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Das Wirken in den Dingen

Fröhliche Wissenschaft 057

Jean François Billeter

Das Wirken in den Dingen

Vier Vorlesungen über das Zhuangzi

Aus dem Französischen von Thomas Fritz

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Vorbemerkung

Die vier Kapitel dieses Buches waren ursprünglich Vorlesungen, die auf Einladung von Professor Pierre-Étienne Will im Herbst 2000 am Collège de France gehalten wurden. Ich fasste darin einige der Ergebnisse zusammen, zu denen mich meine Beschäftigung mit Zhuangzi nach der Aufgabe meines Lehrstuhls an der Universität Genf geführt hatte.

Zhuangzi gehört zu den großen Philosophen des chinesischen Altertums. Er ist um das Jahr 280 vor unserer Zeitrechnung gestorben. Das Buch, in dem seine Schriften und andere, spätere Texte versammelt sind, trägt keinen Titel; man nennt es das Zhuangzi.

Dieses außerordentliche Werk ist von westlichen Sinologen nur wenig studiert worden. Das liegt meines Erachtens daran, dass eine zweifache Kritik geleistet werden muss, um den Zugang zu ihm zu finden. Wir müssen uns einer Anzahl überkommener Vorstellungen über das »chinesische Denken« entledigen und gleichzeitig gewisse Auffassungen in Frage stellen, die zu den grundlegendsten unserer eigenen Geisteswelt gehören.

Zu den vorhandenen Übersetzungen möchte ich mich sehr knapp äußern. Ich halte die von Burton Watson, The Complete Work of Chuang Tzu (New York: Columbia University Press, 1968) nach wie vor für die beste. Eine kritische und kommentierte Übersetzung, die heutigen Ansprüchen genügen würde, wie man sie etwa in der Hellenistik kennt, fehlt und wird noch lange ausstehen.

In den Verweisen auf den Originaltext bezieht sich die erste Zahl auf das Kapitel (das Zhuangzi ist, auf sehr problematische Weise, in 33 Kapitel oder »Bücher« eingeteilt), der Buchstabe auf einen Teil des Kapitels und die letzten Ziffern auf die Zeilen, wie sie in A Concordance to Chuang Tzu (Peking: Harvard-Yenching Institute, 1947, nachgedruckt durch Cheng Wen, Taipei, 1965) nummeriert sind. Für Sinologen ist dies das sicherste Mittel, die Textstelle zu finden. Auf weitere sinologische Hinweise wurde in diesem Rahmen weitgehend verzichtet.

Ich benutze hier die Pinyin-Umschrift, die in der Volksrepublik China festgelegt wurde und zunehmend auch außerhalb Chinas gebraucht wird, aber den Nicht-Sinologen Schwierigkeiten bereitet. Im Anhang sind die im Text zitierten chinesischen Namen, Wörter und Ausdrücke in chinesischen Schriftzeichen wiedergegeben.

Es sei angefügt, dass den hier übersetzten Leçons sur Tchouang-tseu (Paris: Allia, 2002) eine Sammlung von Einzelstudien folgte: Études sur Tchouang-tseu (Paris: Allia, 2004). Die chinesische Übersetzung der Leçons (Peking: Zhonghua shuju, 2009) war Anlass eines Kolloquiums an der Academia Sinica in Taipei, das zu einer kritischen Bilanz und neuen Fragen führte, zusammegefasst in Notes sur Tchouang-tseu et la philosophie (Paris: Allia, 2010), das wiederum ins Chinesische übersetzt wurde (Taipei: Academia Sinica, 2012, in Newsletter of the Institute of Chinese Literature and Philosophy, Vol. 22, No. 3). Die chinesische Übersetzung der Leçons erschien auch in Taiwan (Taipei: Linking Books, 2011).

Das Wirken in den Dingen

Es gibt verschiedene Arten, das Zhuangzi zu lesen, aber für mich grundsätzlich nur eine richtige. Sie versucht sicher und genau den Sinn zu erfassen, den der Autor zum Ausdruck bringen wollte. Ich suche mich dieser Lektüre anzunähern, weil sie die interessanteste zu sein verspricht, aber auch, weil mir dieses anfängliche Postulat unter methodischen Gesichtspunkten notwendig erscheint. Wenn die Forscher nicht auf ein solches Ziel hinarbeiten, sehe ich nicht, wie ihre Bemühungen zusammenkommen und gemeinsam zu einem angemessenen Verständnis des Textes führen können.

Ich wende mich damit gegen ein stillschweigendes Abkommen, das unter den Sinologen zu gelten scheint: Der Text sei so schwierig, seine Textgestalt so problematisch und das Denken, das sich darin ausdrückt, so fern von dem unseren, dass es naiv oder vermessen wäre, ihn genau verstehen zu wollen. In China selbst seien im Laufe der Jahrhunderte so viele Glossen, Kommentare und Interpretationen hinzugefügt worden, und oft von solcher Dunkelheit, dass die Hindernisse unüberwindbar geworden seien. Man verständigt sich umso lieber darauf, als es sich dann erübrigt, den Text aufmerksam zu studieren, und man sich damit begnügen kann, alte Gemeinplätze zu wiederholen oder ihn nach eigenem Gutdünken zu interpretieren, ohne Gefahr zu laufen, auf Widerspruch zu stoßen.

Ich möchte mit diesem Abkommen brechen – nicht, um dem Leser eine bestimmte Lektüre aufzudrängen, sondern um ihm zu zeigen, wie ich bei meinem Versuch, das Zhuangzi zu verstehen, vorgegangen bin, und um ihm einige Ergebnisse vorzulegen, die ich für gesichert halte; aber auch, um meine Zweifel und Fragen festzuhalten. Ich möchte ihm zeigen, welche Entdeckungen man macht, wenn man den Text in aller Strenge und mit großer Offenheit studiert.

Meine Arbeit hat folgendermaßen begonnen: Über Jahre habe ich einzelne Teile des Zhuangzi übersetzt, weil ich daran Freude hatte und die Übersetzungen mit einem philosophisch gebildeten Freund besprechen konnte. Während ich zeitweilig daran arbeitete, wurde mir mehr und mehr deutlich, wie sehr das Original nicht nur den vorhandenen Übersetzungen, sondern auch den Interpretationen der westlichen Sinologen und selbst der chinesischen Literaten überlegen war. Ein wachsendes Interesse für den Text ging mit einem zunehmenden Misstrauen gegen diese gesamte Sekundärliteratur einher. Je mehr ich das Werk selbst verstand oder es wenigstens stellenweise zu verstehen begann, desto deutlicher wurde mir das Unverständnis, dem es selbst in China schon seit alter Zeit ausgesetzt war. Schließlich fand ich mich nicht vor einem, sondern vor zwei großen Forschungsgegenständen: dem Zhuangzi als solchem und der Geschichte der Verharmlosungen, Aneignungen und Verdrehungen, die im Laufe der Jahrhunderte an diesem Werk verübt worden sind.

Ich füge hinzu, dass meine Arbeit nie eine solche Wendung genommen hätte, wenn ich nicht mit dem Übersetzen angefangen und es stets zu meinem Hauptanliegen gemacht hätte. Keine andere Methode nämlich, keine andere intellektuelle Disziplin zwingt so rigoros und vollkommen, auf alle Eigenschaften eines Textes zu achten, unter Einbeziehung von Gliederung, Rhythmus und Ton – Eigenheiten, die ihm gemeinsam seinen Sinn verleihen. Dieses kritische Hin und Her zwischen dem Original und der Folge seiner französischen Fassungen ist unentbehrlich. Ich bin überzeugt, dass eine Interpretation, die nicht einer solchen Übersetzungsarbeit entspringt, notwendigerweise subjektiv und willkürlich ist.

Im Großen und Ganzen scheinen die westlichen Exegeten und Übersetzer, die sich bisher mit dem Zhuangzi beschäftigt haben, auf vier verschiedene Arten vorgegangen zu sein: Am häufigsten sind sie der traditionellen chinesischen Exegese gefolgt. Manche haben versucht, diese Exegese durch Rückgriffe auf die Ideen- und Religionsgeschichte des alten China zu präzisieren oder zu erneuern. Andere haben sich dem philologischen Studium des Textes gewidmet und sich im Allgemeinen an Fragen der Überlieferung, der Herkunft und der Authentizität gehalten. Wieder andere haben versucht, gewisse Motive des Zhuangzi mit Ideen westlicher, meist zeitgenössischer Philosophen in Beziehung zu setzen.

Diese Ansätze schienen mir zum Teil nützlich, aber insgesamt unbefriedigend. Andere Möglichkeiten sah ich nicht, bis mir eines Tages Folgendes einfiel: Das Zhuangzi, sagte ich mir, ist kein gewöhnlicher Text. Es ist, wenigstens zu Teilen, das Werk eines Philosophen, das heißt eines Menschen, der selbstständig denkt und seine Erfahrung von sich, den Menschen und der Welt zum Gegenstand seines Denkens macht; der beachtet, was andere Philosophen denken oder vor ihm gedacht haben; der sich der Fallen der Sprache bewusst ist und von ihr einen kritischen Gebrauch macht.

Damit eröffnete sich eine neue Perspektive. Da ich selbst einen Hang zur so verstandenen philosophischen Tätigkeit hatte, waren wir uns in gewissem Sinne ebenbürtig. Wenn er selbstständig dachte und dabei seine eigene Erfahrung zum Gegenstand nahm, so musste ich einen Zugang zu ihm finden, wenn ich dasselbe tat – denn seine und meine Erfahrungen mussten sich wenigstens zum Teil decken. Dies ist zum ersten Grundsatz meiner Methode geworden. Wenn ich einen Text des Zhuangzi angehe, dann frage ich zuerst nicht nach der Idee, die der Autor entwickelt, sondern danach, von welcher besonderen Erfahrung oder welchem Aspekt der gemeinsamen Erfahrung er spricht.

Den zweiten Grundsatz meiner Methode habe ich bei Wittgenstein gefunden, genauer in der folgenden Bemerkung: »Hier stoßen wir auf eine merkwürdige und charakteristische Erscheinung in philosophischen Untersuchungen«, schreibt er in seinem Zettel. »Die Schwierigkeit – könnte ich sagen – ist nicht, die Lösung zu finden, sondern, etwas als die Lösung anzuerkennen, was aussieht, als wäre es erst eine Vorstufe zu ihr […] Das hängt, glaube ich, damit zusammen, dass wir fälschlich eine Erklärung erwarten; während eine Beschreibung die Lösung der Schwierigkeit ist, wenn wir sie richtig in unsere Betrachtung einordnen. Wenn wir bei ihr verweilen, nicht versuchen, über sie hinauszukommen. Die Schwierigkeit ist hier: Halt zu machen.«1 Wittgenstein hat diese Bemerkung auf verschiedene Weise und an verschiedenen Stellen seines Werks wiederholt. In seinem letzten Manuskript nimmt er sie in folgender Form wieder auf: »Einmal muss man von der Erklärung auf die bloße Beschreibung kommen.«2 In seinem späteren Werk widmet er sich in der Tat einer geduldigen, unermüdlich wiederholten Beschreibung gewisser ganz grundlegender Erscheinungen. Dies macht seine Aufzeichnungen so eigenartig. Er beobachtet mit außerordentlicher Aufmerksamkeit, was ich das unendlich Nahe und fast Unmittelbare nennen möchte.

Ich bemerkte, dass Zhuangzi in gewissen Texten, die mir vertraut waren, auf seine Weise dasselbe tat. Ich hatte angenommen, dass er ein Philosoph war, also selbstständig dachte und von seiner eigenen Erfahrung ausging. Ich entdeckte jetzt, dass er sie beschrieb und dass seine Beschreibungen sehr präzise und von großem Interesse waren. Es waren Beschreibungen des unendlich Nahen und fast Unmittelbaren. Ich konnte mich auf sie stützen, um wichtige Elemente seines Denkens zu verstehen, und war in der Lage, davon ausgehend nach und nach andere, mir noch unverständliche Teile seiner Schriften zu erschließen.

Man muss bei der Beschreibung stehen bleiben, sagt Wittgenstein. Das bedeutet zweierlei: Dass wir unsere üblichen Geschäfte einstellen müssen, um aufmerksam zu beobachten, was wir vor Augen haben oder was sogar noch näher bei uns liegt. Und dass wir dann genau beschreiben müssen, was wir sehen, und uns die Zeit nehmen, dafür die richtigen Worte zu finden. Um genau wiederzugeben, was wir wahrnehmen, und nichts als das, müssen wir den Verführungen der Sprache widerstehen und ihr im Gegenteil unseren Willen aufzwingen, was uns nur gelingen kann, wenn wir sie vollkommen beherrschen. Es ist kein Zufall, dass Wittgenstein und Zhuangzi, jeder auf seine eigene unverwechselbare Art, so bemerkenswert gut schreiben.

Hier nun das erste Beispiel einer Beschreibung, wie man sie im Zhuangzi findet. Es stammt aus einem bekannten Dialog des Buches 3. Ein Zeitgenosse Zhuangzis, der Prinz Wenhui, von 369 bis 319 Herrscher des Staates Wei, spricht zu einem seiner Köche – einer von Zhuangzi erfundenen Figur:

Der Koch Ding zerlegte ein Rind für den Prinzen Wenhui. Man vernahm ein leises hua, wenn er das Tier mit der Hand ergriff, dessen Masse mit der Schulter aufhielt und mit Knie und gestemmtem Bein zum Stillstand brachte. Man hörte ein leises huo, wenn sein Messer regelmässig zuschlug, als führte er einen antiken Tanz auf, als folgte er dem Rhythmus einer Hymne aus alter Zeit. – Wie wunderbar! rief der Prinz aus; eine solche Gewandtheit hätte ich nie für möglich gehalten!

Der Koch legte sein Messer nieder und antwortete: Was Ihren Diener interessiert, ist das Wirken in den Dingen, nicht nur die Technik. Als ich meinen Beruf auszuüben begann, sah ich das ganze Rind vor mir. Drei Jahre später sah ich nur mehr Teile davon. Heute treffe ich es mit dem Geiste, ohne es mehr mit meinen Augen zu sehen. Meine Sinne spielen keine Rolle mehr, mein Geist verfährt souverän und folgt von selbst der Gliederung des Rindes. Wenn die Klinge teilt und trennt, so folgt sie den Spalten und Rissen, auf die sie stößt. Sie rührt weder an die Adern, noch an die Sehnen, noch an die Knochenhaut und natürlich auch nicht an den Knochen selbst. (…) Wenn ich auf ein Gelenk stoße, suche ich die schwierige Stelle, richte den Blick darauf und trenne es mit äußerster Vorsicht langsam auf. Unter dem feinen Schnitt der Klinge lösen sich die Teile mit einem leichten Geräusch, als ließe man etwas Erde auf den Boden rieseln. Mein Messer in der Hand richte ich mich alsdann auf, blicke um mich, vergnügt und zufrieden, und stecke die Klinge, nachdem ich sie gereinigt habe, in die Scheide zurück.3

Ich habe nur einen Teil des Textes zitiert, weil mich zunächst die kurze Beschreibung interessiert, die der Koch von den Etappen seines Lernprozesses gibt.

Als er anfing, seinen Beruf auszuüben, so erklärt er dem Prinzen, sah er »das ganze Rind« vor sich. Er fühlte sich dem Objekt gegenüber machtlos, das ihm mit seiner ganzen Masse entgegenstand. Dann wandelte sich dieses anfängliche Gegenüber von Objekt und Subjekt. Nach drei Jahren der Übung sah er »nur mehr einzelne Teile« des Rindes – die, deren Zerteilung eine besondere Aufmerksamkeit erfordert. Er war geschickter geworden, hatte angefangen den Widerstand des Objekts zu überwinden und war sich nunmehr weniger des Objekts als seiner eigenen Handlung bewusst. Endlich veränderte sich das Verhältnis ganz: Heute, so sagt er dem Prinzen, »treffe ich das Rind mit dem Geist, ohne es mehr mit meinen Augen zu sehen. Meine Sinne spielen keine Rolle mehr, mein Geist verfährt souverän und folgt von selbst der Gliederung des Rindes.« Seine Gewandtheit und Erfahrung sind nun solcher Art, dass das Rind keinen Widerstand mehr bietet und damit für ihn nicht mehr als Objekt existiert. Diese Aufhebung des Objekts geht mit jener des Subjekts einher. Der Koch geht so vollkommen in seiner Handlung auf, dass er das Rind mit seinem Geist trifft, ohne es mehr mit seinen Augen zu sehen. Gemäß der Logik des Lernprozesses, den ich soeben skizziert habe, kann der »Geist« (shen) hier weder eine dem Koch äußerliche noch eine gesonderte Kraft in ihm sein. Dieser »Geist« kann nichts anderes sein als die vollkommen integrierte Aktivität des Handelnden. Wenn sich eine solch durchgreifende Synergie einstellt, dann verwandelt sich seine Aktivität und geht in eine höhere Form über. Sie scheint sich von der Kontrolle durch das Bewusstsein loszulösen und nur noch sich selbst zu gehorchen. »Mein Geist«, sagt der Koch, »verfährt souverän und folgt von selbst der Gliederung des Rindes«.4

Die vom Koch beschriebenen Etappen sind kein leeres Gerede. Wir kennen sie, wir haben sie selbst schon hundert Mal durchlaufen. Als wir als Kinder lernten, Wasser in ein Glas zu gießen oder eine Scheibe Brot abzuschneiden, mussten wir zunächst die Trägheit der Objekte überwinden. Als deren Widerstand geringer wurde, konnten wir uns auf die schwierigen Punkte konzentrieren und sorgten dafür, dass kein Tropfen Wein auf das Tischtuch fiel oder dass die Brotscheiben gleich dick wurden. Schließlich haben wir diese Vorgänge mit Leichtigkeit ausgeführt und sind spielerisch mit den Dingen umgegangen. Ab und zu haben wir die besondere Synergie zustande gebracht, die eine Handlung qualitativ verwandelt und ihr eine wunderbare Wirksamkeit verleiht: Nach einem gut geführten Schlag mit dem Hammer zum Beispiel, der mühelos einen großen Nagel ins Holz trieb, ist es uns da nicht wie dem Koch Ding ergangen, der sich nach vollendeter Tat »aufrichtet, sein Messer in der Hand, und vergnügt und zufrieden um sich blickt«?

Auch wenn es nicht um die Handhabung von Gegenständen, sondern nur um die Koordination unserer Bewegungen geht, sind die Etappen des Lernprozesses die gleichen. Wir haben sie durchlaufen, als wir zu gehen oder zu reden lernten. Wir durchlaufen sie, wenn wir eine Fremdsprache erlernen. Wie der Metzger sein Rind, sehen wir die fremde Sprache zunächst als ein kaum zu bewältigendes Ganzes vor uns, das unserem Wunsch, uns auszudrücken, entgegensteht. Später sehen wir nur mehr ihre schwierigen Teile, schließlich »treffen wir sie mit dem Geist«. Wenn wir sprechen, »verfährt unser Geist souverän und folgt wie von selbst ihrer Gliederung«. Sie ist kein Äußeres mehr für uns, sie ist uns kein Objekt mehr. Oder denken wir an die Musik, an die Beherrschung eines Instrumentes, der Violine zum Beispiel – an die Etappen, die von den Anfangsschwierigkeiten bis hin zu den Wundern führen, die ein überlegener Musiker in gewissen begnadeten Momenten vollbringt.

Wir kennen diese Phasen des Lernprozesses, sind aber nicht auf den Gedanken gekommen, sie in vier kurzen und treffenden Sätzen zusammenzufassen. Zhuangzi liefert das Paradigma, das uns fehlte. Er verschafft uns das Mittel, eine Vielzahl von verstreuten Beobachtungen zusammenzuführen und zu ordnen, sie durch andere zu ergänzen und damit einen Teil unserer Erfahrung in ein neues Licht zu rücken. Es ist tatsächlich so, dass wir bei der Aneignung all unserer bewussten Handlungen, von den einfachsten zu den kompliziertesten, diese Etappen durchlaufen haben.

Der Leser wird bemerkt haben, dass ich dem Wort »Erfahrung« eine besondere Bedeutung gebe. Ich meine nicht die Erfahrungen, die man sich durch die Ausübung eines Berufs oder im Laufe eines Lebens aneignet oder besonderen Erlebnissen verdankt. Ich bezeichne mit diesem Wort das Substrat unserer bewussten Handlungen, dem wir normalerweise keine Aufmerksamkeit schenken, ja das wir kaum je zur Kenntnis nehmen, weil es uns zu nahe und zu vertraut ist, das wir aber deutlicher wahrnehmen können, wenn wir es wollen. Es braucht dazu eine besondere Art von Aufmerksamkeit, die wir kultivieren können. Und eben diese Art von Aufmerksamkeit müssen wir entwickeln, um Zhuangzi richtig lesen zu lernen.

Hier ein weiterer bemerkenswerter Dialog, wiederum zwischen einer historischen Persönlichkeit, dem Herzog Huan, einem berühmten Herrscher des Staates Qi (er regierte von 685 bis 643), und einer erfundenen Figur, einem Wagner namens Bian. Die Szene spielt im Hofe des Palastes. Es ist natürlich undenkbar, dass ein Handwerker unaufgefordert die Stufen emporsteigt, die zur Halle des Herrschers führen, und zu ihm spricht.