Ernst Jandls wohl berühmtestes Liebesgedicht ist »liegen bei dir«. In wenigen sachlichen Zeilen beschreibt er, wer wen im Arm hält, bemißt mit nicht zu überbietender Anschaulichkeit, welche Bedeutung die Liebe für ihn hat: Zuflucht und Halt. In anderen seiner Liebesgedichte geht es drastischer und direkter oder auch zurückhaltender und feiner zu.
Der radikalste Sprachkünstler unter den Lyrikern des 20. Jahrhunderts hat einige der eindrucksvollsten und eingängigsten Liebesgedichte der deutschen Literatur geschrieben – und vielleicht auch einige der überraschendsten
Die vorliegende Auswahl stellt 99 Liebesgedichte Ernst Jandls vor und führt in das Gesamtwerk des Dichters ein.
Ernst Jandl wurde am 1. August 1925 in Wien geboren. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs kam er kurz in englische Kriegsgefangenschaft und kehrte nach seiner Freilassung nach Wien zurück. In den 50er Jahren lernte er die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker, seine spätere Lebensgefährtin, kennen. 1973 zählte er zu den Gründern der Grazer Autorensammlung, der er zwei Jahre später als Vizepräsident und in den 80ern als Präsident vorstand. Jandls Werk zählt bis heute zu den wichtigsten der experimentellen Lyrik im deutschen Sprachraum. Ernst Jandl starb am 9. Juni 2000.
Klaus Siblewski, 1950 in Frankfurt am Main geboren, ist Verlagslektor und lehrt als Professor am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft an der Universität Hildesheim. Er hat u. a. die Werke von Ernst Jandl, Peter Härtling und Peter Turrini herausgegeben.
Ernst Jandl
Liebesgedichte
Ausgewählt und mit
einem Nachwort versehen
von Klaus Siblewski
Insel Verlag
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4379.
© dieser Zusammenstellung Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2009
© für die Gedichte von Ernst Jandl 1997, 2001
by Luchterhand Literaturverlag München, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.
Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
Quellennachweise am Schluß des Bandes
Umschlag: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagfoto: FinePic®, München
Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
eISBN 978-3-458-74052-0
www.insel-verlag.de
auf botengängen
zwischen lazarettbaracken
sah er zum erstenmal frauen so an
wie der mann frauen ansieht.
aber er sagte nicht: ich, mann.
so aber sah er sie an: wie einer
der im käfig aufwacht.
aber er sagte nicht: ich, mann.
so aber sah er sie an: wie einer
dem keiner den käfig aufmacht.
aber er sah sie auch so an: wie einer
der im käfig nicht allein ist.
er hatt' nämlich kameraden.
die peitschten ihm feuer in die wangen –
die peitschten ihm wasser aus der stirn –
die peitschten bis das feuer das wasser fraß –
die rieben dabei vergnügt
die hände.
sie blieben wach bis er schlief.
sie standen um sein bett. sie hörten zu.
da wuchs ihm das herz durch den mund.
da rieben die kameraden vergnügt
die hände.
so brechen wir auf und jagen auseinander.
einer sucht sich norden aus und spannt die hunde vor den schlitten.
einer sucht sich süden aus und spannt den schlitten vor die hunde.
einen trifft im norden das eis, und es zerbricht ihm die hunde.
einen trifft im süden das eis, und es zerbricht ihm den schlitten.
so fallen wir zusammen.
laß mich heraus! so ein
schrei ist sie. er
hält bloß seine
hand davor.
was ihm gefällt
tut er mit ihr.
was ihm gefällt
tut er ohne sie.
eine rechte hand
in einer rechten hand
da gehören zwei dazu
zwei rechte hände
und an der einen ich
und an der andern du
da gehören zwei dazu
ein ich und ein du.
ich geb dir meinen namen
und steck dir einen ring an
du steckst mir einen ring an
in ewigkeit amen.
im hintergrund die damen
halten sich vor die augen
seidene taschentücher
mit monogrammen.
wir haben gott zum zeugen
jedoch zum unterschreiben
vor dem beamten
zwei unserer bekannten.
wir haben gott zum zeugen
jedoch als gratulanten
graue elternreste
und teegefüllte tanten.
wir werden am büffet
vor glacierten torten
nebeneinander aufgestellt
und lebengelassen
und verabschiedet
mit freundlichen worten
und alleingelassen
und ausgezählt.
eine rechte hand
in einer rechten hand
da gehören zwei dazu
zwei rechte hände
und an der einen ich
und an der andern du
da gehören zwei dazu
ein ich und ein du.
während wir warteten,
trat eine frau in den garten. frau,
sagte da einer von uns. die frau
sah herüber zu uns. frau,
dachte da jeder von uns. die frau
lachte herüber zu uns. jeder von uns –
aber die frau
drehte sich weg und ging aus dem garten.
ziehen wir herunter die
undurchsichtige jalousie
die augen anderer sind
immer gegenüber
die augen anderer sind
immer bewußt
und stören das glück im
beleuchteten zimmer
der mann sucht
die frau
mit seinen augen und
mit seinen händen
und geht durch straßen
(leicht zu finden
sagen andere)
der mann sucht
die frau
für seine augen und
für seine hände
für seine augen und
für seinen mund
der worte sprechen möchte
die schwer zu finden sind
unter anderen.
ich erinnere mich dunkel: ich war dunkel
und wollte einen dunklen mann.
er war blond und wollte eine blonde frau.
ich erinnere mich genau wie blond er war.
ich erinnere mich dunkel: er war blond
und wollte eine blonde frau.
ich war dunkel und hatte einen mann der blond war.
ich erinnere mich genau wie blond er war.
ich erinnere mich dunkel: weil ich dunkel war
wollte ich einen dunklen mann.
er war blond doch er hatte eine frau die war dunkel.
ich erinnere mich genau wie dunkel ich war.
worte
tastende worte
dann
küsse
atemanhaltende küsse
dann
ergüsse
fruchtbringende ergüsse
dann
der künstliche abortus
ich habe begonnen
über stiegen zu fallen
und frage ärztliche freunde
nach der lage der niere.
dir sage ich, drück mich dort nicht
zu fest
aber laß mich um himmelswillen nicht los.
brüchiges laub
und der staub aus diesem
ist die fortsetzung der knospen.
früh schon fielen die blüten; aber das blattgrün
und die aussicht auf einen guten markt
ließen den frühling restlos vergessen.
vielleicht
hält noch phidias
dein gesicht fest.