THOMAS FUCHS • ARMINIUS
Thomas Fuchs
ARMINIUS
Kampf gegen Rom
Roman
Deutsche Erstausgabe
1. Auflage, Juni 2013
Copyright © 2013 Haffmans & Tolkemitt GmbH,
Inselstraße 12, D-10179 Berlin
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sowie der Übersetzung in andere Sprachen.
Lektorat: Katharina Theml, Büro Z, Wiesbaden.
Umschlagillustration: Petra E.E. Kofen (www.peekofen.de).
Umschlaggestaltung: Hendrik Hellige.
Gestaltung & Produktion von Urs Jakob,
Werkstatt im Grünen Winkel, CH-8400 Winterthur.
Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten.
E-Book Konvertierung: Calidad Software Services,
Pondicherry, Indien
ISBN 978-3-942989-51-0
E-Book ISBN: 978-3-942989-59-6
Liber est omnis divisa in partes tres.
Vorwort
Dies ist ein historischer Roman, keine Historie. Wer historische Romane schreibt, muss Geschichtsbücher lesen. Das ist interessant. In einigen wird behauptet, Kaiser Augustus wäre im Alter von sechsundsiebzig Jahren gestorben. In anderen: Mit siebenundsiebzig. Wieder andere meinen, er sei nur fünfundsiebzig geworden. Weitere beziffern die Anzahl der römischen Legionen auf vierundzwanzig, während die nächsten auf achtundzwanzig kommen. Diverse Autoren verkünden, Arminius kam zu seinem Namen, weil er in Armenien diente, andere behaupten, er wurde wegen seiner strahlend blauen Augen so getauft. Und da kein Text über das alte Rom ohne Schilderung der verkommenen Sitten auskommt, stößt man auch auf Berichte über Ärzte, die neben Tripper und Feigwarzen auch Syphilis behandelt haben sollen. Was in Anbetracht der Tatsache, dass die einst auch als »gallische« Krankheit bezeichnete Seuche erst vierzehnhundert Jahre später in Europa auftauchte, ein weit vorausschauender Fall von Prophylaxe ist.
Einige der Ungereimtheiten lassen sich schnell klären. Bei Altersangaben zum Beispiel zeigt sich, dass selbst versierte Schreiber von der Tatsache verwirrt werden, dass es niemals ein Jahr 0 – ja nicht einmal eine Stunde null – gab. Die Anzahl der Legionen kann konfus machen, weil die Nummern von dreien – über deren Schicksal in diesem Buch berichtet wird – nie wieder vergeben wurden. Mit der Materie vertraute Leser werden feststellen, dass der geschichtliche Teig für dieses Buch recht kräftig gedehnt und zurechtgeknetet worden ist. Dies geschah in voller Absicht; denn für einen Romancier zählt: Erzähl eine Geschichte, die nicht langweilt. Dieser – und nur dieser – Wahrheit fühlt sich der folgende Text verpflichtet.
Der Autor
Inhalt
Vorwort
I
Die Wacht am Rhein
Die alte S-Klasse
Der Mann, der König sein sollte
Schicksale und Schlachtfelder
Der Herr der Ringe
Feuer in der Nacht
Die Furt-Wrangler
Die Hirschjäger
Die ungleichen Brüder in der Ewigen Stadt
Flavus’ Flaniermeile
Die Heil-Praktiker
Die Festung
Homo novus
Das Rennen beginnt
Diskurse unter Denkern
Der Raub der Sabine
Orgie und Organisation
Der Kaiser im Konflikt
Piraten!
Ein Hinterhalt
Panne in Pannonien
Wie ein wilder Stier
Mars macht mobil
II
Zoff mit der Zofe
Kreuz des Nordens
Der Mann hinter der Maske
Götterdämmerung
Verrat in den Wäldern
Regen bringt Segen
Kopflos in Kalkriese
Die Stille nach der Schlacht
Virus Varus
XVII, XVIII, XIX ... passe
Zwischenspiel
Die Marser machen nicht mobil
Rache in Ravenna
Reines Gold
Die letzten Runden
III
Der Dietrich von Bernd
Killing Fields
Die Krönung
Der letzte Adler
P. S.
I
»Because some men aren’t looking
for anything logical, like money. They can’t be bought, bullied, reasoned, or negotiated with.
Some men just want to watch the world burn.«
Christopher Nolan, »The Dark Knight«
DIE WACHT AM RHEIN
Balenus, der Statthalter der römischen Provinz Niedergermanien, stand in einem Fensterbogen seines Kölner Palastes und blickte in die dunkle, verregnete Nacht. Auf dem Hof des Prätoriums flackerten Feuer, um die sich einige Ubier drängten und fröhlich ihre Lieder sangen. Die Ubier galten bei den Römern als friedliche und pflegeleichte Germanen; idealtypische Untertanen sozusagen. Mit ihrer offenbar unzerstörbaren Partylaune und Sangesfreude jedoch konnten sie ihren Besatzern schon mal gehörig auf die Nerven gehen. Wenn sie nicht sangen, machten sie Witze über die Sugambrer, die ihre Siedlung einige Meilen flussabwärts ebenfalls am Rhein hatten.
Gerade erscholl es wieder vom Hof: »Viva Colonia …« Ein Lied, komponiert auf Grund der Aussicht, in nicht allzu ferner Zukunft in den Stand einer vollwertigen römischen Kolonie erhoben zu werden. Bislang war man nur civitas; eine römische Siedlung ohne besondere Rechte, erbaut auf dem Boden einer oppida; wie die Gallier ihre stadtähnlichen Häuserhäufungen nannten. Für germanische Verhältnisse waren jedoch alle Stadien des urbanen Zusammenlebens ein Zeichen des Fortschritts. Sie lebten auch jetzt noch am liebsten in Einzelgehöften, und wenn es mal so etwas wie ein Dorf gab, dann hatte das schon beinahe die Aura einer Metropole.
Der Statthalter verzog angewidert das Gesicht: Was für eine ekelhaft eingängige Melodie! Die Saturnalien sollten eigentlich nur eine Woche im Dezember dauern. Sie fielen auf die Wintersonnenwende, ein Fest, welches sich bei den Germanen von jeher großer Beliebtheit erfreute. Als die Römer ihnen die Saturnalien aufdrückten, wurde das Fest von den Kölnern dankbar angenommen und großzügig um ein paar Tage erweitert. Statthalter Balenus ließ sie gewähren. Er dachte: Lieber von einem Germanen mit Gesang gequält als von ihm nach verlorener Schlacht an eine Eiche genagelt zu werden.
Balenus fröstelte, und er wickelte sich fester in seinen teuren italienischen Stoff. Was Geschmack und Bekleidung betraf, war er eindeutig zu fein für diese Gefilde. Das neue Jahr rückte näher, und Balenus hatte es zu seinem Vorsatz gemacht, im Jahre 799 nach der Gründung des großen und ewigen Roms hier seine Zelte abzubrechen und wieder in die Hauptstadt am Tiber zurückzukehren. Er wollte ja nicht ausschließen, dass sich dieses Köln einstmals zu einer Metropole entwickeln würde, aber derzeit war fast alles – wie auch sein als Prätorium bezeichneter Palast – nicht viel mehr als ein Exposé. In Köln gab es nur wenige römische Steinbauten, einige Ruinen, noch mehr Baustellen und viele, viele germanische Hütten.
Oh, Balenus sehnte sich nach Rom! Die Mutter aller Städte lockte mit Zirkusspielen, Kunst, Kultur und kulinarischen Genüssen, Reichtümern und schönen Frauen. Diese Germanen hingegen … Schwätzer und Salonpoeten versuchten zwar, aus ihnen edle Wilde zu machen, aber diese Thesen stammten von Autoren, die noch nie weiter nördlich als bis in die Toskana gekommen waren. Balenus hingegen erinnerten die Germanen – so reinlich, redlich und ruhmsüchtig sie sein mochten – mit ihrer Vorliebe, mit freiem Oberkörper durch die Gegend zu stolzieren, eher an eine Horde durchgeknallter Bademeister. Mit ihren Tugenden konnte man vielleicht ein Thermalbad leiten, aber keine Zivilisation aufbauen.
Aber wie sollte er aus diesem Kaff rauskommen? Eines Tages kam ihm eine brillante Idee. Er schrieb dem Kaiser einen Brief. Claudius stammte wie Balenus aus der Provinz – der Herrscher war in Lyon geboren –, aber was noch besser war: Es gab in Köln eine reiche und einflussreiche Römerin namens Agrippina. Und die wollte den Kaiser unbedingt einmal kennenlernen. Balenus wusste, dass der Kaiser eine Neigung zum Sabbern und Stottern hatte. Auch war er körperlich mit allem, was mehr verlangte als rumstehen und bedeutsam gucken, überfordert. Nichtsdestotrotz hielt sich der Kaiser – wie alle seine Vorgänger – für einen großen Kriegsherrn. Auch was das Weibliche betraf, sah er sich gern als großer Eroberer, einen Ruf, den er aber bei seiner Gattin Messalina mit vielen – viel zu vielen, dachte Balenus – teilen musste.
Also hatte Balenus dem Kaiser zu seiner kriegerischen Eroberung gratuliert, von den Tafelrunden und Orgien der Agrippina geschwärmt und ihn eingeladen, in Köln Station zu machen, wenn er sich von London auf die Rückreise nach Rom begab. Mit nur dreißigtausend Mann war Claudius zur Insel übergesetzt, hatte bis hoch nach Kaledonien dem Reich eine neue Provinz erobert und so endlich vollendet, was der große Cäsar, der Begründer seines Geschlechts, einst begonnen hatte. Britannien war nun endlich römisch.
Wenn kümmerte es, dass die eigentliche Eroberung unter General Aulus Plautius stattgefunden hatte und der Kaiser die feuchtkalte Provinz erst besuchte, nachdem alle Schlachten bereits geschlagen waren? Geschichte, sinnierte Balenus, wird immer im Namen großer Männer gemacht. Wenn man es recht bedenkt, ist Geschichte nichts anderes als die Aneinanderreihung von Namen großer Männer. Deshalb war es höchste Zeit, dass er endlich in den Kreis dieser großen Namen aufgenommen wurde. Balenus würde Geschichte schreiben! Historiker würden an ihn erinnern. Denkmäler von seinen Taten künden und zur Verehrung einladen. Vielleicht würde man sogar einen Monat nach ihm benennen! Nach Juli (Julius Cäsar), August (Kaiser Augustus) würde es möglicherweise einen Balender geben!
Denn natürlich wollte Balenus sich während des Besuchs beim Kaiser einschmeicheln. Und wenn das nicht genügte, sollten die Reize der Agrippina dem Kaiser den letzten Kick geben. Ein vernünftiger Posten in Rom dürfte dann kein Problem mehr sein. Dieses verlauste Prätorium würde dann für ihn endgültig Präteritum sein.
Die Lieder auf dem Hof waren verklungen, alles war jetzt still, nur ein leises Schnarchen drang nach oben. Doch dann stutzte Balenus. Er hörte Pferdegetrappel. Und kurz darauf stieg am Eingang des Prätoriums ein römischer Reiter aus dem Sattel eines schnaubenden, prächtigen Hengstes. Als Balenus die purpurnen Insignien des kaiserlichen Boten erkannte, jubelte er innerlich. Das musste die Antwort auf seinen Brief sein! Der Bote gab seinem Pferd einen Klaps, worauf es pflichtbewusst zu einem Sklaven trottete, der das Tier in den Stall führte. Die mickrigen germanischen Gäule sahen neben dem prächtigen römischen Hengst wie Ponys aus.
Der kaiserliche Herold erklomm die Stufen zum Amtszimmer des Statthalters, salutierte und übergab seine Nachricht. Balenus erbrach aufgeregt das kaiserliche Siegel und rollte das Pergament auseinander. Nachdem er den Brief gelesen hatte, war seine gute Laune verflogen. Er entließ den Boten und schickte nach seinem Adjutanten.
Balenus konnte Libertus hören, lange bevor der die Gemächer des Statthalters betrat. Libertus liebte Orden und Auszeichnungen über alles. Er trug sein blinkendes Blech bei jedem Wetter, und als er jetzt schwer atmend zu seinem Chef durch den Säulengang stampfte, schepperten die Auszeichnungen bei jedem Schritt auf seinem Brustpanzer. Libertus trug seine vollständige Uniform – was in der Provinz nicht die Regel war –, aber die vielen Gelage und Völlereien hatten am Körper des Mannes, der für den Statthalter eine Mischung aus Stabschef, Adjutant und Mädchen für alles war, Spuren hinterlassen. Der vergoldete bronzene Brustpanzer, einst passgenau auf Libertus’ fassförmigen Oberkörper gearbeitet, ließ sich schon lange nicht mehr schließen. Fortan befahl Libertus seinem Sklaven, die vordere und hintere Panzerplatte wie bei einem Korsett zusammenzuschnüren, was aber im Ergebnis eher kläglich aussah. Denn zwischen den Bändern an seinen Flanken quoll das Fett hervor.
Als Libertus in das Amtszimmer trat, schimmerten seine Wangen rötlich, und er schnappte nach Luft. Balenus ließ seinen Blick prüfend über die traurige Gestalt gleiten. Der Statthalter haderte mit seinem Schicksal: War es ein Zeichen der Macht, dass er sich Kreaturen wie Libertus bedienen konnte, oder war die Tatsache, auf solche Gestalten angewiesen zu sein, nicht eher ein Zeichen seiner Erbärmlichkeit?
»Ave, Statthalter.« Libertus salutierte. Balenus gab ihm den Brief.
»Lies.«
Libertus nickte und führte den Befehl prompt aus:
Die Einladung zu dem Festessen bei Agrippina werde ich annehmen. Aber: Die Erinnerung an meine Triumphe hat mir ins Gedächtnis gerufen, was beim Statthalter von Niedergermanien noch im Argen liegt. Wie kommt es, dass die Cherusker immer noch jenes Teufels gedenken, der fünfzehntausend unserer besten Legionäre meuchelte?
Auch an den Iden des September des Jahres 799 nach Gründung des großen Roms sollen wieder heimliche Gedenkfeiern für den feigen Verräter veranstaltet werden. Statthalter, ich erwarte eine Strafexpedition. Lösche aus, wer sich zu erinnern wagt. Und hole endlich das dritte Feldzeichen zurück!
Claudius, Imperator
Londinium, im Dezember DCCXCVIII
Dieser Kampf! Diese vermaledeite Schlacht!! Später sollte diese Auseinandersetzung die Schlacht im Teutoburger Wald heißen, wenn auch nur eines sicher ist: Im Teutoburger Wald fand sie nicht statt. Die Römer sprachen von der Varus-Schlacht, was auch seltsam ist; es gibt in der ganzen Menschheitsgeschichte keine einzige Schlacht, die nach dem Verlierer benannt ist. Denn verloren hatten sie den Kampf, ebenso wie die Feldzeichen dreier Legionen; von denen aber zwei nach zähem Ringen zurückerobert werden konnten. Das dritte blieb jedoch verschollen.
Tatsache war, dass Claudius diese Niederlage seines Vorfahren Augustus noch immer schmerzte, und Tatsache war ebenso, dass Balenus sich lieber die Zehennägel mit glühenden Zangen würde rausreißen lassen, als nach Germanien zu gehen.
Balenus wechselte den Platz an der Balustrade. Nun konnte er über den Rhein sehen. Das andere Ufer hatte er für sich »die schale Seite« getauft. Dort im Düstern der Moore und Wälder lauerte das Verderben, dessen war sich Balenus sicher. Seit Cäsars Onkel Marius schlugen sich die Römer mit den Germanen herum, und die Ergebnisse waren – vorsichtig ausgedrückt – durchwachsen. Auf dem Land lag ein Fluch, der römische Statthalter nur allzu oft ereilte. Ahenobarbus war der Erste. Er hatte schon ein Triumphzeichen in das Ufer der Elbe gerammt, als er plötzlich überstürzt abreisen musste. Eigentlich wollte Statthalter Ahenobarbus noch weiter bis zu Oder und Weichsel, aber so weit wie er sollte nie ein Römer mehr kommen. Ein General mit dem zugegebenermaßen wenig respekteinflößenden Namen Lollius versuchte es, aber auch er wurde geschlagen. Die Germanen hatten sogar einige seiner Offiziere gefangen genommen und gekreuzigt. Ans Kreuz geschlagen! Dabei konnte man von einem gewöhnlichen Barbaren doch erwarten, dass er sich für die Errungenschaften der römischen Zivilisation interessierte und nicht stattdessen einfach deren Foltermethoden übernahm! Aber auch gegen sich selbst waren sie nicht zimperlich. In Rom erzählte man sich mit einer Mischung aus Faszination und Grauen, dass die Germaninnen im Angesicht der Niederlage ihre Kinder vor die Hufe der anstürmenden römischen Kavallerie warfen, weil sie ihnen so das Schicksal der Sklaverei ersparten. General Drusus versuchte zu bewahren, was Ahenobarbus erobert hatte – und verstarb recht kläglich nach einem Reitunfall. Und das Einzige, was Rom von dem übereifrigen Statthalter Varus wieder sah, war sein Kopf. So wollte Balenus auf keinen Fall enden. Er warf noch einen verächtlichen Blick auf den Rhein – wenigstens war der Fluss nicht zugefroren, sonst müsste er auch noch mit nächtlichen Überfällen rechnen – und wandte sich Libertus zu.
»Der Brief an den Kaiser war eine saudumme Idee.«
Libertus senkte schuldbewusst den Kopf. Er vermied es, den Statthalter daran zu erinnern, dass dieser Einfall Balenus’ eigenem Hirn entsprungen war. Dann versuchte er, sich dem Thema von der Flanke zu nähern.
»Möchte mal wissen, warum Claudius so einen Groll auf diesen Cherusker hat.«
»Nun, man sagt, Arminius habe mit Messalinas Mutter geschlafen.«
»Tatsächlich?«
»Ja, sie soll in dieser Beziehung noch schlimmer gewesen sein als ihre Tochter.«
»Das erklärt einiges.«
Die beiden Römer lachten.
Balenus’ Stimmung war nun entspannter. In das solchermaßen befriedete Gelände wagte sich Libertus nun mit einer Fachfrage vor.
»Was ist mit den Legionen?«, fragte Libertus.
Balenus hatte in Xanten, Neuss und Mainz drei Legionen stationiert. Nachdem in Köln eine Legion gemeutert hatte, wollte der Statthalter hier nur noch seine persönliche Prätorianergarde um sich haben. Rekrutiert aus baumlangen Batavern, die den restlichen Germanen in herzlicher Abneigung verbunden waren und treu wie Gold – solange der Sold pünktlich kam. Für Polizeiaktionen auf einzelnen Ansiedlungen waren die Legionen gut, aber abseits der Schneisen, die die Römer in die Wälder geschlagen hatten, waren sie verloren. Außerdem waren auch sie durch den langen Dienst in den Kasernen fett und faul geworden.
Balenus seufzte selbstmitleidig. Da stand nun seine weitere politische Karriere auf dem Spiel, und alles, was er zu seiner Verteidigung aufzubieten hatte, waren Typen so quallig und träge wie Libertus!
»Die gallische Hilfslegion?«
Sie war als Einsatzreserve in Trier geparkt. Eigentlich.
»Die habe ich aufgelöst.«
Da die Germanen immer wieder stänkerten, aber selten die Grenze überschritten, hatte es Balenus für klug gehalten, die gallischen Hilfslegionäre nach Hause zu schicken.
»Ja, aber die kann man doch jederzeit wieder aufstellen . Sie haben einen Eid auf den Kaiser geschworen und …«
»Und womit soll ich sie bezahlen?«
Libertus begriff. Balenus hatte die gallische Legion aufgelöst, aber in Rom nichts gesagt und weiterhin Sold für die pensionierten Legionäre bezogen.
»Niemand geht in die Politik, um dabei arm zu werden «, erklärte der Statthalter. Balenus packte Libertus an seiner Armschiene. »Ich lege mein Schicksal in deine Hand, Libertus«, sprach er salbungsvoll. »Das meine und das meiner Ahnen. Es geht um den Ruhm und das Ansehen meiner Sippe. Hilf mir, und ich werde mich deiner stets dankbar erinnern. In Rom. Und überall.«
Libertus überlegte. Er war vielleicht körperlich träge geworden, aber sein Geist arbeitete immer noch flink. Selbstverständlich ließ er sich vom Pathos des Statthalters nicht täuschen. Er wusste, dass ihm wenig anderes übrig blieb, als dem Statthalter zur Seite zu stehen. Bevor er auch nur eine Silbe von sich geben könnte, hätte man ihm vermutlich schon das Genick gebrochen oder einen Dolch ins Herz gestoßen.
Aber er hatte gar nicht vor, gegen den Statthalter zu intrigieren. Noch nicht jedenfalls. Libertus’ Großvater war noch ein freigelassener Sklave gewesen. Nun hatte seine Familie seit zwei Generationen das römische Bürgerrecht, aber Libertus hatte längst gemerkt, dass er aus eigener Kraft eine bestimmte Schwelle nie würde überschreiten können.
Balenus hingegen war zwar nur von mäßiger Begabung, aber er entstammte altem römischen Adel, und seine Familie hatte es immer verstanden – unter der Diktatur Sullas, während des ersten und zweiten Triumvirats, und seit dem das Geschlecht der Julier die Kaiser stellten erst recht –, auf der richtigen Seite zu stehen. Die Proskriptionen, die berüchtigten Listen mit den Namen der Regimegegner, die auf Befehl des jeweiligen Machthabers enteignet, verbannt oder ermordet wurden, füllten viele einst ehrwürdige Namen; den von Balenus sahen sie nie. Der Statthalter mochte gierig sein wie ein Schwein und phantasievoll wie ein Schaf, was seine Überlebensfähigkeit anging, konnte er es mit jeder Katze aufnehmen.
Warum sollte also Libertus nicht Balenus dienstbar sein und in dessen Windschatten zum Erfolg segeln? Wenn er dereinst den Statthalter loswerden wollte, würde er schon genug Belastendes über ihn angehäuft haben. Und wenn nicht: Das, was er bis jetzt wusste, reichte ja schon.
Libertus blickte Balenus aufmunternd, aber auch devot an. »Statthalter«, sagte er. »Ich habe da eine Idee.«
DIE ALTE S-KLASSE
Beim Jupiter, wer soll sich denn das alles merken?« Balenus hatte sich auf einer dieser typischen römischen Liegebänke zurückgelehnt und versuchte, Libertus’ Erklärungen zu folgen. Dieser hatte sich von einem ägyptischen Sklaven zwei Schautafeln machen lassen. Die eine zeigte den Stammbaum des Frevlers. Da die Germanen die Angewohnheit hatten, wie bei Rennpferden den Namen des Sohnes mit demselben Anfangsbuchstaben wie beim Vater beginnen zu lassen, zweifelte der Statthalter mittlerweile an seinem Gedächtnis. Libertus fühlte sich in der Rolle des Lehrers wohl und war insgeheim für die Begriffsstutzigkeit seines Schülers dankbar. Er kostete sein Überlegenheitsgefühl bis zur Neige aus.
»Also, fangen wir noch mal von vorn an.«
Balenus unterdrückte ein Stöhnen.
»Der Vater des aufständischen Arminius hieß wie?«
Für Balenus war das alles Rhabarber.
»Se… Se…«
»Das ist schon mal nicht verkehrt«, lobte Libertus.
»Sebastian?«
»Fast. Segimer.«
Klingt wie Sägemehl, dachte Balenus. Allerdings kam er nicht auf den Gedanken, diese Assoziation als Eselsbrücke zu benutzen, und deshalb vergaß er den Namen gleich wieder.
»Segimer war ein einflussreicher, mächtiger Fürst der Cherusker«, dozierte Libertus. Dabei ging er zur zweiten Tafel, auf der eine Landkarte der unbesetzten germanischen Gebiete aufgezeichnet war. Die Karte war ein wenig ungenau, aber für die Weiterbildung des Statthalters erfüllte sie durchaus ihren Zweck. Libertus deutete mit einem Stab auf die Gegend zwischen Weser und Ems.
»Sie leben hier. Eigentlich sind sie ein eher unbedeutender Stamm. Oder zumindest waren sie das – bis zur Katastrophe.«
Je besser sich Libertus in der Rolle des Pädagogen gefiel, desto mehr ging er Balenus auf die Nerven. Aber er ließ sich nichts anmerken und mimte weiterhin den Aufmerksamen.
»Besatzungstechnisch war für uns an den Cheruskern vor allem interessant, dass wir sie gut gegeneinander ausspielen konnten.«
Libertus ging wieder zur Stammbaumtafel. »Womit wir bei Segimers Gegenspieler wären. Und der heißt …«
Mist, dachte Balenus, eben hatte ich den Namen noch.
»Sebastian?«, mutmaßte er wieder.
»Fast. Segest.«
Segimer, Segest! Wer sollte denn das auseinanderhalten? Außerdem, musste man das überhaupt? Wie hieß es doch so schön: Errare humanum segest. Oder so ähnlich.
»Segest und Segimer hassen einander wie die Pest. Sie sind beide mächtige Fürsten der Cherusker.« Ein kurzer Wink zur Landkarte. »Wobei wir nicht vergessen dürfen, dass ein cheruskischer Fürst niemals mit einem römischen Adligen verwechselt werden darf. Ein cheruskischer Fürst ist eigentlich ein Chef über einen Haufen von Häusern. Nicht mehr. Die Cherusker kennen keine Städte. Sie leben in ihren Häusern zusammen mit ihrem Vieh unter einem Dach.«
»Hat sich da noch nie jemand beschwert?«
»Dem Vieh ist es vermutlich nicht recht, aber das hat leider nichts zu sagen.«
Libertus hoffte, dass er für diesen Scherz ein Lächeln ernten würde, aber Humor oder Ironie waren bei Balenus Zeitverschwendung. Den beschäftigte etwas anderes. Dass bei den Germanen auch die Adligen einander spinnefeind waren, zeigte doch, dass ihnen Zivilisation nicht völlig fremd war. Und nun, da er in den Germanen nicht mehr nur Barbaren sah, drängte sich ihm eine andere Frage auf: »Wovon leben die Germanen eigentlich?«
»Das ist eine gute Frage«, lobte Libertus in einem so väterlichen Ton, dass ihm Balenus am liebsten eine reingehauen hätte. »Germanien verfügt im Wesentlichen über drei Exportartikel: Blondhaarperücken, Seife und Blei. Viele Germanen verdingen sich auch als Söldner, aber für diesen Gedanken konnte der Statthalter sich ja bislang wenig begeistern.«
Balenus schüttelte unwirsch den Kopf. Das fehlte noch! Sich den Feind selbst ins Haus holen.
»Von diesen Produkten allein können die Germanen aber nicht leben«, fuhr Libertus fort. »Außerdem muss man wissen, dass ihre Lieblingsbeschäftigungen Stänkern und Eingeschnapptsein sind. Am liebsten überfällt man sich gegenseitig, ist beleidigt und nimmt übel. Dabei üben die Germanen kämpfen, und man muss sagen – das können sie gut. Sie bilden feste Gefolgschaften und verlassen sich in ihren Schlachten blind aufeinander. Deshalb ist ihnen ein gegebenes Wort auch heilig.«
Das war jetzt für Balenus wirklich nichts Neues. Er wusste auch, dass die große Schwäche der Germanen Belagerungen waren. Woher sollten sie das auch können, wenn sie selbst keine Städte oder Festungen hatten? Und außerdem wurde ihnen bei einer Belagerung vermutlich einfach langweilig. Balenus bemerkte, dass Libertus’ Blick auf ihm ruhte. Offensichtlich erwartete der Lehrer von seinem Schüler irgendeine Form der Mitarbeit.
»Und warum können Sägemehl und Digest einander nicht leiden?«, fragte Balenus schließlich. Zu seinem Glück konnte sich Libertus diesmal verkneifen, den Statthalter für seine Frage zu loben. »Weil Segest eine Tochter namens Thusnelda hatte.«
Als er diesen Namen hörte, musste Balenus grinsen. Thusnelda! Klingt ja selten dämlich. Wäre der alte Segest mal lieber bei einem S-Namen geblieben.
»Vermutlich wollte der Alte gar nicht, dass seine Tochter heiratet. Wenn er ihr so einen dämlichen Namen gegeben hat.«
»Oh doch, er wollte, dass sie Marbod heiratet.«
»Margot?«
»Marbod. Den Häuptling der Markomannen.«
»Ja, ich weiß.«
Balenus war ja nicht blöd. Vor Balenus’ Zeit als Statthalter war Marbod der absolute Chef im Ring gewesen. Der Einzige, von dem man glaubte, dass er es mit den Römern aufnehmen könnte. König Marbod hockte mit seinem Stamm zwischen Bayern und Böhmen und forderte jeden zum Kräftemessen heraus. Das Interesse war allerdings gering, weshalb Marbod sich anderweitig beschäftigte und immer wieder römische Kastelle überfiel. Zum Glück für Balenus war das alles längst Geschichte.
»Was aber nicht mehr ging, weil Arminius …«
Bei dem Namen wurde Balenus wieder schlagartig wach.
»… Thusneldas Herz gewann. Offenbar hat sie sich gegen den Willen des Vaters für Arminius entschieden.«
Wie rührend, dachte Balenus ohne Anteilnahme.
»Gibt es bei den Germanen eigentlich auch Namen ohne S?«
»Natürlich: Ingomer, das ist der Bruder von Segimer, also Arminius’ Onkel.«
»Warum heißt eigentlich unser alter Feind Arminius nicht Sebastian oder so?«
»Arminius ist der Name, den wir ihm gegeben hatten. Sein cheruskischer Name ist unbekannt. Den hat er mit ins Grab genommen. Neben Ingomer gab es noch einen weiteren Fürsten. Der hieß Actumerus. Der war vom Stamm der Chatten, die als harte Fußkämpfer bekannt sind. Und dann muss …«
Balenus merkte mit Entsetzen, dass Libertus drauf und dran war, ihm den gesamten kleinen Gothaer aller germanischen Stämme zu präsentieren.
»Dürfte ich jetzt bitte erfahren, was das mit dem ›genialen Plan‹ zu tun hat, von dem du seit Wochen schwärmst?«
»Ja. Ganz einfach. Thusnelda hatte einen Bruder. Segimund.«
Willkommen in der S-Klasse, dachte Balenus, aber er sagte nichts.
»Segimund hasste seinen Schwager wie die Pest. Deshalb denken auch alle, dass er Arminius umgebracht hat.«
Libertus machte eine bedeutsame Pause. Aber Balenus hatte keine Lust mehr, mit einer konstruktiven Frage den mitarbeitenden Schüler zu spielen.
»Den Plan, Libertus. Den Plan!«
»Auch Arminius hatte einen Bruder …«
»Libertus …«
»… der ein großer Römerfreund war. Flavus. Und dessen Sohn lebt bei uns und frisst uns aus der Hand.«
Libertus lächelte triumphierend. Für ihn war alles klar. Für Balenus nicht.
»Segimund ist bei seinen Stammesgenossen unten durch, weil er als Arminius-Mörder gilt. Die Cheruskerhäuptlinge haben sich so lange bekriegt, dass keiner mehr gewinnen kann, aber auch keiner aufgeben will.«
Libertus sah, dass die Ungeduld beim Statthalter wuchs. Er redete schneller.
»Wenn wir Segimund dazu bringen, uns um einen König zu bitten, präsentieren wir ihm Italicus, den Sohn des Flavus. Dann sind alle zufrieden. Segimund ist wieder respektiert, weil er bei den Römern einen König durchgesetzt hat, der mit dem verfemten Arminius verwandt ist. Das versöhnt dessen heimliche Anhänger, und in Germanien herrscht Frieden. Keine Provinz, aber ein Vasallenreich gewonnen, ohne das Leben eines einzigen Legionärs zu opfern. Der Statthalter sonnt sich im Erfolg. Der Kaiser nickt ihm huldvoll zu und gewährt ihm großzügig seine Gunst …«
Balenus brachte Libertus mit einer Geste zum Schweigen. Wenn Libertus über die geheimen Träume des Statthalters sprach, klang es immer, als wollte er sich über ihn lustig machen. Aber der Plan klang tatsächlich, als könnte er klappen. »Teile und herrsche« war schon immer die römische Devise gewesen, und da sich diese Germanen sowieso dauernd zankten, könnte man sie vielleicht auch beherrschen, ohne sie zu besetzen.
Doch wie Fürst Segimund dazu kriegen, dass er die Römer um einen König bittet? Auch dafür hatte Libertus eine Lösung. Die war einfacher als gedacht. Segimund hatte Spielschulden und kam regelmäßig nach Köln, um hier die Sau rauszulassen und Dinge zu tun, von denen niemand in der Heimat nichts wissen sollte. Es kostete nur ein kurzes Gespräch ohne allzu grobe Drohungen, und Segimund war einverstanden. Obwohl er Arminius immer noch hasste.
»Sie glauben nicht, wie gern ich ihn umgebracht hatte«, sagte Segimund bei dem Geheimtreffen.
»Ich dachte immer, das hätten Sie«, entgegnete Libertus.
»Nein. Keiner weiß, wer es war.« Segimund sah sich vorsichtig um, als fürchte er die Rache der Geister der Toten. »Es gibt sogar Leute, die sagen, Arminius würde noch leben.«
Tja, die Gerüchte. Manche munkelten auch, dass Segimer gern seine Schwester Thusnelda zu seinen Besitztümern gezählt hätte – die hängende Unterlippe jedenfalls war ein Markenzeichen bei Segests Familienmitgliedern, egal von welcher Seite sie kamen. Bei Segestens blieb man halt gern unter sich. Segimer, der Vater von Arminius und Flavus, hingegen streute seinen Samen gern so breit wie möglich.
Segimund verabschiedete sich. Nach einer weiteren durchwürfelten Nacht kehrte er zu seinem Stamm zurück und verkündete die frohe Botschaft.
»Jetzt brauchen wir nur noch den Thronfolger«, bemerkte Balenus.
»Richtig«, antwortete Libertus herablassend wie zu einem Hund, der endlich kapiert hat, wie man das Stöckchen bringt. Und Balenus beschloss insgeheim, seinen Berater bei der erstbesten Gelegenheit in Rom um die Ecke zu bringen. Libertus war intelligent, hochintelligent sogar, aber unfähig zu erkennen, wie sehr er Leute mit seiner Besserwisserei verärgerte. Dafür war er einfach zu eitel. Was ihn unterm Strich zu einem Idioten machte.
DER MANN,
DER KÖNIG SEIN SOLLTE
Der Friedhof in der Kölner Südstadt war in warmen Sommernächten ein beliebter Treffpunkt für Liebespaare, doch in dieser Nacht hatten sie andere Plätze vorgezogen. Der Grund war eine merkwürdige Gestalt, die an einem halb ausgehobenen Grab stand und gegen die Marmorplatte pinkelte, auf welcher die Inschrift noch nicht vollendet war.
Der Wildpinkler war ein großer fülliger Mann, mit einem weichen Gesicht, welches am liebsten beleidigt dreinblickte. Ansonsten zeigte sein Äußeres, wie zerrissen er innerlich war. Auf der einen Hälfte seines Hauptes war sein Haar römisch streng kurz geschnitten. Auf der anderen wucherte es germanisch wild; auf der Rückseite des Schädels war es sogar schlampig zu einem sogenannten »Schwabenknoten« geflochten. Der Mann trug Hosen wie ein Germane, darüber aber eine römische Toga. In diesem Klamottenmix sah er wenig beeindruckend aus, und dass die Stoffe mit Erbrochenem und Urin besudelt waren, half auch nicht viel.
Der Mann zog seine Hose hoch, hatte aber einige Mühe, die Kordel, welche die Hose hielt, wieder mit einem Knoten zu versehen, und fuhr dann fort, den Mond anzujaulen.
»Vater!«, jammerte er. »Du einäugiges Gespenst! Warum hast du mich verlassen?«
Es war das Grab des Flavus. Kurz vor seinem Tod war ihm das römische Bürgerrecht – diese antike Mischung aus Green Card und Diplomatenpass – verliehen worden. Deshalb durfte er auch auf dem römischen Friedhof nach römischen Riten beerdigt werden. Der Abschnitt für die romfreundlichen Germanen befand sich neben der Sektion für freigelassene Diener und in Ehren ergraute Haushunde.
»Was soll ich denn jetzt tun?«, jaulte der Betrunkene wieder. Er stolperte auf unsicheren Füßen um das Grab herum. Er suchte seine Leier, um seinen Schmerz und seine Enttäuschung in ein Lied zu gießen. Doch sein Instrument, das fand er nicht, was für die Menschheit und die laue Nacht kein Verlust war.
Von seinem Vater nach Art der Römer erzogen fühlte sich Italicus als Fremdkörper in beiden Welten. Die Römer verachteten ihn als schleimigen Emporkömmling, die Germanen als Abtrünnigen, den sie insgeheim beneideten und öffentlich dafür um so mehr niedermachten. Zer rissen zwischen Stolz und Trotz hatte sich der Sohn für keine bürgerliche Laufbahn entschieden, sondern sein Heil in der Kunst gesucht. Nun drohten zwei Schicksalsschläge ihn völlig aus der Bahn zu werfen. Erst starb sein Vater, der bisher mit widerwilliger Loyalität die Hand über ihn gehalten hatte, und dann war das kleine Theater, in dem sich der Spross mit klagenden Liedern über die Zerrissenheit seiner Existenz hinweggetröstet hatte, geschlossen worden.
Das heißt, geschlossen war nicht ganz richtig. Es war einfach abgebrannt. Der Sohn Agrippinas, gerade zehn Jahre alt, fühlte sich auch zum Bühnenkünstler berufen, und ihm wurde der erste Preis verliehen. Natürlich, er war der Sohn Agrippinas, der einflussreichsten Frau der Stadt. Klein-Nero hätte auch den Wettbewerb gewonnen, wenn er auf der Bühne nur Blähungen von sich gegeben hätte. Damit konnte unser Barde – wenn auch nicht gut – leben. Verhängnisvoll hingegen war, dass Nero seinen Sieg so wild gefeiert hatte, dass das ganze Etablissement in Flammen aufging. Nun war auch der letzte Rückzugsort des Italicus aus dieser kalten Welt zerstört.
Der Trunkene umwankte noch einmal das Grab und wandte seinen Blick zum Nachthimmel.
»Wo ist meine Leier?«
Keine Antwort. Konzentriert denken und zielgerichtet bewegen war in diesem Zustand anstrengend. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er wollte sich bücken, aber er hatte Angst, dabei kopfüber in das ausgehobene Grab zu fallen. Also ging er nur vorsichtig in die Knie und äugte in die Grube.
»Vater«, sagte er schließlich düster. »Du kotzt mich an!«
Dann ließ er seinen Worten Taten folgen und übergab sich.
Nachdem er sich entleert hatte, putzte Italicus mit dem Togastoff notdürftig seine Mundwinkel ab und wankte vorsichtig rückwärts von der Grube weg. Jetzt hineinzufallen wäre noch ekliger gewesen als zuvor. Er plumpste mit seinem Hintern auf die halbfertige Grabplatte und sah betrübt auf seine leeren Hände.
»Ich will meine Leier wiederhaben«, sagte er kläglich.
»Sie liegt hinter dir. Halb unter der Platte«, sagte eine Stimme.
Der Mann sah erschrocken auf.
»Vater, bist du’s?«
»Nein, ich bin’s. Lullo.«
Lullo war der Hauptmann der Prätorianergarde des Statthalters. Der baumlange Bataver trat wie aus dem Nichts auf Italicus zu. Der junge Mann sah, dass Lullo nicht allein war. Seine Soldaten bauten sich so auf, dass Italicus jeglicher Fluchtweg abgeschnitten war.
»Was wollt ihr?« Italicus versuchte sich zu erheben.
Die Soldaten kamen näher.
Italicus rang in seinem Hirn um Klarheit. War er jetzt zu einer persona non grata geworden? Jetzt, wo sein Vater im Totenreich weilte? Es wäre nicht das erste Mal, dass die Römer so mit ehemaligen Bundesgenossen umgehen würden.
Italicus jaulte auf. Er bückte sich nach seiner Lyra und hielt sie mit der linken Hand wie einen Schild vor sich. Mit der rechten hob er einen imaginären Speer hoch über sein Haupt.
»Italicus«, sagte Lullo mahnend. Seine Soldaten wollten ihre Schwerter ziehen, aber Lullo schüttelte den Kopf: Noch nicht.
»Ich bin der Sohn des Flavus«, keuchte Italicus. »Der beste Freund, den die Römer unter den Germanen je hatten. Ich bin sogar in Italien geboren. Und das ist also der Dank …«
Er hob seinen imaginären Speer und stürzte auf Lullo zu. Der machte einen schnellen Schritt zur Seite und versetzte Italicus eine schallende Ohrfeige. Die Wucht des Schlages war so stark, dass sich Italicus um seine eigene Achse drehte und auf dem Hintern landete. Wimmernd erwartete er den tödlichen Stoß. Italicus wartete und wunderte sich. Ihm ging ein Satz durch den Kopf, den die Friesen immer gesagt hatten: »Lieber tot als Sklave.« Das klang gut, aber de facto waren die Friesen genauso von dem Wohlwollen der Römer abhängig wie der Rest der Menschheit.
Italicus stützte sich auf alle vier Gliedmaßen und wollte sich nach oben zwingen. Dann fiel sein Blick auf die Leier, und er sah, dass sie zerbrochen war. Das war zu viel. Italicus stürzte flach auf den Boden. Tränen aus Enttäuschung, Wut und Angst rannen über seine Wangen. Er hielt die Augen geschlossen und drückte das Gesicht in das weiche Friedhofsgras. Doch der Todesstoß blieb aus. Worauf warteten sie noch? Wollten sie ihn quälen?
Statt einer Schwertspitze kurz unterhalb des Schulterblattes spürte Italicus plötzlich die harte Hand Lullos auf seiner Schulter.
»Komm mit, Italicus«, sagte er.
Weil Italicus sich wehrte, zog ihm Lullo die flache Seite seines Schwertes über den Schädel. Italicus verlor das Bewusstsein, wurde von Lullos Legionären aufgefangen und zu einem von zwei Maultieren gezogenen Lastwagen gebracht.
Als Italicus wieder bei Bewusstsein und ausgenüchtert war, fand er sich in einem fensterlosen Raum im Keller des Prätoriums wieder. Die vier Wände wurden nur durch die Fackeln an der Wand beleuchtet, was den Gesichtern von Libertus und Balenus etwas Dämonisches gaben. Italicus kannte die beiden, allerdings war er ihnen bislang immer unter angenehmeren Umständen begegnet.
»Was wollt ihr?«, fragte er dumpf. Seine Lippen waren immer noch dick von dem Schlag, den Lullo ihm verpasst hatte. Sein Gaumen war geschwollen. Er hatte Durst.
Libertus schob ihm ein Blatt und einen irdenen Becher hinüber. Italicus musterte den Becher verächtlich.
»Bin ich ein Sklave? Habt ihr kein Glas?«
Libertus antwortete gleichmütig: »Glas könnte splittern und du könntest dich verletzten.« Er lächelte doppeldeutig: »Und das wollen wir doch nicht, oder?«
»Lies«, fügte Balenus hinzu. Er war ungeduldig und hatte inzwischen manches Mal bereut, dass er sich auf Libertus’ Plan eingelassen hatte. Was, wenn der genauso schiefging wie der Anschleimbrief beim Kaiser?
Das Blatt war mit einem Text in makellosem Latein gefüllt, allerdings waren die Buchstaben klobig und unbeholfen. Es sah aus, als hätte jemand die Worte von einer Vorlage einfach durchgepaust.
Hiermit bitte ich, Segimund, Fürst der Cherusker,
Sohn des Segest, um freies Geleit für den edlen
Italicus, der derzeit noch auf römischem Boden in
der Kolonie Köln haust. Wir wollen Italicus, Sohn
des Flavus, deroselbst Sohn des Segimer, zum König
aller Cherusker krönen, auf das fürderhin Friede und
Eintracht zwischen all unseren Stämmen herrscht.
Nachdem er gelesen hatte, schob Italicus das Blatt wieder zu Libertus zurück. Das musste er erstmal verdauen. Seine Mutter – lange vor seinem Vater verstorben – hatte ihn immer ermahnt, statt der Musik etwas Vernünftiges zu lernen. Ihr schwebte für ihn eine Laufbahn als wortgewandter Advokat vor – und nun wollte man ihn zum König krönen! Italicus der Erste. Klang nicht schlecht.
Libertus, der die musikalische Neigung des Italicus kannte, lächelte aufmunternd. »Wenn du willst, kannst du deine eigene Hymne komponieren.«
»Und ihr wollt mich wirklich zum König aller Cherusker machen?«
»Ja«, sagte Libertus.
»Unter einer Bedingung«, fügte Balenus hinzu. »Bei deiner Krönung übergibst du uns das Feldzeichen, den dritten Legionsadler.«
Italicus überlegte.
»Du weißt doch, wo das Feldzeichen versteckt ist?«
Italicus wich aus: »Würden mich die Cherusker nicht für einen Verräter halten, wenn ich freiwillig die so schwer erkämpfte Trophäe aus den Händen gebe?«
Auf diesen Einwand war Libertus vorbereitet. »Im Gegenteil. Das wäre eine große Geste des Friedens und der Versöhnung.«
Italicus war noch nicht überzeugt. »Kann ich nicht Kriegsgefangene übergeben?«
Obwohl die Schlacht schon achtunddreißig Jahre zurücklag, glaubte man in Rom, dass Legionäre die Schlacht im Teutoburger Wald überlebt hatten und immer noch in germanischer Gefangenschaft schmachteten. Vor ein paar Jahren hatten die Brukterer, ein Nachbarstamm der Cherusker, in Bonn mit großem Getöse – und für viel Geld – Legionäre nach Rom entlassen. Die Aktion sorgte für Publicity, aber dann stellte sich heraus, dass kaum einer der »Legionäre« Latein sprach und niemand wusste, wo Rom lag. Außerdem gefiel Balenus die Idee grundsätzlich nicht. Die Eltern der Gefangenen waren längst tot, Kinder hatten sie Zuhause keine, warum also der Aufstand? Wenn es niemanden gab, auf dessen Befindlichkeiten man Rücksicht nehmen musste, konnte Balenus sehr rabiat sein. Er war eben ein geborener Politiker.
»Wir wollen das Feldzeichen«, sagte Balenus.
Italicus überlegte. Es sprach ziemlich viel dafür, dass einem nur ein Mal im Leben die Königskrone angetragen wurde. Und eigentlich sollte man alles dafür tun. Doch in einem Winkel seines Herzens war Italicus auch Romantiker.
»Gut«, begann er. »Ich werde sagen, wie es ist.«
Komm, spuck’s aus, flehte Balenus innerlich.
»Ich weiß nicht, wo der dritte Adler ist. Niemand weiß das. Es gibt Vermutungen, Gerüchte, Legenden. Mehr nicht.«
Balenus sprang wütend auf. Aber dann begriff er – zeitgleich mit Libertus –, dass Italicus die Wahrheit sagte.
»Mein Vater und mein Onkel haben sich zutiefst misstraut.« Das war eine Lüge, aber Italicus wusste, die Römer würden sie schlucken. Er fuhr fort. »Onkel Arminius wusste, wie gut sich mein Vater mit den Römern versteht. So ein Geheimnis hätte er ihm nie anvertraut.«
Balenus hätte Italicus am liebsten auf die Straße geprügelt. Dann sah er Libertus vorwurfsvoll an. Da stehen wir nun mit deinem famosen Plan! Nun tu was, schrankenloser Emporkömmling! Libertus lächelte Balenus nur beschwichtigend an. Es gab Momente, in denen bewunderte er sich selbst für seine Brillanz und geistige Klarheit.
»Aber gesetzt den Fall, wir hätten das Feldzeichen. Würdest du den dritten Adler in einer großen Zeremonie bei der Inthronisation übergeben?«
Dagegen hatte Italicus nichts einzuwenden. Libertus beschloss, seine besten Leute auf die Suche nach dem Feldzeichen zu schicken. Er war optimistisch. Auch das würde ihm gelingen.
»Dann sind wir im Geschäft.«
Die Krönung von Italicus zum König aller Cherusker sollte Mitte September 799 stattfinden, genau zu der Zeit und auf dem Feld, wo Germanen und Römer einander in der Schlacht gegenübergestanden hatten. Achtunddreißig Jahre nach dem Gemetzel würde die Krönung wie gewünscht jede Erinnerung an »das andere Ereignis« überstrahlen. Die Römer konnten Flüsse umleiten, Straßen und Brücken bauen und Weltreiche im Staub vergehen lassen. Balenus befragte die Auguren, und sie sagten, dass alle Zeichen auf Erfolg standen. Der Frevler Arminius war nur siebenunddreißig Jahre alt geworden, von daher war es gut, ihn achtunddreißig Jahre nach der Schlacht noch einmal symbolisch und diesmal für immer auszulöschen. Die Magie der Zahlen überzeugte Balenus, und er glaubte zu spüren, wie die Gunst des Kaisers ihn zu umwehen begann wie ein warmer mediterraner Wind.
Umrahmt würde die Veranstaltung von einem Markt und anderen Attraktionen. Als Herolde die Nachrichten unter den Cheruskern verbreiteten, zeigte sich, dass Libertus’ Kalkulation aufzugehen schien. Die Schlacht lag zu lange zurück, als dass sich noch ernsthafter Groll gegen die Römer regte. (Und nicht wenige Cherusker waren froh, zum Einkaufen nicht über die Grenze fahren zu müssen.) Bei jenen, die bei der Erinnerung noch patriotische Gefühle hegten, sorgte die Ernennung des Neffen des legen dären Arminius für Entspannung. Dass die Römer einen solchen Mann als König akzeptierten, zeigte doch, dass über die Verletzungen der Vergangenheit Gras gewachsen war und beide Seiten bereit für eine Versöhnung waren. Und dann war da natürlich noch die große Sensation, von der allenthalben gemunkelt wurde. Einige vermuteten ja, es könnte sich tatsächlich um das legendäre dritte Feldzeichen handeln. Wieder andere hofften, der frisch gekrönte König würde anlässlich seiner Amtseinführung Freibier bis zum Abwinken ausgeben. Aber warum auch immer, es regte sich kein größerer Widerstand gegen die Aktion. Es gab nur einen Mann, der fest entschlossen war, die Krönung von Italicus zu sabotieren. Und der traf am Tag vor den Feierlichkeiten unerkannt und unbeachtet auf dem ehemaligen Schlachtfeld ein.
SCHICKSALE UND
SCHLACHTFELDER
Als Rango das legendäre Schlachtfeld nach fast vierzig Jahren wieder erblickte, sah es aus wie eine Mischung aus Rummel und Marktplatz. Auf dem ehedem mit Blut gedüngten Grün standen Planwagen von der anderen Rheinseite, von deren Ladefläche Händler lautstark ihre Waren anpriesen. Rango empfand diese Umwidmung des geschichtsträchtigen Bodens als gotteslästerlich und respektlos. Aber bei den Cheruskern kam die Aktion gut an. Ein Markt gehörte zu den wenigen römischen Neuerungen, die sie begeistert übernahmen. Früher hatte es nur Tauschhandel gegeben, und da fast alle Beteiligten dasselbe anzubieten hatten, wurde es mit dem Tauschen schwierig. Auf einem Markt hingegen! Es gab Kirschen, Äpfel, Spargel, Mangold und Pfirsiche; teilweise halb verfault, aber den Kunden war das egal. Jegliches Obst war eine Sensation. Die Cherusker kannten die Ware nicht anders, und hätte ihnen jemand erzählt, dass Statthalter Balenus sein Obst frisch auf Eis den Rhein hinuntergeschifft bekam, dann hätten sie denjenigen für einen Lügner und Phantasten gehalten.
Darüber hinaus gab es Ziegel, mit denen man – sofern man Geld hatte – ein ganzes Haus so dicht decken konnte, dass weder Wind noch Regen durch die Ritzen drangen. In Käfigen gackerten und gluckten Hühner, die so bunt und farbenprächtig aussahen wie ein römischer Feldmarschall. Am Rande des Moors, dort, wo damals der entscheidende Hinterhalt gelegt worden war, standen Zelte, aus denen Geschirr und Bestecke feilgeboten wurden. Hier verweilte Rango etwas länger und ließ seinen fachkundigen Blick schweifen. Er schätzte römischen Stahl, vor allem, wenn er zu Messern und Schwertern verarbeitet wurde. Mit diesen konnte man alles schneiden, am besten aber immer noch Fleisch.
Neben der Handelsware gab es auch geistige Ergüsse. In einem Zelt versuchte ein konvertierter Germane seine Stammesbrüder von der streng wissenschaftlichen Jupiterlehre zu überzeugen und flehte sie inständig an, diesem esoterischen Humbug namens Wotankult abzuschwören. Er gab sich mächtig Mühe, aber die Nachfrage nach Obst war einfach größer. Auch italienische Designerware wurde angeboten. Die Togen, Kleider und Roben waren sehr begehrt, allerdings für die meisten viel zu teuer. Aber wie unter Analphabeten üblich war die Sehnsucht nach mit einem Herstellernamen bedruckter Ware groß. Kaum ein Germane konnte lesen oder schreiben. Rango sah mehrere junge Mädchen, die sich stolz mit Schals präsentierten auf denen MOESIA SUPERIOR gedruckt stand.
Die Marktanbieter kamen überwiegend aus dem Reich, nur vereinzelt gab es ein paar germanische Stände, an denen typische Produkte der Region – Seife, Blondhaarperücken und kleine Klumpen Blei – angeboten wurden.