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WALTER KOHL

EIN BILD VON HILDA
ALS TOTER MENSCH

Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert durch ein Projektstipendium des Österreichischen Bundeskanzleramts (Kunst und Kultur).

Copyright © 2015 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © plainpicture/EWG

Druckerei Theiss GmbH, St. Stefan im Lavanttal

ISBN 978-3-7117-2025-2

eISBN 978-3-7117-5297-0

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des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Über den Autor

Walter Kohl, geboren 1953 in Linz, lebt seit 1996 als freier Schriftsteller in Eidenberg bei Linz. Kohl schrieb mehrere Bücher (zuletzt: »HundertKöpfeFrau«, 2014, gemeinsam mit ReihanehYouzbashiDizaji), Theaterstücke (zuletzt: »thefight«, uraufgeführt in Linz 2011) und Hörspiele. Im Jahr 2013 erhielt er den Landeskulturpreis für Literatur des Landes Oberösterreich.

WALTER KOHL

EIN BILD VON HILDA
ALS TOTER MENSCH

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

Nothing that lived had such eyes
EDGAR BROUGHTON

Inhalt

Über den Autor

1: Köln

2: Žut

1: KÖLN

Charly holte das Handy heraus und machte zwei Fotos von Hilda, nachdem er die anderen gebeten hatte, ihn einen Moment mit der Verstorbenen alleine zu lassen. Sie lag da, wie sie am Abend eingeschlafen war und man sie früh am Morgen gefunden hatte. Der rechte Arm ausgestreckt, sodass er über den Bettrand hinausragte, die linke Hand in der Beuge des rechten Arms abgestützt, das Gesicht seitlich halb auf der rechten Schulter liegend. Die cremeweiße Nachthaube, von der er nicht gewusst hatte, dass sie eine trug, war verrutscht, man sah ein Büschel der schütteren strohblonden Haare. Während er den Auslöser der Handykamera zweimal betätigte, überkam ihn die Angst, er wäre plötzlich ein monströses Mysterium von Mensch geworden wie Camus’ Monsieur Meursault, oder, noch schlimmer, er sei schon immer ein solches gewesen.

Die Fotos betrachtete er erst eine Woche später, als er auf dem Hansaring eine Zigarette in der Februarkälte rauchte. Auf dem Gehsteig vor dem Hotel am Mediapark Köln, in das ihn die Rundfunkanstalt einquartiert hatte. Er hatte zwei Zusatznächtigungen gebucht, um Freunde zu treffen. Die hatten ihn versetzt. Entgegen seiner Erwartung ließen ihn die Bilder kalt, die verrutschte Haube, die pastellfarben geblümte Bettdecke, die dunklen Flecken, die sich auf Wange und Unterarmen Hildas abzuzeichnen begonnen hatten. Wieder kroch eine Ahnung von Gefühlsunfähigkeit hoch. Doch dann blähte sich ein Gefühl von Verlassensein auf ins Unermessliche, bis es alle Hoffnung auffraß und nur noch dunkelste Schwärze zurückblieb. Er ging eine halbe Stunde auf dem Hansaring auf und ab, um in neurotischer Gehetztheit eine Zigarette nach der anderen zu rauchen, in der vagen Hoffnung, auf diese harm- und schmerzlose Weise den Prozess des eigenen Absterbens beschleunigen zu können. Und sah nichts außer den unzähligen kleinen weißen Punkten überall auf den Betonplatten und Pflastersteinen und Natursteinplatten, jeder Gehweg innerhalb des Kölner Rings war dicht besprenkelt mit diesen unregelmäßigen Kreisen. Er hatte erst an Taubenkot gedacht, sah aber daran, dass die Pünktchen in sehr unterschiedlichem Ausmaß platt getreten waren, dass es sich um ausgespuckte Kaugummis handeln musste.

Noch so eine Täuschung, in der ich gelebt habe, fünf Jahrzehnte lang, dachte Charly. So lange schon sah er Jahr für Jahr die Rosenmontagsumzüge von Mainz und Köln und Düsseldorf, live im deutschen Fernsehen, das in seinem westösterreichischen Heimatdorf mit einer hohen Antenne besser zu empfangen gewesen war als der ORF. Die Massen an Süßigkeiten, die in die Menge geworfen wurden, waren offensichtlich keine Bonbons, keine Schokoladenaschereien, keine Zuckerstangen, wie die TV-Bilder suggerierten, sondern hauptsächlich Kaugummis, wahrscheinlich billige Kugeln, wie man sie früher aus den allgegenwärtigen Automaten ziehen konnte. Die kauten die Zuseher kurz an und spuckten sie gleich wieder aus, und dann wurden sie innerhalb eines Tages allesamt komplett platt getrampelt von den Menschenmassen. Relikte der rheinischen Ausgelassenheit, festgestampft von Hunderttausenden Karnevalszaungastfüßen auf Asphalt und Beton und Naturstein. So musste es sein.

Der Anfang ist gut, sagte der Therapeut. Man kann Sie spüren. Aber warum sagen Sie nicht ich?

Schreiben.

Bitte?

Ich sage nicht, Charly nahm sein Handy, ich schreibe es.

Ah ja. Also, warum Charly und nicht ich?

Weil es gelogen ist. Und das soll man merken. Es soll aussehen wie eine Geschichte, und damit wird alles klar, denn jeder weiß doch, dass Geschichten gelogen sind.

Und das mit den Kaugummis verstehe ich nicht, sagte der Therapeut. Ihre Mutter ist gestorben, Ihre Freunde lassen Sie hängen, und alles, was Sie interessiert, sind Kaugummispuren auf dem Gehsteig?

Das ist das Wahrhaftigste, das du kriegen kannst, sagte ich, platt getretener Kaugummi nach dem Karnevalswahnwitz. Realer wird die Realität nicht, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen.

Handyfotos sind leer und flüchtig. Haften nirgendwo an. Du siehst sie an auf dem Display, einmal, vielleicht zweimal, und dann noch ein drittes Mal in Großformat, wenn du sie auf den Rechner überspielt hast. Dann verschwinden sie. Gehen sofort verloren, wenn du ihnen keine Dateinamen gegeben hast, in den endlosen Kolonnen beinahe gleichnamiger Bilder. Wenn sie benannt sind, verflüchtigen sie sich in deiner Erinnerung. Sobald du ein neues System aufbaust auf einem neuen Rechner, sind sie endgültig weg, weil du den Großteil des Datenmülls, der deinen Computer immer träger gemacht hat, nicht übernehmen willst in das neue, schnelle, klaglos funktionierende Gerät.

Das große, eine, alles andere in den Schatten stellende Bild Hildas, das sich in Charlys Kopf festgefressen hatte seit einem halben Jahrhundert, gab es weder auf einer Festplatte noch auf Papier. Es existierte nur in dem Proteinbrei zwischen den Nervenzellen in seinem Hirn, der aus dem Erlebten Erinnerung macht. Dieses Bild im Kopf zeigt die Unterschenkel Hildas in blickdichten Strümpfen, die Füße in abgewetzten Lederschuhen, auf einem Schemel stehend. Der Rest des Körpers ist verborgen hinter einer dichten Reihe von Wintermänteln und Jacken, die an einer Kleiderstange in einem Winkel neben der Eingangstür einer schäbigen Industriearbeiterwohnung hängen.

Es gibt keine Festplatte, auf der du die Fotos von Hilda als toter Mensch speichern könntest, deren magnetische Speicherschicht nicht irgendwann verschwindet, dachte Charly, es gibt kein Fotopapier, das nicht verblasst und ausbleicht und die Farben verändert bis zur Unkenntlichkeit des Abgebildeten. Und der Prionenschleim in meinem Hirn ist das untauglichste Bildaufbewahrungsmedium überhaupt, denn er wird noch früher verschwunden sein als all die anderen Medien. Darum beschloss er, aus den pixeligen Fotos etwas fest an der materiellen Erscheinungsform der Welt Haftendes zu machen. Ein Bild. Von Hilda. Tot.

Näherliegend wäre es, ein Buch zu schreiben. Doch Charly wollte keine Bücher mehr schreiben. Er schrieb zwar noch Bücher, doch es waren in seiner Vorstellung von Geschriebenem keine Bücher. Sondern Geschriebenes eben. Dass ein um Hilda Trauern durch Schreiben nicht möglich und zielführend war, wusste Charly. Es würde nicht funktionieren. Weil Schreiben das Einzige war, das er tat tagaus tagein, würde ein Trauern durch Schreiben ebenso wenig bewirken wie das Trauern eines Bäckers durch Brotbacken. Abgesehen davon war in jenen Jahren die Tatsächlichkeit bereits unübersehbar geworden, dass die Schreiberei und alles rund um sie nur noch ein abstoßendes und kaltes Die-Geschäfte-in-Betrieb-Halten war, bar jeder Würde.

Seit sein Lektorat als stärkstes Argument für die Ablehnung eines Textes die rhetorische Frage vorgebracht hatte, »Glauben Sie, dass eine einfache Hausfrau dieses Buch in den Urlaub mitnehmen würde?«, hatte er das Schreiben aufgegeben. Von außen gesehen schrieb er weiter, aber nur so, wie ein Bäcker seine Semmeln bäckt und eine H&M-Verkäuferin die Haufen durcheinandergeworfener Kleidungsstücke in den Umkleidekabinen einsammelt und sie zurück zu den Regalen bringt. Mit Unmut manchmal, meistens mit teilnahmsloser Routine, nie mit Freude oder gar Begeisterung.

Da war nicht viel gewesen in Hildas Leben. Nur das Jahr in Oldenburg und Lohne und Vechta. Und der Sohn des Architekten aus München. Und die eine große Tragödie in ihrem Dasein hienieden, geschehen in Detmold, der Stadt, in der sie nie gewesen war. Das hatte sich wie Leben angefühlt. Mit all seinen Bestandteilen, dem Überschüttetwerden vom goldenen Flitter hochfliegender Liebesseligkeit ebenso wie mit dem Überschüttetwerden vom schwarzen Pech des Verzichts und des Verlusts. Danach dann nichts mehr, nur langsames Das-Lebenzu-Ende-Leben, fast siebzig Jahre lang.

Auf einer der Internetseiten, wo man seine Fotos umgestalten lassen kann zu lustigen Comicbildchen oder historisch wirkenden Darstellungen, verwandelte Charly die Großaufnahme von Hildas totem Gesicht in eine sepia-getönte Daguerreotypie. Und klickte mit einem Anflug von Entsetzen sofort weg von dieser Seite, als nach kurzer Rechenzeit das Ergebnis in Vollbildschirmgröße erschien. Was auf dem vom Handy-Fotoprogramm harmonisch ausgeleuchteten Farbbild nur eine Ahnung von Schatten gewesen war, nur schwach wahrnehmbare Hautunreinheiten auf Hildas Wangen und Nase, stand nun in Braun- und Ockertönen nackt und gnadenlos und kein Entkommen zulassend da. Leichenflecken. Entropie, die leer und unbeleckt von allem, was wir Menschen Menschlichkeit nennen, das tat, was sie immer tut. Die Oberfläche von etwas, das gerade aufgehört hatte zu existieren, zerfressen.

Die Luft war dick wie Honig, in der Erinnerung Charlys, immerzu, in jenem Sommer, als es entlang der Donau noch Auen und Nebenarme und Brackwasserteiche gab anstelle von nach Kraftwerksbauten regenerierten Bebuschungsflächen und rückgebauten Begleitgerinnen. In dem Sommer, in dem er das erste Mal versucht hatte, Hilda zu entkommen.

Tag für Tag in den Donauauen. Hilda arbeitete tageweise für die Bauern. Charly trug mit den anderen Dorfbuben Mostkrüge hinaus zu den Tagelöhnern, und Brotlaibe und große Brocken fetten Specks in Einkaufstaschen aus dünnem, brüchigem Leder. Die feuchten, ratzigen Böden in der Au gaben nicht viel her, es lohnte sich nicht für die Bauern, ihre eigenen Knechte hinauszuschicken, darum gaben sie den Arbeiterfrauen und den Arbeitslosen im Dorf ein paar Schilling, um das wegen der ständigen Überschwemmungen zähe, langhalmige und hartrippige Gras zu mähen und einzubringen oder das Unkraut zwischen den lichten Reihen von Zuckerrüben oder Kartoffeln zu jäten.

Gegen Ende des Sommers flogen die Schwalben hoch, so hoch, dass nicht mehr zu erkennen war, ob es Schwalben waren, doch es waren immer Schwalben, andere Vögel hielten sich nie lange auf im Dunst des Dorfes, abgesehen von Krähen, die sich fett fraßen an den platt gefahrenen Katzenkadavern draußen an der Bundesstraße und die mit ernsthaftester Hartnäckigkeit die Gedärme der Schweine und andere Schlachtabfälle aus den Misthaufen hinter den Bauernhöfen gruben. Charly und die Dorfbuben liefen weiter durch die Au, nachdem sie Speck und Brot und Most abgeliefert hatten, bis sie die Donau erreichten. Auf dem Treppelweg gingen sie einen Kilometer oder zwei stromaufwärts, sprangen in den Strom, der noch ein wild rauschender war vor Errichtung der Staumauern, und schwammen, eigentlich ließen sie sich von der Strömung treiben, bis sie den Feldweg erreichten, der zurück ins Dorf führte. Danach suchten sie eine Stelle, wo die Donau ein paar Quadratmeter Sand angeschwemmt hatte oder zumindest feinen Schotter, und ließen sich von der Sonne braten, bis die Cloth-Hosen so ausgedörrt waren, dass sie knisterten, wenn sie sich bewegten.

Die Buben lagen lange auf dem Kies in der Sonne und stritten über Fragen wie: Ist das wirklich wahr, was der aus dem Nachbardorf erzählt hat. Dass er, in der Badewanne liegend, einer kurz davor lebend gefangenen Fliege beide Flügel ausgerissen, die Vorhaut von seiner Eichel zurückgeschoben und die Fliege darauf gesetzt habe, worauf sein Schwanz innerhalb kürzester Zeit, während derer die Fliege panisch auf der wie eine Insel aus dem Badewasser ragenden Eichel herumgetrippelt sei, geradezu explosionsartig, vulkanartig einen Riesenschwall Saft ausgestoßen habe, einen Meter hoch, schrie er dabei, doch das wollten die Buben auf gar keinen Fall glauben.

Das Emporschrauben der eleganten, schmalen, schnellen Vögelchen in unglaubliche Höhen verhieß keine weiteren Sommertage, sondern bloß nur noch wenige Hitzetage, dann aber brachen schwere Unwetter herein über die flache Ödnis zwischen Alpen und Donaustrom, und wenn die Gewitter abgezogen waren, wurde es nie wieder wirklich warm. Der Sommer war vorbei, obwohl die Ferien noch drei Wochen andauerten. In den Stunden vor diesen Gewittern, da ging die Welt unter, die enge, langweilige Welt voll Hass und Missgunst floss hinaus aus dem Alpenvorland wie die Luft aus einem angestochenen Fahrradreifenschlauch, und an ihrer Stelle blähte etwas wie Sirup den Schlauch auf, dick und gelb und cremig war die Atmosphäre. Die Luft war dick wie Honig. Später, als Charly Edgar Broughtons Lied hörte, wusste er, was sich hinter den Worten aufhielt. Eine Bedrohung: Wenn die Luft dick wird wie Honig, dann geht es zu Ende.

Die erste Flucht vor Hilda sollte nach Amerika führen, sie scheiterte nach fünfzig Metern. So weit schafften es Charly und der Bub aus der Nachbarwohnung, eine der Zinkbadewannen aus der Gemeinschaftswaschküche zu schleppen. Sie hatten kaum genug Kraft, eine der an die nackte Betonwand gelehnten Wannen aus dem Loch herauszukriegen, das sich sechs Hausparteien für jeweils einen wöchentlichen Wasch- und Badetag teilten.

Es war bloß so eine Tom-Sawyer-Spinnerei, das Vorhaben, die Zinkwanne zum Ofenwasser zu schleppen, auf den Feldwegen quer durch die Au, dann das Ofenwasser hinabzupaddeln, bis es beim Stift in die Donau mündete, die Donau zu befahren bis zum Meer, und dann über das Meer nach Amerika zu schiffen. Der Gedanke schien grandios, in diesem metallenen Schiff zu sitzen, mit den langen, an einem Ende breiter werdenden Prügeln, die die Hausfrauen zum Stochern und Umrühren in der Kochwäsche gebrauchten, das Boot auf Kurs zu halten und voranzutreiben, vorwärts, vorwärts, immerzu gen Amerika.

Die Buben wussten nicht, dass die Donau ins falsche Meer mündete, und hatten keine Vorstellung von der Länge des Stromes, und wenn sie es gewusst hätten, wären sie trotzdem aufgebrochen, dann hätten sie den Plan eben neu geplant und wären bis zur Provinzhauptstadt gepaddelt in der Badewanne und hätten sich an Bord eines Donauschleppers geschlichen und wären als blinde Passagiere bis Odessa gereist oder bis Istanbul und hätten dort ein richtiges Schiff gesucht und gefunden und hätten sich im Frachtraum versteckt, bis zum letzten Tag, dann wären sie an Deck gegangen, um die Freiheitsstatue zu sehen, niemand mehr hätte den blinden Passagieren etwas anhaben können, man hätte sie von Bord geschafft, ja, doch das war es ja, was sie wollten, von Bord geschafft werden und in Amerika sein.

Tot sah Hilda ernst aus. Die Lippen waren geschlossen, formten den Mund zu einem schwer zu beschreibenden Lächeln. Ganz anders, als es ausgesehen hatte, wenn sie früher gelacht oder gelächelt hatte, dachte Charly, als er ihre Lippen auf dem Kopierpapier mit einem Kohlestift nachzog. Zeit ihres Lebens hatte es ausgesehen, als ob sich Hilda schämte zu lachen. Verzeih mir, Dorf, dass ich fröhlich bin, hatte ihr lachender Mund gesagt, und: Es wird eh nicht mehr geschehen. Ich habe mich im Griff. Es gibt keinen besonderen Anlass für mein Lachen. Nichts, über das irgendjemand etwas sagen müsste. Oder denken.

Du wirst der letzte tote Mensch sein, den ich ansehe, sagte Charly zu dem von PhotoFunia zu einer groben Bleistiftzeichnung verwandelten Gesicht. Es sind genug Tote gewesen. Danke, Hilda, sagte er. Es hat aufgehört, endlich, das In-eine-milde-Form-von-Panik-Verfallen beim Anblick von Leichnamen.

Der erste Tote, dem Charly ins schlecht geschminkte Gesicht gestarrt hatte, war der älteste Sohn der Arbeiterfamilie zwei Türen weiter gewesen. Er hatte einen Fiat 650 mit Abarth-Teilen auffrisiert. Am Ende eines fast zwei Kilometer langen, leicht abschüssigen und völlig geraden Abschnitts der Bundesstraße draußen war der hoffnungslos übermotorisierte Kleinwagen ins Schlingern geraten und gegen das Geländer einer Brücke geprallt.

Die Arbeiter lebten in den frühen sechziger Jahren die Bräuche der Bauern, denen das Dorf bis vor dem Krieg alleine gehört hatte, weiter. Wahrscheinlich weil sich das Bäuerliche in ihnen festgefressen hatte, stammten sie doch allesamt von Knechten und Mägden und Tagelöhnern und Kleinhäuslern ab, deren Kleinstlandwirtschaften lange schon zugrunde gegangen waren. Und darum bahrten sie die Leiche des Unfalltoten drei Tage lang auf in seinem Bett. Der Bruder, mit dem er das Zimmer geteilt hatte, schlief während dieser Zeit auf der Küchenbank. Und das ganze Dorf kam und warf einen Blick auf den Toten und bekundete den Eltern Beileid. Nur die Beterei, die ließen sie weg. Schon in der Nazizeit hatten sie sich von allem Kirchlichen entfernt. Es war ihnen leichtgefallen, stand doch der Pfarrer seit eh und je auf Seiten derer, die ihr Leben zu einer einzigen Schinderei machten. Jetzt waren sie alle Rote geworden, sonst hätten sie keine Arbeit bekommen im Stahlwerk in der nahen Provinzhauptstadt. Sie hassten den Pfarrer, und der Pfarrer hasste sie, genau wie ein paar Jahre früher, nur hatten sie ihn damals noch ungeniert in aller Öffentlichkeit beschimpfen und seinen dem Volksempfinden fremden Glauben schmähen dürfen.

Der Tote lag auf dem Rücken im Bett, die Finger seiner Hände auf der Brust ineinander gefaltet. Er trug sein bestes Hemd, eine dunkelblaue Krawatte und eine Anzugjacke. Ob man ihm auch die Anzughose und Schuhe angezogen hatte, war nicht zu sehen, da der Leichnam vom Bauch abwärts mit einer mächtig sich wölbenden Tuchent bedeckt war.

Man hatte ihm ein Grinsen ins Gesicht geformt, die Wunden an Stirn und Wange dermaßen dick mit Schminke überzogen, dass es aussah, als hätte die Haut große, flache Ausbeulungen überall. Auf dem Kopf trug er einen Hut. Wahrscheinlich waren die Haare abrasiert und die Schädeldecke dermaßen zerstört, dass keine kosmetischen Eingriffe Erfolg versprechend gewesen wären.

Das Kind, das Charly war, hatte sich geweigert, Hilda zu begleiten, als sie zu den Nachbarn ging, um den Leichnam anzusehen. Obwohl es neugierig gewesen wäre. Nach eineinhalb Tagen gewann die Neugier Oberhand. Charly, der allein durch das Dorf gestreunt war, einen rot-blauen Plastikball vor sich hertreibend wie die älteren Buben, die in der Jugendmannschaft des örtlichen Fußballvereins spielten, kickte den Ball wie zufällig in Richtung der Wohnung des Verunglückten. Er nahm den Ball hoch und ging mit gesenktem Kopf hinein. Die Eltern des Toten sagten kein Wort, deuteten mit kleinen Kopfbewegungen an, dass er ruhig reingehen solle.

Charly stand am Fußende des Bettes und starrte in das Gesicht der Leiche. Konnte den Nachbarssohn nicht erkennen. Dachte an die Hexenmasken aus Pappmaschee, schrundig und mit blassen Wasserfarben bemalt, die es im Fasching beim Krämer zu kaufen gab. Dann sprang ihn aus dem Nichts Panik an wie ein Raubtier. Er konnte den Ball kaum halten, so stark zitterte sein ganzer Körper. Er rannte aus der Wohnung, grußlos, schoss den Ball draußen so weit weg wie möglich, rannte durch das Dorf, dem Ball folgend, den er wieder und wieder ziellos vor sich hertrat. Doch das Zittern hörte nicht auf. Dann landete der Ball in der offenen Jauchegrube neben dem Misthaufen des zweitgrößten Bauern.

Charly stand am Rand des schwarzbraunen, stinkenden Teiches und überlegte, einen langen Ast zu suchen, um den Ball herauszuholen. Dann fiel ihm ein, wie die Knechte des Bauern im vergangenen Frühjahr ein totes Kalb mit Stangen und Seilen aus der Jauchegrube gezogen hatten, das wohl Wochen davor mit seinen tollpatschigen Beinen im glitschigen Matsch am Grubenrand ausgerutscht sein musste. Der Leib des Tieres war aufgedunsen zu doppelter Größe. Der Kopf und die Beine sahen lächerlich klein aus, viel zu klein für diesen massigen, kotverschmierten Körper. Das Zittern wurde noch stärker. An diesem Punkt setzt die Erinnerung Charlys aus.

Später hatte er viele aufgebahrte Leichname betrachtet. Anfangs hatte es großer Überwindung bedurft, zehn Jahre später, als die ersten Freunde starben, Mopedunfall, ohne Helm. Dann Onkel, Tanten, Schwiegerväter, viel zu früh verstorbene Schriftstellerinnen, den Vater. Er hatte sich nichts anmerken lassen, doch musste er jedes Mal erneut ankämpfen gegen leise aufkeimende Panik.

Jetzt sah er auf das ernste Lächeln Hildas ohne Regung. Sie lächelte, als ob sie eine große stille Freude überkommen hätte, dass endlich etwas ernst geworden war in ihrem Leben. Sie sei im Schlaf gestorben, hatte es geheißen, und hatte der Gemeindearzt auf den Totenschein geschrieben. Herzstillstand aus heiterem Himmel. Doch ihr Lächeln ließ Charly denken, sie habe ihr Zu-Ende-Gehen wahrgenommen und dem Tod entgegengeblickt mit einem Lächeln, das wahr war, das sich für nichts mehr entschuldigen musste.

Sein Bruder hatte ihn anzurufen versucht um halb sechs Uhr morgens, hatte, als Charly nicht abgehoben hatte, auf dessen Facebook-Seite geschrieben, dass er ihn zurückrufen solle, und schließlich, als auch dies keine Reaktion bewirkte, eine SMS geschickt. Leider traurige Nachricht. Mutter heute Nacht gestorben. Sie telefonierten kurz. Wenn er gleich losfahre, sagte der Bruder, könne er sie noch sehen, wie sie sie gefunden hätten, der Bestatter werde sie erst gegen Mittag abholen. Charly blieb ein paar Minuten sitzen an seinem Schreibtisch, weinte, nein, es war eher das halblaute Aufheulen einer Kreatur, der dämmert, dass sie in eine ausweglose