Egyd Gstättner, geboren 1962, lebt als freier Autor in seiner Heimatstadt Klagenfurt. Ständige Publikationen in »Kleine Zeitung« und »Die Presse« sowie in vielen anderen nationalen und internationalen Medien. Bei Picus erschienen »Der Mensch kann nicht fliegen«, »Der Untergang des Morgenlands«, »Absturz aus dem Himmel«, »Ein Endsommernachtsalbtraum«, »Das Geisterschiff« sowie zuletzt »Am Fuß des Wörthersees« (2014). Zahlreiche Preise und Auszeichnungen. http://members.aon.at/gstaettner/index.html
Weitere Bücher von Egyd Gstättner
Egyd Gstättner
Das Geisterschiff
Ein Künstlerroman
222 Seiten, 3. Auflage, gebunden
ISBN 978-3-7117-2001-6
»Wie Gstättner durch das Ich von Auchentaller hindurcherzählt, sinniert und resümiert, hat eine besondere Lebendigkeit und heutige Frische. Diese Haltung zeichnet ›Das Geisterschiff‹ auch aus: das Aufgehen des Erzählers in der Person.«
DIE PRESSE
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Egyd Gstättner
Am Fuß des Wörthersees
Neue Nachrichten aus der Provinz
222 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-7117-2012-2
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Egyd Gstättner
Absturz aus dem Himmel
Roman
216 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-85452-676-6
Picus Verlag Wien
Weitere Bücher von Egyd Gstättner
Egyd Gstättner
Ein Endsommernachtsalbtraum
Mehr als ein Kriminalroman
192 Seiten, 2. Auflage, gebunden
ISBN 978-3-85452-684-1
»Gstättner geht mit feiner Klinge und doppelbödigem Humor seiner Heimat, den Autoritäten und den ›hallodrischen‹ Gepflogenheiten an den Kragen. Sehr fein: die Personenbeschreibungen am Ende, für sich genommen schon ein Lesevergnügen.«
KLEINE ZEITUNG
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Egyd Gstättner
Der Untergang des Morgenlands
Geschichten von verlorenen Posten
256 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-85452-646-9
***
Egyd Gstättner
Der Mensch kann nicht fliegen
Der letzte Tag des Carlo Michelstaedter
220 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-85452-635-3
Picus Verlag Wien
Wir sind alle auf der Suche nach etwas außergewöhnlich Wichtigem, von dem man vergessen hat, was es war; ich schreibe die Memoiren eines Mannes, der das Gedächtnis verloren hat. Mir bleibt das Bewusstsein, dass alle Dinge, die ich sage, nur Ersatz sind.
EUGÈNE IONESCO,
Heute und gestern,
gestern und heute
EGYD GSTÄTTNER
Das Freudenhaus
Copyright © 2015 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: JANEK SKARZYNSKI/AFP/picturedesk.com
ISBN 978-3-7117-2026-9
eISBN 978-3-7117-5298-7
Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at
Der Weltraum. Der einzige von Lebewesen bewohnte Planet in all den Galaxien und Milchstraßen. Die Erdkugel. Die nördliche Hemisphäre. Der alte, der altehrwürdige Kontinent dieses Planeten. Die große Nation dieses Kontinents. Die glanzvolle, die weltberühmte Hauptstadt dieser großen Nation. Die Stadt der Liebe! Die Stadt der Lichter und der Dichter und der Akkordeonspieler! Die Stadt der Eleganz, der Mode, der Musik! Die Malerei! Die Stadt der Schönheit, des Geistes und der Kunst! Die Theater! Das Théâtre du Nouveau-Lancry! Die Museen! Die Galerien! Die Kathedralen! Notre Dame! Montmartre! Montparnasse! Die Rue de la Huchette! Der Jardin du Luxembourg! Das Quartier Latin! Die Seine! Die Rue de l’Odéon. Die Champs Élysées. A sportscar! The warm wind in my hair! Der funkelnde Eiffelturm! Der Eiffelbeinturm! Die Stadt der Concierges und Clouseaus und Clochards und Citroëns, die Stadt der krxx … krwwxx … krrrwxxxxx … Schlblwwwrxrxrxxxx! Plp! Plp! Krx! Krx! Pinnnng! Zinnnnng! Fltsch. Fltsch. Fltsch. Schlabaschlablbschlblb! Filmriss! Sch! Schnell! Spulen Sie zurück! Noch ist nichts passiert! Probieren wir es noch einmal! Halten Sie mir die Daumen! Das wäre peinlich! Ausgerechnet jetzt! Vielleicht geht es noch! Vielleicht merkt es keiner! Also dann: Klappe, die zweite! Film ab!
Der Weltraum. Die Erdkugel. Die nördliche Hemisphäre. Einer der kleineren Kontinente. Einer der kleineren Staaten dieses Kontinents. Eine der kleineren Städte. Vorstadt. Das große Stadion der kleinen Stadt. Die Silberschüssel, die man schon vom Flugzeug oder von der Autobahn aus erkennt. Das Wahrzeichen. Es gibt Städte mit Silberschüsseln und Städte ohne Silberschüsseln. Es gibt Silberschüsseln, in denen es kocht, und Silberschüsseln, in denen es nicht kocht.
Zweiunddreißigtausend Sitzplätze. Einunddreißigtausendsiebenhundert leere Sitzplätze, weinrot. Es sind nur der Unterrang der Westtribüne und der VIP-Balkon darüber geöffnet. Alle anderen Tribünen sind gesperrt. Da darf niemand sitzen. Lauter leere Plätze, wohin man seinen Blick auch schweifen lässt. Tausende und Abertausende leere Stühle! Prächtige Öde! Keine Fernsehkamera. In der Fernsehkameraposition: ich. Erstmals ist dieses prekäre Wort jetzt gefallen. Ich, Egyd Fraundorfer, Bewohner des Weltalls und Teil des Universums, lebe in einer Stadt mit einer Silberschüssel, in der es nicht kocht. Kalte Küche, ein paar Bratwürste ausgenommen. Der Ort, ich glaube, nannte sich Paris. Paris hat es nie gegeben … in diesem Loch … in all dem hier … in dem großen, ganz schwarzen Loch. Ah! Diese Aussetzer! Rund um mich ein paar andere Zuseher zwischen vielen, vielen leeren Plätzen. Ich gehöre hier mit niemandem zusammen. Ich bin allein gekommen, ich sitze allein, ich werde allein gehen, und da die übrigen Zuseher gewissermaßen auf meiner eigenen schiefen Ebene sitzen, kann ich sie so gut wie nicht sehen. Ich sehe nur die siebenundvierzig vollkommen leeren weinroten Sitzplatzreihen rundherum, die zu einem gigantischen Sitzplatzteppich verknüpft sind, und das leicht geschwungene, silbern schimmernde Stadiondach darüber. Jeder Stuhl ein Sandkorn einer Wüste. Das Theater der Antike beginnt damit, dass sich einer aus dem Chor löst und sich dem Chor gegenüberstellt. Aber wenn kein Chor da ist?
Hallodria Hintersiebenbergen spielt gegen Kapfenberg, und obwohl die Nummer vierzehn gleich nach dem Seitenwechsel ausgeschlossen worden ist, führt Hallodria seit der fünfundfünfzigsten Minute mit eins zu null. Jubeln konnte ich nicht, weil ich zum Zeitpunkt des Tores gerade den letzten Bissen meiner Bratwurst in den Mund steckte. Stoffwechsel ist sehr wichtig. Welt hinein, Welt hinaus. Beim Jubeln hätte ich mich wahrscheinlich verschluckt und wäre womöglich jämmerlich erstickt. Welt aus. Das rituelle Verzehren der Bratwurst gehört zu den zentralen Vorkommnissen eines Stadionbesuchs. Mit dem Pappendeckel in der Hand, auf dem Bratwurst, Semmel, ein Batzen Senf und eine Papierserviette liegen, wechsle ich in der Halbzeitpause im Rücken der Leute hinter der Tribüne die Seiten, suche mir ein Plätzchen, setze mich, warte auf den Beginn der zweiten Halbzeit und kann mich beim Essen nicht sattsehen am Anblick der gigantischen leeren Tribünen rund um mich. Würde dieses Ritual durch irgendeinen Umstand durcheinandergebracht, befiele mich wahrscheinlich große Unruhe, die ich womöglich den ganzen restlichen Abend lang nicht wieder aus mir herausbrächte. Auf meine Seele muss ich gut aufpassen. Ich habe nur die eine. Die zweite Halbzeit widme ich hauptsächlich der Verdauung der Bratwurst.
In der fünfundsechzigsten Spielminute bekam ich plötzlich ein intensives religiöses Gefühl. Jedenfalls muss es so ein Gefühl gewesen sein, das religiös veranlagte Menschen vielleicht empfinden, wenn sie am Sonntag den Gottesdienst besuchen und in der Bankreihe der Kirche sitzen, in der sie schon oft – ihr Leben lang! – gesessen sind und auch noch oft (aber was weiß man?) – ihr restliches Leben lang! – sitzen werden. Ob nun Menschen da sind oder nicht: Das nehmen sie kaum wahr. Nicht, dass sie sich etwas Besonderes erwarten würden! Nicht, dass etwas Außergewöhnliches angekündigt worden wäre! Weder Fest noch Wunder. Nein! Sie wollen ganz einfach in dieser Kirche sitzen: Das gehört zu ihrem Leben wie essen und trinken. Sie setzen sich. Sie blicken auf die Wände des Kirchenschiffs. Sie sehen die Fresken, die sie alle schon kennen. Sie sehen die Heiligenstatuen und Barockengel auf der Kanzel, die sie schon längst kennen. Sie atmen durch und seufzen ein wenig: So wird ihre Seele gesund. Sie sehen den Altar und den Tabernakel, die sie schon längst kennen, lehnen sich zurück und sind zufrieden. Denn alles ist, wie es sein soll. Alles, was geschieht, geschieht, damit sich die Schrift erfüllt. Alles ist wie immer. Sie wollen immer wieder in dieser Kirche sitzen, wie ich in meinem Stadion, wie ich immer wieder in diesem meinem Stadion sitzen will. Täte ich es nicht, fehlte mir etwas. Ich sehe die Tore, das Spielfeld, die Tribünen, die Anzeigetafel, das Dach, die Flutlichter. Alles wie es sein soll. Schönheit. Erhabenheit. Dieses Stadion ist meine Kirche. Meine Kathedrale. Mein Dom. Nicht Romanik. Nicht Gotik. Nicht Barock. Neueste Sachlichkeit. Stahl und Beton. Ich habe lange auf seine Errichtung gewartet. Lange. Schwer. Lange hat mir etwas gefehlt. Ich habe Opfer bringen müssen. Große Opfer.
Wenn ich von mir spreche, der in diesem Stadion sein will, und wenn ich von denen spreche, die in ihren Kirchen sein wollen, dann geht es allen diesen dabei gar nicht eigentlich um den Gottesdienst, der eben gewissermaßen nebenbei stattfindet, und um Gott am allerwenigsten. Gott: Was das schon sein soll! Es geht überhaupt nicht um ein Jenseits, überhaupt nicht um Auferstehung oder ein ewiges Leben. Es geht um Einkehr, wortwörtlich um Einkehr. Um das Innehalten, um die Versenkung, um die Stille. Um das Jenseits im Diesseits. Um das Diesseitsjenseits. Die Zeit soll stehen bleiben. Es geht nur um eines: zu sich zu kommen. Zur Ruhe zu kommen. Frieden zu finden. Frieden in sich selbst. Eine Stunde Ruhe pro Woche in seinem Leben. Eine Stunde ohne Zeit. Hier und jetzt. Zweimal fünfundvierzig Minuten Frieden. Sofern der Schiedsrichter nicht nachspielen lässt.
Er lässt drei Minuten nachspielen, aber es bleibt beim Ergebnis, Hallodria gewinnt eins zu null. Das ist schön, aber egal. Was in der Regionalliga passiert, ist egal. Aber auch was in der Nationalliga oder in der Bundesliga passiert, ist egal. Und was in der Europaliga passiert, ist genauso egal. Also schreite ich die große Rampe abwärts, setze mich auf das Fahrrad, das ich an einen Fahnenmast neben dem Kassahäuschen vor dem großen Stadion gesperrt hatte, und radle bei Nacht und Nebel nach Hause und sehe einem plötzlichen Impuls nachgebend in der Bibliothek nach, ob ich vielleicht den Text von »Die Stühle« von Ionesco habe.
Tatsächlich, ich besitze die deutsche Ausgabe! Ein schmales gelbes Reclam-Heftchen aus meiner Gymnasialzeit: Eine schreckliche Zeit ist das gewesen, eine ganz schreckliche Zeit! Ich glaube, dass ich damals verstümmelt worden bin; nicht das Gehirn, nicht der Geist, aber die Seele. Den Geist kann man beschützen, wenn man selber ein Geist ist, die Seele nicht. Meine Verstümmler von einst sind heute ahnungslos oder tot. Und ich bin verstümmelt, unsichtbar, unwiderruflich. Dabei ist mir meine Zerstörung ein Rätsel. Ich bin zerstört worden, indem man mich geweckt hat.
Fünfunddreißig Jahre alt muss dieses kleine Reclam-Heft sein! Das Papier ist im Lauf der Jahrzehnte ein wenig vergilbt und vor allem an den Rändern gebräunt. Aber im Übrigen ist es noch gut erhalten. Der Text unversehrt. Unterstrichen habe ich als Gymnasiast nichts, mit Ausnahme einer Stelle, der Vorrede, die ich mit rotem Kugelschreiber eingerahmt hatte. An diese Vorrede kann ich mich auch heute noch gut erinnern. Sie beginnt so: »Die Welt erscheint mir mitunter leer von Begriffen und das Wirkliche unwirklich … « Ja! Genau! So musste mir als Jüngling die Welt auch erschienen sein! Die Leere des Lebens! Und eingerahmt hatte ich: »Wesen, die in ein Etwas hinausgestoßen sind, dem jeglicher Sinn fehlt, können nur grotesk erscheinen, und ihr Leiden ist nichts als tragischer Spott. Wie könnte ich, da die Welt mir unverständlich bleibt, mein eigenes Stück verstehen? Ich warte, dass man es mir erklärt.«
Ja! Exakt! Goldene Worte über das schwarze Loch! Auch ich war hier in Hintersiebenbergen in ein Etwas hinausgestoßen! Und auch meinem Etwas fehlte jeglicher Sinn! Und deswegen wäre ich am liebsten zu Hause geblieben. Oder ins Stadion gegangen. Ins alte Stadion. Hallodria spielte gegen den Wiener Sportklub. Das alte Stadion stand an derselben Stelle wie heute das neue Stadion, aber es bot bloß Platz für zehntausend Besucher, davon achttausend Stehplätze, von Hartlaubbüschen begrenzt. Plätze und Besucher wurden damals nicht gezählt, sondern geschätzt. Leere Stehplätze schauten gar nicht wie Stehplätze aus, sondern einfach wie Natur. Die Hartlaubbüsche waren gleichzeitig Pissoirs. Die Leere war so ungenau wie die Fülle. Die Stehplatztribüne wuchs nicht in die Höhe und stieg nicht steil an. Es gab kein Dach, dafür mehr Licht, mehr Wind, mehr Wetter. Das Urstadion war gewissermaßen naturbelassen.
»Die Stühle« waren Klassenlektüre. Denn das Stück stand auf dem Spielplan des Stadttheaters Hintersiebenbergen, als Studioproduktion auf der Nebenbühne. Auch Stücke von Musil und Canetti und Beckett wurden auf dieser Studiobühne damals produziert, alles was modern war, unvorstellbar heute! Theater spielte damals noch eine größere Rolle im gesellschaftlichen Leben. Kunst spielte im Gesellschaftsleben eine größere Rolle, Literatur, Kultur … Vormittags gab es geschlossene Sondervorstellungen für Schulklassen, vor allem für die Oberstufe der Gymnasien. Herr Professor Pöhland verteilte auf der Straße vor dem Studio die Eintrittskarten. Am Tag darauf wollte Pöhland das Eintrittsgeld in der Klasse abkassieren. Dreißig Schilling pro Kopf und Nase. Drei Schüler hatten vergessen, das Geld mitzubringen, einer davon war ich. Ich war müde. Traumverloren. Gedankenversunken. In meiner eigenen Welt. Ich machte mir keine Gedanken über das Geld für das Theaterstück – dreißig Schilling: eine Bagatelle letztlich –, weil ich mir den ganzen Tag Gedanken über das Theaterstück machte und über die Verstörung, die von ihm ausgegangen war. Welche Verlorenheit! Welche existenzielle Einsamkeit! So hatte ich die Welt noch nicht gesehen! Meine Welt war ganz anders. Wie elend diese Welt auf dieser Bühne war! Wie elend die beiden Alten waren, die die gesamte Menschheit zu einer Abendgesellschaft eingeladen hatten. Erbärmlich und erbarmungswürdig gleichzeitig. Unentwegt läutete die Türglocke und die beiden schafften eifrig Stühle herbei, auf denen die unsichtbaren Gäste Platz nahmen. Sie trieben Konversation und kündigten die große Rede an, die Aufschluss geben sollte über die noch ungeklärten Fragen des Daseins. Noch ehe die Rede stattfand, stürzten sich die beiden Alten aus dem Fenster. Wozu dann um Himmels willen alles, fragte ich mich.
Außerdem bekam ich über die Welt nachdenkend Zahnschmerzen. Dann kam das Wochenende. Am Samstag in der Nacht radelte ich in die Zahnambulanz des Krankenhauses und ließ mir zur Geisterstunde einen vereiterten Zahn reißen. Am Sonntag klaffte ein blutiges Loch in meinem Kiefer. Am Montag und am Dienstag hatte die Klasse keine Deutschstunde und am Mittwoch hatte ich die dreißig Schilling wieder vergessen. Ich war noch wie narkotisiert. Ach ja, das Geld! Daran hatte ich jetzt nicht gedacht. Denn es war viel Zeit vergangen und mein Kopf voller wesentlicher Dinge die ungeklärten Fragen des Daseins betreffend. Und es war ja nur Geld. Eigenes Geld hatte ich nicht, woher denn auch? Ich musste den Vater fragen. Ich hätte ihn fragen müssen. Bitten müssen. Aber der Vater hatte wenig Zeit und viele Sorgen: Das tägliche Brot. Das Dach über dem Kopf. Es ging schlechter und schlechter mit Vaters Sitzmöbelunternehmen: Einerseits kauften die Leute nun lieber billige Sitzmöbel in den großen neuen Sitzmöbelburgen am Stadtrand als die teureren Qualitätssitzmöbel in seinem kleinen, alteingesessenen Sitzmöbelgeschäft, das er von seinen Eltern geerbt hatte, die es von deren Eltern geerbt hatten, die noch Tischler gewesen waren, Selbermacher, Urgroßvater und Urgroßmutter nämlich, er und sie, Tischler und Tischlerin, Tischler, die Stühle bauten. Andererseits bezahlten immer mehr Sitzmöbelkäufer ihre Rechnungen nicht, die Leute werden immer ungenierter und rücksichtsloser, schimpfte Papa, und bei Pfändungsversuchen stellte sich immer häufiger heraus, dass die Sitzmöbelkäufer bankrott waren. Die Kreditraten bei der Bank musste Papa aber trotzdem zurückzahlen … wie viele schlaflose Nächte hatte Papa zu durchleiden, während ich schlief und träumte und träumte und schlief … den tiefen Schlaf des Zuspätgekommenen, der nichts mehr erben würde, um es zu erhalten … eine Trickfilmfigur, die die Gesetze der Physik außer Kraft setzend immer weiter durch die Luft läuft, weil sie nicht nach links und nicht nach rechts und vor allem nicht nach unten schaut und ganz einfach nicht zur Kenntnis nimmt, dass sie die Klippen längst hinter sich gelassen hat …, und eine innere Stimme sagte mir: In der Situation kannst du ihn nicht ausgerechnet um Geld für »Die Stühle« von Ionesco bitten! Das wäre doch geradezu eine Verhöhnung meines Schöpfers gewesen.
Es war mir sehr unangenehm und peinlich, dass ich das Eintrittsgeld für »Die Stühle« am Freitag wieder vergessen hatte, wahrscheinlich eine Fehlleistung, die man gleich hätte analysieren sollen, um ärgeren Schaden zu vermeiden: Wahrscheinlich wäre der Akt des Bezahlens des Eintritts für »Die Stühle« ein Eingeständnis gewesen, dass die Welt nicht so wunderbar und schön ist, wie Papa sie mir immer herbeierzählt hat, sondern so, wie sie ist, so traurig, so sinnlos und so leer, was ich auf gar keinen Fall wollte, wozu ich ausführe, dass ich eine Gestalt war und bin, die im Unzusammenhängenden umherirrt und die nichts ihr Eigen nennt außer ihrer Angst, ihrer Reue und ihrem Versagen – genau wie es in Ionescos Vorrede zu den »Stühlen« heißt, womit ich nun demonstriert zu haben hoffe, dass ich das Wesentliche damals durchaus erfasst hatte. Ich könnte es auch umgekehrt sagen: Das Wesentliche hatte mich erfasst. Das Wesentliche hatte mich auf dem falschen Fuß erwischt. Um Himmels willen! Die Trickfilmfigur schaut nach unten! Außerdem kamen schon wieder Zahnschmerzen dazu, grässliche Zahnschmerzen; Zahnschmerzen von der Art, dass sie im Kopf die ganze Welt auffressen. Das schlechte Erbgut! Wer sonst nichts erbt, erbt schlechte Zähne. Mein Gott, mein Vater, warum kann man nicht gleich mit einer Prothese auf die Welt kommen! Kunst statt Natur! Kunst kann niemals solche Schmerzen zufügen wie Natur! Am Mittwoch hätte ich das Eintrittsgeld für »Die Stühle« von Eugène Ionesco im Grunde gehabt, denn ich hatte die dreißig Schilling bei Papa (der von Ionesco sein Leben lang nie etwas gehört hatte) dann meine eigene Zwangslage beherzigend doch angefordert und gemeinsam mit einem leichten Seufzer bekommen und in meine Geldtasche gesteckt, die ich wiederum in die Gesäßtasche meiner Bluejeans geschoben habe, die ich auch am Mittwoch anziehen wollte, hätte meine Mutter beim Frühstück nicht darauf bestanden, diese schmutzige (wörtlich sagte sie: »vor Dreck strotzende«) Jeans zu wechseln, wodurch dann meine Geldtasche irgendwie … na ja. Es hat nicht sollen sein.
Damit ein solches Malheur nicht noch einmal passieren konnte, habe ich die vermaledeiten dreißig Schilling für Ionescos »Stühle« diesmal griffbereit auf das Nachtkästchen gelegt, den Wecker gestellt und bin so auf die Aufgaben, Pflichten und Notwendigkeiten des nächsten Tages vorbereitet friedlich eingeschlafen. Ich habe geträumt, dass der Wecker läutet und ich aufstehe, frühstücke, mich außerdem an wichtigen Körperstellen ein bisschen wasche, in die Schule gehe, Professor Pöhland in tiefster Zufriedenheit die dreißig Schilling aushändige, der sie freudestrahlend entgegennimmt, und genau in dem Moment, in dem Pöhland mich fragt: »Warum nicht gleich so, Fraundorfer?«, schrecke ich aus dem Traum hoch, blicke auf den Wecker und muss feststellen, dass die Unterrichtsstunde in diesem Moment, den ich noch im Bett zubringe, zu Ende geht. Jetzt läutet es, aber das ist nicht der Wecker, sondern die Zentralpausenglocke des Gymnasiums.
Es gibt im Leben jedes Menschen zwei Zustände, in denen er ein vollendeter Dichter ist: Traum und Kindheit. Beides war bei mir an diesem Morgen der Fall. Aber eine Grundsatzdiskussion über: Der Traum ein Leben, das Leben ein Traum, das Aufgehobensein im Unlösbaren angesichts der Frage: Was ist wirklich? Was ist wirklicher? Die Traumwirklichkeit oder die Wirklichkeitswirklichkeit? – Und besitzen wir Menschen überhaupt ein Instrumentarium, um Traumwirklichkeit und Wirklichkeitswirklichkeit zuverlässig voneinander unterscheiden zu können, all diese Erörterungen, die ich Professor Pöhland in der Stunde darauf zur intellektuellen Untermalung der Gesamtsituation angeboten habe, haben mir nicht wirklich weitergeholfen. Der Traum, ein Leben: Falsches Land. Falsche Zeit.
Die Pomade auf dem Kopf Professor Pöhlands war damals längst nicht mehr – und noch lange nicht wieder – modern. Mein Gott, es ging doch nur um dreißig Schilling! Eine lächerliche Summe. Eine lächerliche Geschichte. Aber als ich gescheiterter Gelddienstbote Professor Pöhland coram publico wirklich zerknirscht die unglückseligen Umstände auseinandersetzte, die schuld daran waren, dass ich das Eintrittsgeld für Ionesco noch nicht bezahlen konnte, begann er ganz oben am Kopf zu schwitzen, was – wofür ich beim besten Willen nichts konnte – irgendwie dazu führte, dass sich Kopfschweiß und Pomade vermischten, ein dünner schwarzer Strom stirnabwärts floss, in eines der Pöhland’schen Augen tropfte und dort ein offenbar schmerzendes Brennen verursachte, worauf der Professor Pöhland das Klassenzimmer verließ, um wenige Minuten später gereinigt, seelisch aber doch seltsam derangiert zurückzukehren. Kann sein, dass etliche Klassenkameraden und vielleicht auch ich die Situationskomik würdigend ein wenig geschmunzelt haben, aber wenn, dann unwillkürlich und ganz sicher ohne Schadenfreude und beleidigende Absicht. Einfach situativ.
»Schlecht erzogen bist du«, sagte Pöhland. »Aber das geht so nicht, so nicht, so nicht … « Und dann brachte er mich um.
Meine letzten Worte waren: »Je mehr man die Kultur ablehnt, desto mehr bereichert man sie, Herr Professor!«
Zwei Monate später händigte mir Professor Pöhland das Jahreszeugnis aus.
In dem stand als Betragensnote: »Nicht zufriedenstellend«. Die Exkommunizierung! Absturz der Trickfilmfigur. Exitus. Abtransport in die Kühlkammer des Leichenschauhauses: -273° C! Im ganzen Gymnasium war ich der einzige Schüler, dessen Betragen mit Nicht zufriedenstellend beurteilt worden war, oder – wie es hieß: – beurteilt werden musste: ICH! Der Einzige! Ich war einzigartig! Mein finsteres Schicksal verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Ich war, wie sich schnell herausstellte, der einzige Schüler der ganzen Stadt Hintersiebenbergen, ja, des gesamten Bundeslandes Hallodrien, dessen Betragen mit Nicht zufriedenstellend beurteilt worden war. Der einzige unter Tausenden und Abertausenden! Niemand wusste zu sagen, ob überhaupt schon einmal in der Geschichte des Landes und seines Schulwesens irgendjemand mit Nicht zufriedenstellend beurteilt worden war. Auch die Ältesten der Alten konnten sich nicht an einen derartig schlimmen Fall erinnern. Das war das Kainsmal! Auf meiner Stirn erschienen Leuchtbuchstaben, die sich zu den Worten Extremely Dangerous! zusammensetzten, ein anderes Mal zum Wort Asozial!, zum resignativen Befund Nicht therapierbar! Nicht zufriedenstellend: Das war tausendmal schlimmer als Nicht genügend. Denn das war keine Zensur, sondern ein Urteil. Nicht zufriedenstellend: Das war, in zwei harmlose, unverfängliche Wörtchen gekleidet, das Ungeheuerlichste, das einem jungen Menschen attestiert werden konnte, das war die Aburteilung seiner Gesamtpersönlichkeit, seines ganzen Wesens.
Nicht zufriedenstellend: das Ticket in die Hölle.
Und außerdem war ich durchgefallen. Nicht genügend: Damit das Nicht zufriedenstellend nicht gar so allein war. Mir kam vor: Ich wurde durchgefallen. Ich wurde durchgefällt. Ich war eine Unperson geworden. Wo konnte ich mich mit einem solchen Zeugnis vorstellen, hochgefährlich, wie ich nun einmal war? Diese Schande! Ich war ausgeschlossen aus der Menschengesellschaft. Hinausgeworfen. Ich war gesperrt. Auf Lebenszeit gesperrt. Von allen Kameraden für immer getrennt. Es gab kein Zurück mehr. Ich war ein Aussätziger. Ich hatte die Betragenspest. Ich war zu Einzelhaft verurteilt worden, zu einem einsamen Marsch durch die Wüste, an dessen Ende der Tod wartete, das ewige Nichts. Exitus statt Abitur. Schockschwerenot! Schädelhirntraumaherzstillstand!!!
Am Anfang war der Chor. Aber das Theater als Gattung beginnt in Wirklichkeit in dem Augenblick, in dem einer aus dem Chor heraustritt, sich dem Chor gegenüberstellt und eine eigene Stimme bekommt. Sagt man. Aber in Wirklichkeit beginnt das Drama in dem Augenblick, in dem der Chor einen aus seinen Reihen hinaustritt und verstößt und der Chor dem Einzelnen gegenübersteht wie eine Armee.
Alles, was bisher in meinem niedlichen kleinen Leben geschehen war, war doch letztlich eine Komödie gewesen. Und jetzt wurde aus der Komödie plötzlich eine Tragödie! Was hatte ich getan? Einen Fehler hatte ich begangen, ja, ein Malheur war mir passiert, eine Fehlleistung. Wenn man so will: ein Malheur in mehreren Etappen. Dass ich verträumt war und verschlafen hatte, konnte man mir vorhalten. Einen Mangel an Pünktlichkeit, Pflichtbewusstsein und Gewissenhaftigkeit konnte man mir vorwerfen. Aber ein Verbrechen? Jemand musste mich verleumdet haben. Hatte ich jemanden umgebracht? Hatte ich jemanden vergewaltigt? Verprügelt? Wehrlose Kreaturen gequält? Gott gelästert? Religiöse Lehren herabgewürdigt? Hatte ich geplündert? Gebrandschatzt? Hatte ich meine Professoren beim Fenster hinausgeworfen, war ich wild brüllend mit einer Kalaschnikow ins Konferenzzimmer eingedrungen und hatte die Professorenschaft wahllos um mich ballernd niedergemetzelt? Hatte ich ein Blutbad angerichtet, hatte ich den Direktor stranguliert? Hatte ich meine Mitbrüder und Mitschwestern zu den Waffen gerufen, das System zu stürzen? Alienatio mentis? Aberratio mentalis? Fixe Ideen? Hatte ich einen Theaterbrand gelegt an den morschen Holzboden der Gesellschaft? Nein, ich hatte ein paar Mal das Eintrittsgeld von dreißig Schilling für »Die Stühle« von Eugène Ionesco vergessen.
Und ich hatte – ein armer Komödiant in seiner Plage und Not – damit begonnen, während sterbenslangweiliger Unterrichtsstunden selbst hübsche Mikrodramen im Geist Ionescos und Arrabals und Audibertis zu schreiben. In meinen Mikrodramen traten Menschen in Wohnlandschaften auf, die einander zu Kaffee und Kuchen Sätze aus Gebrauchsanleitungen für Waschmaschinen, Radiorekorder und Fernsehgeräte an den Kopf warfen. Die Männer und Frauen in meinen Mikrodramen standen auf und tanzten miteinander, während sie sich Aufgaben aus Mathematikschularbeiten ins Ohr flüsterten wie die gewagtesten Intimitäten. Sie koitierten und sagten während des Koitus Sätze aus dem Kapitel Genetik des Biologiebuchs auf und orgasmierten zu Worten wie Doppelhelix oder Desoxyribonukleinsäure. Bei der Zigarette danach säuselten sie sich Sätze aus dem Alten Testament und aus dem Koran zu, wobei ein Teil der Bühnenfiguren nun in die Rolle von Möbelstücken schlüpfte und der andere Teil der Figuren auf diesen lebenden Sitzmöbeln Platz nahm, sodass Hinterteile sich harmonisch auf Gesichtern niederließen und es sich miteinander plaudernd bequem machten, die einen drohten zu ersticken, die anderen drohten mit Konsequenzen, und am Ende sprangen sie alle aus dem Fenster in die Tiefe.
Wie plastisch ich Machtverhältnisse dargestellt hatte! Wenn das keine Kunst war! Meine Mikrodramen wurden mir von den Professoren aber nicht als anerkennenswerte – sozusagen: sehr zufriedenstellende – Talentproben ausgelegt, sondern als »unterrichtsfremdes Material« abgenommen – mit der Vorhaltung: »Wenn das jeder täte … wenn sich das jeder herausnähme … wenn jeder so eigenmächtig … « Dass jeder tun könnte, was ich tat und tue, war und ist freilich ein sehr hypothetisches, ein »akademisches« Problem: Denn ich war ja schon attestiert einzigartig. Bis heute ist mir mein abgenommenes Frühwerk von der Direktion des Gymnasiums nicht rückerstattet worden. Ich warte.
Als renitent werde ich sicherlich gegolten haben: Das konnte schon sein. Mein Betragen wird den eisernen Professoren missfallen haben. Man wird meine Antworten als frech und meine ironischen Kommentare als Versuche empfunden haben, die Lehrer zu ärgern, ihre Autorität zu unterwandern und die Klasse aufzuwiegeln. Dass ich vor der Klasse gesagt habe, unser Leben zerfalle in zwei Hälften – in der ersten würde uns eine Menge von Ansichten, Urteilen und Meinungen mitgeteilt, und wir hätten die Aufgabe, diese Ansichten teils zu vergessen, teils durch ihr Gegenteil zu ersetzen –, das wird die Lehrer sicher gegen mich aufgebracht haben. Diese meine Weisheit quittierte Professor Pöhland mit der Bemerkung, noch nie habe er so viel Anmaßung getroffen und so wenig, das sie gerechtfertigt hätte. Ich glaube, ich habe sogar gehöhnt, das schlimmste Vorurteil, das wir aus unserer Jugendzeit mitnähmen, sei die Idee vom Ernst des Lebens. Daran sei nur die Schule schuld. Lehrer seien Spielverderber. Alles wirklich Wertvolle sei aus einer Spielerei hervorgegangen.
Oder hatte ich gar etwas getan, das so unsagbar schlimm gewesen ist und durch das ich so große Schuld auf mich geladen habe, dass ich es, um überhaupt weiterleben zu können, aus meinem Bewusstsein verdrängt habe? Vielleicht müsste ich schürfen und schürfen und schürfen, Schicht um Schicht um Schicht abtragen, graben, graben, graben, zahlen, zahlen, zahlen. Aber womit?
Ich machte mich samt meinem Zeugnis mit der niederschmetternden Zensur auf den Heimweg zu Sitzmöbelvater und Sitzmöbelmutter. Auf dem Bürgersteig bildete sich eine Menschenschlange, die mit zahllosen Fingern auf mich zeigte und rief: Schaut, das einzige Nicht zufriedenstellend von Hintersiebenbergen! Das einzige Nicht zufriedenstellend von Hallodrien! Schaut! Der Sitzenbleiber! Seltsamerweise muss der Sitzenbleiber aufstehen und gehen und darf nicht sitzen bleiben, während alle Zufriedenstellenden, die nicht sitzen geblieben sind, sitzen bleiben dürfen. (Vielleicht schreibe ich noch einmal einen großen Racheroman und nenne ihn »Sitzen bleiben«.)
Ich unterbrach den Heimweg und besorgte mir beim Greißler ein paar Flaschen des nationalen Niederlagengetränks. So streifte ich, in der linken Hand mein Bier, in der rechten mein Nicht zufriedenstellend, ziellos durch die Straßen Hintersiebenbergens (in einer späteren Ausgabe werde ich vielleicht schreiben: Ich mäanderte durch die Stadt …), den ganzen Tag und die ganze Nacht lang. Bei Sonnenaufgang landete ich – ich weiß nicht wie – auf einer Parkbank zwischen zwei Kastanienbäumen gleich hinter dem Gymnasium, diesem geheimnisvollen Ort meiner plötzlichen Zerstörung. Währenddessen fuhr mein verzweifelter Vater kreuz und quer durch die Stadt und suchte mich und fand mich nicht. Wie groß die Stadt war! Wie groß das Land! Wie hoch der Himmel! Meine Augen zeigten mir, wie riesig der Weltraum war und wie winzig ich. Ich war allein. Ich verlor die Dimensionen. Die Morgensonne blinzelte durch die Baumkronen. Dieser Tag konnte herrlich werden, aber leer. Der Tag konnte prächtig werden, aber sinnlos. Ohne Bedeutung. Ohne Aufgabe. Der Tag konnte wunderbar werden, aber nicht für mich: Eintritt verboten!
Da erschien der Engel des Herrn und sprach: »Siehe! Aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, wirst du nie wieder innerhalb einer Gemeinschaft sein, Egyd Fraundorfer! Aus dem System geschleudert, wirst du niemals Teil des Systems sein bis zum Tag deines Absterbens. Dein Schicksal wird sein: Du musst draußen bleiben. Du sollst allein bleiben! Siehe: Dies ist dein Weg: die Wüste!«
Das soll ein Engel sein?, dachte ich. Engel hatte ich mir anders vorgestellt. Netter. Lieber. Einfühlsamer. So wie die von früher. Nicht so sterile, weisungsgebundene Verwaltungsbeamte ohne Befugnisse, Kompetenzen und Rückgrat. Das war keiner der Engel, die im Himmel schöne Häuser bauen!
»Die Wüste? Vierzig Tage?«
»Vierzig Jahre, du Idiot! Du sollst nicht haben Freund und Feind, nicht Vorgesetzte, Untergebene, nicht Arbeit, nicht Urlaub, nicht Wochenende, nicht Frau und Kind. Du sollst haben eine Haushälterin. Du wirst überall draußen bleiben. Dein Schicksal wird sein: Warten und warten und warten, bis eines Tages der eine kommt, der ein Licht in dir aufgehen lässt. Sei wachsam, damit du ihn erkennst!«
Was für ein Engel! Schon flatterte er davon.
Alles war anders geworden auf der Parkbank zwischen den Kastanienbäumen. Ich existierte noch, aber sonst existierte nichts mehr. Kein Himmel über mir. Kein Boden unter meinen Füßen. Und keine anderen Wesen. Alles wurde unscharf. Alles in Zeitlupe. Ich existierte noch, und alles andere war Bier. Über mir, unter mir, rund um mich Bier, ein Weltraum aus Bier. Mir wurde schwindlig, mir wurde schlecht und ich spürte das Verlangen, mich selber auszuschütten, mich mit dem Weltbier zu vereinen und wegzurinnen, abzufließen bis ins große Meer hinein auf Nimmerwiederkehr. Es war nicht schade um mich. Manche andere Wesen beugten sich zu mir, wie ich zusammengekauert auf meiner Parkbank lag. Sie redeten auf mich ein, aber ich verstand sie nicht mehr, ihre Worte waren bloßes Geräusch, ihre Körper verschwammen mit den Kastanien, ihre Gesichter wurden Fruchtfratzen und verschwanden in den Baumkronen. Es gurgelte bloß ein wenig, wenn die Fruchtfratzen ihre Lippen bewegten, die anderen Wesen drifteten vor meinen Augen in ein Paralleluniversum ab.
Nur ich existierte noch wirklich, der Komödiant in seiner Plage und Not. Alles andere war undeutlich, umschlossen von einer Mauer des Unbegreiflichen. Das Wirkliche wurde zu einem leeren Raum, den ich ausfüllte. Ich lächelte die neuen Parallelirdischen durch die gläserne Wand müde an und sagte ihnen, lasst das Gurgeln sein, das hat keinen Sinn! Ihr dringt nicht zu mir durch! Ihr lebt ja in einem anderen Weltraum. Während diese anderen Wesen in ihr Paralleluniversum abdrifteten, um dort gewissenhaft ihre Pflicht zu erfüllen, muss es ihnen so vorgekommen sein, als driftete ich direkt von meiner Parkbank weg in ein Paralleluniversum der gewissenlosen Pflichtvergessenheit ab, und als wäre alles, was ich hervorbrächte, bloß ein Gegurgel. Es schien den anderen Wesen, als ränne ich aus und plätscherte weg auf Nimmerwiedersehen.
Rinne ich jetzt aus? Plätschere ich jetzt weg?
»Aber nein, Schisserle!«
Halt! Wer war das jetzt? Das war nicht das Gegurgel eines anderen Wesens zwischen Kastanienbäumen hinter dem Gymnasium. Das war auch nicht der Engel des Herrn. Das war meine innere Stimme!
»Wie viel Besuch ich heute bekomme, Schätzchen, dabei möchte ich eigentlich ausrinnen und wegplätschern in den Ozean des Nichts …«
»Nein. Das erlaube ich dir nicht. Das darfst du nicht. Du bist noch zu jung. Du mäanderst jetzt noch ein bisschen!«
»Mir ist zu übel zum Mäandern! Ich bin in ein Theaterstück hineingeraten, in ein Drama, in dem ein einsamer Alter und seine einsame Alte auf einer einsamen Insel in einem einsamen Turm leben und sich am Ende des Stückes aus dem Fenster des Turms ins Meer stürzen, um Platz zu schaffen für eine neue Welt. Ich bin aus eigener Schuld, aber auch unschuldig in diesem Drama gefangen, Schätzchen, und ich kann aus diesem Gefängnis nur ausbrechen, indem ich selbst wegplätschere! Hinaus aus diesem Universum …«
»Ah, der Schüler will ins Paradies fahren! Das kannst du natürlich tun«, erwiderte die innere Stimme, »aber dann wirst du nie erfahren, wie Hallodria heute Abend gegen Kapfenberg spielt.«
Um Himmels willen! Stimmt! Das hatte ich in meinem Elend ganz vergessen. Heute Abend war ja das Match! Der Höhepunkt der Woche! Schon damals spielte Hallodria in der Meisterschaft gegen Kapfenberg, und wie Hallodria gegen Kapfenberg spielte, das wollte ich schon noch wissen. Zwar hatte mich der Engel des Herrn zu ewiger Einsamkeit verurteilt. Zwar hatte er gesagt, ich würde weder Freund noch Feind, weder Frau noch Kind noch Familie haben. Aber vom Verein und vom Stadion hatte er nichts gesagt. Das war gut.
Das Tor gegen die Kapfenberger von diesem Freitag habe ich sofort wieder vergessen. Aber die Tore von Hallodria vor vierzig Jahren könnte ich alle heute noch nacherzählen, die Entstehung, die Spielzüge, die Flugbahnen, die Einschläge, natürlich die Namen der Torschützen, ihre Rückennummern, die Farbe der Dressen. Alles habe ich noch immer im Kopf. Der deutsche Bulle, der Emma hieß und einen unglaublichen linken Hammer hatte! Vom Kopftumor hinweggerafft im letzten Jahr. Der Hase, der am Ball balancierend salutierte, Millionen verdiente, im Casino wieder verspielte und Trafikant wurde! Gogo, der grimmige Gartenzwerg mit Vollbart und den famosen Fallrückziehern, die schwarze Perle aus Tansania, der Whisky-Boy hieß und stets Schabernack trieb, der King, der Goofy, der Dago: Die alle brauchten mich. Als Zeugen.
»Und dann darf ich dich bitte daran erinnern, dass du noch andere Termine hast, mein Schisserle: In vierzehn Tagen Argentinien! Der Fliegende Friedrich in Buenos Aires! Schubert und Schoko in Mar del Plata! Und Jakobs Monarch in Córdoba! Darauf warten wir seit zwanzig Jahren! Darauf warten wir länger als wir leben! Da geht doch ein Weltraum auf! Wir bestehen ja nicht nur aus unserem kleinen Eigen-Wir, sondern auch aus einem größeren Gesamt-Wir! Wir werden gegen Spanien spielen! Gegen Schweden! Gegen Brasilien! Gegen Italien! Gegen Holland! Gegen die ganze Welt! Wir werden gegen Deutschland spielen! Das werden wir uns nicht entgehen lassen, bloß weil wir inferior sind und die Pest haben! Auf diese kleine Lücke hat der strenge Engel vergessen. Schlag das gelbe Heftchen jetzt einmal zu und leg es weg. Das kannst du dir für später aufheben, Schisserle. Da machen wir was draus. Alles zu seiner Zeit!«
Stimmt! Da hatte mein Schätzchen recht. Aus dem Fenster stürzen und wegplätschern ins Nirgendwo konnte ich später auch noch. Errettet. Die Erde hatte mich wieder. Fürs Erste. War das jetzt wieder Himmel über mir? Himmel? Wohl doch noch nicht. Blauer Himmel zuckt nicht so. Blaulicht zuckt so.
Stücke werden nicht von Autoren geschrieben, sondern von den kommenden Generationen. Ich kann nicht voraussagen, ob meine Sensibilität und die der späteren Generationen übereinstimmen. Die späteren Generationen schreiben immer ein Stück, das auf dem des Dramatikers fußt, aber auf viele Arten vom ursprünglichen Werk abweicht.
Das Theater endet als Gattung in dem Augenblick, in dem der Chor den einen, der aus ihm ausgetreten ist, stehen lässt, ihm weder zuhört noch antwortet, sich abwendet, umdreht, geht und verschwindet.
Ich bin wieder da, lieber Maître Ionesco! Ich bin vom Berg der Architekten heruntergestiegen. Der Vortrag ist gehalten, der Roman geschrieben, das Leben gelebt. Beginnen wir mit dem Ende. Obwohl: Ist das überhaupt ein Roman? Man müsste einmal einen Germanisten fragen. Oder lieber doch nicht. Ist das überhaupt ein Leben? Man müsste einmal einen Menschen fragen. Oder lieber doch nicht. Wollen wir, Maître? Wir wollen! Hereinspaziert! Zweiunddreißigtausend Stühle nur für uns! Endlich befinden wir uns nach der Apokalypse! Zum Glück! Wir haben die Eucharistie nun hinter uns. Wir sind befreit von Raum und Zeit und Dramaturgie! Finale! Aber ein Finale ohne Ende. Endlich Platz für die geheimnisvollen Offenbarungen. Hier und jetzt ist Ihr Drama über ein halbes Jahrhundert nach seiner Uraufführung im Théâtre du Nouveau-Lancry zum ersten Mal in seiner Maximalvariante aufgeführt worden als große Oper ohne Musik in unzähligen Akten. Ausgerechnet hier, verehrter Ionesco: die Weltpremiere. Natürlich hat das überhaupt niemand bemerkt, jahrelang, weder die Gelehrten noch die Besitzenden. Kann man mich hören? Auch da oben unter dem Dach auf den billigen Plätzen: WELTPREMIERE!!! Und ich war Zeuge von Anfang an, lange vor den ersten Proben zur tragischen Farce. Ich war Zeuge, weil ich Zeit und nichts zu tun hatte und niemand mich gebraucht hat. Weil ich ein Exkommunizierter war. Wir verstehen die tragische Farce natürlich nicht, und es wird keiner kommen, sie uns zu erklären. Jedes Theaterstück, jedes Kunstwerk ist letztlich ganz einfach ein Monument. Dieses hier, mon cher Ionesco, ist Theater und Theaterstück in einem.
Das eine muss man wissen, und man darf es nicht verwechseln: Das gigantische Rund der Tribünen hier, die gigantische Masse der Stühle, der Zuschauerraum – ist nicht der Zuschauerraum. Das ist die Bühne. Der eigentliche Zuschauerraum ist ganz klein, hier bei uns beiden. Wir sitzen in einem Kellertheater, dessen Bühnenbild metastasiert und in den Himmel gewachsen ist.
Beim letzten Spiel musste ich Sie alleine lassen, Maître, weil ich bei Architekten eingeladen war, vor denen ich über das leere Stadion gesprochen habe. Ich habe vor den Architekten über Schönheit gesprochen, auch das, was Sie mir darüber gesagt haben, dass es in der Architektur seit dem neunzehnten Jahrhundert keine Erfindungen mehr gegeben hat. Bis dahin verstand es das Neue in der Architektur immer, sich harmonisch mit dem Alten zu verbinden. Im Altertum, heißt es, half die Schönheit der Bauten um das Mittelmeer herum den Bewohnern, selbst den ärmsten, zu leben. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Schönheit ist eine unentbehrliche Nahrung. Heute nehmen sich die Leute vor Langeweile in ihren funktionellen Häusern, in ihren neuen Wohnwaben das Leben, weil das Brot der Schönheit ihnen fehlt.
Im Übrigen habe ich den Architekten nur gesagt, dass ich es eilig habe, weil es heute gegen Allerheiligen geht. Da wird vielleicht etwas los sein!, habe ich gesagt. Wer da alles kommen wird!
Kaspar Exhauser ist nicht unter diesen Wesen und Gestalten, scheint mir, aber seinen Vorschlag sollten wir beherzigen und den Friedhof und die Friedhofstoten zum Duell gegen Allerheiligen einladen, es ist Platz genug für alle da. Aber dass sie mit ihren Knochen auf ihre Totenköpfe trommeln, darauf können wir verzichten! Solche Stimmungskanonen brauchen wir hier nicht. Ich fürchte, mit denen, die uns der Zentralfriedhof von Hintersiebenbergen bietet, würden wir kein Auslangen finden. Ich denke eher an die Friedhöfe der Welt. Wir könnten die Arena auch zur Heimstätte der Halbbegrabenen machen! Zweiunddreißigtausend Halbbegrabene vor dem Seitenwechsel, die bis zum Gürtel aus den Stühlen ragen, während sie in der zweiten Halbzeit bis zum Hals im Beton stecken!
Wir spielen gegen Allerheiligen. Ich lade die Menschheit ein. Bienvenue! Das ist das letzte Spiel. Danach kommt nichts mehr. Ich lade die Menschheit vor. Es wackelt im Stadion ein bisschen, es wackelt im Atelier ein bisschen, aber die Permanentmachung schreitet voran. Wenn man ein Seismograf ist, wackelt es doch immer ein bisschen, das gehört zum Beruf, da muss man sich keine Sorgen machen. Es wurde von höchster Seite beschlossen, dass ab sofort immer gegen Allerheiligen gespielt wird, es wird auch in Zukunft bis in alle Ewigkeit immer gegen Allerheiligen gespielt werden. Zur Erinnerung: Die Heiligen sind die, deren Grabsteine sich abwenden.
Jetzt treffen die Gäste ein. Spiel im Spiel. Aus der Konver sation mit Gespenstern erwachen Flirts, Seitensprünge, Träume, Verletzungen, Ambitionen, Niederlagen. Die Besucher strömen. Ich bin sitzen geblieben, aber meine Englein sind gekommen, um mir Gesellschaft zu leisten, solange ich nachsitzen muss, und um mich vorzubereiten auf den Tag, an dem ich endlich, endlich aufstehen und mich erheben darf.