Teller, während er beiläufig fragte: »Du hast sie noch nicht kennengelernt, oder?«
»Nein«, antwortete Armand und sah zu, wie sein Gegenüber ein Salatblatt auf die Gabel hievte und verspeiste.
Nachdem er den Bissen hinuntergeschluckt hatte, fragte Lucian mit einem Anflug von Neugier: »Bist du schon mal Annie begegnet, der Lebensgefährtin von Nicholas?«
Jetzt war es Armand, der stutzte. »Nein«, antwortete er kurz angebunden. »Um was für einen Gefallen geht es denn nun?«
Lucian sah ihn einen Moment lang an, schnitt dann ein Stück Fleisch ab und erklärte: »Ich benötige für ein paar Wochen eine sichere Unterkunft für einen meiner Vollstrecker.«
»Und dabei hast du an mich gedacht?«, erwiderte Armand erstaunt.
»Überrascht dich das?«, fragte Lucian leicht verwundert. »Das sollte es eigentlich nicht. Du lebst doch hier draußen am Ende der Welt. Außer mir und Thomas weiß niemand, wo sich deine Farm befindet, und außerdem läuft sie in diesem Kuhkaff keinerlei Gefahr, jemandem aufzufallen.«
»Sie?«, hakte Armand nach.
»Eshe d’Aureus«, klärte Lucian ihn auf und schnitt das nächste Stück Fleisch ab. »Castors Tochter.«
»Castor d’Aureus«, murmelte Armand ehrfürchtig. Es hatte sich zwar nie eine Gelegenheit ergeben, den Mann persönlich kennenzulernen, aber der Name war ihm ein Begriff. Castor wurde von seinesgleichen wie ein Held angesehen. Damals, als die Unsterblichen zu einem Teil der restlichen Welt geworden waren, hatte einer von ihnen – ein Schlitzer namens Leonius Livius – bei Sterblichen und Unsterblichen gleichermaßen für Ärger gesorgt. Die durch ihn verursachten Probleme waren jedenfalls so gravierend gewesen, dass die Unsterblichen sich gezwungen sahen, einen Rat zu bilden und ihn mitsamt seiner Nachkommenschaft zur Strecke zu bringen. Lucian und Castor waren diejenigen gewesen, die das Monster besiegt hatten, das aus Leonius Livius geworden war. Inmitten der wütenden Gefechte zwischen skrupellosen Schlitzern und der Unsterblichenarmee des Rates hatte Lucian den Mann mit einem Speer am Boden festgehalten, und Castor hatte ihn schließlich mit seinem Schwert enthauptet. Seitdem wurden beide als Helden verehrt, nur dass Lucian sein Bruder war, mit dem er täglich in Kontakt treten konnte, wohingegen Castor ein Fremder und somit eher zu einem Mythos für ihn geworden war.
»Er war kein Held«, sagte Lucian mit nachdenklicher Stimme. »Er war lediglich ein anständiger Mann und ein guter Soldat. Und er war mein Freund. Vor seinem Tod hat er mich einmal darum gebeten, auf Eshe und den Rest seiner Familie aufzupassen, sollte ihm irgendwann einmal etwas zustoßen. Nun, wie du weißt, ist er gestorben, und seitdem bemühe ich mich, auf Eshe aufzupassen. Und genau das tue ich auch jetzt, indem ich versuche, sie aus der Schusslinie zu halten, bis wir diese Sache hier erledigt haben. Vermutlich wird das so um die zwei Wochen in Anspruch nehmen.«
»Und was für eine Sache ist das, die ihr erledigen müsst?«, hakte Armand nach.
Seufzend legte Lucian das Besteck beiseite, da ihm die Angelegenheit anscheinend den Appetit verdorben hatte. Mit düsterer Stimme erklärte er: »Wie es aussieht, haben wir nicht alle seine Söhne erwischt, als wir Leonius töteten. Mindestens einer hat überlebt und nennt sich jetzt Leonius Livius der Zweite.«
»Soll das heißen, dass einer von seinen Nachkommen seit Jahrhunderten da draußen sein Unwesen treibt?«, fragte Armand verblüfft. Man konnte sich kaum vorstellen, dass so etwas unbemerkt vonstattengegangen sein sollte. Wenn er auch nur halb so schlimm war wie sein Vater, hätte irgendjemand auf seine Gräueltaten aufmerksam werden müssen.
»Er lebt und gedeiht«, versicherte Lucian ihm mit einem zynischen Unterton. »Der Mann hat mindestens zwanzig Söhne, oder besser gesagt: hatte«, fügte er zufrieden hinzu. »Wir konnten ein paar von ihnen erledigen. Aber offenbar ist er klüger als sein Vater, oder es gibt jemanden, der ihn an der kurzen Leine hält. Jedenfalls veranstaltet er nicht diese Gemetzel, für die sein Vater so berüchtigt war. Und er hat auch keine Brutstätten gegründet. Stattdessen beschränkt er sich darauf, hier und da mal eine Frau aufzugreifen oder sich über eine glücklose Familie herzumachen. Aufgefallen ist uns das erst im letzten Sommer, als er oben im Norden zwei Frauen auf einem Supermarktparkplatz entführte. Meine Männer konnten eine der beiden Frauen befreien und dabei drei oder vier von seinen Söhnen töten, aber dann mussten sie die zweite Frau weiter verfolgen, weil einer der Männer mit ihr hatte entkommen können. Eshe gehörte zum Suchteam, und offenbar wurde sie dabei von ihm gesehen und erkannt. Und nun habe ich aus vertraulicher Quelle erfahren, dass er sie zur Zielscheibe auserkoren hat, um den Tod seines Vaters zu rächen.«
Armand nickte betroffen. »Hat er deine Leigh oder sonst jemanden aus deiner Familie ebenfalls im Visier, um dich für deine Mitschuld am Tod seines Vaters zu bestrafen?«
»Ich glaube, er weiß nichts von Leigh. Aber das ist auch nicht so wichtig, weil ich auf sie aufpassen kann. Eshe ist dagegen ein anderes Thema. Sie ist eine meiner Vollstreckerinnen, und sie ist genauso stur und stolz wie ihr Vater. Als sie hörte, dass Leonius auf der Suche nach ihr ist, wollte sie nackt über die Main Street in Toronto spazieren, nur damit er auf sie aufmerksam wird und sie die Chance bekommt, ihn zu erledigen.«
»Also eine weibliche Ausgabe von dir, wie?«, meinte Armand amüsiert.
»Umwerfend komisch«, gab Lucian mürrisch zurück.
Dieser verstimmte Gesichtsausdruck brachte Armand unwillkürlich zum Lachen. »Wenn sie so knallhart ist, wie du sagst, wie willst du sie davon überzeugen, dass sie sich auf meiner Farm verstecken soll, bis ihr den Kerl geschnappt habt?«
»Tja, das … war tatsächlich ein Problem.« Lucian griff wieder nach dem Besteck und räumte missmutig ein: »Sie macht sich einen Spaß daraus, sich über meine Befehle hinwegzusetzen. Um sie dahin zu bringen, das zu tun, was ich eigentlich von ihr will, muss ich ihr mehr oder weniger das Gegenteil befehlen. Wäre sie nicht Castors Tochter …« Lucian starrte finster vor sich hin, schließlich schüttelte er den Kopf und seufzte. »Zum Glück wagt sie es wenigstens nicht, Anweisungen zu ignorieren, die vom Rat direkt kommen.«
»Ah, verstehe«, gab Armand gedehnt zurück und musterte seinen Bruder mit zusammengekniffenen Augen. »Und sie war damit einverstanden, sich für ein paar Wochen auf meiner Farm einzuquartieren und die ganze Zeit über Däumchen zu drehen?«
»Ich sprach von zwei Wochen«, stellte sein Gegenüber klar, ohne ihn anzusehen. »Und wie ich bereits sagte, würde selbst sie sich nicht über einen vom Rat kommenden Befehl hinwegsetzen.«
»Jedenfalls wird sie nicht allzu erfreut darüber sein«, stellte Armand fest.
Lucian zuckte mit den Schultern. »Sie ist zu höflich, als dass sie das an dir auslassen würde … denke ich mal«, ergänzte er grinsend und schlug dann vor: »Sorg einfach dafür, dass sie beschäftigt ist. Mach Picknicks mit ihr, geh mit ihr spazieren oder was ihr Hinterwäldler sonst so tut, um die Zeit totzuschlagen.«
»Hinterwäldler?«, hakte Armand verärgert nach.
Lucian verdrehte die Augen. »Lenk sie einfach ab«, überging er die Reaktion seines Bruders. »Sobald sie nach Toronto zurückkehren und wieder ihrer Arbeit nachgehen kann, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen, melde ich mich bei dir.« Er spießte ein Stück Fleisch auf und führte die Gabel zum Mund, als er mitten in der Bewegung innehielt. Mit weit aufgerissenen Augen schaute er an Armand vorbei, fluchte leise und fügte dann im Flüsterton hinzu: »Ich bringe sie um.«
»Wen?«, fragte Armand verwirrt und folgte Lucians Blick. Er sah hinaus auf den dunklen Highway und brauchte eine Weile, bis er erkannte, was das lodernde Etwas war, das sich da dem Lokal näherte. Es war ein Motorrad, übersät mit LED-Lämpchen in den Farben Rot, Gelb und Orange, die den Eindruck erweckten, als sei das Gefährt in Flammen getaucht. Der Anblick war ohne jeden Zweifel spektakulär.
»Eshe«, zischte Lucian und lieferte endlich die noch ausstehende Antwort auf seine Frage. »Das ist sie.«
Das Motorrad fuhr mit knatterndem Auspuff auf den Parkplatz vor dem Lokal und wirbelte kleine Kieselsteine hoch, ehe es neben Armands Pick-up zum Stehen kam. Armand bekam Gelegenheit, sich das Farbenspiel aus der Nähe anzusehen, ehe der Motor abgestellt wurde und die Lämpchen erloschen. Eine Frau stieg von der Maschine ab, eine Frau, die mindestens eins achtzig groß sein musste. Ihr schlanker, scheinbar nur aus Muskeln bestehender Körper war in schwarzes Leder gehüllt, und sie bewegte sich mit der Eleganz eines Panthers.
»Sieht so aus, als sei sie zum Motorradfahren geboren«, bemerkte Armand, der die Frau mit seinen Blicken förmlich verschlang.
»Sie ist wohl eher zum Beißen geboren«, gab Lucian zurück.
Armand warf seinem Bruder einen neugierigen Blick zu. »Warum bist du so verärgert?«
Lucians Mundwinkel zuckten gereizt, bevor er missmutig erklärte: »Ich habe sie gebeten, darauf zu achten, dass nicht jeder gleich auf sie aufmerksam wird.«
»Aha«, murmelte Armand und biss sich auf die Lippe, um sich ein Grinsen zu verkneifen. Es gab nur wenige Unsterbliche oder Sterbliche, die sich über Lucians Anordnungen hinwegsetzten, und es amüsierte ihn, dass Eshe d’Aureus offenbar zu dieser kleinen Gruppe gehörte. Ihr Auftritt war natürlich alles andere als unauffällig, denn wahrscheinlich waren ihr aus jedem Fenster, an dem sie vorbeigerattert war, Blicke gefolgt, bevor man zum Telefon gegriffen hatte, um jedem zu erzählen, was für ein wahnsinnig cooles Motorrad soeben gesichtet wurde. Allein hier im Lokal würde die Maschine morgen das Tagesgespräch sein, wenn den Leuten, die diesen Anblick verpasst hatten, ausführlich geschildert wurde, was ihnen entgangen war. Schließlich ereignete sich in dieser Gegend normalerweise nicht allzu viel, und das Motorrad war ohne jeden Zweifel ein Ereignis.
»Ich werde ihr den Hintern versohlen«, knurrte Lucian, als die Bikerin an ihrem Fenster vorbei in Richtung Eingang ging.
Als Armands Blick auf besagten Hintern fiel, den sein Bruder versohlen wollte, musste er sich eingestehen, dass er ihm diese Aufgabe gern abgenommen hätte. Es war ein ausgesprochen wohlgeformter Hintern, der so perfekt war wie der ganze Rest. Es würde sicher ein Vergnügen sein, diesen Körper zu berühren. Gründe hierfür konnte er sich jede Menge vorstellen. Das, was Lucian mit ihr vorhatte, gehörte jedoch keinesfalls dazu. Als Eshe an der Tür angekommen war, wurde ihm die Aussicht auf ihren Po genommen. Stattdessen war er gezwungen, sich dem Anblick zu widmen, den sie von vorn bot – obwohl »gezwungen« hier wohl der falsche Begriff war, da sie aus dieser Perspektive ebenfalls hübsch anzusehen war. Zwar trug sie immer noch ihren Helm, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte, aber der Rest fand seine uneingeschränkte Bewunderung. Die schwarze Lederhose umschmeichelte ihre schlanken, langen Beine, ihre ebenfalls schwarze Lederjacke stand offen und gab den Blick frei auf eine Art schwarzes Lederkorsett. Vom Ansatz ihres Busens bis hinauf zum Hals sah man nichts als nackte Haut, deren dunkler Mahagoniton im Schein der Neonröhren schimmerte, als hätte sie einen glänzenden Puder aufgetragen.
»Ich habe dir gesagt, du sollst dich unauffällig anziehen«, fauchte Lucian die Frau an, als sie ihren Tisch entdeckt hatte und zu ihnen gekommen war.
»Du hast gesagt, ich soll mich weniger auffällig anziehen«, korrigierte sie ihn gelassen und nahm den Helm ab. »Und genau das habe ich getan. Siehst du?«
Armand wusste nicht, was Lucian sehen sollte. Er selbst zumindest sah vor sich die schönste Frau, die ihm seit seiner letzten Lebensgefährtin begegnet war. Eshe d’Aureus hatte große, wunderschöne Augen, in deren goldenem Glanz schwarze Sprenkel zu erkennen waren. Ihre Nase hatte etwas Ägyptisches an sich, und so verführerische Lippen wie ihre hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht zu Gesicht bekommen. Er fand, dass er es mit einer atemberaubenden Schönheit zu tun hatte, die alles Mögliche war, aber ganz bestimmt nicht unauffällig.
»Eshe«, knurrte Lucian ungeduldig. »Du kannst dir die Haare färben, so viel du willst, aber das hilft alles nichts, wenn du mit diesem Zirkusmotorrad durch die Gegend fährst.«
Bei diesen Worten wanderte Armands Blick zu ihren Haaren, die sie an den Seiten kurz geschnitten, oben auf dem Kopf jedoch etwas länger trug, und durch die sie gerade mit den Fingern fuhr, da sie vom Helm platt gedrückt waren. Auf ihn wirkte der ins Schwarz changierende Braunton völlig natürlich, wenngleich er hier und da ein paar hellere Stellen entdecken konnte. Ehe er sich bremsen konnte, fragte er: »Wie sehen denn deine Haare normalerweise aus?«
»Normalerweise«, antwortete Lucian an ihrer Stelle, »lässt sie die Spitzen ihrer Deckhaare so rot und blond färben, dass es aussieht, als würde ihr Kopf in Flammen stehen.« Dann wandte er sich wieder an Eshe: »Du hast deine Haare saumäßig schlecht gefärbt. Überall schimmert noch die alte Farbe durch.«
Eshe verdrehte die Augen und setzte sich zu Armand, der ein Stück zur Seite rutschte, um ihr Platz zu machen. »Lieber Himmel, du bist auch nie zufrieden, Lucian. Also wirklich! Ich hatte schließlich keine Zeit, erst noch in Ruhe einen Friseurtermin zu vereinbaren, damit das ordentlich erledigt wird. Ich musste das selbst machen, und ich bin nun mal keine Friseurin! Besser als das ging’s nicht, weil du mir nicht genügend Zeit gelassen hast.« Sie platzierte den Helm vor sich auf den Tisch, legte die Hände darauf und ließ das Kinn auf ihren Fingern ruhen, während sie Lucian angrinste. »Wenn es dir also nicht gefällt, ist das ganz allein deine Schuld.«
»Hättest du nicht wenigstens deinen Wagen nehmen können, anstatt mit dem verfluchten Motorrad herzukommen?«, fragte er gereizt.
»Ja, sicher. Ein roter Ferrari würde hier am Arsch der Welt ja auch überhaupt nicht auffallen«, konterte sie und meinte dann zu Armand gewandt: »Ist nicht persönlich gemeint.«
»Hab ich auch nicht so aufgefasst«, versicherte er ihr, dann räusperte er sich und wandte den Blick ab, da ihm bewusst geworden war, dass er Eshe die ganze Zeit über wie ein Idiot angegrinst hatte.
»Ferrari?«, wiederholte Lucian erstaunt. »Was ist denn mit deinem Cabrio?«
»Hab ich verkauft«, antwortete sie achselzuckend. »Der Ferrari hat mir besser gefallen, und weil zu meinem Apartment nur ein Parkplatz gehört, auf dem ich meinen Wagen und das Motorrad abstellen kann, musste das Cabrio eben verschwinden.«
»Ein Ferrari?« Lucian schüttelte verständnislos den Kopf. »Dein Mustang Cabrio war schon schlimm genug, aber jetzt noch ein Ferrari mit so viel PS? Du bist eine hoffnungslose Raserin, weißt du das? Das wird irgendwann noch dein Tod sein, das sage ich dir. Du solltest dich lieber an die Geschwindigkeitsvorschriften halten.«
Armand sah seinen Bruder verwundert an. Lucian hatte noch nie viele Worte verloren, meistens beschränkte er sich darauf, mürrisch zu knurren und böse Blicke zu verteilen. Doch über Eshe schien er sich so aufzuregen, dass sein Mund fast nicht mehr stillstand. Armand hätte nicht gedacht, dass er den Tag noch erleben würde. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Eshe ironisch zurückgab: »In Ordnung … Daddy.«
Armand kam aus dem Staunen kaum noch heraus, dabei war sie längst nicht fertig mit seinem Bruder. Ihr Lächeln wurde umso breiter, je grimmiger Lucian dreinschaute, und dann legte sie nach: »Ich hoffe, deine Leigh bringt bald einen Haufen Babys zur Welt, Lucian, damit du endlich aufhörst, uns alle zu bevatern.«
»Bevatern?«, wiederholte Armand verwundert. »Gibt es das Wort überhaupt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Bemuttern gibt’s schließlich auch.«
»Ja, stimmt«, musste er ihr beipflichten, allerdings fand er nicht, dass es ein Begriff war, der zu Lucian passte. Lucian drängte andere, das zu tun, was er wollte. Man konnte fast schon von nötigen reden. Aber bevatern?
»Ständig schreibt er einem vor, was man zu tun und zu lassen hat«, redete sie freundlich lächelnd weiter. »Er ist wie ein alter mürrischer Daddy.«
»Dein Vater …«, begann Lucian, aber sie fiel ihm ins Wort.
»Ja, mein Dad hat dich gebeten, auf mich und meine Geschwister aufzupassen, wenn ihm was passieren sollte, und jetzt versuchst du, deinem Versprechen ihm gegenüber gerecht zu werden und so weiter und so fort, bla, bla, bla«, leierte sie gelangweilt herunter, was vermuten ließ, dass sie diese Sprüche schon tausendmal oder öfter zu hören bekommen hatte. »Das war ja okay, solange ich noch ein Kind war, Lucian, aber eintausend Jahre später hat das wirklich keinen Wert mehr. Liebe Güte, du bist gerade mal hundert Jahre älter als ich. Jetzt lass die Kirche mal im Dorf. Mein Vater hatte damit bestimmt nicht gemeint, dass du bis in alle Ewigkeit auf uns aufpassen musst.«
»Du bist nur hundert Jahre jünger als Lucian?«, warf Armand erstaunt ein. »Du kommst mir viel jünger vor.«
»Danke für das Kompliment«, wandte sie sich an ihn und bedachte ihn mit einem Lächeln, das ihm fast einen lauten Seufzer entlockt hätte. Dann hielt sie ihm die Hand hin. »Ich bin übrigens Eshe d’Aureus, und du bist Armand Argeneau, vermute ich.«
»Richtig.« Er schüttelte ihre Hand, dabei fiel ihm auf, wie zierlich sie war und wie sanft sie sich anfühlte. »Und wieso bist du nicht so schlecht drauf wie Lucian?«, wollte er wissen. »Ich dachte immer, das hätte mit seinem Alter zu tun.«
Eshe schnaubte amüsiert, als sie das hörte. »Wohl kaum. Aber unser lieber Lucian gefällt sich nun mal darin, die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern zu tragen, als wäre er eine Vampirversion von Atlas. Ich genieße das Leben, so gut ich kann, und überlasse es Lucian und anderen von seinem Schlag, sich als Obernörgler aufzuführen.«
»Es gibt noch mehr von seinem Schlag?«, fragte Armand zweifelnd.
»Warst du noch nie in Europa?«, entgegnete sie. »Da gibt es solche wie ihn gleich dutzendweise. Vor allem in Großbritannien. Da sind sogar die sterblichen Männer mies drauf, sobald sie älter werden. Muss wohl ein ungeschriebenes Gesetz sein, dass sie sich ab einem bestimmten Alter so aufführen.«
Armand lächelte sie an und überlegte, wie er sie dazu bringen konnte, weiter so respektlos über Lucian zu reden, was ihm unglaublichen Spaß bereitete. Da begann sein Handy den Trauermarsch zu spielen. Missmutig zog er es aus der Tasche, klappte es auf und hielt es ans Ohr. Unwillkürlich zuckte er zusammen, als Paul, sein Verwalter auf der Farm, in Panik drauflosredete, um ihm von Bessys Wehen zu berichten. Als er seinen Redefluss unterbrechen musste, um Luft zu schnappen, nutzte Armand die Gelegenheit und ging dazwischen. »Bin schon unterwegs. Ich bin bloß bis zum Schnellrestaurant gefahren, in fünf Minuten bin ich zurück.«
»Probleme?«, fragte Lucian, als Armand das Telefon zurück in die Tasche steckte.
Der nickte und rutschte über die Sitzbank nach draußen, nachdem Eshe aufgestanden war, um ihn durchzulassen. »Eine meiner Kühe kalbt, und bei der Geburt haben sich Probleme ergeben.«
»Ich dachte, du baust auf deiner Farm nur Weizen an«, sagte Eshe und schaute ihn überrascht an, als er sich neben ihr zu voller Größe aufrichtete.
»Eigentlich schon, aber wir haben außerdem noch ein paar Milchkühe, Hühner, Ziegen und so weiter. Das machen die meisten Farmer so, weil sie dann weniger für Lebensmittel ausgeben müssen.«
»Und was genau machst du mit ihnen?«, wollte sie interessiert wissen, da sie völlig zu Recht davon ausging, dass er sie nicht aufaß.
»Mein Verwalter nimmt einen Teil davon für sich, aber das meiste liefern wir hier an das Restaurant.«
»Wir kommen nach«, erklärte Lucian und begann schneller zu essen.
»Lasst euch ruhig Zeit. Ich werde in der Scheune sein, aber ihr könnt es euch im Haus ruhig bequem machen. Die Haustür ist nie abgeschlossen.« Auf den fragenden Blick seines Bruders hin fügte er hinzu: »Wir sind hier auf dem Land. Hier will keiner dem anderen irgendwas. Und Verbrechen passieren hier so gut wie nie.«
Er wartete nur kurz, bis Lucian mit einem Brummlaut seine Zustimmung signalisiert hatte. Dann lächelte er und nickte Eshe zu, ehe er sich umdrehte und das Lokal verließ. Auf dem Weg zum Ausgang konnte er spüren, dass sie ihren Blick auf ihn geheftet hatte. Er wünschte, er hätte es ihr umgekehrt gleichtun können. Sie war eine ausnehmend schöne Frau, und er freute sich schon jetzt darauf, sie bei sich auf der Farm zu haben. Sein Verwalter kümmerte sich tagsüber um alle anfallenden Arbeiten, und abends ging er nach Hause. Daher war Armand die meiste Zeit über allein, wenn er wach war. Er stellte es sich als ausgesprochen angenehm vor, jemanden im Haus zu haben, mit dem er sich unterhalten konnte. Vor allem, wenn dieser Jemand auch noch so gut aussah. Es war schon eine Ewigkeit her, dass er eine Frau auf eine Weise für attraktiv hielt, die nicht nur von vorübergehender Dauer war. Nicht mal seine zweite und seine dritte Ehefrau waren so anziehend gewesen wie Eshe d’Aureus. Was ihn mit den beiden verbunden hatte, war mehr Freundschaft als animalische Lust gewesen. Es stand zu befürchten, dass es ihm schwerfallen würde, sich von dieser Frau fernzuhalten … aber er war sich nicht mal sicher, ob er sich überhaupt von ihr fernhalten wollte.
Eshe sah Armand nach, wie er das Lokal verließ. Dabei wanderte ihr Blick von seinen breiten Schultern über seine schmale Taille und seinen Po bis hin zu den Beinen. Sein Gang vermittelte Selbstbewusstsein, während der leichte Hüftschwung ganz sicher völlig unbewusst war. Seine Schultern blieben bei jedem Schritt exakt in der Horizontalen, seinen Kopf hielt er hoch erhoben. Sein leicht ungeschliffenes Erscheinungsbild und seine silberblauen Augen machten ihn zu einem gut aussehenden Mann, andererseits war sie bislang noch keinem Argeneau-Mann begegnet, auf den das nicht zugetroffen hätte. Sie waren nicht alle im klassischen Sinn attraktiv, aber jeder von ihnen besaß ein gewisses Etwas, und in Armands Fall hatte sie den Eindruck, dass dieses Etwas bei ihm besonders ausgeprägt war.
»Du solltest herausfinden, ob du ihn lesen kannst.«
Überrascht drehte sie sich um, als sie Lucians Bemerkung vernahm. Er hatte sein Essen bereits zur Hälfte verspeist und beeilte sich, fertig zu werden. Eshe setzte sich wieder zu ihm an den Tisch und warf einen neugierigen Blick auf seine Mahlzeit. Das Aroma fand sie ganz angenehm. Scheinbar beiläufig fragte sie: »Warum sollte ich das tun?«
»Die eigentliche Frage müsste lauten: Warum hast du das nicht schon längst getan?«, gab er zurück und schaufelte erneut Püree und Erbsen auf seine Gabel. »Ich kenne dich schon lange, Eshe, und ich habe noch nie erlebt, dass du bei jemandem, dem du zum ersten Mal begegnet bist, nicht sogleich überprüft hättest, ob du ihn lesen kannst – egal ob sterblich oder unsterblich.«
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, während er die Gabel zum Mund führte. Vor allem war sie wütend auf ihn, weil er recht hatte. Zwar würde sie das niemals zugeben, aber insgeheim brannte sie darauf, einen neuen Lebensgefährten zu finden, um wieder die Ruhe und die Leidenschaft zu erfahren, die sie über Jahrhunderte hinweg mit ihrem ersten Lebensgefährten hatte erleben können. Ohne einen solchen Begleiter war das Leben schrecklich einsam und langweilig. Aus genau diesem Grund überprüfte sie bei jedem Mann, den sie kennenlernte, zunächst einmal, ob sie ihn lesen konnte oder nicht. Bislang war ihr niemand begegnet, bei dem es nicht der Fall gewesen wäre, und dass sie es bei Armand nicht versucht hatte, konnte eigentlich nur daran liegen, dass sie zu sehr damit beschäftigt gewesen war, Lucian auf die Palme zu treiben. Das war ein Vergnügen, das sie sich schon seit Jahrhunderten gestattete, schließlich gab es ohnehin schon so viel Langweiliges in ihrem Leben, dass sie darauf nicht verzichten wollte.
Dennoch war es in der Tat, wie sie sich selbst gegenüber eingestehen musste, sehr ungewöhnlich, dass sie eine neue Bekanntschaft nicht zu lesen versucht hatte. Die Frage nach dem wahren Grund hierfür bereitete ihr allerdings Unbehagen, sodass sie schnell das Thema wechselte. »Und? Hat er dir die Geschichte abgekauft, dass ich untertauchen muss?«, fragte sie, während sie zusah, wie Armand Argeneau in seinen Wagen einstieg und abfuhr.
Lucian nickte, ohne den Blick auf sie zu richten. »Warum sollte er nicht?«
Eshe verzog den Mund. »Ja, schon. Schließlich kennt er mich ja nicht, ansonsten würde er wohl kaum glauben, dass ich ernsthaft irgendwo untertauchen würde.«
»Hmm«, machte Lucian, während er seinen Teller leer aß. »Tu mir den Gefallen und lass dir das nicht allzu deutlich anmerken, solange du bei ihm einquartiert bist.«
»Schon klar«, murmelte sie. Als er seinen leeren Teller von sich schob und aufstand, erhob sie sich ebenfalls von ihrer Sitzbank und fragte interessiert: »Meinst du wirklich, er könnte seine Ehefrauen ermordet haben?«
»Nein«, räumte er ein, holte die Brieftasche hervor und legte einen Zwanziger auf den Tisch. »Aber ich habe auch das, was Jean Claude getan hat, nicht für möglich gehalten.«
Bei diesen Worten zog Eshe die Stirn in Falten und nahm ihren Helm an sich. Auf dem Weg zur Tür hakte sie nach: »Warum liest du ihn nicht einfach? Dann kannst du es doch am schnellsten herausfinden. Und wieso hast du Jean Claude nicht gelesen?«
»Weil ich weder den einen noch den anderen lesen konnte, als ich es versucht habe.«
Seine Antwort überraschte sie so sehr, dass sie abrupt stehen blieb. Sie konnte ja noch verstehen, dass es ihm nicht möglich gewesen war, seinen Zwillingsbruder zu lesen, aber Armand …? »Du bist doch vierhundert Jahre älter als Armand.«
An der Tür blieb er stehen. »Aus irgendeinem Grund, der sich mir bis heute nicht erschlossen hat, ist es mir nicht möglich, ein paar meiner Geschwister und sogar einige Nichten und Neffen zu lesen.«
»Tatsächlich?«, fragte sie erstaunt. »Das wusste ich gar nicht.«
»Es ist auch nichts, womit ich hausieren gehe«, gab er mürrisch zurück und öffnete die Tür.
»Ja, das kann ich verstehen«, stimmte sie ihm zu und folgte ihm nach draußen. »Und wie kommst du auf diesen Verdacht gegen Armand? Doch bestimmt nicht bloß, weil du ihn nicht lesen kannst.«
»Nein, damit hat es nichts zu tun«, bestätigte er, während er auf einen dunklen Van zusteuerte, der neben ihrem Motorrad geparkt war. »Es ist nicht so, als würde ich ihn verdächtigen, aber ich habe so ein Gefühl, dass ich es mir nicht leisten kann, ihn nicht zu verdächtigen. Soweit ich das beurteilen kann, verbindet ihn mit den drei Frauen nur, dass er ihr Ehemann war. Und Annie war die Ehefrau seines Sohns.«
»Und Nicholas wurde nicht ermordet, sondern nur dazu gebracht, die Flucht anzutreten, damit er nicht herausfinden konnte, was Annie möglicherweise in Erfahrung gebracht hatte«, murmelte Eshe nachdenklich. Sie war mit der Geschichte bestens vertraut. Armand Argeneau hatte drei Ehefrauen durch »Unfälle« verloren, jeweils im Abstand von mehr als hundert Jahren und jeweils kurz nach der Hochzeit und nach der Geburt eines Sohnes. Auch seine Schwiegertochter war bei einem tragischen Unfall kurz nach ihrer Hochzeit ums Leben gekommen. Sie war zum Zeitpunkt ihres Todes schwanger, jedoch war das ungeborene Kind mit ihr gestorben. Auffällig war dabei allerdings, dass Annie kurz zuvor begonnen hatte, Nachforschungen anzustellen, die den Tod seiner drei Ehefrauen betrafen. In einem Telefonat mit Nicholas am Abend vor ihrem Unfall hatte sie ihm ziemlich aufgeregt verkündet, dass sie ihm etwas Wichtiges zu erzählen hatte, sobald er wieder zu Hause war. Doch seine Rückkehr erlebte sie nicht mehr, und als Nicholas einige Wochen später von Annies Freundin erfahren wollte, ob sie möglicherweise wusste, was seine Frau ihm so Wichtiges hatte mitteilen wollen, da ereignete sich etwas Bizarres. Bevor er besagte Freundin aufsuchen konnte, fand er sich auf einmal mit einer toten Sterblichen in seinen Armen und ihrem Blut an seinem Mund im Keller seines Hauses wieder – und anstelle der Erinnerung, wie es zu dieser Situation gekommen war, klaffte in seinem Gedächtnis eine Lücke.
Nicholas – ein Abtrünnigenjäger, mit dem Eshe vor diesen Ereignissen ein paar Mal zusammengearbeitet hatte – befand sich seit jener Nacht vor fünfzig Jahren auf der Flucht, aber vor Kurzem hatte er sich gestellt, um das Leben seiner neuen Lebensgefährtin zu retten. Aber Annies Anruf und die Erinnerungslücke genügten Lucian, um sich gegen Nicholas’ Hinrichtung auszusprechen, die eigentlich die zwangsläufige Strafe für den Mord an einem Sterblichen war. Stattdessen hatte er Eshe den Auftrag erteilt, der Sache auf den Grund zu gehen und herauszufinden, was mit Armands Ehefrauen in Wahrheit geschehen war – und damit hoffentlich auch, was Annie und Nicholas zugestoßen war. Bei genauer Betrachtung eine nahezu unlösbare Aufgabe, war seine erste Frau doch bereits 1449 gestorben.
»Fahr hinter mir her«, sagte Lucian, als er in seinen Van einstieg.
Eshe nickte nur und ging zu ihrem Motorrad, während sie den Helm aufsetzte. All dies geschah mehr oder weniger automatisch, genauso wie sie sich im nächsten Moment auf ihre Maschine setzte und den Motor anließ, denn ihre Gedanken kreisten immer noch um Armand Argeneau und die Möglichkeit, dass er für den Tod seiner Ehefrauen und den seiner Schwiegertochter verantwortlich sein könnte. Ganz sicher kein erfreulicher Gedanke für irgendein Mitglied des Argeneau-Clans, und dazu zählte auch Eshe. Die Argeneaus durften nach Jahrhunderten des Elends und der Unterdrückung durch Lucians Bruder Jean Claude endlich eine Phase des Glücks durchleben, das nicht durch einen solchen Makel getrübt werden sollte.
Mit einem Seufzer zwang sie sich, ihre Gedanken auf die vor ihr liegende Aufgabe zu richten, dann gab sie Gas und folgte Lucians Van vom Parkplatz hinab.
Armands Farm lag nicht weit vom Restaurant entfernt, was ihr nur recht sein konnte, denn allen Bemühungen zum Trotz war sie so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie kaum auf die Straße hatte achten können. Automatisch verlangsamte sie das Tempo, als der Van vor ihr abbremste, dann folgte sie ihm auf eine lange asphaltierte Zufahrt, die zu beiden Seiten von alten, ausladenden Bäumen gesäumt wurde, deren dicke Äste sich wie ein schützendes Dach über den Weg reckten und es unmöglich machten, den Sternenhimmel darüber zu sehen. Sie erschrak ein wenig, als die Bäume sich zu einem Kreis weiteten, in dessen Mitte ein altes viktorianisches Farmhaus stand.
Eshe bremste ihr Motorrad ab, als der Van das Tempo verlangsamte, dann fuhr sie um den Wagen herum, um neben ihm in der kreisrunden Auffahrt vor dem Haus zu parken. Sie stieg ab und ließ den Blick über das alte Bauwerk aus gelben Ziegelsteinen mit braunen Zierleisten und einer Veranda wandern, die sich über die gesamte Breite der Fassade erstreckte. Das Geländer entlang der Veranda verlief zu beiden Seiten der breiten, aus vier oder fünf Stufen bestehenden Treppe, die zu einer zweiflügeligen Tür genau in der Mitte des Hauses führte. Die Fenster im Erdgeschoss waren hell erleuchtet und verstärkten das warme Licht, das von der Lampe über der Haustür ausgestrahlt wurde.
Sie stellte den Motor ab und nahm den Helm vom Kopf, ohne den Blick von dem Farmhaus abzuwenden. Es handelte sich um ein altes Gebäude, das sich jedoch in einem guten Zustand befand. Entweder war es in den gut hundert Jahren seit seiner Errichtung gehegt und gepflegt worden, oder man hatte es vor nicht allzu langer Zeit komplett überholt und ihm seinen früheren Glanz zurückgegeben. Sie vermutete Ersteres, denn die Zierleisten und das leicht verschwommene Glas in den Fenstern schienen ihr aus der damaligen Zeit zu stammen.
»Mit deiner Vermutung dürftest du richtigliegen«, meinte Lucian, als er sich zu ihr stellte.
Eshe warf ihm einen verärgerten Blick zu, weil er ihre Gedanken gelesen hatte. Eine schlechte Angewohnheit, von der dieser Mann offenbar nie abließ und für die er sich nicht einmal entschuldigte. Dann fiel ihr Blick auf die Kühlbox, die er bei sich trug, und ein leiser Seufzer kam ihr über die Lippen, als sie an das Blut dachte, das sich wahrscheinlich in der Box befand. Lucians Anruf hatte sie am frühen Nachmittag aus dem Schlaf gerissen, und sie hatte es so eilig gehabt, seiner Anweisung zu folgen, dass sie völlig vergessen hatte, noch ein paar Beutel zu trinken, bevor sie losgefahren war. Inzwischen machte sich dieses Versäumnis bemerkbar.
Lucian lächelte angesichts ihrer Gedanken und deutete in Richtung Veranda. »Geh schon mal vor, dann kannst du ein paar Beutel haben, während ich den Rest in Armands Kühltruhe verstaue.«
Eshe nickte und holte eine Tasche aus der Gepäckbox hinten auf ihrem Motorrad, dann ging sie zum Haus.
»Ist das alles?«, fragte er verwundert, als er ihre Tasche sah. »Ist das deine Vorstellung von Reisegepäck?«
»Was hast du erwartet? Einen Vierzigtonner?«, gab sie ironisch zurück. »Außerdem habe ich keine Ahnung, was die Leute auf dem Land so tragen. Ich dachte mir, ich sehe mich erst mal um, dann kann ich mir immer noch was kaufen.«
»Du tust so, als würden Farmer einer völlig anderen Gattung angehören«, stellte Lucian mit einer Mischung aus Verärgerung und Belustigung fest.
»Als ob du da anderer Ansicht wärst«, konterte sie. »Außerdem scheint es tatsächlich so zu sein, soweit ich das beurteilen kann.« Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: »Ich begreife nicht, wie man freiwillig am Ende der Welt leben kann. Im finsteren Mittelalter war ich dazu gezwungen gewesen, und das hat mir gereicht. Häuser mit separatem Klohäuschen sind nichts für mich, ich ziehe das Leben in der Stadt vor.«
»Ich glaube, inzwischen gibt es auch hier sanitäre Anlagen«, sagte Lucian grinsend.
»Als ich das letzte Mal auf einer Farm war, gab’s die noch nicht.«
»Wann war das?«
»Als wir diesen Abtrünnigen in Atlanta verfolgt haben«, antwortete sie, wobei ihr ein Schauer über den Rücken lief. Die Lebensbedingungen in diesem Nest waren schlichtweg verheerend gewesen, und ihrer Ansicht nach hatte sie diesem Abtrünnigen und seiner Gefolgschaft aus Möchtegern-Abtrünnigen allenfalls einen Gefallen erwiesen, als sie deren jämmerlicher Existenz ein Ende bereitete. Es hatte sich um eine von diesen Jagden mit Tötungsauftrag gehandelt, bei denen das Urteil über die Abtrünnigen bereits im Vorfeld gefällt worden war und es nur noch darum ging, diese ausfindig zu machen und zu töten.
»Lieber Himmel, das war vor siebzig oder achtzig Jahren!«
»Siebzig oder achtzig Jahre reichen aber nicht, um mich das vergessen zu lassen«, hielt sie dagegen.
»Hätte ich geahnt, dass du deswegen seelische Narben zurückbehalten würdest, dann hätte ich dich nicht mit auf diese Jagd geschickt«, merkte er sarkastisch an.
»Klar doch«, schnaubte sie. »Aber eigentlich wolltest du doch gerade sagen, dass du mich dann erst recht zu solchen Einsätzen geschickt hättest. Was glaubst du, warum ich dir damals nichts davon gesagt habe, wie schlimm das für mich war? Weil du ein sadistischer Bastard bist, Lucian. Du hättest es nämlich als deine Pflicht angesehen, mich für solche Fälle abzuhärten.«
Lucian reagierte darauf mit einem Brummen, während sie ihm die Tür aufhielt, damit er vor ihr das Haus betreten konnte.
»Wie lange willst du eigentlich bleiben?«, fragte sie, als sie ihm durch den langen Flur folgte, von dem mehrere Türen abgingen und der zur Treppe in den ersten Stock führte. Lucian war offensichtlich schon einmal hier gewesen, da er zielstrebig den rückwärtigen Teil des Hauses ansteuerte.
»Lange genug, um noch einmal mit Armand zu reden. Danach mache ich mich auf den Heimweg.«
»Das dachte ich mir schon, als ich gesehen habe, dass Leigh nicht mitgekommen ist«, sagte Eshe lächelnd, als sie seine Lebensgefährtin erwähnte. Die beiden waren so gut wie unzertrennlich, und sie hatte fest damit gerechnet, dass Leigh mit am Tisch sitzen würde, als sie das Lokal betrat.
»Sie und Marguerite machen sich gemeinsam einen schönen Abend, mit Spa, Abendessen im Restaurant und einem Film«, ließ Lucian sie wissen, während er sie in das letzte Zimmer auf der linken Seite führte. »Ich möchte nach Möglichkeit vor ihr wieder zu Hause sein.«
Sie bedachte seine Bemerkung nur mit einem beiläufig gemurmelten Kommentar, da ihre Aufmerksamkeit vorrangig dem Raum galt, den sie soeben betreten hatte. Die Beleuchtung war ausgeschaltet, doch aus dem Flur fiel genug Licht hinein, um Eshe erkennen zu lassen, dass es sich um eine Küche im Landhausstil mit Holzfußboden handelte. Die Außenwand bestand aus unverputzten Ziegelsteinen, die anderen Wände waren in Sonnengelb gestrichen. In der Mitte des Raumes befand sich eine Kochinsel, seitlich davon der Kühlschrank sowie ein altmodischer Ofen, der ursprünglich mit Holz befeuert wurde. Der Schriftzug Elmira auf der Vorderseite verriet ihr, dass es sich wahrscheinlich um einen Gasofen handelte, dessen Äußeres so gestaltet war, dass er in einem viktorianischen Gebäude den Eindruck erweckte, noch aus der ursprünglichen Zeit zu stammen.
Ihr Blick kehrte zurück zu Lucian, der die Kühlbox auf der mit Steinplatten verkleideten Kochinsel abstellte. Als Eshe zu ihm trat, öffnete er die Box und reichte ihr einen Beutel mit Blut. Dann ging er zum Kühlschrank und öffnete ihn, um den Inhalt der Box dort einzuräumen. Kaum hatte er jedoch einen Blick in den Kühlschrank geworfen, als ein Schnauben über seine Lippen kam. Eshe drehte sich um, warf einen Blick über seine Schulter und stellte erstaunt fest, dass sich nicht ein einziger Blutbeutel im Kühlschrank befand. Entweder waren sie unmittelbar vor einer anstehenden Lieferung eingetroffen, oder aber Armand bewahrte seinen Blutvorrat an einem anderen Ort auf.
Kopfschüttelnd leerte Lucian die Box und legte die Beutel in den Kühlschrank, während Eshe zur Seite trat, damit er genug Platz hatte, um sich zu bewegen. Der Beutel, den sie an ihren Mund gedrückt hatte, war fast leer. Gerade eben hatte sich Lucian zu ihr umgedreht und zwei weitere Beutel an sich genommen, als er diese plötzlich fallen ließ und blitzschnell zu Eshe herumwirbelte, wobei seine Hand dicht an ihrem Kopf vorbei über ihre Schulter hinwegschoss.
Direkt hinter ihrem Rücken hörte Eshe ein lautes Klatschen von Haut auf Haut, und gleich darauf vernahm sie ein Röcheln. Ein Blick über die Schulter genügte, dann riss sie ungläubig die Augen auf, als sie sah, dass hinter ihr ein Mann in der Luft baumelte. Lucians Hand hatte den Hals des Mannes fest umschlossen, dessen Füße nicht mehr den Boden berührten. Seine Finger umklammerten ein langes Messer.