Lebensversuche moderner Demokratien
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de
© der E-Book-Ausgabe 2014 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-619-4
E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
© 2014 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-279-0
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
I |
Demokratie und Krise |
II |
Was ist Demokratie? |
III |
Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg |
IV |
Die Errichtung der liberalen und sozialen Demokratie |
V |
Die große Krise und die deutsche Katastrophe |
VI |
Wie überleben Demokratien? |
VII |
Fragilität und Stabilität |
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Anmerkungen |
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Schlussbemerkung und Dank |
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Bibliografie |
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Zum Autor |
Demokratie und Krise sind ein unzertrennliches Paar. Warum sollte man heute darüber nachdenken? Seit die moderne Demokratie mit den demokratischen Revolutionen im 18. Jahrhundert begann, gehört auch die Krise an ihre Seite. Es geht nicht anders. Demokratie lebt von der öffentlichen Debatte. Debatte braucht Zuspitzung, und in Gemeinwesen, die nicht winzige Stadtstaaten sind, bedeutet Öffentlichkeit Presse, und Presse ist ein Geschäft, dem es um den Gewinn von Aufmerksamkeit geht. Das führt zu einem Kreislauf der öffentlichen Erregung, den schon der französische Denker und Politiker Alexis de Tocqueville, der Vater aller modernen Demokratiediagnostiker, auf seiner Reise durch die amerikanische Demokratie im 19. Jahrhundert beobachtete, bewunderte und beklagte. Demokratien befinden sich in der Dauerkrise. Das ist ihr Existenzmodus. Entweder wird die Krise herbeigeredet, oder sie ist da, und manchmal geschieht auch beides zugleich. Darum ist es für Demokratien so schwer zu erkennen, wann es wirklich ernst wird.1
Irgendwie geht es immer weiter. Aber manchmal steht alles auf dem Spiel. Wie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Demokratie stand eine glänzende Zukunft offen. Sie selbst schien die Zukunft zu sein, die Zukunft der ganzen Welt. Sie legte zum ersten Mal allen Bürgern, Männern und Frauen, die Regierung in ihre eigenen Hände. Sie brachte Freiheit, Gleichheit, ökonomisches Wachstum und zarte Andeutungen von Wohlstand für alle.
Doch dann brach die Katastrophe der Weltwirtschaft herein. Die Krise wurde lebensbedrohlich. Die Demokratie reagierte, versuchte, die Krise zu besänftigen und zu beherrschen. Und geht der Blick über Deutschland hinaus, gelang ihr das erstaunlich gut. Von den liberalen und sozialen Demokratien, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden waren oder sich aus »alten« Demokratien entwickelt hatten und die eine gewisse Festigkeit ausbilden und Zustimmung finden konnten, brach nur eine unter dieser Krise zusammen: die deutsche Demokratie. Allerdings mit so tragischen Folgen, dass schließlich die ganze Welt in die Katastrophe eines neuen, des Zweiten Weltkrieges gestürzt wurde. Dass die Weimarer Republik zerstört wurde, lag nicht daran, dass die Deutschen ein grundsätzlich und völlig anderes Verhältnis zur Demokratie gehabt hätten. Das wird sich auf den folgenden Seiten zeigen. Der Grund dafür war, um es in der Sprache unserer Zeit zu sagen, ein völlig verfehltes Krisenmanagement.
Die Demokratie befindet sich wieder in einer Krise. Dass sie bestehen bleibt, oder so bestehen bleibt, wie wir sie kennen, ist nicht selbstverständlich: Das ist kein Untergangsszenario, sondern ein nüchterner historischer Befund. Die historische Erfahrung zeigt jedoch auch, dass mit dem Durchhaltevermögen, der Anpassungsfähigkeit, dem Erfindungsreichtum der Demokratie immer zu rechnen ist. Es ist weder die Zeit für Abgesänge noch für Selbstzufriedenheit, sondern für Selbsterkundung. Was kann die Geschichte der modernen Demokratie dazu beitragen? »Unkenntnis der Vergangenheit führt zwangsläufig zu einem mangelnden Verständnis der Gegenwart. Es ist aber vielleicht nicht weniger vergeblich, angestrengt die Vergangenheit verstehen zu wollen, solange man über die Gegenwart nicht Bescheid weiß.«2
Diese Sätze stammen vom größten Historiker des 20. Jahrhunderts, Marc Bloch, der in zwei Kriegen und dann im Widerstand kämpfte und 1944 von der Gestapo gefoltert und erschossen wurde. Als 1940 die französische Republik besiegt worden war, von jenen, die zuvor auch die deutsche Demokratie zerstört hatten, und von ihren vielen begeisterten Anhängern nicht nur in Deutschland, ergründete Bloch, für den Erfahrung, Ethik und Erkenntnis zusammengehörten, die »intellektuellen Ursachen für unsere Niederlage«. Seine »Gewissensprüfung« kam zu dem Schluss: »Es fehlte gerade denen an Wissensdurst, die am ehesten in der Lage gewesen wären, ihn zu stillen«, den politischen, gesellschaftlichen, intellektuellen Eliten. »Denkfaulheit« führte zu »fataler Selbstgefälligkeit«. »Wir sind verloren, wenn wir uns in uns selbst zurückziehen; wir werden gerettet nur dann, wenn wir unser Hirn anstrengen, um unserer Wissen zu vertiefen und unsere Auffassung zu beschleunigen.«3 Die französische Demokratie der Zwischenkriegszeit, die den Schritt zur sozialen Demokratie verpasst, sich in inneren Auseinandersetzungen aufgerieben und kein entschlossenes Führungspersonal gefunden hatte, war auf ihren Gegner nicht vorbereitet. Sie hatte, in Gezänk verstrickt, dem Fatalismus ergeben, ihre Zeit vertan.
Heute hat die Demokratie an Selbstgewissheit verloren. Sie steht Problemen gegenüber, die unlösbar erscheinen und ihre Handlungsfähigkeit überfordern. Viele dieser Probleme lassen sich mit einem Achselzucken, mit dem »Irgendwie geht es immer weiter«-Reflex verdrängen und so vorerst bewältigen. Demografie, Renten, Integration, Infrastruktur, Bildung, Hochschulen, die Aufzählung ließe sich erheblich verlängern: beharrliche und vertraute Begleiter seit vielen Jahren. Wir kennen sie und fürchten uns nicht, solange sie nicht gravierende Einschnitte im Lebensstandard mit sich bringen. Zudem üben die Alarmrufe der Krisenpropheten eine betäubende Wirkung aus: Demnach liegt das Ende der Demokratie schon hinter uns, und das Zeitalter der »Postdemokratie« ist angebrochen. In der Regel leidet die Plausibilität solcher Szenarien schon darunter, dass die Warnrufer sich etwas ganz anderes unter Demokratie – und folglich unter ihrem Untergang – vorstellen als die Mehrheit sowohl der Bürger als auch der politischen und intellektuellen Eliten in den Demokratien. Wie stichhaltig ihre Prognosen sind, dürfte sich schnell klären.
Wenn man die Alarmisten ebenso wie die Achselzucker ignoriert und sich nur auf die Stimmen des common sense konzentriert, auf das Leitmedium des globalen Kapitalismus etwa, die Financial Times, tritt eine Verkettung von Problemen zutage, die nicht unähnlich derjenigen ist, die in den dreißiger Jahren selbst die traditionsreiche Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika beinahe in den Abgrund gestürzt hätte. Viele kluge amerikanische Demokraten fürchteten den Zusammenbruch, und auch in Großbritannien, so gern als das Mutterland der Demokratie tituliert, obwohl es erst nach dem Ersten Weltkrieg im damaligen Sinne eine Demokratie geworden war, griff angesichts einer katastrophalen Dauerkrise der Pessimismus um sich. »Kann die Demokratie überleben?«, fragte 1933 ein prominenter Intellektueller, Leonard Woolf, sein Massenpublikum in einer BBC-Sendung.4 Diese Angst der Demokraten wird in vielen Darstellungen der Zwischenkriegszeit, die nur den Untergang der deutschen Demokratie im Blick haben, ignoriert oder heruntergespielt. Doch die Zeitgenossen wussten nicht, dass ihre Geschichte gut ausgehen würde.
Akut ist heute, wie damals, die globale Krise des Kapitalismus, die dieses Mal – 1929 war die Ausgangslage unklarer – an den Finanzmärkten begonnen und sich mittlerweile zu einer Krise der Weltwirtschaft und womöglich sogar zu einer fundamentalen Krise des ökonomischen Wachstums ausgeweitet hat. Allen Rettungsmeldungen und Erholungsanzeichen zum Trotz: Die wirtschaftliche Krise von 2008/2009, die von allen renommierten Experten für die gravierendste seit der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre gehalten wird, schwelt immer noch vor sich hin.
In dieser Krise ist die kurzfristige konjunkturelle Katastrophe, der Zusammenbruch der Finanzmärkte, mit langfristigen Entwicklungen zusammengetroffen. Das Ende der Nachkriegsprosperität, das sich schon lange angekündigt hatte, aber von vielen »Booms« und »Blasen« abgefangen worden war, hat sich in seiner ganzen Hässlichkeit gezeigt. Gleichzeitig haben sich die ersten schädlichen Folgen des in vielen Staaten vorangetriebenen »Strukturwandels« – von der Industrie- zur »postindustriellen« Dienstleistungsgesellschaft – bemerkbar gemacht. Das, was jahrzehntelang als das Staatsgeheimnis der westlichen Demokratien galt, die beinahe schon mythische, den sozialen Konsens stiftende Integrationskraft des wirtschaftlichen Wachstums, ist plötzlich verschwunden. Wenn es nicht mehr weitergeht, was kann dann noch verteilt werden?
Die ökonomistische Sicht der Demokratie, das Verständnis der Demokratie als Zugewinngemeinschaft, in der Wachstum alle gesellschaftlichen Ansprüche befriedigen und so Stabilität garantieren kann, wird weiterhin auf die Probe gestellt – die Antwort ist noch offen. Angesichts von Wachstumsraten, die sich seit 2008 nicht mehr erholt haben, wird von führenden Wirtschaftsexperten sogar die Frage gestellt, ob ökonomisches Wachstum, wie wir es im 20. Jahrhundert kannten, überhaupt noch möglich ist.5 Die »Grenzen des Wachstums«, ein Schlagwort aus den siebziger Jahren, das sich damals vor allem auf die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und auf die Umweltverschmutzung bezog, hat eine ökonomieimmanente Umdeutung erfahren: Demnach wird es die Wirtschaft aus eigener Kraft nicht mehr schaffen, dass es so weitergeht wie bisher – was für diejenigen, die mit Walter Benjamin der Auffassung sind: »dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe«, eine gute Nachricht sein könnte.6 Für die Demokratie ist es keine gute Nachricht.
Während im Paris der späten dreißiger Jahre, als die Deutschen beinahe schon vor den Toren standen, die Gültigkeit von Walter Benjamins Satz außer Frage stand, dürfte angesichts der langfristigen Entwicklungen, die in den vergangenen Jahren zum Stillstand gekommen oder sogar umgekehrt worden sind, das Gegenteil der Fall sein: Dass es nicht mehr »so weiter« geht, ist ein gewaltiges Problem für die Demokratie. Nicht allein die durch Krisenmanagement verschärfte oder abgemilderte Wirtschafts- und Finanzkrise selbst und der Rückgang des ökonomischen Wachstums sind damit gemeint. Vor unseren Augen ist ein Prozess abgebrochen, der vor noch nicht allzu langer Zeit weit über Europa, Nordamerika und Transozeanien hinaus als eine der größten zivilisatorischen Leistungen der Weltgeschichte betrachtet wurde. Das »Jahrhundert der Umverteilung« (Pierre Rosanvallon), der Ausbau des Wohlfahrtsstaates, die unwiderstehliche Macht, die von der Leitidee der sozialen Gerechtigkeit ausging, sind an ihr Ende gekommen. Man muss sich vor Augen halten, was das historisch bedeutet: »Konjunkturbereinigt« hielt diese Entwicklung über alle Kriege, Krisen und Katastrophen hinweg seit dem späten 19. Jahrhundert an. Und das auch über die siebziger Jahre hinweg, die uns seit einiger Zeit von einer boomenden Zeitgeschichte als Phase des Epochenbruchs verkauft werden: Die Verminderung sozialer Ungleichheit ging in vielen westlichen Länder in den achtziger und neunziger Jahren weiterhin voran. In Margaret Thatchers Großbritannien etwa nahm Kinderarmut zwar wieder zu, doch schon unter ihrem Nachfolger John Major wurde dieser Trend wieder umgekehrt und Ungleichheit reduziert. Wenn man die Daten berücksichtigt, endete Englands »progressive Periode« erst Mitte der 2000er Jahre. Die soziale Mobilität, also die Chance zum Aufstieg durch Arbeit, hat schlagartig abgenommen, am stärksten in den USA, wo die Möglichkeit zum Emporarbeiten seit je auch ein politisches Grundversprechen gewesen war. Die um 1985 Geborenen sind seit hundert Jahren die erste Alterskohorte, die nicht wohlhabender ist als die der zehn Jahre zuvor Geborenen. Überall wächst die soziale Ungleichheit, in einem Ausmaß, das selbst eingefleischte, aber im Sinne Marc Blochs nicht denkfaule Kapitalisten für lebensbedrohlich halten.7 Genau das war der Grund, warum John Maynard Keynes sich nach dem Ersten Weltkrieg einen neuen Kapitalismus ausdachte.
Die so lange für unverzichtbar gehaltene Verknüpfung von Demokratie und Wohlfahrtsstaat ist plötzlich brüchig geworden. Was in vielen Jahren des »neoliberalen« Sturmangriffs den Gegnern des Wohlfahrtsstaates nicht einmal in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten völlig gelungen ist, ergibt sich nun als Folge der Krise: Der Wohlfahrtsstaat selbst steht zur Disposition. Große Banken stöhnen über jedes Prozent, das ihnen mehr an Eigenkapital abverlangt wird, um das Finanzsystem stabiler zu machen und in diesem Schlüsselsektor moderner Ökonomien wieder Marktprinzipien einzuführen. Die Kosten der Bankenrettungen wurden bislang dem demokratischen Wohlfahrtsstaat aufgebürdet, der seinen Bürgern nicht nur Sozialversicherungen und Arbeitsmarktteilnahme bietet, sondern Kultur, Bildung, Gesundheitswesen und vieles mehr umfasst, was so lange als Inbegriff der modernen Zivilisation und Voraussetzung einer lebendigen Demokratie galt: Das war die epochale Erfindung, die große Erkenntnis der Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg. Haushaltskonsolidierung und »Austerität« können mit dieser Erkenntnis in Einklang stehen und Ausdruck demokratischer Tugenden, der Sorge um das Gemeinwesen sein; sie können jedoch auch die Vitalität einer Demokratie untergraben oder gezielt der Zerstörung preisgeben. Dabei steht nicht einmal fest, dass Sparen hilft, um die ökonomische »Wettbewerbsfähigkeit« (auch das schon ein Wort der zwanziger Jahre) wiederherzustellen. Genauso ungesichert ist die Annahme, der Wohlfahrtsstaat würde die Wirtschaft ersticken. Solche Thesen stehen und fallen mit den Meinungskonjunkturen. Die moderne Wirtschaftswissenschaft entfaltet oft einen Zahlenzauber, der die Aura von Wahrheit erzeugen soll. Und doch handelt es sich bei ihr um eine genauso deutungsabhängige Sozialwissenschaft wie jede andere auch. Darüber können mathematische, die soziale Komplexität auf wenige Variablen reduzierende Modelle nicht hinwegtäuschen. Und in dem Deutungsstreit der Ökonomen gibt es viele ernst zu nehmende Argumente, die auf die langfristig positiven Auswirkungen hinweisen, die der Wohlfahrtsstaat auf die Wirtschaft hat: Ohne Ausbildung, Grundlagenforschung, gesunde Arbeitnehmer und soziale Stabilität gab es bislang kein dauerhaftes Wirtschaftswachstum. Zuständig dafür ist überall in unterschiedlichem Ausmaß der Wohlfahrtsstaat. Nicht die Steuerlast ist entscheidend, sondern wofür und wie effizient die Steuern verwendet werden – eine Erkenntnis, die bereits im jungen demokratischen Wohlfahrtsstaat nach dem Ersten Weltkrieg diskutiert wurde.8
Ob nun Haushaltssanierung oder öffentliche Investitionen heute die richtige ökonomische Antwort auf die Wirtschaftskrise sind, oder beides zugleich, diese Frage scheint keine eindeutige Antwort zu erlauben. Eine Folge der wachsenden sozialen Ungleichheit zeigt sich jedoch deutlich: die zunehmende gesellschaftliche Abschottung. Ein kleiner Teil der Bevölkerung, bei dem sich immer mehr ökonomische und politische Macht konzentriert, setzt sich immer weiter ab vom Rest der Gesellschaft. Die Innenstadtbezirke globaler Metropolen sind für akademisch gebildete Mittelschichten kaum noch erschwinglich, andere Städte erleiden Zerfall und Bankrott. Ein Symbol für die Tendenzen der sozialen Fragmentierung und Segregation sind die »gated communities«, umzäunte und von Sicherheitspersonal bewachte Wohngegenden ohne öffentlichen Raum. Der Sinn für politische Gemeinschaft scheint, wenn er überhaupt noch existiert, auf kleinere Zusammenhänge übertragen zu werden, am besten noch auf die eigene Stadt. Die für Demokratien unverzichtbare »Kommunalität«, die Fähigkeit und das Gefühl, gemeinsam und gleichberechtigt über Fragen entscheiden zu können, die alle Staatsbürger betreffen, geht verloren.9
Eine solchermaßen ökonomisch geschwächte Demokratie trifft nun auf eine unwirtliche Umwelt. Das Projekt Europa hat an Faszination verloren und scheint vielen Betrachtern, obwohl die Überforderung der Nationalstaaten und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit offenkundig sind, mit seinen technokratischen Entscheidungen selbst der Demokratie im Weg zu stehen. Populistische Parteien und Bewegungen sind mit einer seit Jahrzehnten nicht gekannten Vehemenz in Europa und Amerika aktiv geworden. Ressentiments und Misstrauen werden zu Politik. Auf den Straßen der Weimarer Republik ging es oft friedlicher zu als im heutigen Griechenland, das neuerdings so oft mit Weimar verglichen wird. Und manchen, die nicht mehr an die Problemlösungskompetenz der Demokratie glauben, bieten sich mit China, Russland oder lateinamerikanischen Präsidialregimes autoritäre Alternativen, die effizienter zu funktionieren oder den sozialen Zusammenhalt besser zu sichern scheinen; was keine sachliche Grundlage hat, aber in einem Klima des Ressentiments dennoch Resonanz findet.10
Dass die Demokratie in einer gefährlichen Welt bestehen und handeln muss, ist kein neues Problem. Es gibt aber eine neue Herausforderung, die Demokratien genauso betrifft wie Autokratien oder Parteidiktaturen und die am liebsten in die Sphäre der technischen oder ökonomischen Spezialprobleme verwiesen wird, um ihre politischen Konsequenzen nicht denken zu müssen. So nachvollziehbar es ist, den globalen Klimawandel durch die Abarbeitung in Expertenkommissionen – unterbrochen von den Konjunkturen der Medienaufmerksamkeit – politisch entschärfen zu wollen, eine lebenswillige Demokratie kann diese existenzielle Bedrohung nicht auf Dauer verleugnen oder verharmlosen. Franklin Delano Roosevelt oder Per Albin Hansson, zwei der erfolgreichsten Retter und Reformer der Demokratie in der Zwischenkriegszeit, gingen, jeder auf seine Art und unter seinen Bedingungen, die größten Probleme direkt und entschlossen an. Es gibt Krisen, die man nicht aussitzen kann, auch wenn es erst einmal irgendwie weiterzugehen scheint. Dass der Klimawandel über die Gewalt verfügt, die Fundamente dessen zu erschüttern, was wir uns unter Demokratie vorstellen, befürchten nicht wenige Fachleute. Einige befürworten gar, nach altrömischem oder Weimarer Muster, eine globale Notstandsdiktatur zur Rettung unserer demokratischen Lebensform, wenn nicht der menschlichen Zivilisation überhaupt. Dass es sich beim Klimawandel um eine existenzielle politische Herausforderung der Demokratie handelt, nicht nur um eine ökonomische, ökologische oder technische Störung, versucht die politische Debatte auszublenden, so gut sie kann.11
Die Lage ist nicht erfreulich für die Demokratie. Wenn auch nicht so gefährlich wie in den Jahren nach 1929, als mit den Wahlerfolgen der Nationalsozialisten – deren Durchbruch 1930 erfolgte – die antidemokratischen Kräfte in Deutschland eine neue Radikalität gewannen und als es schließlich zum völligen Zusammenbruch der Weltwirtschaft kam. So sicher wie nach 1945 kann sich die Demokratie jedoch nicht mehr fühlen. Der unvergleichliche ökonomische Boom und die unangefochtene amerikanische Hegemonie sorgten für die historisch einmaligen Idealbedingungen der Nachkriegsdemokratie. Die Wechselfälle extremer Konjunkturschwankungen sind in die Weltwirtschaft zurückgekehrt. Amerika kann und will nicht mehr die Rolle der letzten Instanz übernehmen. Der Streit im Innern, eskaliert bis hin zur Dysfunktion der Staatsapparate, sorgt dafür, dass die Vereinigten Staaten nicht mehr zu alter Größe zurückfinden, obgleich ihre Macht und Energie noch immer einzigartig sind.
Und doch haben sich die nach 1945 etablierten und seither ausgebauten Institutionen und Mechanismen der internationalen Zusammenarbeit bewährt. Dass Europa und die Welt auf ein solches System von Kooperationsstrukturen zurückgreifen können, ist einer der entscheidenden Unterschiede zur Situation nach dem Ersten Weltkrieg. Das Wohlstandsniveau ist allen Krisen zum Trotz erheblich höher. Und keine erfolgreiche populistische Bewegung – und der Erfolg rechtspopulistischer Bewegungen in Frankreich, in den Niederlanden oder in den USA lässt sich nicht mehr übersehen – könnte sich heute als antidemokratische Kraft positionieren: Jenseits der Demokratie gibt es keinen politischen Horizont mehr in den westlichen Demokratien.
Insofern geht es auf den folgenden Seiten nicht darum, der heutigen Demokratie den Spiegel vorzuhalten. Bei allen scheinbaren Ähnlichkeiten ist die historische Differenz nicht zu überbrücken. Interessanter ist eine andere Erkenntnischance, die die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eröffnet: Sie erinnert uns an vergangene, aber womöglich lehrreiche Lebensversuche moderner Demokratien. Sie zeigt uns, wie die Demokratie in vielen Staaten gebaut und stabiler gemacht wurde, wie sich Demokratien selbst verstanden und verbesserten. Die Diskussion von Grundsatzfragen findet in der Gegenwart kaum statt; die Zwischenkriegszeit kann einen Anstoß dazu geben. Denkräume öffnen, vergangene Möglichkeiten aufdecken, die vielen Zukunftsoptionen der Vergangenheit und nicht die eine Vorgeschichte des Nachfolgenden erschließen, die Gründe des zufälligen So-Gewordenseins der Gegenwart und damit ihre grundsätzliche Änderbarkeit erfassen, das ist der Beitrag, den die Geschichte zu den Debatten unserer Zeit leisten kann.
Ist das Zeitalter der Demokratie, das nach dem Ersten Weltkrieg begann, zu Ende? Wohl kaum. Die Massendemokratie war seither nicht mehr zum Verschwinden zu bringen. Globale Demokratisierung schien beinahe ein Jahrhundert lang ein real existierendes historisches Gesetz geworden zu sein, auch wenn jeder wusste, dass solche Determinismen nur der Fantasie von Intellektuellen entspringen. Es lässt sich heute überhaupt keine politische Ordnung mehr denken, die nicht zumindest Anleihen bei der Demokratie nähme, mit ihren Verfahren und Versprechen spielte, auf Massenlegitimation und Partizipation irgendeiner Art angewiesen wäre. Auch die Geschichte der parasitären und pathologischen Übernahme von Ausdrucksformen der Demokratie durch Diktaturen der Linken und der Rechten begann bereits nach dem Ersten Weltkrieg.
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zeigt uns, welche Überlebensstrategien sich Demokratien in einer existenziellen Krise einfallen ließen, um die Demokratie zu bewahren, zu sichern und zu stärken. Die Bereitschaft zum Experimentieren und Ausprobieren, die sich dabei offenbart, wurde legitimiert durch die Berufung auf die Demokratie und angetrieben vom Willen, die Demokratie zu verteidigen. Wer sich auf reines Krisenmanagement verließ, der hatte, wenn es wirklich ernst wurde, verloren. Die demokratischen Überlebensstrategien wurden nicht technokratisch verordnet – sonst wären es keine demokratischen Strategien mehr gewesen. Sie wurden von demokratischen Führern entschlossen durchgesetzt, mit großem Einfallsreichtum, Mut und Risiko für die eigene Karriere, notfalls auch mit List und Druck, aber niemals ohne einen Prozess des öffentlichen Erklärens, der politischen Teilhabe, des Mitmachens und des Einbindens von großen Teilen der Bevölkerung in Gang zu setzen. Genau das also, was ihren Gegnern lähmend und lästig erschien, die öffentlichen Kontroversen, Kontrollen und Korrekturen, machte auf Dauer die Effizienz und den Erfolg der Demokratien aus. Roosevelt oder Hansson etwa warben ständig für ihre Maßnahmen im Namen der Demokratie, vor kleinem und großem Publikum, persönlich und über die Medien, mit emotionalen Appellen und sachlichen Begründungen.
Die Verlockung ist groß, die Zwischenkriegszeit nur aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Dieser Essay will jedoch die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg aus sich selbst verstehen. Ein Widerspruch? Nein. Die Gegenwart steht immer im Hintergrund. Sie lässt das Interesse an der Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg überhaupt erst so dringlich werden. So hofft dieser Deutungsversuch, in Anlehnung an die Worte Marc Blochs, durch eine bessere Kenntnis der Vergangenheit auch zu einem besseren Verständnis der Gegenwart beizutragen, und hält es für vergeblich, die Vergangenheit verstehen zu wollen, solange man über die Gegenwart nicht Bescheid weiß. Auf dem Spiel stand damals die Demokratie, die sich niemals auf ihre ökonomischen Probleme reduzieren lässt, obgleich das zur Gewohnheit von Wirtschaftshistorikern und Wirtschaftsexperten geworden ist. Aus diesem Grund versucht sich dieser Essay, selbst wo er sich zu Fragen der Wirtschaft äußert, nicht in der Wirtschaftsgeschichte, sondern stets in der Geschichte der Demokratie. Das Politische, nicht das Ökonomische, bildet das Zentrum der Demokratie.
Dieser Essay schlägt eine andere Lesart der Zwischenkriegszeit vor, als sie in vielen Darstellungen zu lesen ist. Keine »Erfolgsgeschichte« eines abstrakten Gebildes, sondern eine Geschichte vom Einfallsreichtum und Durchhaltevermögen, von der Schwäche und Orientierungslosigkeit, vom Mut und der Leidenschaft der Demokraten und Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg. Infolgedessen handelt es sich um ein Gedankenexperiment, um eine riskante Interpretation, die bewusst zu Einseitigkeiten greift, um das Ganze in ungewohntes Licht zu tauchen. Wenn wir mehr sehen als zuvor, oder etwas anderes als gedacht, ist der Zweck erfüllt.
Was in griechischen Stadtstaaten, von denen viele weit kleiner waren als deutsche Kleinstädte, und allen voran in Athen zeitweilig als Demokratie gelebt wurde, unterschied sich in vielem von dem, was später als Demokratie gelten sollte. Das Experiment der Griechen mit der Demokratie, immer wieder von Kriegen, Krisen und der Rückkehr zur Oligarchie unterbrochen, währte vom fünften bis zum vierten vorchristlichen Jahrhundert. Demokratie als Wort blieb erhalten. Bis ins 18. Jahrhundert hinein diente es als eine technische Bezeichnung in der Diskussion um die beste Staatsverfassung. Das Ideal der klassischen Mischverfassung, gebildet aus monarchischen, aristokratischen und demokratischen Elementen, sah seinen historischen Bezugspunkt allerdings eher im republikanischen Rom als in Athen. Noch einige der französischen Revolutionäre hatten dieses Ideal im Blick und nicht die moderne Massendemokratie. Gleichzeitig blieb Demokratie seit der Antike als Schreckenswort in Umlauf, das die Herrschaft des Pöbels, den Terror der niedrigen Affekte androhte. Das war das Bild von Demokratie, das einige der amerikanischen Gründerväter im Sinn hatten. Nicht alle von ihnen waren so sehr von der Demokratie überzeugt wie der Sklavenhalter Thomas Jefferson.