Cover

Factory Man. Die Lebensgeschichte des Andy Warhol

Für Frauke Wilken und Susanne Wedewer-Pampus

Inhalt

Prolog
Die berühmteste Suppendose der Welt

1.
Hunkie-Boy1928–1942

  Im Blitzlicht: Der Junge mit der Knollennase

2.
»So echt wie ein Fingerabdruck«1942–1949

 Im Blitzlicht: Auf der Suche nach dem verlorenen Schuh

3.
»Küss mich mit deinen Augen«1949–1953

  Im Blitzlicht: In the Bottom of My Garden

4.
»Reich denken. Arm aussehen«1954–1961

  Im Blitzlicht: »Andy war Pop – und Pop war Andy«

5.
»Ich mag Geld an der Wand«1962

  Im Blitzlicht: Red Disaster

6.
»Silber war die Zukunft«1963–1964

  Im Blitzlicht: The Thirteen Most Wanted Men

7.
»Kunst machte mir einfach keinen Spaß mehr«1964–1965

  Im Blitzlicht: The Chelsea Girls

8.
»Come, blow your mind«1966–1967

 Im Blitzlicht: »Ich mache meine Bilder nicht mal selbst«

9.
Bestgehasst1968–1969

  Im Blitzlicht: Für 25.000 Dollar ist jeder ein Star

10.
»Ich gehe auf Partys«1970–1976

  Im Blitzlicht: Time Capsules

11.
»Kaufen ist amerikanischer als Denken«1977–1987

  Im Blitzlicht: »Ich werde euer Spiegel sein«

Zeittafel

Bibliografie

Bücher von Andy Warhol

Bücher über Andy Warhol

Ausstellungskataloge & Bildbände

Zitatnachweis

1. Hunkie-Boy

2. »So echt wie ein Fingerabdruck«

3. »Küss mich mit deinen Augen«

4.  »Reich denken. Arm aussehen«

5. »Ich mag Geld an der Wand«

6. »Silber war die Zukunft«

7.  »Kunst machte mir einfach keinen Spaß mehr«

8. »Come, blow your mind«

9. Bestgehasst

10. »Ich gehe auf Partys«

11. »Kaufen ist amerikanischer als Denken«

Dank

Prolog

Die berühmteste Suppendose der Welt

Am 9. Juli 1962 eröffnet Galerist Irving Blum in Los Angeles eine Ausstellung, die Geschichte schreiben wird, was aber damals noch keiner ahnt. Es gibt auch keine richtige Vernissage, keine Party mit Sekt, Häppchen und schicken Leuten. Der Künstler ist nicht mal anwesend. Denn Andy Warhol, 33 Jahre alt und erfolgreicher Werbegrafiker in New York, hält es nicht für nötig, den weiten Weg bis nach Kalifornien auf sich zu nehmen. Irving Blum hat deshalb nur ein paar Einladungskarten verschickt. Das Motiv auf der Rückseite: eine Suppendose.

Denn genau das zeigt die Ausstellung: 32 Bilder, jedes 50 × 40 Zentimeter groß, lehnen auf schmalen Regalbrettern an den Wänden der Ferus Gallery. Sie alle zeigen auf den ersten Blick dasselbe: eine Suppendose der Marke Campbell’s, mit Acrylfarbe auf Leinwand gemalt und mit dünnen Holzleisten gerahmt. Die Suppendosen sind fast identisch, nur ihre Geschmacksrichtungen unterscheiden sich: Tomatensuppe, Hühnersuppe, Erbsensuppe – es sind genau 32 verschiedene Sorten und jedes Bild kostet 100 Dollar. Das ist alles. Die wenigen Besucher, die an diesem Julitag die Galerie betreten, sind verblüfft. Manche halten die Ausstellung für eine Frechheit, andere lachen und glauben an einen Scherz. Ein paar Häuser weiter hat ein anderer Galerist einen Stapel echte Suppendosen von Campbell’s in sein Schaufenster gestellt und dazu ein Schild gemalt: »Hier kaufen Sie billiger – 60 Cent für drei Büchsen.«

Galerist Irving Blum findet nicht viele Käufer für die Suppendosen von Andy Warhol. Nach ein paar Wochen beschließt er deshalb, die komplette Serie selbst zu behalten, und holt sich die paar verkauften Bilder zurück. Dem Künstler zahlt er insgesamt 1000 Dollar.

35 Jahre später gehen die Campbell’s Soup Cans für 15 Millionen Dollar an das Museum of Modern Art in New York.

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Campbell’s Soup Can (Tomato), 1964  • Synthetic polymer paint and silkscreen ink on canvas • 36 × 24 inches

Andy Warhol hat Fragen aufgeworfen, die noch heute, fast 30 Jahre nach seinem Tod, für Diskussionen sorgen. War er ein Genie? Ein Mann, der als Künstler und Filmemacher Grenzen überschritten hat? Oder war er nur ein gewiefter Blender, besessen von der Sucht nach Erfolg und gesegnet mit einem guten Instinkt für Vermarktung? Anders gefragt: War der Superstar Andy Warhol auch ein bedeutender Künstler? Und wenn ja, was hat er der Welt gegeben? Was steckt hinter seinen Bildern von Suppendosen, elektrischen Stühlen oder fröhlichen Blumen und was wollen seine über 100 Filme uns erzählen? Warhol selbst hat immer wieder behauptet, es gäbe nichts in seinem Werk zu entdecken, er habe keine Aussage und keine Botschaft. Doch wer sich auf Andy Warhols Arbeiten einlässt, merkt sehr schnell, dass das nicht stimmt. Denn die Aussage einer künstlerischen Arbeit ist losgelöst davon, ob und was der Künstler aussagen möchte.

Andy Warhol hat die Pop-Art nicht erfunden, aber er gilt heute als einer ihrer wichtigsten Vertreter. Warum gerade er? Was hatte Warhol einem Roy Lichtenstein oder einem Claes Oldenburg voraus? War es sein Geschäftssinn, bestand sein Geheimnis in der kalkulierten Provokation und der cleveren Vermarktung? Und worin genau bestand seine kreative Leistung? Pop – das war in den 60er-Jahren auch ein Lebensgefühl, ein bestimmter Blick auf die Welt, eine Haltung, die kaum jemand so gut verinnerlicht hatte wie Andy Warhol.

Seit 1964 nannte Warhol sein Atelier Factory. Denn es war tatsächlich eine Art Fabrik, in der seine unterbezahlten Assistenten die heute weltberühmten Siebdrucke nach seinen Anweisungen fertigten, Kunstwerke, die Warhols Namen trugen. Sind diese Bilder »echte« Warhols? Wie weit entfernt von der Hand seines Schöpfers darf ein Kunstwerk entstehen, um noch als seine Arbeit gelten zu können? Anders als Rembrandt oder Michelangelo beschäftigte Warhol in seiner Factory keine Lehrlinge oder Schüler, sondern Künstlerpersönlichkeiten mit eigenem Potenzial. Häufig sprach er davon, eine Maschine sein zu wollen und dass seine Kunst genauso gut von jedem anderen hergestellt werden könnte, was doch überhaupt nicht der Fall war: Auch wenn viele Handgriffe von seinen Assistenten selbstständig ausgeführt wurden, war es Warhol, der die Idee hatte, der Motiv und Farbwahl bestimmte und bei vielen Bildern noch mit dem Pinsel Hand anlegte.

Warhols Factory war außerdem mehr als nur der Produktionsort von Kunst, die sich als mechanisch-seelenlose Serienproduktion tarnte. Die Factory steht für Dauerparty, Drogen, Sex und die Freude an frecher Selbstdarstellung. Sie war Warhols Ideenpool, seine emotionale Ladestation, seine Großfamilie im Dauerclinch und ein Experimentierfeld für Projekte, die sich heute wie Vorläufer zu TV-Formaten wie Big Brother oder Next Topmodel lesen. Für die Filmbranche hat Warhol wie ein Trendscout gewirkt, der jedoch 30 Jahre zu früh unterwegs war. Deshalb interessieren sich heute nur noch eingefleischte Underground-Kinofans oder Medienwissenschaftler für seine Filme.

Manche Gräben, die Warhol mit seiner Kunst aufgerissen hat, sind heute längst zugeschüttet: Seine handwerkliche Professionalität als bildender Künstler steht außer Frage und eigentlich regt sich niemand mehr über seine Bilder auf. Im Gegenteil zählen sie heute zu den Klassikern der Pop-Art und erzielen bei Auktionen oft Höchstpreise im Millionenbereich. Trotzdem schwanken die Urteile über seine Arbeit bis heute zwischen großer Begeisterung und totalem Verriss. Als die Aachener Spielbank im Herbst 2014 zwei Warhol-Siebdrucke für 135 Millionen Dollar versteigern ließ, reichten die Kommentare vom entsetzten Aufschrei über den »Kulturverlust« bis zum gleichgültigen Achselzucken.

Andy Warhol ist in der modernen Welt präsent wie kaum ein anderer Künstler. Er hat Ikonen der US-amerikanischen Geschichte und ihres Alltags geschaffen, die ins kollektive Gedächtnis der Menschen eingegangen sind. Auch wer niemals einen Film mit Marilyn Monroe gesehen hat, kennt ihr Gesicht als Pop-Version von Andy Warhol, sei es auf Postern, Tassen oder T-Shirts. Smartphones verfügen heute über Apps, mit denen man Fotos auf »Warhol-Manier« verfremden kann. Außerdem ist sein spezieller Serienstil – dasselbe Motiv wird in verschiedenen Farbvarianten nebeneinandermontiert – auf der ganzen Welt im Kunstunterricht beliebt, von der Grund- bis zur Hochschule.

Der Mensch Andy Warhol hingegen tritt hinter seinen Ikonen immer weiter zurück, was schade ist, denn die Urteile über ihn werden auf diese Weise nicht mehr hinterfragt, sondern lediglich durch ermüdende Wiederholung zementiert. Die einen sehen in ihm einen mutigen Vorkämpfer der Schwulenbewegung, eine Symbolfigur für eine selbstbewusste homosexuelle Identität. Die anderen halten ihn für einen krankhaften Egomanen, der seine engsten Freunde und Mitarbeiter gedemütigt und manche von ihnen seelisch zerstört habe. In beidem steckt Wahrheit, aber Andy Warhols Persönlichkeit hatte noch viel mehr Facetten.

Drei Sehnsüchte trieben ihn von Kindheit an: Er wollte schön, reich und berühmt sein. Nur dann, das schien er zu glauben, würde er auch geliebt werden.

Um sich seinen eigenen Wünschen und Ängsten nicht stellen zu müssen, suchte er Menschen, die dasselbe wollten wie er, und beobachtete sie – vor allem beim Scheitern. Wie ein Insektenforscher filmte er seine »Superstars« und hat damit, viele Jahre bevor die ersten Casting-Shows auf Sendung gingen, den Abgrund ausgelotet, der Menschen verschlingt, wenn sie um jeden Preis schön, reich und berühmt sein wollen.

Bin ich schön?, fragte sich Andy Warhol jeden Tag. Bin ich attraktiv, erotisch, ansprechend? Gefalle ich den Menschen – gefalle ich mir selbst? Kaum ein Künstler hat so unter seinem Aussehen gelitten wie Andy Warhol – und sich doch selbst immer wieder porträtiert. Schließlich hat er entdeckt, wie er den Mechanismus »Nur wer schön ist, kann ein Star sein« austricksen konnte, indem er ihn einfach umdrehte: Wer ein Star ist, ist auch schön. Andy Warhols Siebdruckporträts machten jeden zum Star. Jeden, der es sich leisten konnte, dafür 25.000 Dollar zu zahlen.

In Zukunft wird jeder Mensch 15 Minuten lang berühmt sein, sagte Warhol 1968 – und längst hat das Internet diesen Satz wahr gemacht. Hätte Warhol online gehen können, wäre er Social-Media-süchtig gewesen, hätte permanent gebloggt und getwittert. Und vielleicht hätte ihn das animiert, sich häufiger zu aktuellen politischen, kulturellen oder sozialen Entwicklungen in den USA zu äußern. Denn es ist zwar so, dass Warhol die Stimmung in seinem Heimatland genau wahrgenommen hat, und viele seiner Arbeiten spiegeln das auch wider, jedoch gibt es kaum politische Statements von ihm.

Die Amerikaner lieben Selfmade-Millionäre, und Warhol verkörpert den »American Dream« auf perfekte Weise. Sein Haus stand in der feinen Upper East Side, wo er von den Reichen und Berühmten nicht nur akzeptiert, sondern auch als Kultfigur umworben wurde. Aber er war auch ein Bürgerschreck, der sie mit provozierendem Verhalten und gezielt irreführenden Aussagen abstieß. Es ist schwierig, den Gedankengängen eines Mannes zu folgen, der alles darangesetzt hat, das, was in ihm vorging, zu verbergen.

Dass es vielen Menschen heute so schwerfällt, Andy Warhol als Künstler und Filmemacher ernst zu nehmen, hat mit diesen Widersprüchen zu tun. Wer Warhol verstehen möchte, muss daher bereit sein, auch hinter die grell-bunte Fassade zu blicken.

1.

Hunkie-Boy1

1928–1942

Andy Warhol hat über seine Herkunft viele haarsträubende Dinge erzählt. Jedem, der ihn danach fragte, tischte er eine andere Geschichte auf, darunter so dramatische wie diese: Seine Mutter habe ihn inmitten einer Feuersbrunst ganz allein zur Welt gebracht. Er habe ständig unter seinen bösen großen Brüdern gelitten. Seinen Vater habe er fast nie gesehen und seine Mutter sei immer krank gewesen. Nichts davon stimmt, auch wenn in der einen oder anderen Anekdote ein Funken Wahrheit steckt.

Andy Warhol schämte sich seiner Herkunft, und je berühmter er wurde, desto weniger konnte er zu ihr stehen. Wahr ist: Er stammte aus einer Familie von hunkies. So nannten die Amerikaner vor 100 Jahren Arbeiter, die aus Osteuropa in die USA eingewandert waren, Menschen aus Ungarn, Polen und anderen slavischen Ländern. Arme Leute, die kaum Englisch sprachen und am Rand der Gesellschaft lebten.

Warhols Vater hieß Ondrej Warhola und war Ruthene – heute sagt man Russine. Er kam aus dem kleinen Ort Miková im Nordosten der heutigen Slowakei, im Grenzgebiet zu Russland und Polen. Damals gehörte der Ort noch zur K.-u.-K.-Monarchie Österreich-Ungarn, wo das Leben zu Beginn des 20. Jahrhunderts äußerst hart war, besonders für Bauern wie Ondrej. Wie viele andere schiffte er sich etwa 1907 nach Übersee ein und suchte sein Glück in den USA. Zwei Jahre schuftete der ehrgeizige und ernste Mann in einem Bergwerk von Pittsburgh, dann kehrte er zurück in die Heimat, um sich eine Braut auszusuchen. Seine Wahl fiel auf die fröhliche Julia Zavacky. Sie hatte 15 Geschwister und war an harte Arbeit gewöhnt. Als Ondrej Warhola 1912 die Einberufung zum Militär drohte, wanderte er endgültig in die USA aus. Julia ließ er auf dem Hof seiner Eltern zurück und versprach, sie so bald wie möglich nachkommen zu lassen. Doch erst neun Jahre später konnte Julia ihrem Mann nach Pittsburgh folgen. Da hatte sie bereits ihr erstes Kind verloren, weil sie auf dem Feld arbeiten musste und sich nicht um das kranke Baby kümmern durfte. In Pittsburgh kam 1922 ihr Sohn Paul zur Welt, drei Jahre später John und am 6. August 1928 wurde Andrew Warhola geboren, der sich später Andy Warhol nennen sollte.

Die Welt, in der Andy Warhol aufwächst, wird von Kohle und Stahl regiert. In den 20er- und 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts ist Pittsburgh im Staat Pennsylvania mit seinen 300.000 Einwohnern das Zentrum nordamerikanischer Schwerindustrie. Die Stadt gleicht einer Höllenwerkstatt: Pausenlos donnert und kracht es, und aus den 140 Kohlegruben und 60 Eisengießereien quillt schwarzer Rauch, weshalb die Autos auch am Tag mit eingeschalteten Scheinwerfern fahren. Nachts färben die aus den Stahlwerken schießenden Feuerbälle den Himmel rot und grün. Tausende Arbeiter gehen Tag für Tag in die Fabriken und schleppen sich rußverklebt am Abend zurück zu ihren Familien. Sie leben in kleinen Häuschen, Baracken oder elenden Hütten in der Innenstadt.

Am Rande von Pittsburgh, weit genug entfernt vom lärmenden Gebrüll der Maschinen, leben die wohlhabenden Bürger, darunter die Familien Carnegie, Frick, Heinz, Mellon und Westinghouse. Sie sind die Besitzer der Fabriken, der Minen und Gruben.

In den USA gibt es in diesen Jahren schon über 20.000 Millionäre, was die Amerikaner mit Stolz erfüllt. Denn sie glauben nicht nur daran, dass das Schicksal eines Menschen vorherbestimmt ist, sondern auch, dass wirtschaftlicher Erfolg ein Beweis für das Wohlwollen Gottes ist. Diese Vorstellungen sind ein Erbe der Puritaner, die 1620 auf der Mayflower von England her ins Land kamen, und sie werden zur Grundlage des amerikanischen Kapitalismus. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bildet sich in den USA die erste Massenkonsumgesellschaft heraus: Radios, Waschmaschinen und Kinobesuche sind jetzt für breite Teile der Bevölkerung erschwinglich und 1925 läuft das 15-millionste Model T vom Fließband, ein von Henry Ford entwickeltes Auto, das eigens für den Durchschnittsamerikaner gebaut wurde.

Die Warholas sind jedoch zu arm, um sich ein Auto oder ein Haushaltsgerät zu kaufen. Hunkies stehen außerdem weit unten in der gesellschaftlichen Rangordnung, nur Schwarze sind noch schlechter angesehen. Doch Ondrej Warhola ist ein großer, kräftiger Mann, stur und zielstrebig. Mehr als alles andere auf der Welt will er seine Familie aus dem Elend führen und sucht sich einen Job im Straßenbau, wo er mehr verdient als im Bergwerk, auch wenn er dafür oft wochenlang von zu Hause fort ist. Er spart eisern, verzichtet auf Alkohol, lehnt das Glücksspiel ab und folgt strenger Disziplin. So liest er jeden Tag amerikanische Zeitungen, um sein Englisch zu verbessern. Seine Frau Julia hingegen weigert sich, Englisch zu lernen, und spricht ihr Leben lang Po nasemu, was bedeutet »wie bei uns«, also die Sprache ihrer Heimat, eine Mischung aus Ungarisch und Ukrainisch. Von Anpassung an die amerikanische Kultur hält sie gar nichts und sie trägt ihr Bauernkleid mit der Arbeitsschürze voller Stolz. Julia ist humorvoll, gefühlsbetont, abergläubisch und ein bisschen exzentrisch.

Die Warholas bewohnen zwei ärmliche Zimmer in einem schmalen Backsteinhaus im Arbeiterviertel Soho. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 nimmt ihnen auch das: Ondrej Warhola verliert seinen Job – wie ein Viertel der Amerikaner auch – und ist auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Die Familie zieht in eine noch elendere Wohnung: Dort gibt es nur noch eine Wohnküche, ein Schlafzimmer und gebadet wird in einem Metallkübel. Immerhin haben die Warholas überhaupt ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, denn in diesen Jahren sind knapp 50.000 Menschen in Pittsburgh vom Hungertod bedroht.

Auch Julia muss nun Geld verdienen, sie geht putzen und verkauft Blechblumen, die sie aus Dosen geschnitten hat. Ihre drei Söhne wollen gerne helfen und sammeln eifrig leere Blechkisten, alte Flaschen und Fassungen von Glühbirnen, um sie zu verkaufen. Den Verdienst geben sie der Mutter, die regelmäßig Geld an die Verwandten in Miková schickt.

Bald siedeln sich Brüder und Schwestern der Warholas in der Nachbarschaft an. Julia ist eine zentrale und beliebte Figur in diesem Clan. Gemeinsam feiern sie Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen. Das religiöse Leben ist den Russinen wichtig und es durchdringt ihren Alltag. Auch wenn Andy Warhol nie viel darüber redet: Er wird sein Leben lang regelmäßig in die Kirche gehen.

So eng der Kontakt innerhalb der Familie ist, so gespannt ist das Verhältnis der Warholas zur Außenwelt. Zu Hause lernen die drei Jungs kein richtiges Englisch, was für Paul am schlimmsten ist, denn er muss als Erster in die Schule gehen. Aus Angst, sich nicht verständlich machen zu können, entwickelt er eine Sprachstörung, schwänzt den Unterricht, verkauft stattdessen Zeitungen und Erdnüsse oder er parkt Autos für ein Trinkgeld. Oft lässt er seinen Frust an den jüngeren Brüdern aus, vor allem, wenn er den Vater vertreten soll. Ondrej bekommt 1932 seinen früheren Job im Straßenbau wieder und ernennt den zehnjährigen Paul für die Zeit seiner Abwesenheit zum Familienchef. Vor allem der Jüngste bekommt Pauls strenge Erziehung in Form von Schlägen zu spüren.

Andy ist ein aufgeweckter, lebhafter Junge, aber er ist auch furchtsam und flüchtet oft auf den Schoß seiner Mutter. Sie kann jedoch nicht verhindern, dass Paul den erst vierjährigen Bruder bei der Soho-Grundschule anmeldet, zwei Jahre zu früh. Andy gerät in Panik und will zu Hause bleiben, aber Paul lässt sich nicht umstimmen. Der erste Tag in der Schule ist schrecklich, Andy kommt in Tränen aufgelöst nach Hause und berichtet, ein kleines schwarzes Mädchen habe ihn geohrfeigt. Julia beschließt, ihr Nesthäkchen zu Hause zu behalten, und setzt sich durch. Es folgt eine gemütliche Zeit für Mutter und Sohn. Julia zeichnet gerne und Andy macht es ihr nach. Sie sitzen oft in der Küche, malen Katzen und porträtieren sich gegenseitig. Und wenn Julia am Herd steht und kocht, kann sich Andy in den Falten ihrer weiten Röcke verstecken.

Die US-amerikanische Wirtschaft erholt sich überraschend schnell. Präsident Franklin D. Roosevelt bekämpft mit dem Programm des New Deal erfolgreich Armut und Arbeitslosigkeit. 120.000 öffentliche Gebäude und 77.000 Brücken lässt er errichten – darunter die Golden Gate Bridge bei San Francisco, die 1937 eingeweiht wird. Auch gibt Roosevelt eine Million Kilometer Straßen in Auftrag, wovon auch Ondrej Warhola profitiert. Im Frühjahr 1934 kauft er für 3200 Dollar, die er bar auf den Tisch legt, ein Haus im Arbeiterviertel Oakland. Das Haus in der Dawson Street hat zwei Stockwerke: Unten gibt es einen zwölf Quadratmeter großen Wohnraum mit offenem Kamin, dahinter liegen Esszimmer und Küche. Oben sind zwei Schlafzimmer, eines für die Eltern, eines für die Jungs, und Paul richtet sich später auf dem Dachboden ein eigenes Reich ein. Diesmal gibt es auch ein kleines Bad mit einer richtigen Wanne, einen Kohleofen im Keller und einen kleinen Garten, in dem Julia Gemüse zieht.

Ondrej Warhola hat somit seinen Teil dazu getan, der Familie ein besseres Leben zu bescheren. Auch das Geld für die Highschool der Söhne hat er schon zur Seite gelegt. Dafür erwartet er, dass sie Medizin studieren oder Jura. Weil der Vater sich so abrackert und weil er so streng ist, trauen sich die Jungen nicht, offen mit ihm darüber zu reden, dass sie seine Erwartungen nicht erfüllen können. Und bevor er den Gürtel aus der Hose zieht, um seinen Worten mit Schlägen Nachdruck zu verleihen, halten lieber alle den Mund.

Das neue Haus liegt in der Nähe vom hübschen Schenley Park und steht heute noch. In den angrenzenden Straßen wohnen nicht nur hunkies, sondern auch Juden, Afroamerikaner und Italiener. Bis zu 50 Kinder und Jugendliche treffen sich nach der Schule auf der Straße zum Spielen.

Mit sechs Jahren muss Andy Warhol dann doch in die Grundschule gehen. Weil ihm der einzige Tag zwei Jahre zuvor versehentlich als ganzes Jahr angerechnet wird, steckt man ihn in der neuen Holmes Elementary School gleich in die zweite Klasse. Dieser zweite Anlauf verläuft besser als der erste, Andy kann inzwischen schon etwas Englisch, auch wenn Julia sich immer noch weigert, etwas anderes als Po nasemu zu sprechen. Die Lehrerin erinnert sich wegen der auffallend flachsblonden Haare und der hellen Augen viele Jahre später noch gut an Andy. Er sei ein stiller Schüler gewesen, sagt sie, der gut zeichnen konnte. Mittags geht er nach Hause, wo Julia ihm eine Suppe von Campbell’s auftischt. Danach erledigt er ganz ordentlich seine Hausaufgaben am Küchentisch und malt.

Andy spielt schon immer lieber mit Mädchen als mit Jungen. Seine beste Freundin heißt Margie Girman, ist etwas jünger als er und sehr gut in der Schule, was ihn dazu bringt, ihr nachzueifern. Margie und Andy lieben Kinofilme und gehen jeden Samstag in die Vormittagsvorstellung. Sie sehen immer zwei Filme nacheinander und dürfen sich am Ausgang ein Hochglanzfoto der Hauptdarsteller aussuchen. Bald besitzt jeder von ihnen eine stattliche Sammlung. Andy stockt sie durch Autogrammkarten auf, die er per Post bestellt. »Der Film ist neben dem Jazz die wichtigste amerikanische Kunstform«, sagt der Historiker Alexander Emmerich.2 Auch wenn er nicht in den USA erfunden wurde, setzt sich die amerikanische Filmindustrie in den 20er- und 30er-Jahren als Marktführer durch. Und von Beginn an wollen die Studios in Hollywood nicht nur gute und erfolgreiche Filme produzieren, sondern sie vermarkten ihre Leinwandstars gnadenlos. Andys damaliger Lieblingsfilm ist Alice im Wunderland von den Paramount Studios, und er träumt von einem eigenen Filmprojektor – was für einen Arbeitersohn ziemlich ungewöhnlich ist. Doch Julia Warhola, die ihrem Jüngsten gern alle Wünsche erfüllen möchte, kratzt das Geld nach einigen Wochen tatsächlich zusammen und kauft das Gerät. Nun kann Andy sich Mickey Mouse-Filme und andere Comics zu Hause anschauen, auch die damals beliebte Geschichte vom Waisenmädchen Little Orphan Annie.

Einmal im Monat steigt Julia Warhola mit ihren Söhnen in den Bus nach Lyndora im Nordwesten von Pittsburgh, wo sie Verwandte besuchen. Auch dort hat Andy eine Freundin, Lillian Lanchester, genannt, Kiki. Sie ist begabt, hübsch und spielt sogar Gitarre. Kaum sind die Warholas in Lyndora angekommen, rennen Andy und Kiki in den Süßigkeitenladen und suchen sich danach ein geheimes Plätzchen, wo sie naschen und Andy ihren Geschichten lauscht. Kiki mag es, dass Andy immer sauber und ordentlich aussieht, und dass er schüchtern ist, stört sie nicht. Auf den wenigen Fotos, die aus dieser Zeit erhalten sind, sieht Andy Warhol tatsächlich wie ein braver kleiner Junge aus: gebügeltes Hemd, gerader Scheitel und ein freundliches, ein bisschen scheues Lächeln.

Als Andy acht Jahre alt ist, beginnt sein Körper plötzlich damit, rätselhafte Symptome zu entwickeln: In der Schule kann er nicht mehr an die Tafel schreiben oder zeichnen, weil seine Hand zu zucken beginnt. Die Mitschüler finden das komisch, vor allem, als sie merken, dass Andy große Angst davor hat, nach vorne gerufen zu werden. Da er nicht weiß, warum es ihm von heute auf morgen so schwerfällt, seine Schuhe zuzubinden oder einfach nur seinen eigenen Namen zu schreiben, gerät er in Panik und bricht bei den einfachsten Aufgaben in Tränen aus. In der Pause ist er ein leichtes Opfer für diejenigen, die gern Schwächere herumschubsen. Jeder neue Tag wird zum Horrortrip und schließlich will Andy gar nicht mehr in die Schule gehen.

Seine Familie nimmt das Problem zunächst nicht ernst. Dass der jüngste Warhola scheu ist und beim geringsten Anlass heult, ist nichts Neues. Aber dann kann er auf einmal nur noch undeutlich sprechen, seine Hände zittern, wenn er etwas anfassen will, und er kann auch nicht mehr still sitzen. Julia macht schließlich etwas, was die Warholas eigentlich nie tun, sie ruft einen Arzt. Dessen Diagnose steht auch bald fest: Andy leidet unter einer leichten Form von Chorea, auch bekannt als »Veitstanz«. Ausgelöst wird die in manchen Fällen tödliche Krankheit durch einen Gelenkrheumatismus, häufig eine Folge mangelnder Hygiene und beengter Wohnverhältnisse. Die dafür typischen Symptome sind zuckende Bewegungen von Gesicht, Hals, Händen, Füßen oder Rumpf, ausgelöst durch spastische Verkrampfungen. Der Arzt verordnet Andy körperliche Ruhe.

Julia Warhola trägt sein Bett aus dem ersten Stock herunter ins Esszimmer, damit sie tagsüber immer in seiner Nähe sein kann. Sie verhätschelt ihren Jüngsten nach Herzenslust, was Andy natürlich gut gefällt. Ja, nach wenigen Tagen beginnt er es zu genießen, dass sich alles um ihn dreht, und er wird diese Zeit später als besonders glücklich in Erinnerung behalten. Julia holt das Radio aus dem Wohnzimmer und stellt es neben Andys Bett. Sie kauft ihm Filmzeitschriften und Comics, auch Malbücher und Ausschneidepuppen. Als Andy seine Hände wieder kontrollieren kann, beginnt er damit, Illustrierte zu zerschneiden und Collagen zu kleben oder zu malen. Für jede fertige Seite im Malbuch bekommt er einen Schokoriegel.

Vier Wochen lang wird Andy Warhol wie ein Prinz verwöhnt und diese Zeit prägt sein Leben nachhaltig. Es ist vielleicht übertrieben zu sagen, Andy Warhol habe den Rest seines Erwachsenenlebens zurück in das Paradies des umsorgten kranken Kindes gewollt, aber sicher ist, dass er in dieser Zeit die Requisiten findet, die ihn ein Leben lang begleiten: Schokolade, Comics, Starfotos und Klatschzeitungen. Die Geschichten der Reichen und Schönen wecken in ihm die brennende Sehnsucht, eines Tages dazuzugehören. Außerdem wird Andy Warhol auch als Erwachsener sehr viel Zeit in seinem Bett verbringen. Für ihn ist es weniger ein Platz sexueller Nähe als ein Ort der Sicherheit. Hier wird er später die intimsten Gespräche führen – per Telefon.

Warhol-Biograf Victor Bockris geht noch einen Schritt weiter und sieht in Julia Warhola die erste Assistentin des späteren Künstlers und im Krankenzimmer sein erstes Studio.

Nach ein paar Wochen kommt es zu einem schrecklichen Streit. Die Familie ist der Meinung, Andy habe genug Zeit im Bett verbracht und könne jetzt wieder zur Schule gehen. Je verzweifelter sich der Junge an Julia festklammert, desto brutaler zerren die Brüder an ihm. Als ein Nachbar die dramatische Szene auf der Vordertreppe des Hauses beobachtet, mischt er sich ein, greift sich den schreienden Andy und trägt ihn die Treppe herunter. Andy bricht zusammen, aber niemand will glauben, dass er noch nicht gesund ist. »Wir zwangen ihn, zur Schule zu gehen. Leider war das ganz falsch, weil er danach noch schlimmer mit den Nerven dran war«, erinnert sich John Warhola.3 Andy erleidet einen Rückfall und muss noch einmal vier Wochen im Bett bleiben. Auch dieses Erlebnis hat tief greifende Folgen für seine Psyche. Die offensichtlichsten: Körperliche Gewalt und Zwang werden ihm zeitlebens Abscheu einflößen und er wird sich niemals gerne anfassen lassen.

Als Andy Warhol in die Pubertät kommt, gibt es neue Probleme: Seine Haut spielt verrückt. Rotbraune Flecken erscheinen im Gesicht, auf den Armen, Händen, Brust und Rücken und lassen ihn kränklich ausschauen. Für einen Jungen, der gerade dabei ist, sich in die Welt der Filmstars hineinzuträumen, ist das eine harte Prüfung. Sein großes Idol ist Shirley Temple, bis heute der berühmteste Kinderstar der Filmgeschichte. Ihr niedliches Puppengesicht ist in diesen Jahren überall präsent, sie kann singen, tanzen und ist genauso alt wie Andy. Das Autogrammfoto mit der Widmung »Für Andy Warhola von Shirley Temple« ist das Prunkstück seiner Sammlung. In seinem Bemühen, ihr nachzueifern, kopiert Andy die charakteristischen Gesten des Kinderstars und legt zum Beispiel gerne seine gefalteten Hände an die Wange und hält dazu den Kopf leicht schräg.

Das gnadenlose Arbeitstempo von Ondrej Warhola fordert Ende der 30er-Jahre seinen Tribut. 30.000 Dollar hat er angespart und dafür seine Gesundheit ruiniert. Ein schwerer Anfall von Gelbsucht beendet sein Berufsleben. Drei Jahre lang schleppt er sich leidend durchs Haus, arbeiten gehen kann er nicht mehr. Ins Krankenhaus will er nicht, weil er Angst hat, es nicht mehr verlassen zu können.

Die Familie gerät in finanzielle Nöte, denn Ondrej will das Ersparte nicht antasten. Paul arbeitet mittlerweile in einem Stahlwerk und gibt seinen Lohn zu Hause ab. John besucht die Handelsschule und hat damit zumindest die Aussicht auf einen einträglichen Job. Julia beginnt, Mittagessen für Arbeiter zu kochen, sogenannte Kostgänger.

Ondrej spürt, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, aber er muss noch eine wichtige Sache regeln: Andy soll eine ordentliche Ausbildung bekommen, doch weder Julia noch Paul können aus seiner Sicht mit Geld umgehen, und daher ernennt er den zweitältesten Sohn John zum Verwalter des Familienvermögens.

Im Mai 1942 muss Ondrej schließlich doch ins Krankenhaus und stirbt kurz darauf. Drei Tage lang wird er zu Hause aufgebahrt. Verwandte, Nachbarn und Freunde nehmen Abschied und nachts ist immer ein Familienmitglied bei ihm. Auch der 13-jährige Andy soll einen Teil der Totenwache übernehmen, aber er weigert sich, das Wohnzimmer zu betreten. Er will den Toten nicht sehen, ja nicht einmal im selben Haus schlafen und zieht für ein paar Tage zu seiner Tante. Der Tod wird ihn sein ganzes Leben lang immer so sehr erschrecken, dass er nur vor ihm flüchten kann.

Ein Dreivierteljahr nach Ondrejs Tod heiratet Paul und seine Frau Ann wohnt jetzt auch in der Dawson Street. Victor Bockris schildert Ann als unausgeglichene Frau, die oft Wutanfälle hat und von allen verlangt, ihre Gefühle offen auszusprechen. Andy fühlt sich von ihr nicht akzeptiert. Als Paul zur Marine eingezogen wird, ist Ann gerade schwanger und die Atmosphäre im Haus äußerst gespannt. Alle sind erleichtert, nachdem Ann mit dem Baby zu ihren Eltern gezogen ist.

Inzwischen ist auch Julia Warholas Gesundheit angegriffen. Die Ärzte diagnostizieren Darmkrebs. Ohne lange zu überlegen, willigt Julia in eine Operation ein. Später sagt sie, die OP sei unnötig gewesen und sie würde sich nie wieder operieren lassen, weil sie solche Schmerzen kein zweites Mal aushalten könne. Andy zieht aus den Krankengeschichten seiner Eltern eine Lehre: Ärzten, so glaubt er, dürfe man grundsätzlich nicht trauen. Und um Krankenhäuser müsse man einen weiten Bogen machen.

 Im Blitzlicht: Der Junge mit der Knollennase

Das erste bekannte Selbstporträt von Andy Warhol ist eine Bleistiftzeichnung aus dem Jahr 1942. Sie wurde schon häufig ausgestellt, in Katalogen gedruckt und ist auch im Internet leicht auffindbar, wenn man die Stichworte »Warhol, Self Portrait« und dazu »1942« eingibt. Der 14-Jährige zeichnet sich darauf mit dicken Lippen, buschigen Augenbrauen und einer Knollennase. Forschend blickt er den Betrachter an – und auch sich selbst. Vergleicht man diese Zeichnung mit späteren Selbstporträts, so wird klar, dass dieser Junge bereits das ganze Misstrauen in sich trägt, das ihn sein Leben begleiten wird. Skepsis und Furcht mischen sich dazu. Man spürt, dass Andy innerlich auf dem Sprung ist, bereit, jeden Moment zurückzuzucken. Es ist nicht der Blick eines Menschen, der sich darauf freut, erwachsen zu werden und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Stattdessen sehen wir einen jungen Mann, der Schlimmes erlebt hat und noch Schlimmeres erwartet.

Die große Nase, die er sich so gnadenlos ehrlich gezeichnet hat, ist in Wirklichkeit immer leicht gerötet und hat ihm bei seiner Familie den wenig charmanten Spitznamen Rednose Warhola eingebracht, eine Anspielung auf das Rentier aus dem Weihnachtslied Rudolf the rednose reindeer. Andy weiß noch nicht, dass es einen medizinischen Namen für dieses Phänomen gibt: Rhinophym, Knollennase oder Kartoffelnase. Er leidet unter seinem Aussehen ein Leben lang, nicht nur wegen der Nase. Man könnte verstehen, wenn er gar keine Selbstporträts machen würde, aber das Gegenteil ist der Fall: Das Selbstporträt wird ein wichtiges Thema in seinem Werk sein. Immer wieder stellt er sich damit diesen Fragen: Bin ich denn nur hässlich? Kann nicht auch ich schön sein? Wird mich jemand lieben, so wie ich bin?

Was dabei mitschwingt, wenn auch unbewusst, ist die Frage: Werde ich mich jemals selbst lieben können?

Seitdem sein Interesse für Filmstars geweckt wurde, ist sich Andy Warhol der Kluft bewusst, die zwischen seinem Aussehen und dem der blendend schönen Hollywood-Schauspieler liegt. Seit seiner Kindheit versucht er, ihnen nachzueifern, ihnen nahe zu sein. Und doch spürt er es im tiefsten Inneren von Anfang an: Niemals wird er es schaffen, sich ihnen ebenbürtig zu fühlen. Kein Schönheitsmittel auf dieser Welt ist in der Lage, aus ihm einen Leinwandstar zu machen. Auch wenn er die knollige Nase später operieren lassen wird, die Pickel überschminkt und die dünnen Haare unter einer Perücke versteckt, ist ihm klar, dass das Verbergen von Mängeln nur ein hilfloser Zwischenschritt ist.

Der 14-jährige Andy Warhol weiß bereits, dass er einen anderen Weg suchen muss, um sich mit seinem hässlichen Ich auseinanderzusetzen. Ob er schon ahnt, dass es Übertreibung und Provokation sein werden? Dass er eine Technik finden wird, mit der er alle Menschen zu Stars machen kann – und damit auch sich selbst?

Es gibt wenige Künstler, die mit ihrem Aussehen so gehadert haben wie Andy Warhol. Das Selbstporträt ist daher die größte Herausforderung für ihn, Selbstkasteiung und Therapie zugleich, eine Flucht nach vorn. Hätte er gewusst, dass sein erstes Selbstporträt im Jahr 2003 für 265.000 Dollar versteigert wird, wäre er dann gelassener gewesen?

2.

»So echt wie ein Fingerabdruck«

1942–1949

Schon in der Grundschule fällt den Lehrern auf, wie gut Andy zeichnen kann. Sie setzen ihn daher auf die Liste für kostenlose Kunstkurse am Carnegie Museum of Art, zu denen nur besonders begabte Schüler eingeladen werden.

Dass die Amerikaner über ein breites Angebot an solchen Stipendien verfügen, hat mit ihrem Glauben an den »American Dream« zu tun, der besagt: Auch ein Mensch aus ärmlichen Verhältnissen kann ein reicher, geachteter Bürger werden. Er muss dazu nicht nur fleißig sein und über einen zähen Willen verfügen, sondern braucht auch den Impuls durch ein staatliches oder privates Förderprogramm, also genau das, was Andy Warhol jetzt bekommt.

Etwa seit 1937, seinem neunten Lebensjahr, sitzt er jeden Samstagvormittag zusammen mit 300 anderen Schülern in der Carnegie Music Hall, einem pompösen Konzertsaal, und lauscht den Ausführungen des Kunstlehrers Joseph Fitzpatrick: »Kunst ist nicht nur ein Fach. Es ist eine Lebensform«, hämmert er ihnen ein, »alles, was ihr anschaut, ist Kunst oder Mangel an Kunst.«1 Die Kurse bestehen aber nicht nur aus Vorträgen und Ausstellungsbesuchen. Die Schüler malen selbst mit Wachskreiden auf Presspappen, um Grundkenntnisse verschiedener Maltechniken zu erlernen. Mr. Fitzpatrick fällt auf, wie experimentierfreudig und kreativ Andy ist, gleichzeitig schroff und unnahbar. Andy Warhol sagt später, er habe in diesen Kursen mehr gelernt, als nur zu malen. Jeden Samstag habe er einen kleinen Einblick in das Leben von Kindern aus reichen Elternhäusern bekommen und dabei versucht, sich etwas von ihrem Benehmen abzuschauen.

1942 wechselt Andy auf die Schenley High School im Norden des Stadtteils Oakland, zu Fuß etwa 20 Minuten von zu Hause entfernt. Seit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg ein halbes Jahr zuvor herrscht hier, wie in allen amerikanischen Schulen, eine patriotisch aufgeheizte Stimmung. Die Schülerschaft – ob Amerikaner, Griechen, Polen oder Tschechen – fühlt, dass sie alle auf derselben Seite stehen.

Der Zweite Weltkrieg wurde 1939 von den Deutschen entfacht und spaltet bald einen Großteil der Welt: Auf der einen Seite kämpfen die »Achsenmächte« Deutschland, Italien und Japan, auf der anderen Seite die »Alliierten«, allen voran Großbritannien, Frankreich, Polen und andere Länder, die vom Deutschen Reich überfallen worden sind. Die USA halten sich zunächst aus dem Konflikt heraus – noch 1941 sind drei Viertel der Amerikaner gegen einen Kriegseintritt –, trotzdem hat sich die Regierung sogleich mit England und Frankreich solidarisch erklärt. Die rassistische Ideologie der Nationalsozialisten ist für Amerikaner, die ihr Land als Melting Pot, als Schmelztiegel vieler Nationen, begreifen, völlig inakzeptabel. Auch die Regierungsform der Diktatur widerstrebt ihnen, denn Freiheit ist einer der zentralen Begriffe für das Selbstverständnis eines Amerikaners. Präsident Franklin Delano Roosevelt fordert 1941 in seiner Jahresbotschaft an die Nation vier Freiheiten für die gesamte Menschheit: Rede- und Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Not und Hunger und von Angst und Bedrohung. Die USA rechtfertigen damit den Lend-Lease-Act von 1941, ein Gesetz, das ihnen erlaubt, Rüstungsgüter im Wert von 50 Millionen Dollar an die Alliierten, insbesondere Großbritannien und die UdSSR, zu schicken.

Auch China wird von den USA mit Material unterstützt, seit die Japaner dort einmarschiert sind. Um die Japaner von weiteren expansiven Militäraktionen abzuhalten, verlegen die USA ihre Pazifikflotte nach Pearl Harbor auf Hawaii. Trotzdem marschieren japanische Truppen in Französisch-Indochina ein, woraufhin Präsident Roosevelt versucht, Japan mit Wirtschaftssanktionen in die Knie zu zwingen. Japan entschließt sich zu einem Präventivschlag und bombardiert am 7. Dezember 1941 Pearl Harbor. Fast 2500 Amerikaner sterben, 1200 werden verletzt, zahlreiche Schiffe und Flugzeuge werden beschädigt oder zerstört. Die Anti-Kriegs-Stimmung in den USA ist auf einen Schlag verflogen, wenige Tage später befinden die USA sich im Krieg gegen Japan, Italien und das Deutsche Reich. Auch Paul Warhola muss in den Kampf ziehen.

Andy Warhol ist mit 14 ein typischer Teenager. Diese Bezeichnung für Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren ist genau in diesen Jahren in den USA entstanden. Erst seitdem Jugendliche eine eigene Kultur entwickeln und sie deutlich nach außen zeigen, werden sie als Gruppe wahrgenommen und mit einem eigenen Begriff bezeichnet. Sie treffen sich in Milchbars, hören Frank Sinatra und tanzen Jitterbug. Die Mädchen tauschen Schminktipps aus und vergleichen ihre Frisuren und Kleider.

Es ist eine Welt, in der die Schönen und Reichen den Ton angeben, und das ist Andys Problem: Er entspricht dem Ideal des tollen Teenagers überhaupt nicht: Die Pickel wird er nicht los, wegen seiner hellen Haut und der weißblonden Haare halten ihn manche für einen Albino und dann hat er auch noch diese große, knollige Nase.

Dass er mit anderen Eigenschaften, die ihn auszeichnen, etwa Charme, Witz und Freundlichkeit, leicht zu den beliebtesten Jungen zählen könnte, ahnt er nicht. Stattdessen glaubt er, das Leben würde aufgrund seiner Herkunft und seines Aussehens besonders schwer für ihn werden und er müsse sich enorm anstrengen, um etwas aus sich zu machen. Er arbeitet hart, um die Schule gut abzuschließen, denn er möchte unbedingt aufs College gehen, so wie sein Vater es für ihn geplant hatte.

Weil er glaubt, seine Zukunft könne irgendetwas mit Kunst zu tun haben, zeichnet er wie verrückt. Immer hat er einen Skizzenblock dabei, wo er geht und steht, auf dem Pausenhof, beim Eisessen in der Milchbar oder im Drugstore. Und bald kann jeder sehen, dass er Talent hat. Manchmal greift sich ein Mitschüler den Block, hält ihn hoch und ruft der Klasse zu: »He, schaut mal her, was Andy gerade gemacht hat!«

Die Zeichnungen verschaffen Andy Warhol das, was sein Aussehen nicht kann: einen guten Platz auf der Rangliste. Zeichnen zu können ist zwar nicht so angesagt wie gutes Aussehen, ein eigenes Auto oder harte Fäuste, aber es ist besser als nichts. Außerdem gibt es da noch Jimmy Newell, einen Schulkameraden, der später Polizist wird und der aufpasst, dass keiner den schmächtigen Andy bedroht oder drangsaliert. John Warhola behauptet später, er habe Jimmy als Schutz für den kleinen Bruder angeheuert.

Jahre später wird Andy Warhol sagen, er habe sich als Jugendlicher immer von anderen ausgeschlossen gefühlt. Das ist sicher wahr, doch damit ist er nicht allein, denn es gehört zum Grundgefühl der Teenagerjahre, sich ausgeschlossen zu fühlen. Nicht nur Andrew Warhola kommt es so vor, als seien alle anderen lustiger, glücklicher und schöner als er selbst.