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Jörg Dräger, Christina Tillmann, Frank Frick

Wie politische Ideen
Wirklichkeit werden

Der ReformKompass

Ein Lehr- und Praxisbuch

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
Erstausgabe 2014 Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden
Verantwortlich: Christina Tillmann
Redaktion: Silke Reinhardt, Ralph Müller-Eiselt
Recherche: Silke Reinhardt
Herstellung: Christiane Raffel
Umschlaggestaltung: Elisabeth Menke
Umschlagabbildung: apops/fotolia.com
Satz: Nicole Meyerholz, Bielefeld
Druck: Hans Kock Buch- und Offsetdruck GmbH, Bielefeld
ISBN 978-3-86793-661-3 (Print-Ausgabe)
ISBN 978-3-86793-694-1 (E-Book PDF)
ISBN 978-3-86793-695-8 (E-Book EPUB)

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Verzeichnis der Infoboxen

Vorwort: Über das »Wie« und nicht nur das »Was« von Reformen

1Ohne Strategiefähigkeit geht nichts

1.1Politik braucht Strategie. Strategie braucht Modelle.

1.2Der ReformKompass: Ein ganzheitliches Strategiemodell für politische Reformprozesse

2Der ReformKompass in Aktion

2.1Erfolgskriterium Kompetenz: Die Einführung des Elterngelds

2.2Erfolgskriterium Kommunikation: Das kommunikative Scheitern der Hartz-Reformen

2.3Erfolgskriterium Kraft zur Durchsetzung: Der politische Kampf für die Frauenquote

3Wie die strategische Kerngruppe eine Reform zum Erfolg führt

3.1Die strategische Kerngruppe: Machtzentrum und Motor der Reform

3.2Ziele und Aufgaben der strategischen Kerngruppe

3.3Ohne den Bürger geht nichts mehr: Auch nicht die Reformpolitik der strategischen Kerngruppe

3.4Analyseraster für die strategische Kerngruppe

4Eine Reform von A bis Z planen: Die Einführung des Nationalen Bildungsrats

4.1Agenda Setting

4.2Formulierung und Entscheidung

4.3Umsetzung

4.4Fortlaufende Erfolgskontrolle

4.5Die strategische Kerngruppe

Dank

Literaturverzeichnis

Publikationen der Bertelsmann Stiftung zur Strategiefähigkeit von Politik

Die Autoren

Abstract

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1:

Elemente des ReformKompass: Die strategische Kerngruppe

Abbildung 2:

Elemente des ReformKompass: Die vier Phasen

Abbildung 3:

Elemente des ReformKompass: Gesamtdarstellung

Abbildung 4:

Ziele und Aufgaben in der Phase Agenda Setting

Abbildung 5:

Ziele und Aufgaben in der Phase Formulierung und Entscheidung

Abbildung 6:

Ziele und Aufgaben in der Phase Umsetzung

Abbildung 7:

Ziele und Aufgaben in der Phase fortlaufende Erfolgskontrolle

Abbildung 8:

Ziele und Aufgaben der strategischen Kerngruppe

Abbildung 9:

Verschiebung des Handlungsbedarfs während des Reformprozesses

Abbildung 10:

Ziele und Aufgaben der strategischen Kerngruppe

Abbildung 11:

Stakeholder-Matrix für den Nationalen Bildungsrat

Abbildung 12:

Strategische Kerngruppe für den Nationalen Bildungsrat

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1:

Ziele, Aufgaben und Fragen für das Erfolgskriterium Kompetenz

Tabelle 2:

Ziele, Aufgaben und Fragen für das Erfolgskriterium Kommunikation

Tabelle 3:

Ziele, Aufgaben und Fragen für das Erfolgskriterium Kraft zur Durchsetzung

Tabelle 4:

Ziele, Aufgaben und Fragen der strategischen Kerngruppe

Verzeichnis der Infoboxen

Infobox 1:

Der 8-Stufen-Prozess zur Umsetzung tief greifenden Wandels nach Kotter

Infobox 2:

Die Kraft der positiven Formulierung

Infobox 3:

Wirkungsmessung im öffentlichen Sektor

Infobox 4:

Die Elterngeldreform im Detail

Infobox 5:

Agenda 2010 und Hartz I–IV in Kürze

Infobox 6:

Die Frauenquote – Zentrale politische Akteure und ihre Positionen im Überblick

Infobox 7:

Kaum inhaltliche Unterschiede – Die zwei Vorschläge zur Frauenquote im Vergleich

Infobox 8:

Werkzeuge des Projektmanagements

Infobox 9:

Bürger beteiligen – aber mit welchen Formaten?

Infobox 10:

Warum Bürgerbeteiligung Teil eines strategischen Prozesses sein sollte

Infobox 11:

Der föderale Grundsatz des deutschen Bildungssystems

Infobox 12:

Der Wissenschaftsrat

Infobox 13:

Stakeholder-Analyse

Vorwort: Über das »Wie« und nicht nur das »Was« von Reformen

Politische Reformen sind anspruchsvoll. Das war uns bewusst – und trotzdem waren wir enttäuscht, als wir – wieder einmal – mit einem Vorschlag an der politischen Realität scheiterten. Dabei hatten wir die bestehenden Probleme gründlich analysiert, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse einbezogen, das neueste Verfassungsgerichtsurteil aufgegriffen, ja selbst Finanzierungs- und Verwaltungsfragen berücksichtigt. Und jetzt hieß es lapidar: »Das lässt sich nicht durchsetzen.« Wie bitte? Gerne wollten wir zurückfragen: »Sind Sie und Ihre Partei nicht an der Regierung? Haben Sie nicht immer und überall gesagt, dass es so nicht bleiben könne, dass Reformbedarf bestünde? Und überhaupt: Was heißt ›nicht durchsetzbar‹? Bei wem denn nicht?«

Die Antwort, die dann folgte, überraschte uns. Denn sie ging überhaupt nicht auf den Inhalt unseres Vorschlags ein: Wenn man das Thema jetzt anginge, eröffne das dem politischen Gegner eine Profilierungschance, hieß es. Die Reform sei der Bevölkerung schwer zu vermitteln, es gäbe damit kaum Lorbeeren zu ernten. Außerdem habe man einer bestimmten Gruppe innerhalb der Partei in den letzten Jahren schon genug zugemutet, der Konflikthaushalt sei ausgereizt.

Was war passiert? Hatten wir vielleicht die richtige Idee – nur zur falschen Zeit? Oder fehlte in unserem Konzept ein wichtiger Aspekt? Was ist neben der wissenschaftlichen Evidenz noch zu berücksichtigen, damit eine gute Lösung auch gute Umsetzungschancen hat? Welche »politische Rationalität« muss bei Reformvorschlägen beachtet werden? Auf den Punkt gebracht: Warum gelingen manche Reformen, während andere scheitern?

Politische Reformen folgen offensichtlich keiner einfachen Sachlogik. Das »Wie« der Reform, also das Verfahren, hat eine mindestens ebenso große Bedeutung wie das »Was«, der Inhalt.

Solche Fragen und Erfahrungen waren 2006 der Ausgangspunkt einer Reihe von Studien, Workshops und Gesprächen, die wiederum in Büchern, Broschüren, Vorträgen und Seminaren mündeten.1 Wir wollten verstehen, wie Reformpolitik gelingt und welche Logik und Systematik erfolgreiche politische Reformen teilen. Dabei begegnete uns durchaus Skepsis. Gerade Akteure in Politik und Verwaltung empfanden Reformen als kaum planbar. Aufgrund persönlicher Erfahrungen in der Entwicklung von Reformkonzepten, in der Politikberatung sowie auch in der Regierungsverantwortung sehen wir das aber anders: Gerade weil politische Reformvorhaben komplex sind, bedarf es einer strukturierten, sorgfältig geplanten und strategischen Herangehensweise. Dazu haben wir ein Modell entwickelt: den ReformKompass. Er hilft bei der Orientierung in vielschichtigen Reformumfeldern und bei der Planung und Umsetzung konkreter Maßnahmen.

Wir sind überzeugt, dass man die für erfolgreiche Reformen nötigen Methoden und Werkzeuge an Hochschulen lehren und lernen kann – und vor allem auch lehren und lernen sollte. Unser Lehrbuch »Wie politische Ideen Wirklichkeit werden« bietet dafür eine Grundlage: Wir zeigen anhand praxisnaher Fallbeispiele, wie man mithilfe des ReformKompass politische Reformen der Vergangenheit besser verstehen und zukünftige Reformen besser planen kann.

Kapitel 1 erläutert, wodurch sich Veränderungsprozesse im politischen von denen im privatwirtschaftlichen Umfeld unterscheiden und warum es deshalb Modelle spezifisch für den öffentlichen Sektor braucht: Der ReformKompass berücksichtigt die politische Kommunikations- und Machtlogik ebenso wie die Notwendigkeit, Reformen immer wieder an sich ändernde Rahmenbedingungen anzupassen. Solche Veränderungsprozesse sind nicht linear, sondern müssen flexibel gehandhabt werden. Dem trägt der ReformKompass als systematisches und praxisnahes Strategiemodell Rechnung.

Drei entscheidende Erfolgskriterien stehen im Fokus von Kapitel 2: Kompetenz, Kommunikation und Kraft zur Durchsetzung. Schlüsselbeispiele veranschaulichen, durch welche inhaltlichen, kommunikativen oder machtpolitischen Fallstricke Reformer navigieren müssen. Und was sie beachten sollten, um erfolgreich zu sein. Kapitel 2.1 zeigt am Beispiel der Einführung des Elterngelds, wie wichtig das Erfolgskriterium Kompetenz – im Kern also das notwendige Fach- und Prozesswissen – für den Erfolg von Reformen ist. Kapitel 2.2 veranschaulicht anhand der Hartz-Reformen die Bedeutung von Kommunikation und Dialog für einen Veränderungsprozess. Kapitel 2.3 macht am Beispiel der Frauenquote deutlich, wie sich mit der entsprechenden Kraft zur Durchsetzung auch in einem schwierigen Reformumfeld (Teil-) Erfolge erzielen lassen.

In Kapitel 3 wollen wir verstehen, von wem eine gute Reform gesteuert wird: Dazu braucht es Personen, die ein professionelles Management von Reforminhalt, Kommunikation und Machtpolitik sicherstellen. Sie bilden die strategische Kerngruppe, in der sich die zentralen Aufgaben der Planung, Steuerung und Umsetzung bündeln. Wer bringt das notwendige Fachwissen mit? Wen braucht es, um ein Thema auf die politische Agenda zu setzen, und wer kann dabei helfen, wichtige Unterstützer zu gewinnen? Das sind zentrale Fragen für die Zusammensetzung der strategischen Kerngruppe. Doch ohne die Bürger am Reformprozess zu beteiligen, wird eine Reform selten gelingen. Deswegen betrachten wir am Ende von Kapitel 3, wie Kerngruppe und Bürger zusammenarbeiten sollten.

Wie heißt es so schön: Hinterher ist man immer schlauer. Deswegen wollen wir uns nicht darauf beschränken, das Scheitern oder den Erfolg von abgeschlossenen oder laufenden Reformen zu verstehen. Wenn Sie (und wir) mit unseren Reformvorschlägen erfolgreich sein wollen, müssen wir in der Lage sein, mit der guten Idee auch einen realistischen Umsetzungsvorschlag mitzuliefern. Deswegen blicken wir im abschließenden Kapitel 4 nach vorne und wenden den ReformKompass in der Planung einer zukünftigen Reform an. Am Beispiel des Nationalen Bildungsrats, der für mehr Vergleichbarkeit und Qualität im deutschen Bildungsföderalismus sorgen könnte, durchlaufen wir den kompletten Prozess des ReformKompass mit all seinen Phasen und Erfolgskriterien – eine ideale Übung, um alle relevanten Konzepte zu »erproben«.

Die Zielgruppe dieses Buches bilden – neben interessierten Studierenden – auch Akteure in Parteien, Verbänden und der Verwaltung. Entsprechend haben wir einen weniger akademischen als vielmehr anwendungsorientierten Stil mit anschaulichen Fallstudien, Abbildungen und Übersichten gewählt. In diesem Sinne verzichten wir in dieser Publikation auf eine Einordnung unseres Ansatzes in die wissenschaftliche Debatte. Stattdessen verweisen wir an den entsprechenden Stellen auf weiterführende und vertiefende Literatur.

Zuletzt ein kleiner Hinweis: Unser Buch erlaubt auch einen »sprunghaften« Gebrauch. Zwar empfehlen wir zur Einführung in das Modell Kapitel 1 in Verbindung mit der Übersichtsgrafik (Abbildung 8) zu lesen. Die nachfolgenden Kapitel können aber je nach Interessenlage selektiv gelesen werden. Damit tragen wir unserer Absicht Rechnung, mit diesem Buch die Lehre zu unterstützen, aber auch eine leicht zugängliche und selbsterklärende Anregung für den Praktiker zu bieten.

Gütersloh, im Juni 2015

Dr. Jörg Dräger

Mitglied des Vorstands

Bertelsmann Stiftung

Christina Tillmann

Projektleiterin

Bertelsmann Stiftung

Frank Frick

Programmdirektor

Bertelsmann Stiftung

1Eine Liste der in diesem Zusammenhang entstandenen Publikationen der Bertelsmann Stiftung finden Sie im Anschluss an das Literaturverzeichnis.

1Ohne Strategiefähigkeit geht nichts

Den Ruf nach Veränderung können wir fast täglich in den Medien vernehmen. Ob angestoßen von Regierung, Opposition oder anderen Akteuren: Jeder sieht Reformbedarf und hat das vermeintlich richtige Konzept parat. Meldungen über eine gelungene Reform oder ein nachhaltig gelöstes gesellschaftliches Problem sind jedoch eher selten.

Warum ist das so? Bevor wir zu unserem Modell des ReformKompass kommen, möchten wir zuerst verstehen, warum politische Reformen so häufig misslingen. Die kurze Antwort lautet: Wer Inhalt und Prozess nicht zusammen denkt, der scheitert. Denn aus einer guten Idee wird nicht automatisch eine gute politische Reform. Was für den Erfolg häufig fehlt, ist die Strategiefähigkeit der politischen Akteure, also derjenigen, die für die Planung, Steuerung und Umsetzung des Reformprozesses verantwortlich sind. Dabei sprechen wir im politischen Raum von Strategiefähigkeit, wenn jemand neben einem guten Konzept auch die Fertigkeiten besitzt, dieses mit aktuellen gesellschaftlichen Diskursen zu verknüpfen und die Bevölkerung in den Veränderungsprozess einzubinden. Und auch das reicht noch nicht: Neben der Sachkenntnis und einem Sinn für angemessene Kommunikation und Dialogführung brauchen Reformer2 ein Gespür dafür, was politisch machbar und durchsetzbar ist. Die beste Reformidee führt nicht zum Erfolg, wenn sie beispielsweise den politischen Werten und Positionen des Koalitionspartners entgegensteht.

Die Analyse von Gründen des Scheiterns führt uns zu den drei entscheidenden Erfolgskriterien für Reformprozesse: der inhaltlichen Kompetenz, der Fähigkeit zur Kommunikation und der Kraft zur Durchsetzung. Diesen drei Ks werden wir in diesem Buch immer wieder begegnen. Wir werden sehen, wie nützlich die drei Ks zur Strukturierung und Planung von Reformen sind.

1.1Politik braucht Strategie. Strategie braucht Modelle.

An Modellen für Veränderungsprozesse besteht kein Mangel. Wer bisher Reformen analysierte oder plante, griff zu Recht gerne zum achtstufigen Change-Management-Modell des Harvard-Wissenschaftlers John P. Kotter (2011). Dieses bekannte und weithin genutzte Modell hat einen großen Vorteil: Es ist einfach. Es beschreibt Anforderungen an Veränderungsprozesse in der Privatwirtschaft und bringt sie in eine lineare zeitliche Abfolge.

Infobox 1: Der 8-Stufen-Prozess zur Umsetzung tief greifenden Wandels nach Kotter (2011)

1. Ein Gefühl für die Dringlichkeit erzeugen

2. Eine Führungskoalition aufbauen

3. Vision und Strategie entwickeln

4. Die Vision des Wandels kommunizieren

5. Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen

6. Schnelle Erfolge erzielen

7. Erfolge konsolidieren und weitere Veränderungen einleiten

8. Neue Ansätze in der Kultur verankern

Wie viele andere Change-Management-Modelle eignet Kotter sich jedoch nicht besonders gut für den öffentlichen Sektor, da dem Modell ein eher top-down-orientiertes Steuerungsverständnis zugrunde liegt und es im politischen Raum notwendige Erfolgsfaktoren außer Acht lässt. Unser ReformKompass kommt zwar im Groben zu ähnlichen Schritten, berücksichtigt aber zusätzlich die politikeigenen Spielregeln. Denn lineare Change-Modelle wie das von Kotter

(1)können nicht hinreichend die Komplexität politischer Prozesse, die sich durch die besonderen Anforderungen an Legitimation, Nachvollziehbarkeit und Verantwortlichkeit in einer Demokratie auszeichnen, abbilden,

(2)berücksichtigen nicht die teilweise diffusen Machtstrukturen, in denen Politiker Mehrheiten für ihre Reformen gewinnen müssen,

(3)setzen sich nicht in demselben Maße wie Politik mit den Reaktionen von Medien und Bevölkerung auseinander und

(4)haben nicht genügend Flexibilität bei sich ändernden Rahmenbedingungen.

Doch gerade diese Punkte sind wichtig, wenn es um Reformen im öffentlichen Bereich geht:

(1)Die Komplexität politischer Prozesse wird besonders deutlich, wenn demokratische Entscheidungsprozesse in internationalen Gremien mit nationalen demokratischen Prozessen rückgekoppelt werden müssen. Denn demokratische Willensbildung braucht in der Regel Zeit und folgt etablierten Mustern. Gesetze werden in mehreren Lesungen im Bundestag behandelt und zwischendurch in Ausschüssen vertieft. Bei den Sitzungen zur Euro-Rettung dominierte die externe Marktlogik die Politik: Den deutschen Parlamentariern wurden erst in der Nacht vor der Abstimmung hunderte Seiten dicke, in Englisch verfasste Entscheidungsvorlagen ausgeteilt. Wie lassen sich unter diesen Voraussetzungen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse organisieren, die demokratischen Legitimationsanforderungen gerecht werden? Zusätzlich gestaltet sich die Messung und Dokumentation von Erfolg im öffentlichen Sektor um einiges komplexer als in der Privatwirtschaft: Veränderungen im öffentlichen Umfeld sind schwerer messbar, da einfache »Erfolgswährungen« wie Umsatz oder Gewinn fehlen. Viele Reformen, wie die Energiewende oder die Rentenreform, zeigen zudem erst nach Jahrzehnten Wirkung – weit über den Horizont einer Legislaturperiode hinaus.

(2)Unternehmen sind hierarchisch organisiert, die Berichts- und Entscheidungslinien sind klar festgelegt. Gerade der bundesdeutsche Föderalismus trägt im öffentlichen Umfeld jedoch zu diffusen Machtstrukturen bei, in denen es nicht immer eindeutige Entscheidungskompetenz gibt. Bei vielen Themen sind nicht nur Bundesregierung und Bundestag, sondern auch die Länder im Bundesrat wichtig, wenn es darum geht, Mehrheiten zu finden. Zudem müssen Parteigremien, Fraktionen und Ausschüsse in 16 Landtagen, Koalitionspartner, Landesregierungen und Fachministerien gewonnen werden. Das deutsche politische System ist durch eine Vielzahl von Strukturen und Prinzipien geprägt, die sich zwar aus unserer Historie und politischen Kultur ableiten lassen, die aber nicht unbedingt reformförderlich sind: Gemeinsame Bundes- und Landeszuständigkeiten, Ressort- bzw. Kanzlerprinzip und ein Wahlrecht, das zumeist Koalitionsregierungen hervorbringt, sind nur drei Beispiele.

(3)Der Handlungsspielraum von Politik wird auch durch die (sozialen) Medien immer stärker eingeschränkt. Neue Themen werden sofort und zugespitzt diskutiert; der Politik bleibt kaum Zeit und Rückzugsmöglichkeit zur Analyse oder Meinungsbildung. Dazu kommen nicht zuletzt die Bürger, deren Anspruch auf Teilhabe und Mitwirkung in den letzten Jahren deutlich gewachsen ist. Sie wollen nicht mehr nur alle paar Jahre bei Wahlen über grundlegende Richtungsfragen der Politik entscheiden. Bei vielen Themen und konkreten Fragestellungen wollen sie direkt (mit-)entscheiden, ohne sich dafür langfristig in einer Partei engagieren zu müssen. Bürger möchten sich themenorientierter und punktueller beteiligen – eine Anforderung, die Politik und Verwaltung proaktiv aufgreifen müssen, wenn sie nicht wie im Konflikt um Stuttgart 21 davon überrascht werden wollen.

(4)Politik braucht Flexibilität. Denn sie muss konstant beobachten, wie sich nicht nur die sachlichen, sondern auch die politischen und medialen Rahmenbedingungen ihres Handelns ändern, um dann abzuwägen, ob eine Anpassung der Strategie notwendig wird. Das gilt nach innen wie nach außen. Wenn sich zum Beispiel durch eine Landtagswahl die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat verändern oder ein einflussreicher gegnerischer Politiker sein Amt verlässt, hat das unmittelbaren Einfluss auf politische Entscheidungen. Die Reaktorkatastrophe von Fukushima ist ein Beispiel dafür, wie ein externes Ereignis die Rahmenbedingungen der deutschen Energiepolitik in kürzester Zeit dramatisch verändert hat. Die Katastrophe war in den Medien ständig präsent. In der öffentlichen Meinung bildete sich ein breiter Konsens zum raschen Ausstieg aus der Atomenergie. Dadurch gerieten sowohl die Energiewirtschaft als auch die Politik unter Handlungszwang. Kanzlerin Merkel sah sich schließlich genötigt, die Energiewende (»Weg von der Atomenergie, hin zur Ökoenergie.«) zu verkünden und die entsprechenden Gesetze in atemberaubender Geschwindigkeit durch den Bundestag zu bringen – das gelang schon knapp zwei Monate nach dem Reaktorunglück. Dabei blieb jedoch ein öffentlicher Diskurs auf der Strecke, der der Bevölkerung die Konsequenzen des Ausstiegs deutlich gemacht hätte. So wäre für eine breite Legitimationsbasis gesorgt gewesen, die z. B. auch den Bau von Stromleitungen für erneuerbare Energien quer durch Deutschland eingeschlossen hätte – als Konsequenz des Atomausstiegs. Dieses Beispiel macht deutlich, dass an das Handeln des politisch-öffentlichen Umfelds andere Legitimationsanforderungen gestellt werden als an Unternehmen.

Diese besonderen Herausforderungen werden von einigen als Hinweis interpretiert, dass Steuerung im öffentlichen Sektor gar nicht möglich ist und die Strategie eines »Muddling through« bzw. rein situative Entscheidungen in der Politik Erfolg versprechend sind. Andere begründen mit der Komplexität politischer Prozesse die Notwendigkeit einer besonders rigorosen Steuerung und verfallen damit einer Steuerungseuphorie. Wir folgen einem Mittelweg und glauben, dass die besonderen Herausforderungen an Veränderungsprozesse im politischen Raum eine systematische, aber dabei flexible Strategieentwicklung und -umsetzung nötig machen, um zum Erfolg zu kommen (Schmidt 2002).

Da sich Reformen im öffentlichen Sektor also von denen im privaten unterscheiden, ist es nur folgerichtig, dass sich auch ein Modell für politische Reformen von einem Change-Management-Modell für die Wirtschaft unterscheiden muss.

1.2Der ReformKompass: Ein ganzheitliches Strategiemodell für politische Reformprozesse

Wenden wir uns nun dem ReformKompass zu. Das Modell wurde spezifisch für Reformen im öffentlichen Sektor entwickelt und bietet Orientierung im komplexen Reformumfeld, weist auf mögliche blinde Flecken hin, systematisiert die Erfolgsfaktoren gelungener Reformen und bereitet sie für die Anwendung in der politischen Praxis auf. Zusammenfassend lässt sich der Mehrwert des ReformKompass für die Reformakteure so ausdrücken: »Früher sehen, klüger planen und besser entscheiden.«

Dies schafft der ReformKompass durch eine praxisnahe systematisierte Zusammenstellung von Aufgaben, die Reformverantwortliche bei der Planung und Umsetzung berücksichtigen sollten: Will ich eine Reform starten, muss ich herausfinden, wer in den Medien als Multiplikator und Unterstützer infrage kommt. Wenn ich mein Vorhaben detailliere, sollte mir zur Wahrung von Verhandlungsspielräumen schon vorab klar sein, ob und wie sich die Reform in Einzelpakete aufteilen lässt. Und stecke ich schließlich in den Tiefen der Umsetzung, dann sollte ich sichergestellt haben, dass die operative Verwaltung bereits vorher mit eingebunden war. Nur so kann ich auch deren Know-how abrufen.

Eine solche Liste an Aufgaben ist lang – und unübersichtlich. Die »Kunst« eines strategischen Reformmodells besteht deshalb darin, diese Liste zu systematisieren und dadurch in der politischen Praxis anwendbar zu machen. Genau diese Systematisierung wollen wir als Erstes vornehmen, bevor wir anschließend beginnen, das Modell mit den inhaltlichen Zielen und Aufgaben zu füllen, die für einen erfolgreichen Reformprozess nötig sind. Bildlich gesprochen bauen wir im ersten Schritt zunächst ein Haus in seiner Grundstruktur auf, bevor wir dann in einem zweiten Schritt die einzelnen Zimmer einrichten und befüllen. Der »Preis« für die erwünschte realistischere Abbildung der politischen Wirklichkeit (zumindest im Vergleich zu Modellen wie dem von Kotter) ist eine höhere Komplexität.

Für das Management des Reformprozesses ist in unserem Modell die strategische Kerngruppe zuständig. Sie plant und steuert die Reform. Wie sie sich zusammensetzt und welche Aufgaben sie konkret übernimmt, sehen wir später in diesem Kapitel. An dieser Stelle ist zunächst nur wichtig zu wissen, dass sie, um in unserem Bild zu bleiben, das Dach für den gesamten Reformprozess bildet (Abbildung 1).

Nach dem Dach kommt jetzt das Haus selbst: Der ReformKompass strukturiert den Reformprozess (und damit die zu erreichenden Ziele und zu behandelnden Aufgaben und Fragestellungen) anhand eines zweidimensionalen Modells. In der vertikalen Dimension betrachten wir den zeitlichen Ablauf einer Reform unterteilt in vier Phasen, ähnlich dem Politikzyklus-Modell:3 Agenda Setting, Formulierung und Entscheidung, Umsetzung und fortlaufende Erfolgskontrolle. Die Erfolgskontrolle, die im klassischen Politikzyklus als letzte Phase angelegt ist, erfolgt im ReformKompass allerdings kontinuierlich. Der Vorteil: So kann im laufenden Prozess nachgesteuert werden, denn der ReformKompass soll als dynamisches Modell frühzeitig und flexibel veränderte Rahmenbedingungen berücksichtigen. Durch die Erfolgskontrolle könnte zum Beispiel bereits in der Phase der Politikformulierung deutlich werden, dass im Agenda Setting etwas falsch gelaufen ist – und daher nachgearbeitet werden muss. So führt das frühzeitige Erkennen von Schwachstellen langfristig zu besseren Reformen.

Abbildung 1: Elemente des ReformKompass: Die strategische Kerngruppe

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Der ReformKompass ist somit kein sequenzielles Modell, in dem alle Phasen nacheinander durchlaufen werden. Durch die kontinuierliche Erfolgskontrolle wird aus einem linear-sequenziellen ein dynamisches und anpassungsfähiges Modell (Abbildung 2).

Abbildung 2: Elemente des ReformKompass: Die vier Phasen

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