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Das Gedicht »Question« (»Frage«) ist entnommen aus
Nature: Poems Old and New von May Swenson.
Copyright © 1994 by The Literary Estate of May Swenson.
Reprinted by permission of The Literary Estate of May Swenson.
All rights reserved. Für diese Ausgabe übersetzt von Katharina Diestelmeier.

1  2  3    15  14  13
Neuausgabe mit Zusatzkapitel und Materialien 2013
Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2008
Originalcopyright © 2008 Stephenie Meyer
This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, N.Y., USA. All right reserved.
Originaltitel: »The Host«
Umschlagbild: © Claire Artman/zefa/corbis
Umschlaggestaltung und -typografie: © Kerstin Schürmann, formlabor
Aus dem Englischen von Katharina Dieselmeier
Satz- und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-646-92607-1

Alle Bücher im Internet unter
www.carlsen.de

Für meine Mutter Candy, von der ich gelernt habe, dass die Liebe an jeder Geschichte das Beste ist

Frage

Körper mein Haus

mein Hengst mein Hund

was werd ich tun

wenn du fällst

Wo werd ich schlafen

Wie werd ich reiten

Was werd ich jagen

Wo kann ich hin

ohne mein Ross

das willige schnelle

Wie werd ich wissen

ob im Dickicht voraus

Gefahr harrt oder ein Schatz

Wenn Körper mein guter

kluger Hund nicht mehr ist

Wie wird es sein

unterm Himmel zu liegen

ohne Dach oder Tür

und statt Augen nur Wind

mit einer Wolke zum Schutz

wo find ich Zuflucht?

                              May Swenson

Implantiert – Prolog

Der Heiler hieß Fords Deep Waters.

Wie alle Seelen war er von Natur aus gut: mitfühlend, geduldig, ehrlich, anständig und liebevoll. Nervosität war ungewöhnlich für Fords Deep Waters.

Gereiztheit erst recht. Da Fords Deep Waters jedoch in einem menschlichen Körper lebte, war Gereiztheit manchmal unvermeidlich.

Als er die Studenten der Heilkunst in der anderen Ecke des Operationssaals murmeln hörte, kniff er fest die Lippen aufeinander. Der Ausdruck schien auf seinem Gesicht, dem das Lächeln viel mehr lag, irgendwie fehl am Platz.

Darren, sein Assistent, sah die Grimasse und klopfte ihm auf die Schulter.

»Sie sind nur neugierig, Fords«, sagte er beruhigend.

»Eine solche Implantation ist wohl kaum eine interessante oder anspruchsvolle Prozedur. Jede Seele da draußen könnte sie im Notfall durchführen. Sie können durchs Zusehen hier heute nichts lernen.« Fords war überrascht von dem scharfen Unterton, der sich in seine sonst so ruhige Stimme geschlichen hatte.

»Sie haben noch nie einen erwachsenen Menschen gesehen«, sagte Darren.

Fords zog eine Augenbraue hoch. »Sind sie blind? Oder gucken sie sich nie gegenseitig ins Gesicht? Haben sie keine Spiegel?«

»Du weißt schon, was ich meine – einen wilden Menschen. Noch seelenlos. Einen der Aufständischen.«

Fords betrachtete den bewusstlosen Körper des Mädchens, das bäuchlings auf dem Operationstisch lag. Beim Gedanken daran, wie der arme zerschundene Körper zugerichtet gewesen war, als die Sucher ihn in die Heileinrichtung gebracht hatten, ergriff ihn tiefes Mitleid. Sie hatte solche Schmerzen ertragen müssen …

Jetzt war sie natürlich makellos – vollständig geheilt. Dafür hatte Fords gesorgt.

»Sie sieht genauso aus wie eine von uns«, sagte Fords leise zu Darren. »Wir alle haben menschliche Gesichter. Und wenn sie aufwacht, wird sie auch eine von uns sein.«

»Sie finden es eben einfach aufregend, das ist alles.«

»Die Seele, die wir heute implantieren, verdient Respekt. Ich will nicht, dass ihr Wirtskörper derart begafft wird. Sie wird während der Eingewöhnung schon mehr als genug Schwierigkeiten haben. Es ist nicht fair, sie das hier durchmachen zu lassen.« Mit das hier meinte er nicht das Begafftwerden. Fords merkte, wie der scharfe Unterton in seine Stimme zurückkehrte.

Darren klopfte ihm erneut auf die Schulter. »Es wird alles gut. Die Sucherin braucht Informationen und …«

Beim Wort Sucherin schoss Fords einen Blick auf Darren ab, den man nur als feindselig bezeichnen konnte. Darren blinzelte erschrocken.

»Tut mir leid«, entschuldigte Fords sich sofort. »Ich wollte nicht überreagieren. Ich habe einfach Angst um diese Seele.«

Seine Augen wanderten zu dem Tiefkühlbehälter auf dem Gestell neben dem Tisch. Die Lampe leuchtete mattrot, was anzeigte, dass der Behälter belegt und die Kühlfunktion eingeschaltet war.

»Diese Seele ist für genau diese Aufgabe ausgewählt worden«, sagte Darren beschwichtigend. »Sie ist etwas ganz Besonderes, mutiger als die meisten von uns. Ihre Leben sprechen für sich. Ich bin sicher, sie würde sich freiwillig melden, wenn man sie fragen könnte.«

»Wer von uns würde sich nicht freiwillig melden, wenn wir etwas für das Allgemeinwohl tun könnten? Aber ist das wirklich der Fall? Nützt das hier dem Allgemeinwohl? Es geht nicht um ihre Bereitschaft, sondern darum, was man einer Seele zumuten kann.«

Die Studenten unterhielten sich ebenfalls über die tiefgekühlte Seele. Fords konnte ihr Geflüster deutlich verstehen; die Stimmen wurden vor Aufregung immer lauter.

»Sie hat auf sechs Planeten gelebt.«

»Ich dachte, sieben.«

»Ich habe gehört, dass sie keine Wirtsart zweimal bewohnt hat.«

»Ist das möglich?«

»Sie ist schon fast alles gewesen. Eine Blume, ein Bär, eine Spinne …«

»Sehtang, eine Fledermaus …«

»Sogar ein Drache!«

»Sieben Planeten? Das glaube ich nicht!«

»Mindestens sieben. Angefangen hat sie auf dem Ursprung.«

»Wirklich? Dem Ursprung?«

»Ruhe, bitte!«, unterbrach Fords. »Wenn Sie nicht in der Lage sind, konzentriert und leise zuzusehen, muss ich Sie bitten zu gehen.«

Die sechs Studenten verstummten beschämt und traten auseinander.

»Lass uns weitermachen, Darren.«

Es war alles bereit. Die nötigen Medikamente waren neben dem Menschenmädchen zurechtgelegt. Ihr langes dunkles Haar war unter einer OP-Haube verborgen und ließ den schlanken Nacken frei. Tief betäubt, atmetete sie langsam ein und aus. Ihre sonnengebräunte Haut zeigte fast keine Spur ihres … Unfalls.

»Starte jetzt bitte den Auftauvorgang, Darren.«

Der grauhaarige Assistent wartete bereits mit der Hand am Temperaturregler neben dem Tiefkühlbehälter. Er löste den Sicherheitsriegel und drehte an dem Rad. Die rote Lampe über dem kleinen grauen Zylinder begann zu blinken, immer schneller, und veränderte ihre Farbe.

Fords konzentrierte sich auf den bewusstlosen Körper. Mit kleinen, exakten Bewegungen führte er das Skalpell durch die Haut unterhalb des Schädels. Dann sprühte er ein blutstillendes Medikament darauf, bevor er den Schnitt vergrößerte. Er bahnte sich vorsichtig einen Weg zwischen den Halsmuskeln, sorgfältig darauf bedacht, sie nicht zu verletzen, und legte die bleichen Knochen am oberen Ende der Wirbelsäule frei.

»Die Seele ist so weit, Fords«, ließ Darren ihn wissen.

»Ich auch, bring sie her.«

Fords spürte Darren neben sich und wusste, ohne hinzusehen, dass sein Assistent mit ausgestreckter Hand bereitstand. Sie arbeiteten jetzt schon seit vielen Jahren zusammen. Fords hielt die Spalte auf.

»Gib ihr ein Zuhause«, flüsterte er.

Darrens Hand schob sich in sein Blickfeld, der silberne Glanz einer erwachenden Seele in seiner gewölbten Handfläche.

Fords war jedes Mal, wenn er eine nackte Seele sah, wieder überwältigt von ihrer Schönheit.

Die Seele leuchtete im strahlenden Licht des Operationssaals, heller als das silbern blitzende OP-Besteck in seiner Hand. Wie ein lebendiges Band wand und kräuselte sie sich, streckte sich, froh, dem Tiefkühlbehälter entronnen zu sein. Ihre dünnen, fedrigen Fortsätze – es waren über tausend – wogten sanft umher wie mattsilbernes Engelshaar. Obwohl alle Seelen zauberhaft waren, fand Fords Deep Waters diese hier ganz besonders schön.

Nicht nur ihm ging es so. Er hörte einen leisen Seufzer von Darren und das bewundernde Gemurmel der Studenten.

Vorsichtig legte Darren das kleine, schimmernde Wesen in die Öffnung, die Fords in den menschlichen Nacken geschnitten hatte. Die Seele glitt sanft in den vorgesehenen Raum und verflocht sich mit dem fremden Körper. Fords bewunderte die Geschicklichkeit, mit der sie ihr neues Zuhause in Besitz nahm. Ihre Fortsätze schlangen sich fest um die Nervenenden, manche von ihnen streckten sich weiter aus in Höhlen, die Fords nicht sehen konnte, unter und in das Gehirn, die Sehnerven, die Gehörgänge. Ihre Bewegungen waren schnell und sicher. Bald war nur noch ein kleiner Teil ihres glänzenden Körpers zu sehen.

»Gut gemacht«, flüsterte er ihr zu, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht hören konnte. Die Ohren gehörten dem Menschenmädchen, und das schlief noch immer fest.

Der Rest war Routine. Er säuberte und heilte die Wunde, strich die Salbe auf, die den Schnitt, den er über der Seele geschlossen hatte, versiegelte, und streute dann narbenverringernden Puder auf die Linie, die auf ihrem Nacken zu sehen war.

»Perfekt wie immer«, sagte der Assistent, der den Namen Darren aus irgendeinem Fords unbekannten Grund von seinem menschlichen Wirt übernommen hatte.

Fords seufzte. »Aber was ich heute getan habe, bereue ich.«

»Du tust nur deine Pflicht als Heiler.«

»Dies ist einer der wenigen Fälle, in denen Heilen zur Verletzung wird.«

Darren begann den Arbeitsplatz aufzuräumen. Offenbar wusste er nicht, was er antworten sollte. Fords ging seiner Berufung nach. Das genügte Darren.

Aber Fords Deep Waters, der durch und durch Heiler war, genügte es nicht. Besorgt betrachtete er den friedlich schlafenden Mädchenkörper, wohl wissend, dass es mit ihrem Frieden vorbei sein würde, sobald sie erwachte. Das grauenvolle Ende dieser jungen Frau würde die unschuldige Seele, die er gerade in ihr platziert hatte, mit voller Wucht treffen.

Er beugte sich über den Körper, und mit der inständigen Hoffnung, dass die Seele darin ihn jetzt hören konnte, flüsterte er ihm ins Ohr: »Viel Glück, kleiner Wanderer, viel Glück. Wie sehr ich wünschte, du würdest es nicht brauchen.«

Erinnert

Ich wusste, es würde mit dem Ende anfangen, und das Ende würde in diesen Augen aussehen wie der Tod. Ich war gewarnt worden.

Nicht in diesen Augen. In meinen Augen. Meine. Das hier war jetzt ich.

Die Sprache, die ich plötzlich benutzte, war eigenartig, aber verständlich. Abgehackt, kantig, begrenzt und geradlinig. Unglaublich beschränkt verglichen mit vielen anderen, die ich benutzt hatte, aber trotzdem konnte sie flüssig und ausdrucksstark sein. Manchmal sogar schön. Dies war jetzt meine Sprache. Meine Muttersprache.

Den Urinstinkten meiner Spezies folgend, hatte ich mich fest mit dem Zentrum dieses Körpers verbunden, mich unlösbar mit jedem seiner Atemzüge und Reflexe verflochten, bis er kein unabhängiges Wesen mehr war. Er war ich.

Nicht der Körper, mein Körper.

Ich spürte, wie die Narkose nachließ und ich immer wacher wurde. Ich wappnete mich für den Angriff der ersten Erinnerung, die in Wirklichkeit die letzte sein würde – die letzten Augenblicke, die dieser Körper erlebt hatte, die Erinnerung an das Ende. Ich war eindringlich gewarnt worden. Die menschlichen Emotionen würden stärker, lebendiger sein als die Gefühle aller anderen Spezies, in deren Körpern ich gelebt hatte. Ich hatte versucht, mich darauf vorzubereiten.

Die Erinnerung kam. Und genau, wie man mir vorhergesagt hatte, war es unmöglich, darauf vorbereitet zu sein.

Sie brannte sich mit grellen Farben und dröhnendem Lärm in sie ein. Kälte auf ihrer Haut, Schmerz in ihren Gliedern, wie Feuer. Ein beißender, metallischer Geschmack in ihrem Mund. Und dann war da der neue Sinn, der fünfte Sinn, den ich bisher nie gehabt hatte, der Teilchen aus der Luft sog und sie in ihrem Gehirn in seltsame Botschaften und Freuden und Warnungen verwandelte – Gerüche. Sie lenkten mich ab, verwirrten mich, nicht aber ihre Erinnerung. Die Erinnerung hatte keine Zeit für die Neuigkeit des Geruchs. Die Erinnerung war reine Angst.

Diese Angst hielt das Mädchen wie in einem Schraubstock gefangen, trieb ihre müden, stolpernden Glieder vorwärts und behinderte sie gleichzeitig. Fliehen, rennen – das war alles, was sie tun konnte.

Ich habe versagt.

Die Erinnerung, die nicht meine war, war so erschreckend intensiv und deutlich, dass sie meine Kontrolle durchbrach; sie machte meine Distanz und das Wissen, dass dies nur eine Erinnerung war und nicht ich selbst, zunichte. Sie sog mich in die Hölle der letzten Minuten ihres Lebens. Ich war sie und wir rannten.

Es ist so dunkel. Ich kann nichts sehen. Ich kann den Boden nicht sehen. Ich kann meine ausgestreckten Hände nicht sehen. Blind renne ich weiter und versuche die Verfolger zu hören, die ich hinter mir spüren kann, aber mein Puls dröhnt so laut in meinen Ohren, dass er alles übertönt.

Es ist so kalt. Das spielt jetzt eigentlich keine Rolle mehr, aber es tut weh. Mir ist so kalt.

Der Geruch in ihrer Nase war unangenehm. Schlecht. Es stank. Einen Augenblick lang riss mich dieses Unbehagen aus der Erinnerung heraus. Aber es war nur ein kurzer Moment und dann wurde ich wieder hineingezogen und meine Augen füllten sich mit Tränen des Entsetzens.

Ich bin verloren. Wir sind verloren. Es ist vorbei.

Ich kann sie jetzt hinter mir hören, laut und nah. Da sind so viele Schritte. Ich bin allein. Ich habe versagt.

Ich höre die Sucher rufen. Der Klang ihrer Stimmen dreht mir den Magen um. Gleich muss ich mich übergeben.

»Ist ja gut, ist gut«, lügt eine von ihnen in dem Versuch, mich zu beruhigen, mich zu verlangsamen. Ihre Stimme klingt atemlos.

»Pass auf!«, ruft einer warnend.

»Tu dir nicht weh«, fleht ein anderer. Eine tiefe, besorgte Stimme.

Besorgt!

Hitze schoss durch meine Adern und Hass ließ mich beinahe ersticken. So hatte ich mich in all meinen Leben noch nie gefühlt. Mein Abscheu riss mich einen weiteren Augenblick aus der Erinnerung heraus. Ein hoher, durchdringend schriller Ton durchbohrte meine Trommelfelle und pulsierte in meinem Kopf. Das Geräusch schrammte durch meine Atemwege. Ich spürte einen leichten Schmerz im Hals.

Schreien, erklärte mein Körper. Du schreist.

Ich erstarrte und das Geräusch brach abrupt ab.

Das war keine Erinnerung.

Mein Körper – er dachte! Sprach mit mir!

Aber die Erinnerung war in diesem Moment stärker als meine Verwunderung.

»Bitte!«, rufen sie. »Gefahr! Vor dir!«

Die Gefahr ist hinter mir, schreie ich in Gedanken zurück. Aber ich sehe, was sie meinen. Ein schwacher Lichtstrahl, der von wer weiß wo kommt, beleuchtet das Ende des Flurs. Die Sackgasse, die ich fürchte und erwarte, endet nicht mit einer Wand oder verschlossenen Tür. Sie endet mit einem schwarzen Loch.

Der Aufzugschacht. Verlassen, leer und baufällig wie dieses Gebäude. Früher ein Versteck, jetzt ein Grab.

Eine Welle der Erleichterung durchflutet mich, als ich weiterrenne. Es gibt einen Weg. Vielleicht keinen Weg, zu überleben, aber einen Weg, zu gewinnen.

Nein, nein, nein! Dieser Gedanke war einzig meiner und ich versuchte krampfhaft mich von ihr loszumachen, aber wir waren fest miteinander verbunden. Und wir rasten auf den tödlichen Abgrund zu.

»Bitte!« Die Rufe werden verzweifelter.

Fast muss ich lachen, als ich merke, dass ich schnell genug bin. Ich stelle mir vor, wie ihre Hände nur Zentimeter entfernt nach mir greifen. Aber ich bin schnell genug. Ich halte am Rand des Fußbodens noch nicht mal an. Das Loch springt mir entgegen.

Die Leere verschluckt mich. Meine Beine rotieren nutzlos. Meine Hände greifen nach der Luft, fassen hindurch auf der Suche nach etwas Festem. Kälte durchfährt mich wie ein Tornado.

Ich höre den Aufprall, bevor ich ihn spüre … der Wind ist weg …

Und dann ist überall Schmerz … alles ist Schmerz.

Lass es aufhören.

Nicht hoch genug, flüstere ich mir selbst durch den Schmerz hindurch zu.

Wann wird der Schmerz aufhören? Wann …?

Schwärze verschluckte den Todeskampf und ich war unglaublich dankbar, dass die Erinnerung zu ihrem unwiderruflichen Ende gekommen war. Die Schwärze verschlang alles und ich war frei. Ich atmete tief durch, um mich zu sammeln, so wie es dieser Körper gewohnt war. Mein Körper.

Aber dann kehrte die Farbe zurück, die Erinnerung bäumte sich auf und überwältigte mich von Neuem.

Nein! Ich geriet in Panik, hatte Angst vor der Kälte und dem Schmerz und der Angst selbst.

Aber es war nicht dieselbe Erinnerung. Dies war eine Erinnerung in der Erinnerung – die Erinnerung einer Sterbenden, wie ein letzter Atemzug – und doch irgendwie noch intensiver als die erste.

Die Schwärze verschlang alles außer der Erinnerung an ein Gesicht.

Das Gesicht war mir so fremd wie die gesichtslosen, verschlungenen Tentakel meines letzten Wirtskörpers diesem neuen Körper, der ich geworden war. Ich hatte solche Gesichter auf den Bildern gesehen, die man mir gezeigt hatte, um mich auf diese Welt vorzubereiten. Es war schwierig, sie auseinanderzuhalten, die winzigen Unterschiede in Farbe und Form zu erkennen, die die einzigen Kennzeichen der Individuen waren. Alle irgendwie gleich. Die Nase saß in der Mitte der Kugel, darüber die Augen und darunter ein Mund, die Ohren an den Seiten. Eine ganze Auswahl an Sinnen, alle außer dem Tastsinn, war an einer Stelle versammelt. Haut über den Knochen, Haar auf dem Kopf und in seltsamen pelzartigen Linien über den Augen. Manche hatten noch mehr Pelz weiter unten am Kinn. Die waren immer männlich. Die Farben variierten zwischen allen erdenklichen Brauntönen von Hellbeige bis Dunkelbraun, fast Schwarz. Abgesehen davon – wie hielt man sie auseinander?

Dieses Gesicht jedoch hätte ich unter Millionen wiedererkannt.

Es war länglich und die Knochen unter der Haut traten deutlich hervor. Es war von einem hellen Goldbraun. Das Haar war nur wenige Nuancen dunkler als die Haut, außer dort, wo es von flachsfarbenen Strähnen aufgehellt wurde, und es bedeckte nur den Kopf und den komischen Streifen über den Augen. Die runden Iris in den weißen Augäpfeln waren dunkler als das Haar, aber ebenfalls mit Lichtsprenkeln durchsetzt. Kleine Linien umrahmten die Augen und aus ihren Erinnerungen wusste ich, dass die Linien vom Lächeln und In-die-Sonne-Blinzeln stammten.

Ich hatte keine Ahnung, was bei diesen Fremden als attraktiv galt, und doch wusste ich, dass dieses Gesicht schön war. Ich wollte es weiter ansehen. Sobald mir das klarwurde, verschwand es.

Meins, sagte der fremde Gedanke, den es nicht geben durfte.

Ich erstarrte erneut ungläubig. Außer mir sollte hier eigentlich niemand sein. Und dieser Gedanke war so stark und präsent!

Unmöglich. Wie konnte sie noch hier sein? Dies war jetzt ich.

Meins, wies ich sie zurecht und das Wort war voll der Kraft und Autorität, die mir allein zustand. Das ist alles meins.

Weshalb antworte ich ihr dann überhaupt?, fragte ich mich, als Stimmen meine Gedanken unterbrachen.

Mitgehört

Die Stimmen waren gedämpft und nah und, obwohl ich sie erst jetzt bemerkt hatte, offenbar mitten in einem gemurmelten Gespräch.

»Ich fürchte, es ist zu viel für sie«, sagte eine. Die Stimme klang sanft, aber tief, es war die eines Mannes. »Es wäre für jeden zu viel. Diese Gewalt!« Der Tonfall war voller Abscheu.

»Sie hat nur einmal geschrien«, sagte eine höhere, dünne Frauenstimme. Ihre Bemerkung klang fast fröhlich, als würde sie eine Auseinandersetzung gewinnen.

»Ich weiß«, gab der Mann zu. »Sie ist sehr stark. Andere wären aus geringerem Grund viel stärker traumatisiert.«

»Ich bin sicher, dass sie es gut überstehen wird, so wie ich es Ihnen gesagt habe.«

»Vielleicht haben Sie Ihre Berufung verfehlt.« Die Stimme des Mannes hatte etwas Scharfes an sich. Sarkasmus, ließ mich mein Sprachzentrum wissen. »Vielleicht hätten Sie auch Heiler werden sollen, so wie ich.«

Die Frau stieß einen belustigten Ton aus. Lachen. »Das bezweifle ich. Wir Sucher ziehen eine andere Art der Diagnose vor.«

Mein Körper kannte dieses Wort, diese Bezeichnung: Sucher. Es jagte mir einen Angstschauer über den Rücken. Eine verbliebene Reaktion. Natürlich hatte ich keinen Grund, Sucher zu fürchten.

»Ich frage mich manchmal, ob die Gewalt, diese menschliche Krankheit, die Vertreter Ihres Berufes infiziert«, sagte der Mann nachdenklich, und seine Stimme klang noch immer verärgert. »Gewalt ist Teil des Lebens, das Sie gewählt haben. Ist noch genug vom ursprünglichen Temperament Ihres Körpers übrig, dass Sie sogar Freude daran haben?«

Seine Anschuldigung, sein Tonfall überraschten mich. Die Diskussion klang beinahe wie … ein Streit. Etwas, das meinem Wirt vertraut war, ich aber noch nie erlebt hatte.

Die Frau begann sich zu verteidigen. »Wir haben die Gewalt nicht freiwillig gewählt. Wir nehmen sie in Kauf, wenn es nötig ist. Und es ist gut für euch alle, dass einige von uns stark genug für diese Unannehmlichkeiten sind. Euer Frieden wäre ohne unsere Arbeit nicht sehr dauerhaft.«

»Es war einmal. Ich glaube, dass Ihr Gewerbe bald überholt sein wird.«

»Ihr Irrtum liegt dort auf dem Bett.«

»Ein einzelnes, unbewaffnetes Menschenmädchen! Wirklich eine enorme Bedrohung unseres Friedens.«

Die Frau atmete heftig aus. Ein Seufzen. »Aber wo ist sie hergekommen? Wieso konnte sie mitten in Chicago auftauchen, einer schon seit Langem zivilisierten Stadt, Hunderte Kilometer von jeglicher Rebellenaktivität entfernt? Hat sie das alleine geschafft?«

Sie hängte die Fragen aneinander, ohne dass sie eine Antwort zu erwarten schien, als hätte sie sie schon oft gestellt.

»Das ist Ihr Problem, nicht meins«, sagte der Mann. »Meine Aufgabe ist es, dieser Seele zu helfen, sich ohne unnötige Schmerzen oder Traumata an ihren neuen Wirt zu gewöhnen. Und Sie sind anscheinend hier, um sich in meine Arbeit einzumischen.«

Immer noch nicht ganz bei mir, vollkommen damit beschäftigt, mich in dieser neuen Sinneswelt zurechtzufinden, wurde mir erst jetzt bewusst, dass sich das Gespräch um mich drehte. Ich war die Seele, von der sie sprachen. Das war eine neue Bedeutung für ein vertrautes Wort, ein Wort, das für meinen Wirt noch so viele andere Bedeutungen gehabt hatte. Auf jedem Planeten nahmen wir einen anderen Namen an. Seele. Ich glaube, es war eine passende Beschreibung. Die unsichtbare Macht, die den Körper lenkt.

»Die Antworten auf meine Fragen sind genauso wichtig wie Ihre Verantwortung der Seele gegenüber.«

»Darüber lässt sich streiten.«

Das Geräusch einer Bewegung war zu vernehmen und dann war ihre Stimme plötzlich ein Flüstern. »Wann wird sie ansprechbar sein? Die Narkose muss doch bald nachlassen.«

»Wenn sie so weit ist. Lassen Sie sie in Ruhe. Sie hat ein Recht darauf, so mit der Situation umzugehen, wie es für sie am angenehmsten ist. Stellen Sie sich ihren Schock beim Aufwachen vor – in einem aufständischen Wirt, auf der Flucht lebensgefährlich verletzt! Niemand sollte in Friedenszeiten so etwas durchmachen müssen!« Je mehr er sich aufregte, umso lauter wurde er.

»Sie ist stark.« Die Stimme der Frau klang jetzt beschwichtigend. »Sehen Sie doch, wie gut sie die erste Erinnerung, die schlimmste Erinnerung, überstanden hat. Was auch immer sie erwartet hat, sie ist damit fertiggeworden.«

»Aber warum war das nötig?«, murmelte der Mann, schien jedoch keine Antwort zu erwarten.

Die Frau antwortete trotzdem. »Wenn wir die Informationen kriegen wollen, die wir brauchen …«

»Brauchen, sagen Sie. Ich würde eher von wollen sprechen.«

»… dann muss jemand diese unangenehme Aufgabe übernehmen«, fuhr sie unbeirrt fort. »Und nach allem, was ich von dieser Seele hier weiß, denke ich, dass sie die Herausforderung angenommen hätte, wenn es möglich gewesen wäre, sie zu fragen. Wie nennen Sie sie?«

Der Mann sagte lange nichts. Die Frau wartete.

»Wanderer«, antwortete er schließlich widerwillig.

»Das passt«, sagte sie. »Ich kenne keine offiziellen Statistiken, aber sie muss eine der ganz wenigen sein, wenn nicht sogar die Einzige, die so weit herumgekommen ist. Ja, Wanderer ist gut, so lange, bis sie sich selbst einen neuen Namen aussucht.«

Er schwieg.

»Natürlich kann es auch sein, dass sie den Namen des Wirts annehmen will … Wir haben in unserem Archiv allerdings keine Daten gefunden, die mit ihren Fingerabdrücken oder Netzhaut-Scans übereinstimmen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sie hieß.«

»Sie wird den Menschennamen nicht annehmen«, murmelte der Mann.

Ihre Antwort war sanft. »Jeder findet auf seine Weise Trost.«  

»Dieser Wanderer wird mehr Trost nötig haben als die meisten anderen, dank Ihrer Art, Ihrer Berufung nachzugehen.«

Ein klapperndes Geräusch war zu hören – das Stakkato von Schritten auf einem harten Boden. Als sie wieder etwas sagte, befand sich die Stimme der Frau in einiger Entfernung von dem Mann auf der anderen Seite des Raumes.

»Mit der Anfangszeit dieser Besetzung wären Sie schlecht klargekommen«, sagte sie.

»Vielleicht kommen Sie schlecht mit dem Frieden klar.«

Die Frau lachte, aber es klang falsch, sie war nicht wirklich belustigt. Mein Gehirn schien sehr geübt darin, aus Klangfärbungen und Modulationen die eigentliche Bedeutung herauszuhören.

»Sie haben ja keine Ahnung, was meine Berufung mit sich bringt. Ich verbringe Stunden über Akten und Landkarten. Hauptsächlich Schreibtischarbeit. Der Konflikt oder die Gewalt, die Sie sich vorstellen, kommen nicht oft vor.«

»Vor zehn Tagen haben Sie schwer bewaffnet diesen Körper fast zu Tode gehetzt.«

»Die Ausnahme, wie ich Ihnen versichern kann, nicht die Regel. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Waffen, die Sie so hassen, auf unsere eigene Spezies gerichtet werden, wenn wir Sucher nicht wachsam genug sind. Die Menschen töten uns skrupellos, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Alle, die diese Feindseligkeit schon mal zu spüren bekommen haben, halten uns für Helden.«

»Sie klingen, als wären wir im Krieg.«

»Für die übrig gebliebenen Vertreter der menschlichen Rasse gilt das auch.«

Die Worte hallten laut in meinem Kopf nach. Mein Körper reagierte darauf; ich spürte, wie meine Atmung sich beschleunigte, hörte meinen Herzschlag lauter als bisher. Neben dem Bett, auf dem ich lag, registrierte eine Maschine den Anstieg mit einem gedämpften Signal. Der Heiler und die Sucherin waren zu sehr in ihren Wortwechsel vertieft, um es zu bemerken.

»Aber die Menschen haben diesen Krieg längst verloren, was sogar die, die noch übrig sind, realisiert haben dürften. Wir sind ihnen doch zahlenmäßig weit überlegen. Wie ist das Verhältnis? Eine Million zu eins? Ich nehme an, Sie wissen das besser.«

»Wir schätzen, dass unsere Überzahl sogar noch größer ist«, gab die Sucherin widerstrebend zu.

Der Heiler schien mit dieser Information zufrieden zu sein und den Streit nicht fortsetzen zu wollen. Einen Augenblick lang war es still.

Ich nutzte die Zeit, um meine Lage zu sondieren. Vieles war offensichtlich.

Ich befand mich in einer Heileinrichtung und erholte mich von einer ungewöhnlich traumatischen Implantation. Ich war sicher, dass der Körper, der mich beherbergte, vollständig geheilt worden war, bevor man ihn mir zur Verfügung gestellt hatte. Einen beschädigten Wirt hätte man ausrangiert.

Ich dachte über die unterschiedlichen Auffassungen des Heilers und der Sucherin nach. Nach den Informationen zu schließen, die ich erhalten hatte, bevor ich den Entschluss fasste hierherzukommen, hatte der Heiler Recht. Es gab kaum noch Gefechte mit den wenigen verbliebenen menschlichen Widerstandsnestern. Der Planet, der Erde genannt wurde, war genauso friedlich und ruhig, wie er vom Weltraum aus wirkte, einladend grün und blau, in harmlose weiße Dämpfe gehüllt. Überall herrschte jetzt Harmonie, die ureigenste Eigenschaft der Seelen.

Die Auseinandersetzung zwischen dem Heiler und der Sucherin schlug aus der Art. Sie war ungewöhnlich aggressiv für unsere Spezies. Das machte mich nachdenklich. War es möglich, dass doch etwas Wahres dran war an den geflüsterten Gerüchten, die wie Wellen durch ihre Gedanken gewogt waren, die Gedanken der … der …

Der Versuch, mich an den Namen meiner letzten Spezies zu erinnern, lenkte mich ab. Wir hatten einen Namen gehabt, das wusste ich. Aber jetzt, ohne Verbindung mit dem Wirt, konnte ich mich an das Wort nicht mehr erinnern. Wir hatten eine viel einfachere Sprache benutzt als diese hier, eine schweigende Gedankensprache, die uns alle zu einem großen Bewusstsein vereinte. Eine notwendige Vereinfachung, wenn man für immer in der feuchten schwarzen Erde verwurzelt war.

Ich konnte diese Spezies in meiner neuen menschlichen Sprache beschreiben. Wir lebten auf dem Grund des großen Meeres, das die gesamte Oberfläche unserer Welt bedeckte – einer Welt, die auch einen Namen hatte, aber den hatte ich ebenfalls vergessen. Wir hatten alle hundert Arme und auf jedem Arm tausend Augen, so dass uns durch unsere verknüpften Gedanken nichts in der unendlichen Weite des Ozeans entging. Geräusche waren nicht nötig, deshalb gab es auch keine Möglichkeit, sie zu hören. Wir schmeckten das Wasser und zusammen mit unserer Sehfähigkeit erfuhren wir so alles, was wir wissen mussten. Wir schmeckten das Licht der Sonnen, die hoch über dem Wasser standen, und verwandelten ihren Geschmack in die Nahrung, die wir benötigten.

Ich konnte uns beschreiben, aber ich konnte uns nicht benennen. Ich seufzte über das verlorene Wissen und kehrte dann zu meinen Gedanken über das Gehörte zurück.

Seelen sagten grundsätzlich immer die Wahrheit. Die Sucher erfüllten natürlich die Anforderungen ihrer Berufung, aber Seelen untereinander legten es nie darauf an, sich zu belügen. Mit der Gedankensprache meiner letzten Spezies war es erst recht unmöglich gewesen zu lügen, selbst wenn wir es gewollt hätten. Allerdings erzählten wir uns Geschichten, um die Langeweile unseres verankerten Daseins zu bekämpfen. Das Geschichtenerzählen war die Begabung, die am höchsten angesehen war, da sie allen zugutekam.

Manchmal vermischten sich die Tatsachen so gründlich mit dem Erdachten, dass man nicht sicher sein konnte, was genau wahr war und was nicht, obwohl keine Lügen erzählt wurden.

Wenn wir an den neuen Planeten dachten – die Erde, so trocken, so abwechslungsreich und bevölkert von derart gewalttätigen, zerstörerischen Bewohnern, dass wir sie uns kaum vorstellen konnten –, wurde unser Entsetzen manchmal von unserer Aufregung überdeckt. Schnell rankten sich Geschichten um das spannende neue Thema. Die Kriege – Kriege! Unsere Spezies war gezwungen zu kämpfen! – wurden erst genau beschrieben und später ausgeschmückt und in Geschichten verwandelt. Wenn die Erzählungen nicht mit den offiziellen Informationen, die ich ausfindig machte, übereinstimmten, glaubte ich natürlich den früheren Berichten.

Aber es gab Gerüchte: von menschlichen Wirten, die so stark waren, dass die Seele gezwungen war, sie zu verlassen. Wirte, deren Geist nicht vollständig unterdrückt werden konnte. Seelen, die eher die Persönlichkeit des Körpers annahmen als umgekehrt. Geschichten. Wilde Gerüchte. Verrücktheiten.

Aber etwas Ähnliches schien der Heiler dieser Sucherin zu unterstellen …

Ich verwarf den Gedanken. Der wahrscheinlichste Grund für diese Unterstellung war die Abneigung, die die meisten von uns den Suchern entgegenbrachten. Wer entschied sich schon für ein Leben voller Kampf und Verfolgung? Wen reizte die Aufgabe, unwillige Wirte ausfindig zu machen und sie gefangen zu nehmen? Wer konnte es ertragen, sich mit der ausgeprägten Gewalttätigkeit dieses speziellen Wirts abzugeben, dieser feindseligen Menschen, die so leichtfertig, so gedankenlos töteten? Hier auf diesem Planeten waren die Sucher praktisch zu einer Art … Miliz geworden – mein Gehirn versorgte mich mit dem Begriff für den ungewohnten Gedanken. Die meisten von uns glaubten, dass nur die Seelen, die am wenigsten zivilisiert waren, am wenigsten entwickelt, die Niederen unter uns, den Weg eines Suchers einschlugen.

Allerdings hatten die Sucher auf der Erde neues Ansehen gewonnen. Noch nie zuvor war eine Besetzung so aus dem Ruder gelaufen, noch nie zuvor hatte sie sich zu so einer erbitterten und blutigen Schlacht entwickelt und noch nie zuvor waren so viele Seelen ums Leben gekommen. Die Sucher bildeten einen mächtigen Schild und die Seelen dieser Welt hatten dreifach Grund, ihnen dankbar zu sein: für die Sicherheit, die sie erkämpft hatten; für das Risiko, endgültig zu sterben, das sie freiwillig jeden Tag von Neuem eingingen; und für die ausgewachsenen Wirtskörper, die sie immer noch beschafften.

Jetzt, wo die Gefahr fast gebannt war, schien die Dankbarkeit jedoch nachzulassen. Und das war zumindest für diese Sucherin hier unangenehm.

Es war nicht schwierig, sich vorzustellen, was sie mich fragen würde. Auch wenn der Heiler versuchte, mir Zeit zu verschaffen, um mich an meinen neuen Körper zu gewöhnen, wusste ich, dass ich mein Bestes tun würde, um der Sucherin zu helfen. Der Dienst an der Allgemeinheit war eine wichtige Aufgabe im Leben jeder Seele.

Also atmete ich tief durch, um mich darauf vorzubereiten. Der Monitor registrierte die Bewegung. Ich merkte, dass ich ein bisschen Zeit zu schinden versuchte. Ich gestand es mir nur ungern ein, aber ich hatte Angst. Um die Informationen zu liefern, die die Sucherin brauchte, würde ich die grausamen Erinnerungen durchsuchen müssen, die mich vor Entsetzen hatten aufschreien lassen. Noch mehr Angst hatte ich vor der Stimme, die ich so laut in meinem Kopf gehört hatte. Aber jetzt war sie stumm, so wie es sein sollte. Sie war auch nicht mehr als eine Erinnerung.

Ich brauchte keine Angst zu haben. Schließlich hieß ich jetzt Wanderer. Und ich verdiente diesen Namen.

Ich atmete noch einmal tief durch und tauchte in die Erinnerung ein, die mir Angst gemacht hatte, stellte mich ihr mit zusammengebissenen Zähnen.

Ich ließ das Ende noch einmal Revue passieren – diesmal überwältigte es mich nicht. Im Schnelldurchlauf rannte ich erneut wimmernd durch die Dunkelheit und versuchte nichts zu fühlen. Es war schnell vorbei.

Sobald ich diese Hürde erst einmal genommen hatte, war es nicht schwierig, sich an weniger erschreckenden Dingen und Orten vorbeitreiben zu lassen, auf der Suche nach der Information, die ich brauchte. Ich sah, wie sie in diese kalte Stadt gekommen war, nachts in einem gestohlenen Auto, das sie wegen seines unauffälligen Aussehens ausgewählt hatte. Sie war im Dunkeln durch die Straßen Chicagos gegangen und hatte unter ihrem Mantel gezittert.

Sie war selbst auf der Suche. Es gab noch andere wie sie, oder zumindest hoffte sie das. Eine Bestimmte. Eine Freundin … nein, eine Verwandte. Keine Schwester … eine Cousine.

Die Worte kamen immer langsamer und zunächst verstand ich nicht, warum. Hatte sie das hier vergessen? War es durch das Trauma des nahenden Todes verschüttet? War ich noch benommen von der Narkose? Ich gab mir Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Dieses Gefühl war ungewohnt. War mein Körper noch betäubt? Ich fühlte mich ziemlich wach, aber mein Geist kramte erfolglos nach der Auskunft, die ich suchte.

In der Hoffnung auf klarere Antworten probierte ich einen anderen Weg aus. Was hatte sie vorgehabt? Sie wollte … Sharon – ich hatte den Namen herausgefischt – finden und sie würden …

Ich stieß gegen eine Mauer.

Da war Leere, ein Nichts. Ich versuchte es zu umgehen, konnte aber den Rand der Leerstelle nicht finden. Als wäre die Information, die ich suchte, ausgelöscht worden.

Als wäre dieses Gehirn beschädigt worden.

Heiße, wilde Wut durchfuhr mich. Überrascht von der unerwarteten Reaktion schnappte ich nach Luft. Ich hatte von der emotionalen Labilität dieser menschlichen Körper gehört, aber das hier übertraf meine Vorstellungen. In acht Leben war ich noch nie von einem so heftigen Gefühl überwältigt worden.

Ich spürte, wie das Blut durch meinen Hals pulsierte und in meinen Ohren rauschte. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.

Die Apparate neben mir zeichneten die Beschleunigung meines Herzschlags auf. Diesmal wurde im Raum darauf reagiert: Das energische Klappern, das von den Absätzen der Sucherin stammte, kam näher, vermischt mit einem leiseren Schlurfen, das von dem Heiler stammen musste.

»Willkommen auf der Erde, Wanderer«, sagte die Frauenstimme.