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James Patterson

und Mark Sullivan

PRIVATE GAMES

Der Countdown

des Todes

Thriller

Aus dem Amerikanischen

von Helmut Splinter

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Buch

Seit der Ex-Marine Jack Morgan »Private« gegründet hat, ist diese zur renommiertesten Ermittlungsagentur der Welt aufgestiegen. Private hat diverse Büros auf verschiedenen Kontinenten, die berühmtesten und mächtigsten Klienten und die cleversten Ermittler. Wenn jemand die Wahrheit aufdecken kann, dann sie.

So liegt es nahe, dass im Jahr 2012 nur Private für die Aufgabe infrage kommt, sich um die Sicherheit der Olympischen Sommerspiele in London zu kümmern. Rund 400 Agenten aus aller Welt finden sich in der englischen Hauptstadt zusammen, unter ihnen Peter Knight, der für Private London arbeitet. Doch am Vorabend der Eröffnung wird ein hochrangiges Mitglied des Organisationskomitees brutal ermordet – der Mann wird geköpft. Kurz darauf erhält die Reporterin Karen Pope einen Brief von einem Mann namens »Kronos«, der sich für den Mord verantwortlich erklärt. Er kündigt an, die Olympischen Spiele »reinigen« zu wollen, indem er alle tötet, die den ursprünglichen Olympischen Gedanken durch Lügen, Betrug oder Gier beschmutzen.

Während die Wettbewerbe laufen, beginnt Kronos, seine tödliche Drohung wahrzumachen. Peter Knight ist ihm auf der Spur – und ahnt dabei nicht, dass seine Familie und er selbst in höchster Gefahr sind

Autor

James Patterson, geboren 1949, war Kreativdirektor bei einer amerikanischen Werbeagentur. Schon für seinen Debütroman wurde er mit dem Edgar Allen Poe Award, Amerikas wichtigstem Krimipreis, ausgezeichnet. Inzwischen ist er mit weltweit über 220 Millionen verkaufter Romane einer der erfolgreichsten Bestsellerautoren überhaupt. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach, Florida und Westchester, New York. Mehr zum Autor und seinen Büchern unter www.jamespatterson.com.

Von James Patterson sind im Goldmann Verlag außerdem lieferbar:

Sühnetag. Thriller (47347) · Blutstrafe. Thriller (46737)

Höllentrip. Thriller (47069) · Todesbote. Thriller (47122)

Honeymoon. Roman (45907) · Todesahnung. Thriller (46764)

Sonntags bei Tiffany. Roman (47393) · Totenmesse. Thriller (46669)

Sams Briefe an Jennifer. Roman (45908) · Im Affekt. Thriller (46598)

Todesschwur. Roman (46430) · Rachedurst. Thriller (47348)

Todesstunde. Thriller (47512)

Die amerikanische Originalausgabe

erschien 2012 unter dem Titel »Private Games«

bei Little, Brown and Company, New York.

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2012

Copyright © der Originalausgabe 2012 by James Patterson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

This edition published by arrangement with Little,

Brown and Company, New York, New York, USA. All rights reserved.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © FinePic, München

Redaktion: Martina Klüver

AG · Herstellung: Str.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-09102-6

www.goldmann-verlag.de

Für Connor und Bridger, die dem olympischen Traum hinterherjagen.

M.S.

Kein Geschöpf vermag die Absichten

der Götter zu durchschauen.

Pindar

Da sandten die Götter des Olymps

Donner und Blitze aus und verfluchten Griechenland.

Aristophanes

Prolog

MITTWOCH, 25. JULI 2012, 23:25 UHR

Supermänner und Superfrauen gibt es wirklich. Sie sind mitten unter uns.

Das meine ich ganz im Ernst. Jesus Christus, zum Beispiel, war ein spiritueller Supermann, Martin Luther und Gandhi zähle ich auch dazu. Julius Cäsar war ebenfalls übermenschlich. Das Gleiche gilt für Dschinghis Khan, Thomas Jefferson, Abraham Lincoln und Adolf Hitler.

Man denke nur mal an Wissenschaftler wie Aristoteles, Galileo, Albert Einstein und J. Robert Oppenheimer. Oder an Künstler wie Leonardo da Vinci, Michelangelo und Vincent van Gogh, meinen Lieblingsmaler, der vor lauter Genie wahnsinnig wurde. Und nicht zu vergessen sportliche Größen wie Jim Thorpe, Babe Didrikson Zaharias und Jesse Owens oder Larisa Latynina und Muhammad Ali, Mark Spitz und Jackie Joyner-Kersee.

Demütig schließe ich mich ebenfalls in diese Reihe der Supermänner mit ein – verdientermaßen, wie bald zu sehen sein wird.

Kurz gesagt, Menschen wie ich sind zu Höherem geboren. Wir suchen die Herausforderung. Wir wollen etwas verändern. Wir wollen sämtliche Grenzen durchbrechen – die spirituellen, politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen und körperlichen Grenzen. Wir wollen das Falsche wieder richten, auch wenn es aussichtslos erscheint. Und wir sind bereit zu leiden, um Großes zu leisten, bereit, uns mit der Leidenschaft eines Märtyrers verbissen und ausdauernd auf unsere Aufgabe vorzubereiten, was, wie ich glaube, bei jedem Menschen, gleich welchen Alters, ein außergewöhnlicher Charakterzug ist.

Im Moment muss ich zugeben, dass ich mich in der Tat außergewöhnlich wichtig fühle, während ich hier im Garten von Sir Denton Marshall stehe. Wenn es je ein wehleidiges, korruptes Schwein gab, dann ihn.

Da kniet er vor mir, den Rücken mir zugewandt, mein Messer an seiner Kehle.

Weswegen er zittert, als hätte ihn gerade ein Stein am Kopf getroffen. Kann man sie schon riechen, seine Angst? Ein Geruch, so widerlich wie die Luft nach einer Bombenexplosion.

»Warum?«, keucht er.

»Sie haben mich wütend gemacht. Sie sind ein Monster«, knurre ich ihn an. Meine unbändige Wut durchdringt jede Zelle meines Körpers. »Sie haben dazu beigetragen, dass die Olympischen Spiele zu einem abscheulichen Witz verkommen sind.«

»Was?«, schreit er verwirrt. »Wovon reden Sie?«

Ich liefere ihm den Beweis in drei verdammenden Sätzen, die die Haut an seinem Nacken blau und seine pulsierenden Halsschlagadern zu einem widerlichen Purpur verfärben.

»N…nein!«, stottert er. »Das … das stimmt nicht. Das können Sie nicht tun. Sind Sie denn völlig übergeschnappt?«

»Übergeschnappt? Ich?«, frage ich zurück. »Wohl kaum. Ich bin der klarste Mensch, den ich kenne.«

»Bitte«, fleht er. Tränen laufen an seinem Gesicht hinab. »Haben Sie Erbarmen. Ich heirate an Heiligabend.«

Mein eigenes Lachen ist so ätzend wie Schwefelsäure. »In einem anderen Leben habe ich meine Kinder gefressen, Denton. Also erwarten Sie von mir oder meinen Schwestern keine Gnade.«

Als seine Verwirrung und sein Schrecken den Höhepunkt erreichen, blicke ich zum Nachthimmel hinauf. Ein Sturm tobt in meinem Kopf, der mir aufs Neue klarmacht, dass ich tatsächlich ein übermenschliches Wesen bin – allen anderen überlegen und durchdrungen von Kräften, die Tausende von Jahren zurückreichen.

»Für alle wahren Olympioniken«, erkläre ich feierlich. »Dieses Opfer kennzeichnet den Anfang des Endes der Spiele der Neuzeit.«

Dann reiße ich den Kopf des alten Mannes nach hinten, sodass sich sein Rücken durchbiegt.

Und bevor er schreien kann, ziehe ich die Klinge mit voller Wucht quer über seine Kehle und durchtrenne seinen Hals bis zur Wirbelsäule.

Erster Teil

Die Furien

DONNERSTAG, 26. JULI 2012, 9:24 UHR

1

Für Londoner Verhältnisse war es brütend heiß. Peter Knights Hemd und Jacke waren durchgeschwitzt, als er auf der Chesham Street nach Norden rannte, am Diplomat Hotel vorbei und dann weiter Richtung Lyall Mews im Herzen von Belgravia, dem Stadtviertel mit den teuersten Immobilien auf der ganzen Welt.

Mach, dass es nicht wahr ist, schrie er in Gedanken, als er die kleine Straße mit den zu Wohnhäusern umgebauten Stallungen erreichte. Lieber Gott, mach, dass es nicht wahr ist.

Dann erblickte er eine Horde Zeitungsreporter, die sich vor dem gelben Absperrband der London Metropolitan Police drängte. Dahinter lag das cremefarbene Stadthaus im georgianischen Stil. Knight kam taumelnd zum Stehen. Er hatte ein Gefühl, als entwickelten seine Frühstückseier mit Schinken ein Eigenleben.

Was würde er Amanda bloß sagen?

Noch bevor er seine Gedanken oder seinen Magen unter Kontrolle bekommen konnte, klingelte sein Handy. Er zog es aus der Tasche, ohne auf die angezeigte Nummer zu blicken.

»Knight«, brachte er heraus. »Sind Sie das, Jack?«

»Nein, Peter, ich bin’s, Nancy«, meldete sich eine Stimme mit irischem Akzent. »Isabel ist krank geworden.«

»Was?«, stöhnte er. »Nein … ich bin doch erst vor einer Stunde von zu Hause weggegangen.«

»Sie hat Fieber«, beharrte das Vollzeit-Kindermädchen. »Ich habe gerade gemessen.«

»Wie hoch?«

»Achtunddreißig. Bauchschmerzen hat sie auch.«

»Und Lukey?«

»Ihm scheint es gut zu gehen«, antwortete sie. »Aber …«

»Die beiden sollen kalt baden. Und rufen Sie mich zurück, wenn Isabels Temperatur weiter steigt«, wies Knight sie an, klappte sein Telefon zu und schluckte die Galle, die in seiner Kehle brannte.

Knight, ein drahtiger Kerl, etwas über eins achtzig, mit ansprechendem Gesicht und hellbraunem Haar, war früher Spezialermittler im Old Bailey gewesen, Englands Zentralem Strafgerichtshof. Zwei Jahre zuvor war er zum Londoner Büro von Private International‹ gewechselt, wo er doppelt so viel Gehalt bekam und doppelt so viel Ansehen genoss. Private war das neuzeitliche Pendant zur berühmten Pinkerton Agency und unterhielt Büros in allen größeren Städten der Welt, in denen erstklassige Forensiker, Sicherheitsspezialisten und Ermittler wie Knight beschäftigt waren.

Lass es nicht an dich ran, sagte er sich. Verhalte dich wie ein Profi. Doch das hier war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Knight hatte bereits zu viel Trauer und Verlust erlitten, sowohl beruflich als auch privat. Erst eine Woche zuvor waren sein Chef Dan Carter und drei seiner Kollegen über der Nordsee bei einem Flugzeugabsturz, dessen Ursache immer noch nicht aufgeklärt war, ums Leben gekommen. Konnte er noch den Tod eines weiteren Menschen verkraften?

Er schob den Gedanken an seine kranke Tochter beiseite und zwang sich, trotz der drückenden Hitze auf die Polizeiabsperrung zuzueilen. Während er um die Meute aus der Fleet Street einen großen Bogen machte, erblickte er Billy Casper, einen Inspector von Scotland Yard, den er seit fünfzehn Jahren kannte.

Er ging auf ihn zu. Casper war ein einfältiger Mann mit Pockennarbengesicht, das sich verfinsterte, sobald er Knight erblickte. »Private hat hier nichts verloren, Peter.«

»Wenn der Tote da drin Sir Denton Marshall ist, dann hat Private sehr wohl was damit zu tun, ebenso wie ich«, erwiderte Knight wie aus der Pistole geschossen. »Persönliche Angelegenheit, Billy. Ist es Sir Denton?«

Caspar antwortete nicht.

»Ist er es?«, drängte Knight.

Schließlich nickte Inspektor Casper, war aber nicht glücklich darüber. »Was haben Private und du damit zu tun?«

Die Nachricht schlug bei ihm ein, als hätte man ihn zusammengestaucht, und er überlegte, wie er sie Amanda überbringen sollte. Doch er riss sich zusammen. »Das Londoner Organisationskomitee für die Olympischen Spiele ist Kunde von Private«, erklärte er. »Damit ist auch Sir Denton ein Kunde unserer Firma.«

»Und du?«, bohrte Casper nach. »Was hast du persönlich damit zu tun? Warst du ein Freund von ihm oder so was?«

»Viel mehr als ein Freund. Er war mit meiner Mutter verlobt.«

Caspers strenge Miene wurde ein bisschen versöhnlicher, und er biss sich auf die Lippe. »Ich werde sehen, ob ich dich durchlassen kann. Elaine wird mit dir sprechen wollen.«

Plötzlich hatte Knight das Gefühl, als hätten sich unsichtbare Kräfte gegen ihn verschworen, und er spürte den Drang, auf irgendetwas einzuschlagen. »Elaine hat sich diesen Fall unter den Nagel gerissen? Das meinst du doch nicht ernst.«

»Todernst, Peter«, antwortete Casper. »Du Glückspilz.«

2

Chief Inspector Elaine Pottersfield war eine der besten Detectives bei der Metropolitan Police und bereits zwanzig Jahre im Dienst. Mit ihrer kratzbürstigen, nassforschen Art hatte sie in den vergangenen zwei Jahren mehr Morde aufgeklärt als jeder andere Inspector bei Scotland Yard. Sie war auch der einzige Mensch, den Knight kannte, der mit seiner Abscheu ihm gegenüber nicht hinterm Berg hielt.

Sie war irgendwas über vierzig und attraktiv, erinnerte Knight mit ihren großen runden Augen, dem schmalen Gesicht und ihrem silberblonden, locker über ihre Schultern fallenden Haar aber immer an einen russischen Windhund. Als er Sir Denton Marshalls Küche betrat, beäugte ihn Pottersfield über ihre scharfe Nase hinweg, als wollte sie ihn bei der erstbesten Gelegenheit beißen.

»Peter«, begrüßte sie ihn kühl.

»Elaine«, erwiderte Knight.

»Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätte man dich nicht zum Tatort durchgelassen.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, entgegnete Knight und versuchte, seine Wut hinunterzuschlucken. Pottersfield schien immer diese Wirkung auf ihn zu haben. »Aber es lässt sich nicht mehr ändern. Was kannst du mir erzählen?«

Pottersfield schwieg einige Sekunden, bevor sie antwortete. »Das Hausmädchen fand ihn vor einer Stunde draußen im Garten, oder zumindest das, was von ihm übrig ist.«

Als die Erinnerungen an Sir Denton aufblitzten, an den gebildeten, lustigen Mann, den er in den vergangenen zwei Jahren immer näher kennengelernt und immer mehr bewundert hatte, bekam Knight wacklige Beine und musste sich am Küchenschrank festhalten. »Was ist von ihm übrig geblieben?«

Pottersfield deutete missmutig zur offenen Terrassentür.

Knight wollte auf keinen Fall den Garten betreten. Er wollte Sir Denton so in Erinnerung behalten, wie er ihn das letzte Mal, zwei Wochen zuvor, gesehen hatte – mit seinem dichten, auffallend weißen Haar, dem sauberen rosa Gesicht und dem unbekümmerten, ansteckenden Lachen.

»Ich verstehe, wenn du ihn nicht sehen möchtest«, gestand Pottersfield ein. »Inspector Casper sagte, deine Mutter sei mit Sir Denton verlobt gewesen. Seit wann?«

»Seit letztem Silvester«, antwortete Knight. Er schluckte und ging zur Tür. »Sie wollten an Heiligabend heiraten«, fügte er verbittert hinzu. »Noch eine Tragödie. Genau das brauche ich in meinem Leben.«

Pottersfields Gesicht verzog sich vor Schmerz und Wut. Sie blickte zu Boden, als Knight an ihr vorbei in den Garten ging.

Draußen wurde es immer wärmer. Die Luft im Garten stand und stank nach Tod und Blut. Fünfeinhalb Liter Blut – Sir Dentons gesamtes Leben – waren auf der gefliesten Terrasse um die enthauptete Leiche zu einer klebrigen Masse geronnen.

»Der Gerichtsmediziner glaubt, die Tat wurde mit einem langen, gebogenen Messer mit gezackter Klinge begangen«, erklärte Pottersfield.

Wieder kämpfte Knight gegen den Drang, sich zu übergeben. Er versuchte den gesamten Tatort wie eine Reihe Fotos in seine Erinnerung zu brennen, als hätte er mit der Realität nichts zu tun. Abstand zu halten war für ihn die einzige Möglichkeit, Dinge wie dies hier durchzustehen.

»Wenn du genauer hinsiehst, wirst du erkennen, dass ein Teil des Blutes mit dem Gartenschlauch weggespritzt wurde, in Richtung der Leiche«, erklärte Pottersfield. »Ich vermute, der Mörder wollte damit Fußabdrücke und dergleichen beseitigen.«

Knight nickte und lenkte seinen Blick allein durch Willenskraft von der Leiche fort. Er sah an den Forensikern vorbei, die Beweise aus den Blumenbeeten sammelten und einem Tatortfotografen übergaben, der in der Nähe der rückwärtigen Mauer Bilder schoss.

Nachdem Knight die Leiche weiträumig umrundet hatte, bemerkte er, worauf das Objektiv des Fotografen gerichtet war – auf eine antike, griechische, kopflose Kalkstein-Statue eines Athener Senators, der in einer Hand ein Buch, in der anderen ein abgebrochenes Schwert hielt.

Auf dem leeren Platz zwischen den Schultern der Statue lag Sir Dentons Kopf. Sein Gesicht war aufgedunsen und schlaff, der Mund nach links verzerrt, als wollte er spucken. Und seine matten Augen starrten verzweifelt ins Nichts, jedenfalls kam es dem schockierten Knight so vor.

Einen Augenblick lang wäre er am liebsten zusammengebrochen, bis die Wut ihn übermannte. Welcher Barbar konnte so etwas tun? Und warum? Welchen Grund könnte es geben, Denton Marshall zu enthaupten? Dieser Mann war mehr als gut gewesen. Er war

»Du hast noch nicht alles gesehen, Peter«, merkte Pottersfield hinter ihm an. »Wirf mal einen Blick aufs Gras vor der Statue.«

Knight ballte seine Hände zu Fäusten und trat von der Terrasse ins Gras, das gegen seine Überzieher aus Papier schabte und ihm eine Gänsehaut bescherte wie das kratzende Geräusch von Kreide auf einer Tafel. Abrupt blieb er stehen.

Fünf ineinander verschränkte Ringe, das Symbol der Olympischen Spiele, war mit Farbe aufs Gras gesprüht worden.

Anschließend hatte der Täter das Symbol mit einem X aus Blut durchgestrichen.

3

Wo legen Monster ihre Eier ab? In welchem Nest werden sie ausgebrütet? Mit welchen giftigen Brocken werden sie nach dem Schlüpfen gefüttert, bis sie erwachsen sind?

Immer, wenn die Schmerzen wie Blitz und Donner durch meinen Kopf hindurchjagen, fallen mir solche und andere Fragen ein.

Eigentlich müssten Sie sich, während Sie dies hier lesen, Ihre eigenen Fragen stellen, zum Beispiel: »Wer sind Sie?«

Mein richtiger Name tut nichts zur Sache. Im Rahmen dieser Geschichte allerdings können Sie mich Kronos nennen. In der griechischen Mythologie war Kronos der mächtigste Titan, der ganze Universen verschlungen hatte, der Gott der Zeit.

Halte ich mich für einen Gott?

Das wäre absurd. Eine solche Arroganz fordert das Schicksal heraus. Ein solcher Hochmut verspottet die Götter. Und dieser heimtückischen Sünde habe ich mich nie schuldig gemacht.

Allerdings gehöre ich zu den seltenen Exemplaren, die es pro Generation höchstens einmal gibt. Manchmal dauert es auch noch länger, bis sie sich zeigen. Wie sonst sollte man die Tatsache erklären, dass sich mir der Hass eingebrannt hatte, lange bevor der Sturm in meinem Kopf zu toben begann. Dass es von Anfang an mein sehnlichster Wunsch war, andere zu töten.

Irgendwann in meinem zweiten Lebensjahr wurde mir bewusst, wie viel Hass in mir steckte. Als wären zwei böse Geister von irgendwoher aus der Leere gekommen, um sich in mir zu vereinen. Eine Zeitlang hielt ich mich genau für das, für eine lodernde Ausgeburt des Abscheus, die man in eine Ecke in eine Kiste voller Lumpen geworfen hatte.

Doch eines Tages begann ich, aus der Kiste zu krabbeln, und dabei wurde mir bald klar, dass ich zu mehr als Wut fähig war. Keiner kümmerte sich um mich. Tagelang hatte ich Hunger und Durst, war nackt und fror, war stundenlang mir selbst überlassen, wurde von den Monstern um mich herum kaum im Arm gehalten, als wäre ich ein außerirdisches Wesen, das zufällig bei ihnen gelandet war. Und all das führte zu meinem ersten eigenen Gedanken: Ich will sie alle töten.

Dieses grausame Verlangen gärte in mir, lange bevor mir klar war, dass meine Eltern drogenabhängig und unfähig waren, ein überlegenes Wesen wie mich aufzuziehen.

Im Alter von vier Jahren, kurz nachdem ich ein Küchenmesser in den Schenkel meiner komatösen Mutter gerammt hatte, kam eine Frau in unsere verwahrloste Behausung und nahm mich meinen Eltern weg. Sie steckte mich in ein Heim, wo ich gezwungen war, mit verlassenen kleinen Monstern zu leben, die von allen gehasst und verabscheut wurden außer von sich selbst.

Bald schon begriff ich, dass ich schlauer und stärker war als sie und visionärer. Als Neunjähriger wusste ich nicht genau, was ich bereits war, doch ich spürte, dass ich zu einer anderen Art gehören, ein Superwesen sein könnte, wenn man so will, das alle Monster, die sich ihm in den Weg stellten, manipulieren, bezwingen oder abschlachten konnte.

Dessen war ich mir sicher, als die Stürme in meinem Kopf zu toben begannen.

Dies geschah, als ich zehn war. Mein Pflegevater, den wir Pfarrer Bob nannten, peitschte gerade eins der kleinen Monster aus, doch ich konnte nicht zuhören. Das Schreien vermittelte mir ein Gefühl der Schwäche, und dieses Gefühl ertrug ich nicht. Also verließ ich das Haus, kletterte über den Gartenzaun und streifte durch die übelsten Straßen Londons, bis ich in der vertrauten Armut eines verlassenen Gebäudes Trost und Ruhe fand.

Zwei Monster lebten bereits dort. Sie waren etwas älter als ich und Mitglieder einer Straßenbande. Mir war gleich klar, dass sie was genommen hatten. Und sie behaupteten, ich sei in ihr Revier eingedrungen.

Ich war flink und wollte fliehen, doch einer warf einen Stein nach mir, der mich am Kiefer traf. Als ich benommen zu Boden fiel, lachten die beiden und warfen, noch wütender geworden, weitere Steine nach mir. Gebrochene Rippen und blaue Oberschenkel waren die Folge.

Dann spürte ich einen harten Schlag über meinem linken Ohr, gefolgt von einer in allen Farben funkelnden Explosion, die durch mein Hirn jagte wie ein Feuerwerk am Sommerhimmel.

4

Hilflos ließ Knight den Blick zwischen dem mit Blut durchgestrichenen olympischen Symbol und dem Kopf des Verlobten seiner Mutter wandern.

Inspector Pottersfield trat neben Knight. »Erzähl mir was über Sir Denton«, bat sie mit leiser Stimme.

Knight schluckte seine Trauer hinunter. »Denton war ein ganz großartiger Mensch, Elaine. Er hat einen großen Hedgefonds geleitet, eine Menge Geld verdient, das meiste aber hergegeben. Er war im Londoner Organisationskomitee ein absolut kritisches Mitglied. Viele glauben, dass wir im Wettstreit gegen Paris die Spiele ohne Sir Dentons Bemühungen niemals nach London geholt hätten. Er war ein netter Mensch, der sich selbst nicht allzu wichtig genommen hat. Und er hat meine Mutter sehr glücklich gemacht.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich wäre«, bemerkte Pottersfield.

»Ich auch nicht. Ebenso wenig wie Amanda selbst. Aber er hat es geschafft«, erwiderte Knight. »Ich wäre nie auch nur auf den Gedanken gekommen, dass Denton Marshall einen Feind gehabt haben könnte.«

Pottersfield deutete auf das blutige olympische Symbol. »Vielleicht hat das hier mehr mit den Olympischen Spielen als mit seinem übrigen Leben zu tun.«

Knight blickte zu Denton Marshalls Kopf, dann zur Leiche. »Vielleicht. Oder vielleicht ist dies hier nur ein Ablenkungsmanöver. Jemandem den Kopf abzutrennen lässt sich leicht als Racheakt deuten, was immer eine persönliche Angelegenheit ist.«

»Du meinst, hier könnte es sich um eine Art Rache handeln?«, vergewisserte sich Pottersfield.

Knight zuckte mit den Schultern. »Oder um ein politisches Statement. Oder um die Arbeit eines Wahnsinnigen. Oder um eine Kombination aus allen dreien. Ich weiß es nicht.«

»Weißt du, wo sich deine Mutter gestern Abend zwischen elf und halb eins aufgehalten hat?«, fragte Pottersfield plötzlich.

Knight blickte sie an, als wäre sie nicht mehr ganz bei Trost. »Amanda hat Denton geliebt.«

»Verschmähte Liebe kann durchaus ein Grund für blinde Wut sein«, merkte Pottersfield an.

»Niemand wurde verschmäht«, blaffte Knight. »Das hätte ich gewusst. Abgesehen davon weißt du, wie meine Mutter aussieht. Sie ist eins fünfundsechzig groß und wiegt fünfundfünfzig Kilo. Denton wog hundertzehn. Sie verfügt weder über die körperliche Kraft noch ist sie derart abgebrüht, dass sie seinen Kopf abtrennen könnte. Und sie hätte auch keinen Grund dazu gehabt.«

»Du sagst also, du weißt, wo sie war?«, beharrte Pottersfield.

»Ich werde es herausfinden und melde mich dann wieder bei dir. Aber zunächst muss ich ihr die schlechte Nachricht überbringen.«

»Das kann ich übernehmen, wenn du möchtest.«

»Nein, das erledige ich selbst«, lehnte Knight ab. Er betrachtete sich Sir Dentons schiefen Mund genauer, der immer noch aussah, als wollte er etwas ausspucken.

Knight kramte in seiner Jacketttasche nach einer kleinen Taschenlampe, trat um die olympischen Ringe herum und richtete den Schein der Lampe zwischen Sir Dentons Lippen. Dort schimmerte etwas auf. Knight zog eine Pinzette aus seiner Tasche, die er für den Fall immer bei sich trug, dass er etwas nicht mit den Fingern berühren wollte.

Ohne dem toten Verlobten seiner Mutter in die Augen zu blicken, schob er ihm die Pinzette zwischen die Lippen.

»Peter, lass das«, befahl Pottersfield. »Du bist …«

Doch Knight drehte sich bereits um und zeigte ihr eine matte Bronzemünze, die er Sir Denton aus dem Mund gezogen hatte.

»Eine neue Theorie«, sagte er. »Es geht um Geld.«

5

Als ich ein paar Tage nach der Steinigung wieder bei Bewusstsein war, lag ich mit einem Schädelbruch im Krankenhaus. Dank der vielen Kabel fühlte ich mich noch mehr wie ein Außerirdischer.

Ich erinnerte mich an jede Einzelheit des Überfalls und der Angreifer. Doch als mich die Polizei verhörte, sagte ich aus, ich hätte keine Ahnung. Ich könne mich daran erinnern, das Gebäude betreten zu haben, mehr nicht. Bald versiegten ihre Fragen.

Meine Genesung schritt nur langsam voran. Eine krabbenförmige Narbe blieb auf meinem Schädel zurück, wurde aber bald schon von meinen nachwachsenden Haaren überdeckt. Langsam entwickelte sich in mir eine dunkle Fantasie, meine erste fixe Idee.

Zwei Wochen später kehrte ich zu meinen kleinen Monstern und Pfarrer Bob nach Hause zurück. Auch sie merkten, dass ich mich verändert hatte. Ich war kein wildes Kind mehr. Ich lächelte und spielte den Glücklichen. Ich lernte und trainierte meinen Körper.

Pfarrer Bob glaubte, ich hätte Gott gefunden.

Doch trotz allem war ich weiterhin von Hass erfüllt. Ich strich über meine krabbenförmige Narbe auf dem Kopf und lenkte meinen Hass, meinen ältesten emotionalen Verbündeten, auf Dinge, die ich haben und geschehen lassen wollte. Mit einem dunklen Herzen bewaffnet, wickelte ich sie alle ein, versuchte der ganzen Welt zu zeigen, wie anders ich wirklich war. Und obwohl ich in der Öffentlichkeit den veränderten Jungen mimte – den glücklichen, erfolgreichen Kumpel –, vergaß ich nicht einen Moment die Steinigung oder den Sturm, der dadurch in mir entfacht worden war.

Im Alter von vierzehn Jahren suchte ich heimlich nach den Monstern, die für meinen Schädelbruch verantwortlich gewesen waren. Ich fand sie zwölf Straßenblocks von meinem Zuhause bei Pfarrer Bob und den kleinen Monstern entfernt an einer Straßenecke, wo sie billiges Methamphetamin verkauften.

Ich behielt die beiden im Auge, bis ich sechzehn war und mich groß und stark genug fühlte, um zu handeln.

Pfarrer Bob war Hüttenarbeiter gewesen, bevor er Jesus gefunden hatte. Am sechsten Jahrestag meiner Steinigung nahm ich einen seiner schweren Hämmer und den alten Arbeitsoverall und schlich abends aus dem Heim, als alle dachten, ich säße beim Lernen.

Ich hatte den Overall und den Hammer in einer Schultasche versteckt, die ich aus einem Mülleimer gezogen hatte, und suchte die beiden Monster, die mich gesteinigt hatten. Dadurch dass sie in den letzten sechs Jahre drogenabhängig gewesen waren und ich inzwischen mächtig gewachsen war, hatten sie mich aus ihrer Datenbank gelöscht.

Mit dem Versprechen, sich etwas verdienen zu können, lockte ich sie zu einer einsamen Stelle, wo ich ihr Hirn zu blutigem Brei schlug.

6

Kurz nachdem Chief Inspector Pottersfield angeordnet hatte, die sterblichen Überreste von Sir Denton in einen Leichensack zu packen, verließ Knight das Anwesen – mit noch mehr Angst als bei seiner Ankunft. Er duckte sich unter dem Absperrband hindurch, mied die Reporter und verließ fluchtartig das Nobelviertel. Krampfhaft überlegte er, wie er seiner Mutter diese Nachricht beibringen sollte. Die Unausweichlichkeit war Knight bewusst. Zudem musste er schnell handeln, bevor ihm jemand zuvorkam. Er wollte auf jeden Fall bei ihr sein, wenn sie erfahren würde, dass ihre große Liebe

»Knight?«, rief ein Mann hinter ihm. »Sind Sie das?«

Knight hob den Kopf. Ein großer, athletischer Mann Mitte vierzig in feinem italienischem Anzug eilte auf ihn zu. Unter seinem dichten, grau melierten Haar blickte ihm ein rötliches, kantiges, aber gequältes Gesicht entgegen.

Seit Private vor achtzehn Monaten als Spezialsicherheitsdienst für die Olympischen Spiele engagiert worden war, hatte Knight nur zwei Mal Michael »Mike« Lancer im Büro getroffen. Doch sein Ruf eilte ihm voraus.

Lancer, in den Achtziger- und Neunzigerjahren zweifacher Zehnkampfweltmeister, hatte beim Coldstream Regiment und in der Leibgarde der Königin gedient, wo er den ganzen Tag trainieren konnte. Bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona hatte er nach dem ersten Tag den Zehnkampf angeführt, am zweiten Tag in der stickigen Hitze jedoch einen Krampf bekommen und nicht einmal einen der ersten zehn Plätze erreicht.

Seitdem arbeitete Lancer als Motivationsredner und Sicherheitsberater und wurde von Private International des Öfteren für große Projekte hinzugezogen. Er war Mitglied im LOCOG, dem Londoner Organisationskomitee für die Olympischen Spiele, und half bei der Sicherheitsplanung für die Großveranstaltung.

»Ist das wahr?«, fragte Lancer in äußerst beunruhigtem Ton.

»Leider ja, Mike«, antwortete Knight.

Lancers Augen füllten sich mit Tränen. »Wer tut so was? Warum?«

»Sieht aus, als würde jemand die Olympischen Spiele hassen«, erklärte Knight und beschrieb die Todesumstände von Sir Denton und das blutige X.

»Wann soll das passiert sein?«, fragte Lancer völlig außer sich.

»Kurz vor Mitternacht«, antwortete Knight.

Lancer schüttelte den Kopf. »Das heißt, ich habe ihn zwei Stunden vor seinem Tod noch gesehen. Er verließ gerade die Party in der Tate mit …« Traurig taxierte er Knight.

» wahrscheinlich meiner Mutter«, beendete Knight den Satz. »Sie waren verlobt.«

»Ja, ich wusste, dass Sie mit ihr verwandt sind«, sagte Lancer. »Es tut mir ja so leid, Peter. Weiß Amanda schon Bescheid?«

»Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr, um es ihr zu sagen.«

»Sie armer Kerl.« Lancer blickte zur Polizeiabsperrung. »Sind das da drüben Reporter?«

»Eine ganze Horde. Sie wird immer größer«, antwortete Knight.

Lancer schüttelte verbittert den Kopf. »Bei allem gebührenden Respekt für Denton, aber das hat uns gerade noch gefehlt. Morgen Abend ist die Eröffnungsfeier. Die Presseleute werden die grässlichen Einzelheiten in die ganze Welt hinausposaunen.«

»Das lässt sich nicht aufhalten«, erwiderte Knight. »Aber ich könnte die Sicherheitsmaßnahmen für alle Mitglieder des Organisationskomitees erhöhen lassen.«

Lancer stieß die Luft aus und nickte. »Sie haben recht. Ich fahre am besten mit dem Taxi ins Büro zurück. Marcus wird die Geschichte sicher persönlich von mir hören wollen.«

Marcus Morris, ein Politiker, der bei den letzten Wahlen auf seine Kandidatur verzichtet hatte, war jetzt Vorsitzender des Organisationskomitees.

»Meine Mutter ebenfalls«, sagte Knight. Gemeinsam gingen sie in Richtung Chesham Street, wo sie jeweils ein Taxi zu erwischen hofften.

Und tatsächlich hatten sie die Chesham Street gerade erreicht, als ein schwarzes Taxi gegenüber dem Diplomat Hotel von Süden angefahren kam. Gleichzeitig näherte sich auf ihrer Straßenseite von Norden ein rotes Taxi. Knight winkte es zu sich heran.

Lancer gab dem anderen Taxi ein Zeichen. »Richten Sie Ihrer Mutter mein herzlichstes Beileid aus«, sagte er zu Knight. »Und Jack richten Sie aus, ich werde mich später bei ihm melden.«

Jack Morgan war der amerikanische Inhaber von Private International. Er hielt sich in London auf, seit das Flugzeug mit vier Mitarbeitern des hiesigen Büros ohne Überlebende über der Nordsee abgestürzt war.

Lancer ging zielstrebig quer über die Straße, als sich das rote Taxi näherte.

Doch zu Knights Entsetzen heulte ein Motor auf. Reifen quietschten.

Das schwarze Taxi beschleunigte und raste direkt auf Lancer zu.

7

Knight reagierte instinktiv. Er sprang auf die Straße und stieß Lancer von der Fahrbahn weg.

Doch im selben Moment bemerkte Knight, dass die Stoßstange des Taxis nur einen knappen Meter von ihm entfernt war. Er versuchte, einen Satz Richtung Gehweg zu machen, seine Füße hoben vom Boden ab, konnten ihn aber nicht aus der Schusslinie des Taxis befördern. Kotflügel und Kühlergrill trafen ihn am linken Knie.

Knight wurde in die Luft geschleudert und knallte mit Schultern, Oberkörper und Hüfte auf die Motorhaube. Sein Gesicht wurde gegen die Windschutzscheibe gepresst, sodass er den Bruchteil einer Sekunde die Person hinterm Steuer sehen konnte. Halstuch. Sonnenbrille. Eine Frau?

Knight wurde weiter nach oben und übers Dach geschleudert wie eine Gummipuppe und knallte mit voller Wucht auf die linke Seite. Ihm blieb die Luft weg, und einen Moment lang bestand seine Welt nur noch aus dem sich entfernenden schwarzen Taxi, dem Geruch des Auspuffgases und dem in seinen Schläfen pulsierenden Blut.

Dann dachte er: Was für ein Wunder! Es scheint nichts gebrochen zu sein.

Das rote Taxi fuhr quietschend los. Knight bekam Panik, weil er fürchtete, nun doch noch überfahren zu werden. Doch das Taxi schlidderte 180 Grad um die Kurve und hielt vor ihm an. Der Fahrer, ein alter Rasta-Typ mit grüngelber Häkelmütze über seinen Locken, sprang heraus.

»Nicht bewegen, Knight!«, rief Lancer und rannte auf ihn zu. »Sie sind verletzt!«

»Mir ist nichts passiert«, krächzte Knight. »Folgen Sie dem Taxi, Mike.«

Lancer zögerte.

»Sie entwischt uns sonst!«, fügte Knight hinzu.

Lancer griff Knight unter die Arme und hievte ihn auf die Rückbank des roten Taxis. »Folgen Sie ihm!«, brüllte Lancer den Fahrer an.

Knight hielt eine Hand auf seine Rippen und rang immer noch nach Luft, als der Rasta-Taxifahrer das Gaspedal durchdrückte. Das andere Taxi war bereits mehrere Straßenblocks entfernt, wo es Richtung Westen auf die Pont Street bog.

»Die krieg ich!«, versprach der Fahrer. »Die hat versucht Sie umzunieten!«

Lancer ließ seinen Blick immer wieder zwischen Knight auf der Rückbank und der Straße vor ihnen wandern. »Ist mit Ihnen wirklich alles in Ordnung?«

»Ein bisschen angeschlagen und ein paar blaue Flecke«, stöhnte Knight. »Aber sie hat nicht mich überfahren wollen, Mike, sondern Sie.«

Mit hoher Drehzahl raste der Fahrer auf die Pont Street Richtung Westen. Das schwarze Taxi, nur zwei Blocks entfernt, ließ die Bremslichter aufleuchten, bevor es scharf rechts auf die Sloane Street abbog.

Der Rasta-Fahrer drückte das Gaspedal durch. Die Bäume entlang der Straße verschwammen zu einem grünen Strich, und die Kreuzung zur Sloane Street näherte sich so schnell, dass Knight sicher war, sie würden die Frau einholen, die soeben versucht hatte ihn zu töten.

Doch plötzlich tauchten zwei weitere schwarze Taxis auf der Gegenseite auf. Beide bogen ebenfalls auf die Sloane ab. Der Rasta-Fahrer drückte die Bremse durch, um eine Kollision zu vermeiden, und schlidderte. Dabei knallte er beinahe gegen ein anderes Auto – einen Streifenwagen der Metropolitan Police.

Die Sirene wurde eingeschaltet. Dann das Blaulicht.

»Nein!«, rief Lancer.

»Nicht schon wieder, Mann!«, schimpfte der Fahrer frustriert und hielt schließlich an.

Knight nickte wütend und blickte benommen dem schwarzen Taxi hinterher, das mit dem Verkehr Richtung Hyde Park verschmolz.

8

Pfeile in grellen Farben surrten durch die heiße Morgenluft. Sie landeten entweder in der gelben Mitte oder auf den größeren roten und blauen Kreisen der Zielscheiben, die in einer langen Reihe quer über dem limonengrünen Spielfeld auf dem Lord’s Cricket Ground in der Nähe des Londoner Regent’s Park standen.

Bogenschützen aus sechs oder sieben Ländern absolvierten ihr letztes Training. Das Bogenschießen würde als eine der ersten Disziplinen nach der Eröffnung der Olympischen Spiele 2012 in London ausgetragen werden. Samstagvormittag, in zwei Tagen also, würden die Mannschaftskämpfe beginnen.

Deswegen stand Karen Pope hoch oben auf der Tribüne und beobachtete das Training durch ein Fernglas mit vor Langeweile hängendem Gesicht.

Pope arbeitet als Sportreporterin bei der Sun, einem englischen Boulevardblatt, das es dank seines aggressiven Journalismus und barbusiger junger Frauen auf Seite drei voller Stolz auf mehr als sieben Millionen Leser brachte.

Pope war Anfang dreißig und hatte Ähnlichkeit mit Renée Zellweger in Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück, aber oben herum war sie viel zu flach, um es je auf Seite drei zu schaffen. Doch sie war eine verbissene, extrem ehrgeizige Reporterin.

Um ihren Hals hing an diesem Vormittag einer von nur vierzehn Presseausweisen, die die Sun zugewiesen bekommen hatte. Damit kam Pope in alle Sportstätten rein. Diese Ausweise waren für die britischen Medien streng limitiert worden, weil mehr als zwanzigtausend Journalisten aus aller Welt ebenfalls über das siebzehntätige Megaereignis berichten wollten. Somit waren sie fast so wertvoll wie eine Olympiamedaille, zumindest für die britische Presse.

Pope hätte sich eigentlich glücklich schätzen müssen, diesen Ausweis zu besitzen und über die Spiele berichten zu dürfen, doch an diesem Morgen hatte sie bisher noch nichts zutage gefördert, was wichtig sein könnte.

Sie hatte nach den Südkoreanern Ausschau gehalten, die als Goldmedaillenanwärter gehandelt wurden, aber erfahren, dass sie ihr Training bereits hinter sich hatten.

»Verdammter Mist«, schimpfte sie. »Finch wird mich umbringen.«

Am meisten versprach sie sich von einem spannend geschriebenen Feature, das es irgendwie ins Blatt schaffen würde. Doch worüber? Zu welchem Thema?

Bogenschießen – Dart für die Oberschicht?

Nein, an Bogenschießen war absolut nichts Hochgestochenes.

Apropos, was wusste sie eigentlich über Bogenschießen? Sie war in einer Fußballerfamilie aufgewachsen. Sie hatte an diesem Morgen versucht, Finch zu erklären, dass er sie lieber zu den Leichtathleten oder Turnern schicken sollte. Doch ihr Redakteur hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie erst vor sechs Wochen aus Manchester zur Sun gekommen war und somit in der Hackordnung der Sportredakteure ganz unten stand.

»Besorg mir eine große Geschichte, dann kriegst du auch bessere Aufträge«, hatte Finch gesagt.

Pope zwang sich, sich wieder auf die Bogenschützen zu konzentrieren. Ihr fiel auf, wie ruhig sie waren. Als wären sie in Trance. Ganz anders als ein Cricket- oder Tennisspieler. Sollte sie darüber schreiben? Herausfinden, wie sich Bogenschützen in diesen Zustand bringen?

Quatsch, dachte sie ärgerlich. Wer will in der Sun schon über Zen im Sport lesen, wenn man auf Seite drei Titten zu sehen bekommt?

Pope seufzte, legte das Fernglas zur Seite und rutschte auf ihrem Sitz ein Stück nach vorne, um bequemer zu sitzen. Ihr fiel ein, dass sie beim Verlassen des Büros einen Stapel Post in ihre Handtasche geschoben hatte. Sie blätterte durch mehrere Presseerklärungen und anderes belangloses Material.

Schließlich öffnete sie einen dicken Briefumschlag, auf dem in seltsamen blauen und schwarzen Buchstaben ihr Name aufgedruckt war.

Pope rümpfte die Nase, als hätte sie etwas Fauliges gerochen. Sie hatte in letzter Zeit nichts geschrieben, was einen Spinner zu einem Brief provoziert haben könnte, jedenfalls nicht, seit sie in London arbeitete. Jeder Journalist, der etwas auf sich hielt, bekam solche Briefe. Sie waren leicht zu erkennen und trafen gewöhnlich ein, nachdem man einen kontroversen Artikel oder etwas über eine Verschwörungstheorie geschrieben hatte.

Sie öffnete den Umschlag und zog einen Stapel aus zehn Blättern hervor, die mit einer Büroklammer an einer zusammengefalteten Grußkarte befestigt waren. Sie klappte die Karte auf, die allerdings keinen Gruß enthielt. Stattdessen war ein kleiner Chip darin befestigt, der beim Aufklappen aktiviert wurde. Ein Schauer lief ihren Rücken hinab, als eine Flöte ertönte, die wie Trauermusik auf einer Beerdigung klang.

Sie klappte die Karte zu und überflog die erste Seite. Es war ein an sie adressierter Brief, gedruckt in mehreren Schriftarten, was das Lesen erschwerte. Doch schließlich hatte sie das Wesentliche erfasst, las den Brief sicherheitshalber aber noch zwei Mal. Mit jeder Zeile raste ihr Herz schneller, bis sie das Gefühl hatte, es pulsiere in ihrer Kehle.

Sie überflog den Rest der Dokumente, die dem Brief und der Grußkarte beigefügt waren, und fiel beinahe in Ohnmacht. Hektisch kramte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Telefon und rief ihren Redakteur an.

»Finch, hier ist Pope«, keuchte sie, als er sich meldete. »Kannst du mir sagen, ob Denton Marshall umgebracht wurde?«

»Was? Sir Denton Marshall?«, vergewisserte sich Finch mit starkem Cockney-Akzent.

»Ja, ja, der große Hedgefonds-Typ, Wohltäter und Mitglied des Organisationskomitees«, bestätigte Pope, während sie ihre Sachen zusammensammelte und sich nach dem nächstgelegenen Ausgang umsah. »Bitte, Finch, das könnte eine große Sache werden.«

»Bleib dran«, brummte Finch.

Pope war bereits draußen und winkte vom Regent’s Park aus ein Taxi heran, als Finch sich endlich wieder meldete.

»Sir Dentons Haus in Lyall Mews wurde von der Polizei weiträumig abgesperrt, und der Wagen der Gerichtsmedizin ist gerade eingetroffen.«

Pope stieß mit der Faust in die Luft. »Finch!«, rief sie. »Du musst dir jemand anderen für deine Artikel über Bogenschützen und Dressurreiter suchen. Die Geschichte, die ich gerade an Land gezogen habe, wird London wie ein Erdbeben erschüttern.«

9

»Lancer hat gesagt, du hättest sein Leben gerettet«, sagte Elaine Pottersfield.

Knight zuckte zusammen, als ein Sanitäter ihn tupfte und piekste. Er saß auf der Stoßstange eines Krankenwagens auf der Ostseite der Sloane Street, ein paar Meter entfernt vom roten Taxi des Rasta-Fahrers.

»Ich habe nur reagiert«, erwiderte Knight, dem alles wehtat. Er hatte das Gefühl, von dem heißen Asphalt geröstet zu werden.

»Du hast dich in Gefahr begeben«, fuhr Pottersfield teilnahmslos fort.

Langsam ärgerte sich Knight. »Gerade hast du gesagt, ich hätte sein Leben gerettet.«

»Und wärst dabei beinahe selbst ums Leben gekommen«, schoss sie zurück. »Was wäre mit … mit den Kindern?«

»Lass die Kinder aus dem Spiel, Elaine«, verlangte er. »Mir geht es gut. Dieses Taxi müsste von den Überwachungskameras aufgenommen worden sein.«

Über ganz London waren zehntausend Sicherheitskameras verteilt worden, die vierundzwanzig Stunden in Betrieb waren. Einige gab es bereits seit den U-Bahn-Bombenattentaten 2005, bei denen 56 Menschen gestorben und mehr als siebenhundert verletzt worden waren.

»Wir werden sie überprüfen«, versprach Pottersfield. »Aber nach einem schwarzen Taxi in London suchen? Da keiner von euch das Nummernschild erkannt hat, ist das nahezu unmöglich.«

»Nicht, wenn ihr die Suche auf diese Straße hier Richtung Norden und die ungefähre Zeit beschränkt, in der die Frau geflohen ist. Und ruf alle Taxiunternehmen an. Durch den Aufprall muss die Motorhaube oder der Kühlergrill beschädigt worden sein.«

»Bist du sicher, dass es eine Frau war?«, hakte Pottersfield skeptisch nach.

»Es war eine Frau«, beharrte Knight. »Schal, Sonnenbrille, sehr angenervt.«

Pottersfield blickte zu Lancer hinüber, der von einem anderen Beamten verhört wurde. »Er und Sir Denton«, sagte sie. »Beides LOCOG-Mitglieder.«

Knight nickte. »Ich würde nach Leuten suchen, die mit dem Organisationskomitee ein Hühnchen zu rupfen haben.«

Pottersfield antwortete nicht, weil Lancer auf sie zutrat. Er hatte seine Krawatte gelockert und tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Danke«, sagte er zu Knight. »Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«

»Das hätten Sie für mich auch getan«, wimmelte Knight ab.

»Ich rufe Jack an«, sagte Lancer. »Und erzähle ihm, was Sie getan haben.«

»Das ist nicht nötig«, beschwichtigte Knight ihn.

»Doch«, beharrte Lancer und zögerte. »Ich würde mich gerne erkenntlich zeigen.«

Knight schüttelte den Kopf. »LOCOG ist Kunde von Private, das heißt, auch Sie sind unser Kunde, Mike. Das gehört alles zu unserem Job.«

»Nein, Sie …« Wieder zögerte Lancer, bevor er fortfuhr. »Ich möchte Sie für morgen Abend als mein Gast zu der Eröffnungsfeier einladen.«

Knight war von dem Angebot wie von den Socken. Eintrittskarten für die Eröffnungsfeier standen fast so hoch im Kurs wie ein Jahr zuvor die Einladungen zur Hochzeit von Prinz William und Kate Middleton.

»Wenn das Kindermädchen meine Schicht übernimmt, gerne.«

Lancer strahlte. »Ich lasse Ihnen morgen früh von meiner Sekretärin einen Ausweis und die Eintrittskarten schicken.« Er klopfte Knight auf die unverletzte Schulter, lächelte Pottersfield an und ging zu dem jamaikanischen Taxifahrer, der sich immer noch mit den Streifenpolizisten stritt.

»Du musst eine Aussage machen«, sagte Pottersfield.

»Ich tue nichts, bevor ich nicht endlich mit meiner Mutter gesprochen habe.«

10

Zwanzig Minuten später setzte ein Streifenwagen der Metropolitan Police Knight vor dem Haus seiner Mutter auf der Milner Street in Knightsbridge ab. Die Schmerzmittel der Sanitäter hatte er abgelehnt. So war es eine Qual, aus dem Wagen auszusteigen. Bilder von einer schönen, schwangeren Frau, die vor einem Sonnenaufgang über einem Moor stand, blitzten vor ihm auf.

Zum Glück konnte er sie aus seinen Gedanken verbannen, als er an der Tür klingelte. Und plötzlich wurde ihm bewusst, wie schmutzig und zerrissen seine Kleider waren.

Amanda würde es nicht gutheißen. Ebenso wenig wie

Gary Boss, der die Tür öffnete. Er war der langjährige persönliche Assistent seiner Mutter, zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, dünn, gepflegt und tadellos gekleidet.

Er blinzelte Knight durch seine Schildpattbrille an und rümpfte die Nase. »Ich wusste nicht, dass Sie einen Termin haben, Peter.«

»Amandas Sohn und einziges Kind braucht keinen Termin«, erwiderte Knight. »Heute nicht.«

»Sie ist sehr, sehr beschäftigt«, beharrte Boss. »Ich schlage vor …«

»Denton ist tot, Gary«, unterbrach Knight ihn leise.

»Was?«, sagte Boss, bevor er höhnisch kicherte. »Das ist unmöglich. Sie war doch erst gestern Abend …«

»Er wurde ermordet«, unterbrach ihn Knight erneut und trat ein. »Ich komme gerade vom Tatort. Ich muss es ihr sagen.«

»Ermordet?« Boss’ Kinnlade fiel nach unten, und er schloss die Augen, als ahnte er den unsäglichen Kummer voraus, den die Nachricht seiner Chefin bereiten würde. »Gütiger Himmel. Sie wird …«

»Ich weiß.« Knight schob sich an ihm vorbei. »Wo ist sie?«

»In der Bibliothek«, antwortete Boss. »Sie sucht Stoffe aus.«

Knight zuckte zusammen. Seine Mutter hasste es, bei der Auswahl von Stoffen gestört zu werden. »Hilft nichts«, sagte er und ging zur Bibliothek, um seiner Mutter mitzuteilen, dass sie praktisch zum zweiten Mal Witwe geworden war.

Als Knight drei Jahre alt gewesen war, war sein Vater, Harry, bei einem Fabrikunfall ums Leben gekommen und hatte der jungen Witwe und seinem Sohn eine spärliche Versicherung hinterlassen. Seine Mutter schien über den Verlust zu verbittern, bis sie eines Tages ihre ganze Energie auf etwas anderes richtete. Mode und Nähen waren schon immer ihre Leidenschaft gewesen, und so hatte sie die Versicherungssumme als Startkapital für ein Bekleidungsunternehmen verwendet, das ihren Namen trug.

»

Wieder blitzte vor Knight das Bild der schwangeren Frau auf, als er an die Tür klopfte und die Bibliothek betrat.

Amanda, in jeder Hinsicht eine elegante Frau – mit Ende fünfzig hatte sie die Haltung einer Tänzerin, die Schönheit einer alternden Schauspielerin und das Auftreten einer gütigen Königin –, stand an ihrem Arbeitstisch, vor sich Dutzende von Stoffmustern.

»Gary«, schalt sie, ohne den Kopf zu heben. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht …«

»Ich bin’s, Mutter«, unterbrach Knight sie.

Amanda drehte sich um und blickte ihn mit ihren schiefergrauen Augen finster an. »Peter, hat Gary dir nicht gesagt, dass ich gerade …« Sie hielt inne, als sie in seinem Gesicht etwas bemerkte. Ihr eigenes Gesicht verzog sich missbilligend. »Jetzt sag nicht, deine barbarischen Kinder haben schon wieder ein Kindermädchen in die Flucht getrieben.«

»Nein«, entgegnete Knight. »Ich wünschte, die Angelegenheit wäre so einfach wie das.«

Und mit wenigen Worten zerschlug er das Glück seiner Mutter in tausend Stücke.