Citizen_b

Keiner küsst wie Daddy Cool

 

 

Himmelstürmer Verlag

Inhalt

  • DADDY COOL
  • HELLO AGAIN!
  • Y.M.C.A.
  • DO YOU COME HERE OFTEN? (1)
  • CELEBRATION
  • EAST END BOYS & WEST END GIRLS
  • FLY ROBIN FLY
  • DO YOU COME HERE OFTEN? (2)
  • MESSAGE IN A BOTTLE
  • HE HIT ME AND IT FELT LIKE A KISS!
  • MA BAKER
  • BORN TO BE ALIVE!
  • THE BAD TOUCH
  • DO IT!
  • SUNNY (1)
  • SISTERS ARE DOIN' IT FOR THEMSELVES
  • BLOOD, SWEAT & TEARS
  • SUNNY (2)
  • WE ARE FAMILY
  • RING MY BELL
  • MAMMA MIA
  • SEX DWARF
  • DO OR DIE!
  • LA VIE EN ROSE
  • TRY ME, I KNOW WE CAN MAKE IT
  • HAPPY BIRTHDAY
  • TOWN WITHOUT PITY
  • SWING YOUR DADDY
  • THE MILE HIGH CLUB
  • DO YOU COME HERE OFTEN (3)
  • MACARTHUR PARK
  • I WILL SURVIVE
  • TOTAL ECLIPSE
  • DIRTY OLD MAN
  • LA ISLA BONITA
  • POISON ARROW
  • LEFT TO MY OWN DEVICES
  • CORAZON
  • HUNG UP
  • THE NAME OF THE GAME
  • LE FREAK
  • KNOCK ON WOOD
  • FEEL THE HEAT
  • DISCO INFERNO
  • TURN THE BEAT AROUND
  • STAYIN' ALIVE

DADDY COOL

Frankfurt, August 2008

„Vorsicht mit den Möbeln! Die sind ein Vermögen wert“, ruft Kilian den Möbelpackern zu, die seine schweren englischen Antiquitäten und die noch viel schwereren Biedermeier Möbel aus dem Nachlass seiner Mutter, seine gigantische Vinylplattensammlung, die riesigen Plasma-Bildschirme und den extra-großen Kühlschrank mit integriertem Eiswürfelcrusher in den vierten Stock schleppen.

Es ist ein heißer Augusttag und die Träger schwitzen wie die Schweine.

Kilians Mitleid hält sich in Grenzen. Der attraktive Mittfünfziger mit den vollen dunklen Haaren und den grauen Schläfen selbst trägt nur ein leichtes ungerahmtes Ölgemälde unter dem Arm, das ein japanisches Filmmonster unter der Dusche zeigt. Von irgendso einem „Jungen Wilden“ aus den 80er Jahren und bestimmt ebenfalls ein Vermögen wert.

„Sie ziehen ein?“, fragt eine dunkle Frauenstimme hinter ihm und er dreht sich um und sieht eine dunkelblonde Frau, die gerade die Wohnung verlässt, die direkt unter seiner neuen Bleibe liegt.

Ende Dreißig, Businesskleid, attraktive Erscheinung, wenn man auf Frauen steht.

Kilian allerdings sind Frauen vollkommen gleichgültig. „Fisch“ ist die bei weitem netteste Bezeichnung für diese Geschöpfe in Kilians Vokabular. Die am wenigsten nette kann man übrigens wahlweise mit F oder V am Anfang schreiben.

„Ich bin Kilian Kuhl“, stellt er sich vor. „Ich ziehe in die Wohnung im vierten Stock.“

„Schlecker, Sabrina“, erwidert sie. „Dann sind wir ja jetzt Nachbarn.“ Sie streckt ihm die rechte Hand hin und Kilian stellt das Bild ab und reicht ihr seine.

Sie zeigen einander ihre makellosen Jacketkronen und Kilian denkt: Wie praktisch! Die Tusse kann sich um deine Post kümmern, wenn du auf Reisen bist.

Hinter Sabrina taucht ein Jüngling in einem ockergelben Polo und schwarzen Jeans auf. 16 oder 17. Dunkelblond. Bildhübsch. Genau Kilians Typ.

Kilian lächelt ihn an und sagt „Hi!“

Der Kleine errötet und ringt sich ein kleines Lächeln ab.

Schau, schau, denkt Kilian. Was haben wir denn da?

„Das ist Sunny. Sandro. Mein Sohn“, erklärt Sabrina. „Sunny wird am Sonntag 18. Vielleicht haben Sie ja Lust, Sonntagnachmittag zu einem Tässchen Kaffee vorbeizukommen?“

Kilian tut für eine Viertelsekunde so als würde er nachdenken. „Aber mit dem allergrößten Vergnügen!“, sagt er dann und wirft Sunny ein weiteres, von Charme und Charisma nur so triefendes Lächeln zu.

Und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf.

HELLO AGAIN!

Kilian hat die Plasma-Fernseher im Wohnzimmer und im Schlafzimmer an die Wand montiert und den automatischen Sendersuchlauf aktiviert, zwei von den vielen Koffern ausgepackt und die maßgeschneiderten Anzüge und Designer-Oberhemden in den verspiegelten Kleiderschrank gehängt, das breite Bett bezogen, den nagelneuen iMac auf den großen Schreibtisch im indo-britischen Kolonialstil im Arbeitszimmer gestellt und über WLAN mit dem Internet verbunden, den Kühlschrank bepackt und seine Sammlung exquisiter Herrendüfte aus aller Welt auf der Anrichte im Bad aufgebaut.

Jetzt zündet er sich eine Zigarre mit seinem nach Benzin stinkenden Zippo-Feuerzeug an, genießt ein Glas Bordeaux und verkabelt die Stereoanlage im Wohnzimmer. Er schaltet die Geräte an, zieht zielsicher den Soundtrack von „Saturday Night Fever“ aus einer der Kisten mit Vinylschallplatten, legt Seite 4 des Doppelalbums auf den Plattenteller seines Thorens TD 160 HD Turntable und lässt ganz sachte den Tonarm auf die Leerrille vor „Disco Inferno“ von den Trammps herunter. Das ist das perfekte Stück um die Akkustik des Raumes zu testen.

Es läutet.

„Verdammter Mist“, flucht der sportliche Ex-Banker.

Er liftet den Tonarm wieder nach oben und läuft zur Wohnungstür. Bevor er noch nach dem Hörer der Türsprechanlage greifen kann, klopft es an der Tür.

Kilian linst durch den Türspion. Es ist diese Schlecker-Tante. Susanna oder Sabina oder so.

Die Kuh hat ihm ja glatt noch gefehlt!

Kilian öffnet und schon tritt sie ungebeten näher.

Sie hat sich ganz schön aufgebretzelt, fällt ihm auf. Abend-Make up, ein grässliches zuckrig-süßes Parfüm, lachsrote Pumps, Designerjeans und eine leicht zu enge Bluse.

„Nur herein!“, lächelt Kilian, der selbst nur mit einer alten Levi's und einem weißen T-Shirt bekleidet ist.

„Ich wollte Ihnen ein kleines Geschenk zum Einzug bringen“, legt Sabrina los. „Salz und Brot, das ist ein schöner alter Brauch in Hessen.“

Sie überreicht ihm einen schlichten Salzstreuer und eine Packung Toastbrot.

„Vielen lieben Dank“, macht Kilian und setzt ein dankbares Lächeln auf. „Möchten Sie ein Gläschen Wein?“

Hoffentlich sagt die Schrippe nein, denkt er.

„Gerne, darf ich mich umsehen? Ihre Wohnung ist aber ganz anders geschnitten als unsere.“

„Es waren ursprünglich zwei getrennte Wohnungen. Ich hab' einfach beide gekauft, ein paar Wände einreissen und Parkett legen lassen.“

„Das muss gewesen sein als ich mit Sunny auf Rhodos war.“

„Wahrscheinlich.“ Kilian erinnert sich an seinen eigenen Urlaub auf Rhodos vor drei oder vier Jahren. Da gab es einen alten Hammam in der Altstadt, in dem ging die Post ab, dass man es kaum glauben mag! Ein echter Geheimtipp!

Sabrina wirft einen Blick ins Schlafzimmer. „Wie geschmackvoll!“, findet sie.

Kilian ist froh, dass er die Original-Veranstaltungsplakate berühmt-berüchtigter Lederbars aus den 80er Jahren noch nicht aufgehängt hat. Viele davon zeigen ziemlich eindeutige Milieustudien aus der Feder von Tom of Finland.

„Zwei Bäder, welch Luxus!“, schwärmt Sabrina. „Und was kommt hier rein?“ Sie meint ein kleines Zimmer, in dem außer einer Lampe an der Decke noch gar nichts ist.

„Der Hobbyraum“, flunkert Kilian. Tatsächlich will er hier einen Sling installieren, der aber noch nicht angeliefert worden ist.

Er manövriert die neugierige Ziege in die Küche, holt ein Weinglas für sie aus einem der Umzugskartons mit Aufschrift „Küche“ und schenkt ihr Wein ein.

Sie stoßen an.

„Was für eine riesige Küche“, staunt Sabrina. „Induktionskochfelder! Sowas will ich mir auch zulegen. Und der Kühlschrank, ist der mit Eiswürfel-Automat?“

„Bestimmt“, murmelt Kilian. Ihn interessieren an der Küche eigentlich nur der Toaster, die Kaffeemaschine und die Mikrowelle für ein paar Snacks zwischendurch. Für alles andere gibt es doch Restaurants und davon gibt es hier im Westend ein paar wirklich ganz ausgezeichnete. „Lassen Sie uns ins Wohnzimmer gehen.“

Auf dem kurzen Weg ins Wohnzimmer wirft Sabrina noch schnell einen Blick ins Gästezimmer und ins Arbeitszimmer.

„Ist das der neue iMac? Der sieht ja schick aus“, stellt sie neidisch fest.

„Ja, nicht wahr?“ Kilian überlegt, wie er die Nervkuh möglichst schnell wieder loswerden kann. „Kommen Sie mit, ich probiere gerade die Stereo-Anlage aus.“

Die beiden gehen ins Wohnzimmer.

„Ist das ein Dokoupil?“, fragt Sabrina, die gerade das Gemälde mit Godzilla unter der Dusche bewundert, das als oberstes Bild eines ganzen Stapels von Kunstwerken an der Wand lehnt.

„Nein, ein Dahn“, antwortet Kilian, der sich jetzt wieder an seinem Plattenspieler zu schaffen macht. „Den hab' ich Anfang der 80er relativ günstig gekauft. Ich hab' aber auch ein paar Dokoupils, einen oder zwei Pencks, je einen Oehlen und Baselitz und ein bisschen was von Salomé und so weiter. Die Bilder passen aber nicht wirklich zu den Möbeln, fürchte ich. Den Godzilla wollte ich ins Gästezimmer hängen, ansonsten glaube ich, dass ich es mal mit Videoinstallationen probiere.“ Kilian deutet auf den gigantischen Plasma-Bildschirm, den man auch prima als digitalen Bilderrahmen benutzen kann. „Ein deutsch-chinesischer Künstler aus Düsseldorf will ein paar exklusive Arbeiten für mich zusammenstellen.“

„Toll!“, findet Sabrina, die sich übrigens mit Kunst kein bisschen auskennt.

„Passen Sie mal auf!“, ruft Kilian und lässt die Nadel auf die Platte herunter.

Es knirscht laut und knackt und dann setzen auch schon das Schlagzeug, die Streicher und die Bläser ein und dann der pumpende Bass. Alles in wirklich beeindruckender Lautstärke.

„Burn, Baby, burn! Burn, Baby, burn!“

Sabrina verschüttet vor Schreck ihr halbes Glas, dann bewegt sie die Lippen und gestikuliert wild.

Kilian dreht die Lautstärke ein kleines Stück herunter.

„Was ist denn das für ein Lärm?“, kann er sie jetzt rufen hören.

„Disco Inferno. Toller Sound, nicht?“

Y.M.C.A.

Die neugierige Nachbarin ist zum Glück schnell wieder     abgerauscht, nicht ohne Kilian einmal mehr das Versprechen abzuringen, unbedingt zum 18. Geburtstag ihres Filius vorbeizuschauen.

Kilian hat „Behaviour“ von den Pet Shop Boys aufgelegt. Die Platte funktioniert auch bei gedrosselter Lautstärke. Kilian steht auf dem Balkon, trinkt noch ein Glas Wein, pafft seine Zigarre und schaut rüber zu den beleuchteten Türmen seines ehemaligen Arbeitgebers, über denen Baukräne in den dunklen Himmel ragen.

„Tussen!“, macht er verächtlich, als er an Sabrina denkt. Die ist garantiert scharf auf ihn. Aber: keine Chance!

   

Kilian hatte in seinem ganzen Leben überhaupt nur zwei Mal Sex mit einer Frau. Jedesmal eine Katastrophe mit furchtbaren Folgen. Das erste Mal war kurz nach seinem 18. Geburtstag, als ihn sein Vater mit ins Bordell nahm, um ihm zu zeigen, wo der Hammer hängt, wie es in den 70er Jahren so Gang und Gäbe war.

Der junge Kilian war nur mäßig beeindruckt, er wußte schon damals sehr genau, wo für ihn der Hammer hängt. Jedenfalls nicht zwischen den Schenkeln einer Frau.

Wie auch immer, er fing sich bei der Gelegenheit einen ziemlich hartnäckigen Tripper ein und bekam von seinem Arzt eine schmerzhafte Spritze direkt in sein bestes Stück. Fast gleichzeitig starb sein Großonkel an Hirnerweichung als Folge einer jahrzehntelang unentdeckten Syphilis.

Kilian entwickelte daraufhin eine geradezu panische Angst vor Geschlechtskrankheiten und benutzt seither beim AV generell und ausnahmslos Präservative.

Wie auch immer, mit den Frauen war es dann auch gleich für die nächsten 18 Jahre vorbei und Mitte der 70er Jahre, gleich nach dem Abitur, gönnte sich der junge Kilian eine kleine Auszeit im Land der unbeschränkten Möglichkeiten, finanziert durch das kleine Erbe, das ihm sein unglückseliger Großonkel hinterließ.

Er stieg im berüchtigten New Yorker Y.M.C.A. ab und landete schon am ersten Abend in der berühmten Continental Baths Sauna am Central Park. Die Continental Baths hatte eine legendäre Showbühne, auf der zum Beispiel Bette Middler ihre ersten Erfolge feierte.

Was für eine Atmosphäre: Damen der gehobenen Gesellschaft in kostspieligen Nerzroben neben unglaublich attraktiven schwulen Männern, die nur mit knappen Handtüchern bekleidet waren.

Und in der luxuriösen Sauna selbst wurde gefickt als gäbe es kein Morgen! Hunderte geiler Männer cruisten durch die Gänge und konnten sich kaum entscheiden, wer zuerst an die Reihe kommt.

Kilian hat sogar noch ein original Handtuch mit „Continental Baths“-Logo irgendwo in einem Koffer.

Tagsüber trieb sich Kilian oft in den schmutzigen Pornokinos in der gefährlichen 42. Straße herum, in denen im Halbdunkel die unglaublichsten Dinge stattfanden, während auf der Leinwand die bizarrsten Blue Movies aller Zeiten liefen.

Am Abend ging er in die Continental Baths oder eine der anderen luxuriösen Saunen und später, kurz vor Morgengrauen, dann in eine der angesagten schwulen Orgienbars an der Waterfront, ins Eaglesnest, ins Chains, ins God's Rod oder ins meist völlig überfüllte Anvil, der wahrscheinlich abgefahrendsten Lederbar der Welt, auf deren Bühne die wohl perversesten Fickshows des Universums geboten wurden und das Publikum, meist in Cowboy-, Indianer-, Bauarbeiter-, Cop- oder schwarzen Biker-Outfits, eifrig mitmischte.

Einmal blickte er hier im Backroom dem berühmten Regisseur Rainer Werner Fassbinder über die Schulter, wie der gerade seinen linken Ellenbogen im Hintern eines jungen Bodybuilders versenkte. Das Anvil war ein wahrer Hexenkessel schwuler Lust und es kam vor, dass Kilian an einem Abend mit zwanzig oder auch dreißig Kerlen Verkehr hatte. Es war einfach unglaublich!

Und dann die Musik: Disco! Knallige Tanzmusik zu der es sich hervorragend Ficken ließ!

Ein paar Bekannte schleppten Kilian in die schwulen Tanzschuppen in der Christopher Street und er schwoofte die Nächte durch, um dann im Morgengrauen noch schnell in ein paar der dunklen Sexbars vorbeizuschauen. In all diesen Läden wurde gekokst und gesoffen bis zum Umfallen und in einem der etwas besser ausgestatteten Tanztempel gab es sogar einen Poppers-Wasserfall!

Das Studio 54 gab es damals noch nicht, das lernte Kilian erst bei einem seiner späteren Besuche kennen. In den Semesterferien im Sommer fuhr Kilian dann regelmäßig in die Staaten, nach New York oder Los Angeles oder San Francisco oder er besuchte Freunde auf Fire Island oder Key West oder in ihren feudalen Landhäusern an der Ostküste, wo er an ein paar der abgedrehtesten Orgien teilnahm, wie man sie sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen kann.

Was für eine unglaublich geile Zeit!

Als Kilian von seinem ersten Amerika-Urlaub zurückkehrte, brachte er einen prallen Koffer voller Disco-Scheiben aus New York City mit und finanzierte einen Teil seines Studiums indem er in irgendwelchen abgefuckten Frankfurter Discotheken als Disc Jockey arbeitete. Und wenn er nicht selbst Platten auflegte oder auf Männerfang durch die damals noch recht bunte Frankfurter Szene strich, ging er tanzen, tanzen, tanzen. Ins Aquarius, in den alten Sinkkasten am Main oder in die Bhagwan-Disco in Sachsenhausen.

Schon bald hatte er seinen Spitznamen weg, der ihn seither begleitet: Daddy Cool, nach dem Superhit von Boney M. mit dem coolsten Bassriff aller Zeiten und absolut mörderischen Streichern.

Frank Farian, der Produzent und Erfinder der Truppe, nahm ihre Hits im Europa Sound Studio in Bieber auf, das gleich hinter Ost-Frankfurt liegt. Nächtelang konnte man in der Bieberer Rathausgasse das Wummern der Bässe spüren, wenn Farian aufnahm und böse Stimmen behaupteten, der hübsche Sänger mit der schicken Afro-Frisur würde gar nicht selber singen und wäre obendrein noch Bettnässer!

Wie auch immer, als dann Ende 1978 das legendäre Dorian Gray in der Tiefebene des Terminal 1 des Flughafens aufmachte, ging er in Frankfurt zum Tanzen eigentlich nur noch dahin. Drei Dancefloors, der beste Sound der Welt, die besten DJs weit und breit, die beste Lightshow im Umkreis von Tausenden von Kilometern und absolut keine Sperrstunde. Was will man mehr?

Nachdem das Dorian Gray Ende 2000 wegen irgendwelcher Scheiß-Bürokraten geschlossen wurde, ging er überhaupt nicht mehr Tanzen. Höchstens mal ins Blue Angel oder ins Construction Five, aber das auch nur wegen der Männer. Ende 2000 war Daddy Cool allerdings auch schon 46 Jahre alt und machte auf der Tanzfläche trotz Strobolights nicht mehr die beste Figur. Man muss wissen, wann man aufhören sollte.

Seither tanzt Kilian nur noch zu Hause vor dem Spiegel und ist in den angesagten schwulen Tanzschuppen eher im Darkroom oder an der Bar zu finden, seinen Sportwagenschlüssel gut sichtbar neben seinem Gin Tonic-Glas platziert, gutgelaunt und mit dem Fuß wippend schaut er sich dann einen von den Jungs aus, die alle nur für ihn zu tanzen scheinen.

   

Kilian versucht das Fenster seines ehemaligen Büro in der nächtlichen Skyline ausfindig zu machen. Das da drüben im drittobersten Stock in dem rechten der beiden Zwillingstürme müsste es sein. Er knippst ein Foto davon mit seinem iPhone und löscht es gleich darauf wieder.

Er hat viel zu viele Jahres mit viel zu harter Arbeit verschwendet, er braucht kein Foto von seinem Arbeitsplatz, um sich daran zu erinnern.

Gleich nach seinem Studium hatte Kilian bei einer kleinen Frankfurter Bank angefangen. Zielstrebig, fleißig und mit harten Bandagen kämpfte er sich nach oben. Ließ sich erfolgreich von Headhuntern in immer bessere Positionen bei immer namhafteren Bankhäusern abwerben und war in der Wahl seiner Mittel nicht gerade zimperlich, wenn es darum ging, immer weiter die Treppe heraufzufallen.

Kilians große Chance kam unmittelbar nach der Wiedervereinigung, als ihn seine Bank mit einem Koffer voller Geld und einem Mobiltelefon, das so groß und schwer wie eine Autobatterie war, nach Dunkeldeutschland schickte. Im wilden Osten ging damals wirklich alles und Kilian kaufte im großen Stil für seinen Geldgeber ein. Ganze Straßenzüge konnte man damals für ein Butterbrot erstehen! Das war alles so einfach als würde man einem gelähmten Säugling den Schnuller klauen und die doofen Ossis sagten hinterher noch „Dankeschön“, wenn man sie über den Tisch gezogen hatte!

Kaum dass Kilian und seine Kollegen den Osten geplündert hatten, kam schon die nächste große Herausforderung: das World Wide Web. Kilian verzockte einen großen Teil der Gewinne aus den Raubzügen im Osten und konnte seinen Kopf gerade noch durch einen geschickten Arbeitsplatzwechsel aus der Schlinge ziehen, bevor die New-Economy-Blase platzte wie ein billiges Kondom.

Tja, auf einen Sieg folgt stets eine Niederlage. Und umgekehrt.

„C'est la vie, bébé“, wie der charismatische Vorsitzende der Rainbow Group zu sagen pflegte. Die Rainbow Group ist ein sagenumwundener Geheimbund schwuler Banker, dem auch Kilian beigetreten war, um sich dieses weltweite Netzwerk für seine weitere Karriere nützlich zu machen. Die bizarren Initiationsriten der Rainbow Group sind übrigens absolut top secret, und wer darüber auch nur ein Sterbenswörtchen in der Öffentlichkeit verliert, kann damit rechnen, mit dem Gesicht nach unten den Main herabzutreiben!

Kilians nächste Aufgabe war es, als Investmentbanker im schönen neuen Zeitalter der Globalisierung um die Welt zu jetten, was ihm einen irren Spaß machte. Kilian ging auf die Überholspur und schon bald war er einer der ganz großen Spieler im globalen Casino, sein Name erschien häufig in der internationalen Wirtschaftspresse, er galt als menschgewordenes Raubtier und Prototyp des eiskalten Turbo-Kapitalismus und er liebte jede Sekunde davon. Er war erfolgreich, vermögend, intelligent - und verdammt gutaussehend. Er war visionär und fantasievoll. Letzteres vor allem im Bett.

„Keine Rücksicht auf Verluste!“, war das Motto des genialistischen Geldzauberers und er jonglierte im Auftrag der Peanuts Company mit atemberaubenden Beträgen, gewann mal eben dreistellige Millionenbeträge, um schon am nächsten Tag die Hälfte davon wieder bei irgendwelchen hochriskanten Zockereien zu verbaseln. Natürlich dachte Kilian nicht nur an seinen Arbeitgeber, strich ein astronomisch hohes Gehalt ein, kassierte Boni und Dividenden, von denen andere Menschen ein ganzes Leben lang gar nicht schlecht leben können, investierte krisensicher und kaufte schon mal ein paar Ferienappartments auf Gran C. und in Sitges als Altersdomizile.

Kilian hatte wenig Zeit, seinen Wohlstand zu geniessen. Ständig düste er zwischen Frankfurt, Dubai, Moskau, Shanghai, Dublin, London und New York hin und her und litt unter permanentem Jetlag. Er rauchte und trank zuviel und oft hockte er nachts mit seinen stinklangweiligen, stinknormalen Kollegen in irgendwelchen immer gleichen Hotelzimmern und sie bauten mit ihren Platinum Credit Cards das berühmte Logo ihrer Bank aus fünf dicken Kokslinien auf einem Spiegel auf dem Couchtisch nach. Zuerst den Schrägbalken, der von links unten nach rechts oben eilt, um ungebremstes, unaufhaltsames Wachstum zu signalisieren. Dann das Quadrat drumherum, das für Stärke, Sicherheit und Stabilität steht. Und dann: „Wuiii!“