Johannes Möhler
Weggetrieben
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Lektorat: Katja Ernst
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlagbild: mountainberryphoto – iStockphoto
Umschlaggestaltung: Simone Hölsch
ISBN 978-3-7349-9266-7
Für Antje
Für einen Augenblick entgleitet ihm der Boden.
Für einen Augenblick verliert er die Orientierung.
Für einen Augenblick geht er unter.
Der Sog des Wassers ist gewaltig. Es reißt Martin mit, tost um ihn, brüllt, donnert. Doch in seinen Ohren klingt es gedämpft, als ginge ihn das Tosen nichts an. Kopfüber hängt er unter Wasser. Es ist einer jener Momente, in denen die Welt um einen tobt, während Sekunden zu Minuten werden und Gedanken glasklar scheinen. Einer jener Momente, in denen die meisten Menschen panisch würden. Martin hingegen bleibt ruhig. Bringt das Paddel in Position. Dann geht es schnell. Ein Paddelschlag, ein kräftiger Schwung aus der Hüfte und Martin ist wieder oben. Gischt spritzt. Ein Felsen direkt vor ihm. Martin schlägt das Paddel ins Wasser, lenkt das Boot um den Stein. Er findet seine Route wieder. Es geht weiter. Zeit zum Ausruhen bleibt nicht.
Die Felswände sind grau. Oben scheint irgendwo die Sonne. Blauer Himmel, grüne Wiesen und die schneebedeckten Gipfel im Hintergrund. Da sind sie losgefahren. In einer anderen Welt. Es ist keine zehn Minuten her. Hier unten in der Schlucht ist es dunkel. Das Wasser schwarz. Die Felsen farblos glitschig. Nur die vier Boote leuchten in ihren knalligen Farben.
Nach einer Biegung wartet ein Kehrwasser. Hinter einem Fels im Fluss bildet sich ein Wirbel, wodurch das Wasser an dieser Stelle gegen die Strömung flussaufwärts fließt. Diese Kehrwasser sind die einzige Möglichkeit, inmitten des Tosens zur Ruhe zu kommen. Uwe winkt und ruft, sie müssten aussteigen und umtragen. Der Wasserfall vor ihnen stürzt 15 Meter in die Tiefe. Überall Felsplatten. Sie würden zerschmettert. Unfahrbar. Also umtragen. Wildwasser erfordert Mut, auch Wagemut, nicht aber Übermut. Der ist katastrophal, führt zu den schlimmsten Unfällen. Übermut, Leichtsinn und Nichtkönnen. Von allem sind die vier verschont geblieben. Martin, Uwe, Jonas und Thomas.
Unten steigen sie wieder ein. Der anspruchsvolle Teil komme erst, ruft Uwe und spielt mit einer Welle. Erneut packt der Fluss die Freunde. Unwiderstehlich ist seine Kraft. Nichts ist zu hören inmitten des wahnsinnigen Lärms. Gelb leuchtet Jonas, mehr nimmt Martin nicht wahr. In diesem Augenblick ist er ganz bei sich, ganz in seinem Element. Er lacht vergnügt.
Sie erreichen ein kleines Kehrwasser, können miteinander sprechen, die Arme für einen Moment ausruhen. Rechts halten, mahnt Uwe. Jetzt komme die letzte Gefahrenstelle, und die sei gefährlicher als alle anderen zuvor. Sie sei vom Menschen gemacht. Der Zeigefinger ist erhoben. Lehrer Hempel, nur als Sonnyboy. In zügigem Tempo gehe es nun weiter. Nach etwa 200 Metern komme der letzte kleine Wasserfall. Unbedingt rechts halten. Unbedingt. Der Wasserfall sei weder sonderlich hoch noch schwierig. Die Gefahr lauere danach. Das schwarze Loch. Es sei nicht gesichert. Der Ausstieg liege rechts und komme sofort nach dem Wasserfall.
Während Martin auf den letzten Höhepunkt ihrer Fahrt zusteuert, auf den letzten Kick dieser himmlischen Höllenfahrt, hört er Rufe, wilde Schreie. Hoch und schrill übertönen sie das Tosen. Er hält sich rechts, findet den idealen Zugang zum Wasserfall. Für einen winzigen Augenblick thront er auf dessen Kante, bevor es ihn in die Tiefe reißt. Er blickt in das Becken, das sich unterhalb des Wasserfalls gebildet hat. Und am anderen Ende sieht er es, das Loch. Ein schwarzer Schlund, der das sprudelnde Wasser gierig in sich saugt. Lebenssaft für das Wasserkraftwerk unten im Tal. Der Schlund ist gemauert. Ein Torbogen in die Unterwelt. Und an diesen gemauerten Stein klammert sich eine Frau, findet kaum Halt, während das Wasser sie in ihrem Boot mit geballter Kraft nach unten zieht. Sie schreit. Schrill. Das Loch schmatzt. Kurz bevor Martin unten in das Becken eintaucht, entdeckt er einen zweiten Kajakfahrer. Die Augen schrecklich geweitet, nur auf die Frau gerichtet. Hilflos paddelt er eckig vor und zurück.
Kaltes Wasser spritzt auf Martins Wangen. Er taucht ein und wieder auf. Ein kräftiger Schlag links und er gleitet rechts in das Kehrwasser. Die anderen folgen nach, blankes Entsetzen in den Gesichtern. Ratlosigkeit. Sie blicken sich an, starren zu dem Loch. Die Frau schreit nicht mehr. Sie klammert mit letzter Kraft, rutscht ab, packt erneut zu. Ihr Gesicht ist eine Fratze.
Der Mann paddelt vor und zurück, immer in Bewegung, rastlos. Er weiß nicht, was er tun soll. Plötzlich scheint er sich entschieden zu haben, denn er wendet sein Boot, sodass die Spitze zum Loch zeigt. Er will zu der Frau fahren, ihr helfen. Kraftvoll senkt sich das Paddel ins Wasser, um das Boot nach vorn zu schieben. Doch es kommt nicht voran, da Thomas sich ihm in den Weg stellt. Er hat sein Boot vor das des Mannes gefahren. Dieser blickt ihn wirr aus blauen Augen an.
»Das ist Wahnsinn!«, brüllt Thomas gegen das Tosen an. »Du bringst dich nur um! Damit hilfst du ihr sicher nicht!«
Doch der Mann will nicht hören, ist taub gegen alle Worte. Paddelt und schlägt wie verrückt. Die Augen auf die Frau gerichtet. Alles zur Frau gerichtet. Sein ganzes Streben. Thomas steht ihm im Weg und weicht nicht von der Stelle. Uwe schweigt. Er sitzt still da. Paralysiert. Martin hat bereits das Ufer erreicht, nimmt seinen Wurfsack mit der Leben rettenden Leine und hastet über glitschig-nasse Steine, bis er nahe genug am schwarzen Schlund ist. Die Finger der Frau finden keinen Halt mehr. Sie rutscht immer wieder ab. Die Frau schreit. Knöchel treten weiß hervor. Martin sieht es genau. Er bindet sich das Seilende um und wirft den Sack in den Fluss. Patsch. Neonrot leuchtet er wenige Meter vor der Frau, wird von den Wassermassen zum Schlund getrieben. Jetzt ist das rettende Seil direkt bei ihr. Sie muss nur zupacken, doch sie klammert sich an das nasse Mauerwerk, will es nicht loslassen.
»Das Seil!«, schreit Martin.
Die Frau reagiert nicht. Ihre Lippen sind geschlossen. Sie sieht ihren Mann an. Es ist ein ruhiger Blick inmitten tosender Fluten. Dann verlieren ihre Fingerkuppen den letzten Halt. Der Schlund packt zu. Gnadenlos. Schwarz. Die Frau ist weg. Kein Schrei mehr. Nur das Rauschen des Wassers.
Martin hält das Seil in den Händen. Nutzlos geworden. Er glotzt zum Loch, das schwarz und leer ist.
Der Mann ist erstarrt. Reglos sitzt er in seinem Boot. Leere Blicke aus gebrochenen Augen. Er schaut zum Loch. Leblos. Tot. Dann schließt er die Augen.
Martin fuhr hoch. Er keuchte, blinzelte irritiert zum Fenster. Warme Sonnenstrahlen fielen herein und ließen den Staub tanzen. Seine Träume waren wie pomadiger Glibber. Sie klebten an ihm und wollten nicht verschwinden, auch dann nicht, als er wach war. Er streckte die Füße unter der Decke hervor, tastete mit ihnen nach seinen Hausschuhen, die an ihrem Platz vor dem Nachtkästchen standen, und verließ das zerwühlte Bett seiner schlechten Träume.
Schwankend stolperte er in die Dusche. Eiskalt. Warm. Eiskalt. Der Schauer ließ sich nicht vertreiben. Also warm. Dampfend strömte das Wasser über seinen müden Körper. Er griff nach dem Waschlappen und wusch sich gründlich, doch der Traum ließ sich nicht abwaschen.
Quietschend wischte er ein Stück des beschlagenen Spiegels frei. Mein Gott, er sah aus, als habe er die halbe Nacht durchgefeiert. Dabei war er gestern um halb elf ins Bett gegangen. Und sie waren gleich eingeschlafen, hatten keinen Sex gehabt, nicht einmal gekuschelt. Martin rasierte sich und zupfte das kurze Haar mit Gel säuberlich zurecht. Wenn er heute erst einmal auf dem Wasser wäre, würden die Augenringe schon verschwinden. Martins Spiegelbild lächelte. Er lächelte zurück. Dann ging er nach unten in die Küche, wo Sabine, seine Frau, bereits am Frühstückstisch saß.
»Gut geschlafen?«, fragte sie, ohne von der Zeitung aufzublicken. In ihrer Rechten hielt sie ein Marmeladenbrötchen. Kaffee dampfte aus ihrer Tasse. Das blonde Haar hatte sie streng nach hinten gebunden, ein Pferdeschwanz, vorn eine Strähne, die ihr ins Gesicht fiel. Die weiße Bluse saß perfekt.
»Derselbe Traum wie seit Wochen«, brummte Martin.
Sabine blickte auf. Ihre grau umränderten Augen waren nicht mehr wegzuschminken. Dennoch sah sie gut aus. Ihre blauen Augen lächelten ihn milde an. »Der lässt dich nicht los, was?«
Martin wollte antworten, irgendwas missmutig brummen. Aber was sollte das bringen? Dieselbe Frage, dieselbe Antwort, wie seit Tagen. Er gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange und ging zur Kaffeemaschine.
»Ich werde morgen Abend erst spät aus Berlin zurück sein«, sagte Sabine.
Martin antwortete nicht. Bedächtig schenkte er sich Kaffee in seine Tasse. Sabine verreiste am Wochenende häufig beruflich. Die Zeiten, in denen ihm der Abschied schwer fiel, die Zeiten, während derer er sie am Wochenende vermisste und an nichts Freude finden wollte, waren lange vorbei. Nun reiste sie also wieder nach Berlin. Wegen irgendeiner Präsentation. Er wusste es nicht genau.
»Das ist okay, Liebling«, sagte Martin und setzte sich ihr gegenüber. »Ich bin heute sowieso den ganzen Tag auf dem Wasser und morgen werde ich die Gartenarbeit genießen.« Er grinste seine Frau gequält an. Sie wusste genau, wie sehr er jegliche Arbeit im Garten hasste.
»Wo werdet ihr paddeln?«
»Auf der Wiesent. Es wird ein Familienausflug. Mit Kindern und allem Drum und Dran. Wird wohl eher ein gemütlicher Tag«, sagte Martin.
»Wer wird alles dabei sein?«, fragte Sabine. Es klang nach aufrichtigem Interesse.
»Ach, die üblichen«, antwortete Martin rasch und so beiläufig wie möglich. »Uwe mit seinen Kindern, Jonas mit Kindern, wenn sie an diesem Wochenende bei ihm sind, Manni, Julia, Therese, und ich weiß nicht, wer noch.«
Ein Schatten huschte über Sabines Gesicht. Nur für einen winzigen Augenblick, doch Martin hatte ihn wahrgenommen.
»Wann musst du los?«, fragte er hastig. »Soll ich dich zum Bahnhof bringen?«
»Das wäre nett. In zehn Minuten fahren wir. In Ordnung?«
»Es ist mir eine Ehre«, sagte Martin und machte eine kleine Verbeugung.
Sabine stellte ihre Tasse ab, fuhr sich durchs Haar und überprüfte den Pferdeschwanz, der noch immer perfekt saß. Dann hob sie zwei Ketten, die neben ihr auf dem Tisch lagen, in die Höhe. »Welche soll ich nehmen?«
»Die da«, brummte Martin und zeigte auf die Kette in ihrer rechten Hand. Eine langweilige Perlenkette. Die andere war bunter, sah lebendiger, aber auch billiger aus. Eigentlich war es Martin egal. Während Sabine im Bad verschwand, blieb er am Tisch sitzen. Ihm war flau. Der Stuhl wankte. Martin hatte das Gefühl zu schweben. Gleich würde er stürzen und fallen. Er kniff die Augen fest zusammen, tastete nach dem Stuhl unter sich und versicherte sich, dass alles um ihn herum an seinem Platz war. Das war es. Doch er wurde das unbestimmte Gefühl nicht los, dass es nicht immer so bleiben würde.
Unruhig kaute Martin an seinen Fingernägeln. Er kam sich ertappt vor. Immer noch. Zum wiederholten Mal blickte er zu Uwe hinüber und suchte seinen Blick. Suchte nach Spott in seinen Augen, einem süffisanten Grinsen, einem verschwörerischen Lächeln. Aber da war nichts. Uwes Augen lachten wie üblich, er scherzte und schäkerte. Alles schien wie immer zu sein. Und dennoch war Martin sich sicher, dass er sich verraten und Uwe es bemerkt hatte. Er fühlte sich wie damals als Teenager, als er das Mädchen von Seite eins unter der Schulbank angestarrt hatte und dabei von seinem Lehrer überrascht worden war. Als müsste er sich versichern, kein Teenager mehr zu sein, fuhr er sich mit der Hand über die Wangen und war froh, keine Pickel zu spüren.
Wenige Stunden zuvor waren sie noch auf der Wiesent gepaddelt, jenem kleinen Fluss inmitten der Fränkischen Schweiz, auf den man sich an einem heißen Samstag im Sommer besser nicht wagen sollte, da er total überlaufen war. Uwe hatte getobt und geschimpft. Erst komme das Fressen, dann die Moral, tönte er und fügte lautstark hinzu, dass diese verdammten Kajakverleiher wohl jedem Depp ein Boot vermieten würden. Alle mussten sie grinsen, nur Uwe nicht.
Uwe hatte natürlich recht. Selbst seine kleinen Söhne, gerade einmal sechs und acht Jahre alt, beherrschten ihr Boot besser als all diese Schönwetterpaddler. Doch deren Unvermögen war nicht das Schlimmste, und bald hatte Uwe vollends schlechte Laune. Mit hochrotem Kopf und wedelndem Paddel zeigte er auf die Böschung, wo das hohe Gras niedergedrückt war, offensichtlich plattgewalzt von Kajakfahrern, die das Ufer als Rutschbahn missbraucht hatten. Unten im Wasser, an einem kleinen Ästchen verfangen, trieb ein kaputtes Ei in der leichten Strömung auf und ab. Der Kopf eines noch nicht geschlüpften Vogels hing heraus. Er war tot. Daneben schwappte schwarzes Wasser aus einem schwimmenden Einweggrill.
»Die gehören alle strafrechtlich verfolgt!«, grummelte Uwe und paddelte missmutig weiter.
Die Stimmung hatte ihren Tiefpunkt erreicht. Vorläufig.
Uwe war ihr Vereinsvorsitzender. Gewiss, ein eitler Pfau war er, aber auch ein vorbildlicher Kanute. Einer, der Rücksicht auf die Natur nahm, und wer dies in seinem Beisein nicht beherzigte, sollte besser zu Hause bleiben. Während Martin grübelnd in seinem Boot saß und über Uwes Wutausbruch nachdachte, kam Julia zu ihm herangepaddelt und riss ihn mit nassen Spritzern aus seinen Gedanken.
»Uwe übertreibt mal wieder ein bisschen. Lass uns nicht von ihm den Spaß an diesem herrlichen Tag verderben!«, rief sie, strahlte ihn aus leuchtenden Augen an und zog mit schnellen Schlägen an ihm vorbei.
Da ergriff auch Martin sein Paddel und setzte Julia nach. Eine wilde Verfolgungsjagd begann. Martin lachte und gluckste und spritzte und fühlte sich wie ein kleines Kind. Ein glückliches kleines Kind. Nicht zum ersten Mal hatte Julia seinen Tag gerettet.
Julia.
Sie war noch nicht lange dabei, vielleicht eineinhalb oder zwei Jahre, doch sie fühlte sich in ihrem Kajak so sicher und wohl, als habe sie ihr ganzes Leben nichts anderes gemacht als gepaddelt. Für das Medizinstudium war sie aus dem tiefsten Pott nach Franken gekommen. Jetzt wohnte sie in Nürnberg und lachte über das piefige Provinzgehabe großstädtischer Mittelfranken. Dennoch fühlte sie sich wohl hier. Das war nicht zu übersehen.
Wenig später tollten die Kinder ausgelassen über grüne Wiesen. Die Sonne brannte vom Himmel, während Fliegen träge durch den Schatten brummten. Stumm saßen sie beieinander und aßen mitgebrachte Brote, Radieschen, die schon etwas holzig waren, und Kekse, die Jonas wie bei jedem gemeinsamen Ausflug hervorgezaubert hatte. Martin beobachtete Jonas, der glücklich lächelte. Er hatte seine drei Kinder um sich, sah ihnen zu, wie sie auf der Wiese und am Fluss spielten. Waren die Kinder bei ihrer Mutter, wurde aus Jonas ein anderer Mensch. Er wurde missmutig, einsilbig. Jetzt hingegen leuchteten seine etwas zu runden Wangen fröhlich rot. Dazwischen erhob sich die Nase, die schon Anlass mancher Stichelei gewesen war. Knollen-Jonas war einer der harmloseren Spitznamen. Doch Jonas konnte über sich mindestens ebenso gut lachen wie über andere. Nun zog er aus einer Tupperbox grüne Trauben hervor, stand beschwingt auf und ging zu Julia hinüber, die etwas abseits in der Sonne brütete. Ihr Neoprenshirt hatte sie ausgezogen, nun lag sie mit nacktem Oberkörper, abgesehen von einem knappen Bikinioberteil, im Gras. Verstohlene Blicke – von allen Männern. Martin sah es genau. Er selbst gab sich allergrößte Mühe, den anderen seine Blicke zu verbergen, was ihm nur leidlich gelang. Der flache Bauch, der sich in regelmäßigem Takt langsam hob und senkte, der Bikini, bei dem man mehr erahnen konnte, als einem lieb war, die schlanken Beinen mit den dennoch kräftigen Waden. Er musste wegschauen, ehe seine Gedanken, die schmutzigen, ihn verraten würden. Die eng anliegende Neoprenhose verbarg nicht allzu viel.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Martin alles genau. Wie Jonas Julia ein paar Trauben reichte. Wie sie sie lächelnd annahm. Wie die beiden miteinander scherzten und kicherten. Jonas! Jonas, der im Umgang mit Frauen stets so unbeholfen wirkte. Mit einem Anflug von Eifersucht sah Martin, wie Jonas eine Traube auf Julias Bauch legte, sie anstupste und in Richtung ihres Bauchnabels rollen ließ. Martin ertappte sich dabei, wie er aufstehen und sich zwischen die beiden setzen wollte, um diesem neckischen Spiel ein Ende zu bereiten. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe und starrte wohl zu offensichtlich zu Jonas und Julia hinüber. Denn jetzt fiel sein Blick auf Uwe, der zunächst ebenfalls Jonas und Julia beobachtet hatte, nun aber zu ihm hinüberschaute. Die Sonnenbrille hatte er sich ins Haar geschoben. Er grinste. Schief, ein wenig hämisch. Und Martin wusste, dass er sich ertappen lassen hatte.
Dann bemerkte Julia, den Bauch mit mehreren Trauben bedeckt, Martins kritischen Blick. Sie zwinkerte ihm zu, lachte laut auf und Martin wurde es schwindlig. Es war nicht zu übersehen, wie sehr sie dieses Spiel genoss.
Nun saßen sie vor dem Vereinshaus und Martin spürte noch immer Uwes wissenden Blick auf sich. Ertappt. Dummer Teenager!
Er glotzte zu den hohen Gemäuern hinter sich. So oft er hier auch ein und aus ging, er konnte sich nicht mit ihnen anfreunden. Wollte sich nicht anfreunden. Ein faschistoides Bauwerk war es, Ausdruck schlimmsten Größenwahns. Und sie hatten in seinem Kellergewölbe ein Zuhause gefunden. Es war grotesk. Während andere Kanuvereine ihr Vereinshaus in idyllisch gelegenen, gemütlichen, hölzernen Bootshäusern hatten, lagerten ihre Boote winzig klein unter übergroßen Steinbögen. Eine hohe graue Tür markierte den unscheinbaren Eingang. Drinnen war es zumindest schattig und kühl. Ging man nach rechts, führten wenige Stufen empor zu einem kleinen Vereinslokal. Schlug man die andere Richtung ein, gelangte man in große Kellerräume, in denen früher die Nazis ihre Gerätschaften für monströse Parteitage untergebracht hatten und heute die Kanuten ihre Boote lagerten. Einen alten Aufzugsschacht hatten junge Mitglieder zu einem engen Kletterturm umgebaut, um auch im Winter in Form zu bleiben. Martin blickte zu Uwe und Tessa, die Kohle in einem Grill angezündet hatten. Grauer Qualm stieg auf, und bald würde der leckere Duft gegrillten Fleisches durch die Luft ziehen. Hier grillten sie, während auf der anderen Seite des Reichsparteitagsgebäudes verstörte Besucher die Ausstellung über die Verbrechen der Nazis und die Rolle, die die braune Stadt Nürnberg dabei gespielt hatte, verließen.
Uwe flirtete ungeniert mit Tessa am Grill. Julia duschte noch. Jonas und Martin tranken gierig und setzten die Bierflaschen nahezu synchron ab. Etwas abseits saß Manni, seine Unterarme lagen schwer auf dem Biertisch. Missmutig, ja, fast bösartig blickte er zu Uwe. Jeder im Verein wusste, dass sich die beiden nicht leiden konnten. Irgendwann blies er seine runden Backen auf, atmete schwer aus, erhob sich und verabschiedete sich wortkarg. Als er mit seinem Auto um die Ecke verschwunden war, eilte Uwe zu Jonas und Martin, nahm ihnen gegenüber am Tisch Platz, lehnte sich weit hinüber und winkte die beiden verschwörerisch näher zu sich heran. Zu Martins Erleichterung nahm er seine tiefschwarze Sonnenbrille ab. Er fand es unerträglich, sich winzig klein in den Brillengläsern gespiegelt zu sehen, wenn er mit Uwe sprach. Uwe kaute auf einem Bügel und musterte seine Freunde lange.
»Ihr glaubt nicht, was mir vorgestern Nacht passiert ist«, sagte er schließlich, wobei seine Augen funkelten und seine Mundwinkel sich zu einem süffisanten Grinsen verzogen. »Ich will ins Bett gehen und vorher die Rollläden bei uns im Wohnzimmer herunterlassen. Was seh ich da? Schleicht da wer durch unseren Garten. Ich denke mir, das kann doch gar nicht sein. Was will jemand bei uns nachts um elf im Garten? Ich tu also so, als würde ich das Wohnzimmer verlassen, lösche das Licht und kehre im Dunkeln ans Fenster zurück. Ich warte nicht lange, da löst sich der Schatten von einem Baum, schleicht über die Terrasse, schaut sich ein paar Mal neugierig um, glotzt zum Fenster, hinter dem ich stehe, klettert über den Zaun und ist weg.«
Erwartungsvoll schaute Uwe seine Freunde an. Die blauen Augen blitzten.
»Ja, und?«, fragte Jonas ungeduldig. »Hast du erkannt, wer es war?«
»Ihr werdet es nicht glauben«, sagte Uwe und grinste.
»Na, sag schon!«
Uwe lehnte sich noch weiter über den Tisch, sodass er Martin und Jonas ganz nah war. »Manni!«, flüsterte er.
Martin zog die Augenbrauen zusammen. »Manni?«, fragte er. »Was wollte der in deinem Garten?«
Uwe lehnte sich zurück und schlug sich klatschend mit den Händen auf die Oberschenkel. »Tja, das würde ich selbst zu gerne wissen.«
»Hast du ihn denn nicht darauf angesprochen?«, fragte Jonas.
»Wieso sollte ich? Ich weiß zwar nicht, was er wollte, aber ich weiß, dass er in meinem Garten war. Und er weiß nicht, dass ich das weiß. Dadurch habe ich einen Trumpf im Ärmel.«
Uwe lachte, doch Jonas sah das nicht so entspannt. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Manni verhält sich in letzter Zeit ziemlich seltsam. Ich finde das nicht so lustig.«
Martin grübelte. Manche im Verein hatten ihre lieben Probleme mit Uwe. Für die Kinder war er ein Star, für die Frauen auch, was manchen Männern nicht gar so gut gefiel. Uwe wiederum tat nichts, um entstandene Wogen zu glätten. Er schäkerte und flirtete ungeniert, lachte viel und herzlich und ließ mit seiner einnehmenden Art manchen Ehemann blass aussehen. Martin wusste nicht, ob die Männer sich ernsthaft um die Treue ihrer Frauen Sorgen machen mussten. Er wollte es auch nicht wissen. Doch manches Mal ertappte er sich dabei, dass er neidisch auf Uwe war, wenn er Geschichten erzählte, wobei ihm alle (Martin eingeschlossen) an den Lippen hingen und bei der Pointe herzhaft lachten. Nur Manni lachte nicht.
»Er will dich als Vereinsvorsitzenden verdrängen. Das weißt du ganz genau«, sagte Martin. »Und er hat bereits die eine oder andere Lügengeschichte über dich verbreitet, nur um dich in ein schlechtes Licht zu rücken. Mir wäre überhaupt nicht wohl, wenn ich wüsste, dass er in meinem Garten herumschleicht.«
»Jaja, keine Sorge«, winkte Uwe ab. »Aber nun was anderes: Habt ihr beide Lust auf ein Bier heute Abend auf meiner Terrasse? Der Club spielt. Wir können den Fernseher nach draußen stellen und einen richtig schönen Männerfußballabend machen. Was haltet ihr davon?«
Jonas räusperte sich. »Eigentlich sehr gerne, aber du weißt doch, dass ich an diesem Wochenende die Kinder habe. Da kann ich nicht einfach verschwinden.«
»Ja, das ist klar«, sagte Uwe und wandte sich an Martin. »Und wie sieht’s bei dir aus?«
Martin wich Uwes Blick aus und sah verlegen auf die rote Tischplatte, deren Lack abblätterte. »Ich … ich kann heute nicht«, sagte er leise. »Ich geh mit Sabine ins Kino.«
»Ich dachte, Sabine ist geschäftlich verreist?«, fragte Uwe.
»Was? Wie kommst du darauf?« Martin spürte, wie seine Ohren heiß wurden.
»Das hast du letzte Woche zumindest gesagt.«
»Hab ich das?« Hastig schaute Martin auf seine Armbanduhr. Sie zeigte kurz vor zwölf. Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht.
»Da hat sich was geändert«, fügte er schnell hinzu. »Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät.«
»Welchen Film werdet ihr euch anschauen?«, fragte Jonas.
»Ach du, wir gehen einfach ins Kino und schauen spontan, was läuft. Das ist lustiger.«
Gerade als Martin sich erheben wollte, trat Julia mit feuchtem Haar aus dem Vereinsheim. Mit wiegenden Schritten ging sie an den Biertischen vorbei, winkte zum Abschied und rief: »Hat Spaß gemacht mit euch, Jungs. Bis bald!«
Sie warf Martin einen tiefen Blick zu, lächelte, dann schwang sie sich auf ihr Rad und war wenig später aus dem Blickfeld der Männer verschwunden. Jonas schaute ihr wehmütig hinterher, schüttelte langsam und bedächtig seinen Kopf mit dem dünner werdenden Haar. »Was für eine Frau!«, murmelte er.
»He, du bist noch verheiratet!«, lachte Martin und boxte Jonas mit dem Ellbogen in die Seite.
»Ja, noch. Noch bin ich verheiratet. Aber Monika macht ernst und treibt die Scheidung voran«, brummte Jonas und nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche.
»Lass trotzdem die Finger von den jungen Dingern. Die bringen dir kein Glück. Glaub mir, Jonas! So, ich muss los. Das Kino wartet.«
Er ließ das Kino rechts liegen und ging über eine kleine Hängebrücke, die über die Pegnitz führte. Der Fluss floss ruhig dahin. Unschuldig spiegelte sich das Mondlicht auf der Wasseroberfläche. Nein, es waren nur die Straßenlaternen, ihr Glanz war jedoch mindestens ebenso schön. Die Nacht war lau. Ein Spielplatz, der sich auf einer Insel zwischen zwei Flussarmen befand, war von halbstarken Jugendlichen erobert worden. Ihre vulgären Witze und ihr dumpfes Lachen dröhnten zu ihm herüber. Martin grinste. Vor 20 Jahren hatte er dort gesessen, das Unverständnis der Alten auf sich gezogen und mit pseudolustigen Sprüchen versucht, den anderen zu gefallen. Rasch ging er weiter. Die Jungen waren ihm unangenehm. Sie erinnerten ihn an schöne Zeiten.
Er überquerte eine weitere Brücke und erreichte den nördlichen Teil der Altstadt. Er suchte das Haus, das er längst nicht mehr zu suchen brauchte, klingelte und drückte die Tür auf, als wenige Sekunden später der Summer brummte.
Sie trug ein ärmelloses Sommerkleid. Unschuldiges Weiß auf braun gebrannter Haut. Das dunkelblonde Haar hing über die rechte Schulter. Sie war ungeschminkt wie fast immer. Wozu hätte sie auch Schminke gebraucht? Wahrhaft schöne Frauen müssen sich nicht schminken, außer sie wollen im Einheitsbrei gleichartiger Make-up-Masken untergehen. Barfuß empfing sie ihn. Ihre tiefblauen Augen schauten ihn von unten herauf an – kindlich, naiv, verführerisch –, während ihre schmalen Lippen ein kesses Grinsen formten.
Martin konnte nicht anders. Ohne ein Wort der Begrüßung packte er sie an ihren schmalen Hüften, zog sie grob zu sich heran und küsste sie, als wäre dies ihr letzter und nicht ihr erster Kuss an diesem Abend. Sie erwiderte seinen Kuss, er fühlte ihre Zunge, es kribbelte in seinem Unterleib. Dann machte sie sich los, schaute ihm tief in die Augen und strich ihm über die Brust.
»Komm erst mal rein«, flüsterte sie, nahm ihn an der Hand und zog ihn in ihre kleine Studentenwohnung. Das Licht in dem Ein-Zimmer-Appartement war gedämpft, die Vorhänge zugezogen. Auf dem Esstisch, der gerade mal für zwei Personen Platz bot, brannten drei Kerzen. Ihr Schein warf tanzende Schatten an die Wand: Die Stehlampe bog sich, das Bücherregal wiegte sanft hin und her. Die schweren Bücher, die es in sich trug, schienen ihm keine Last zu sein. Dick und grün standen sie aufgereiht darin – Einführungsbücher in einzelne Fachbereiche der Medizin. Die Einrichtung war frauenuntypisch karg. Kaum Bilder an der Wand oder auf dem Nachttisch neben dem großen Bett, keine Staubfänger auf dem Fensterbrett. Dennoch war es harmonisch und gemütlich eingerichtet.
Martin stellte sich neben Julia, die in der engen Kochnische damit beschäftigt war, Trauben zu waschen und auf einen Teller zu legen. Sanft küsste er sie in den Nacken, schmeckte ihre Haut, roch ihren Duft. Vanille. Er gab ihr die Weinflasche, die er mitgebracht hatte. Barón de Ley Gran Reserva. Er hatte keine Ahnung, ob es sich um einen guten Wein handelte. Jedenfalls war er teuer gewesen.
Sie saßen sich an dem Tisch gegenüber, der so klein war, dass sich ihre Beine berührten. Julia nippte an ihrem Weinglas und bot Martin Trauben an. Sie erinnerten ihn an das frivole Spiel, mit dem sie sich am Nachmittag mit Jonas vergnügt hatte. Auf seine Frage, weshalb sie das getan habe, winkte sie lächelnd ab und meinte, das solle er mal ihre Sorge sein lassen. Abgewürgt. Ohne ihren Blick von ihm zu wenden, lehnte sie sich zurück, überschlug die Beine, wobei ihr Kleid ein wenig nach oben rutschte, und spielte mit ihrem Weinglas. Es war sie, die bestimmte, über was geredet wurde. Sie würgte ihn ab, wenn ihr danach war. Sie war die Überlegene. Martin störte es nicht. Im Gegenteil, er genoss es und wollte sie dann umso mehr. Mit ihren dünnen Fingern griff sie nach einer Traube, fuhr mit ihr über seine Lippen, zog sie zurück, wenn er nach ihr schnappen wollte, spielte mit ihm, er ließ mit sich spielen. Dann führte sie die Traube an ihren eigenen Mund, öffnete ihn und schob die grüne Frucht langsam und genüsslich zwischen ihren Lippen hindurch. Martin glühte. Sein Unterleib brannte. Doch blieb er ruhig sitzen. Überlegen wirken, sich keine Blöße geben, die Spannung erhalten und ihr nicht zeigen, dass er hoffnungslos verloren war. Sie wusste es wahrscheinlich ohnehin, sah es in seinen Augen, hörte es an seinem kurzen Atem, seinem schnellen Sprechen. Aber dennoch …
Martins Handy vibrierte. Es war Sabine, das wusste er. Er ließ es klingeln.
Julia erzählte von ihrem Studium, dass es stressig war, viel zu lernen. Er hörte nicht genau hin. Sie würde es schon schaffen, meinte sie, man könne bei den Klausuren recht gut abschreiben und den Profs schöne Augen machen. Sie erwähnte irgendeine Prüfung in Anatomie, sprach von Knochen, von denen er nicht wusste, dass er sie besaß, von Nerven, deren Namen zu lernen ihm Schmerzen bereiten würde. Er hörte zu, ohne zuzuhören, lauschte und nickte, lächelte, wenn er es für angebracht hielt. Nicht die Bohne interessierte ihn, was sie erzählte. Wäre sie seine Frau gewesen, er hätte sie längst brüsk unterbrochen. Doch hier war alles anders. Er betrachtete ihren Mund, der sich wunderschön verformte, wenn Laute aus ihm drangen, die er nicht wahrnahm. Er spürte ihre Beine, die gegen die seinen stießen. Sie suchten sich, sie strichen aneinander, um dann wieder zurückzuweichen, nachzurücken, sich wiederzufinden. Ein Spiel, so leicht und unbeschwert, scheinbar gelenkt von zufälligen Berührungen, tatsächlich gesteuert von wilder Begierde, die brodelnd unter der Oberfläche kochte.
Irgendwann meinte Julia, sie wolle Martin nicht mit ihrem Studium langweilen, stand auf, setzte sich auf seinen Schoß und gab ihm einen Kuss. Sie knöpfte langsam sein Hemd auf, küsste seinen Hals, seine Brust, die Brustwarzen, wanderte seinen Bauch hinunter, verharrte an seinem Bauchnabel, spielte mit ihrer Zungenspitze darin. Martin schloss die Augen. Seine Erregung konnte er schon lange nicht mehr verbergen. Julia stand auf, ging zum CD-Player, drückte auf Play, woraufhin leise Töne aus den Boxen drangen. Sie setzte sich auf das Bett, schlug ein Bein über das andere und lockte ihn mit dem Zeigefinger zu sich. Martin folgte ihr augenblicklich.
Die Glocken irgendeines Kirchturmes schlugen 10 Uhr. Es war ruhig in der Stadt. Martin genoss diese Momente. Hier und da suchten ein paar japanische Touristen, tief über ihre Straßenkarten gebeugt und – um allen Klischees zu entsprechen – mit Fotoapparaten behängt, den Weg zur Burg. Die großen Menschenmassen hingegen, die sich an einem Samstag durch die Straßen der Altstadt schoben, schlummerten am Sonntagmorgen noch in ihren Betten oder auf Kirchenbänken. Und wenn sie nicht in ihren heimischen Betten geschlafen hatten, trieb sie nun eine innere Uhr nach draußen, um den Weg nach Hause zu finden, ehe jemand Verdacht schöpfen konnte. Martin musterte ihm entgegenkommende Spaziergänger. Sie wirkten erholt, zufrieden. Ob sie die Nacht wohl auch in einem Bett verbracht hatten, in dem sie nicht hätten liegen sollen? Martin hatte Freude daran, sich bei jedem Passanten vorzustellen, wie die dazugehörige Affäre wohl aussehen mochte. Es waren nicht immer schöne Bilder, die sich ihm auftaten.
Anders bei ihm, denn Julia war schön. Martin blieb auf einer steinernen Brücke stehen, spürte die warme Morgensonne in seinem Gesicht und schloss die Augen. In Gedanken wanderte er mit seinen Händen Julias Körper hinab, fühlte ihre straffe Haut, die Hüftknochen, die leicht heraustraten, den durchtrainierten Hintern, der ihn willenlos machte, strich über das kurzrasierte, rötlich schimmernde Haar, das ihre Scham bedeckte, über die drei kleinen Muttermale an ihrer Hüfte, die ein magisches Dreieck bildeten, über die kleinen, festen Brüste. Martin lächelte. Das Wasser der Pegnitz unter ihm glitzerte herrlich. Welch ein schöner Tag. Er fühlte sich gut. Er fühlte sich jung. Stark. Begehrenswert. Beschwingt ging er weiter. Das schlechte Gewissen Sabine gegenüber plagte ihn nicht mehr. Er hatte es längst abgelegt. Julia tat ihm gut. Sie zeigte ihm, dass das muntere Leben noch nicht vorüber war, dass er mit seinen 38 Jahren kein Mann war, dessen beste Jahre bereits vorbei waren. Dank ihr war er zufriedener. Vielleicht rettete Julia damit seine Ehe. Sabine konnte ihr also dankbar sein. Dennoch durfte sie natürlich nie etwas von seiner Liaison erfahren. Denn das wäre wohl das Ende ihrer Ehe.
Am Hauptbahnhof stieg er in die Tram. Reglos vor sich hin starrende Gesichter. Ohne Ausdruck. Wenn die Menschen sich in eine Straßenbahn setzten, hörten sie für die Dauer ihrer Fahrt auf zu leben. Machten eine kleine Pause. Batterie raus. Ziellos starren. Dann, am Ziel angelangt, Batterie wieder rein und im Dauertrott weiter durchs Leben.
Fliegerstraße. Er stieg aus und war wenige Minuten später zu Hause.
Tomaten gepflückt. Blumen gegossen. Den Hasen gefüttert. Weshalb hatten sie eigentlich einen Hasen, wo sie doch keine Kinder hatten? Gartenarbeit war ihm ein Graus. Martin brachte sie schnell hinter sich. Er schwitzte, aber er fühlte sich gut. Neugierig linste er zum Nachbarn hinüber. Eine straff gespannte, dicke Kugel lachte ihm und der Sonne entgegen. Darunter dünne Beine, darüber ein dünner Kopf. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der liebe Herr Nachbar durch einen Herzinfarkt das Zeitliche segnen würde. Martin wüsste nicht einmal, wen er dann betrauern müsste. Der Nachbar hatte für ihn keinen Namen. Er hieß einfach Nachbar. Man war sich fern und doch so nah. Die Häuser schmal, die Gärten ebenfalls, saß man aufeinander, die Zäune dünn, das Gehör noch gut, wusste man allerhand, was in den Familien rundum vor sich ging. Dennoch waren es Fremde.
Freunde hatte Martin in der Nachbarschaft keine. Es gab prinzipiell wenig Menschen, die ihm etwas bedeuteten. In der Kirche, in die er sonntags manchmal ging, sprach er mit niemandem. Bei der Arbeit wurde lediglich an der Oberfläche gekratzt. Seine Eltern wohnten zwar ganz in der Nähe, dennoch sah er sie selten. Seine Freunde waren im Verein. Allein dort. Ohne den Verein wäre er nichts. Wenn er im Kajak saß, war er ein anderer Mensch. Dort konnte er endlich einmal zeigen, dass er mehr war als bloßer Durchschnitt. Im Kajak und bei Julia.
Sein Handy klingelte. Martin wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging nach drinnen, wo es angenehm kühl war. »Sabine« leuchtete auf dem Display. Er nahm ab. »Hallo, Schatz.«
»Ich habe mich eben auf den Rückweg gemacht. Der ICE ist gerade abgefahren. In fünf Stunden bin ich da. Holst du mich vom Bahnhof ab?«
»Ja.«
»War es schön beim Paddeln auf der Wiesent?«
»Hm«, brummelte er zustimmend.
»Habt ihr abends noch etwas gemacht?«
»Hm.«
»Und was?«
»Nichts Besonders.«
»Ich hab versucht, dich anzurufen. Sowohl auf dem Festnetz als auch auf dem Handy.«
»Hab’s heute Morgen gesehen. ’tschuldigung.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Jaja. Was soll schon sein?«
Pause.
»Na, dann bis in fünf Stunden.«
»Ja, bis später. Gute Fahrt.« Martin legte auf.
Er duschte. Lang und heiß. Befriedigte sich selbst und dachte an Julia.
Nackt stand er vor dem Spiegel. Dafür, dass er bald die 40 erreichte, hatte er sich gut gehalten. Das Kreuz war breit, der Bauch flach, die Brust muskulös. Die Beine jedoch verrieten sein Alter. Blaue Adern krampften. Die Schläfen ergrauten. Sabine sagte, das sähe gut aus. Julia sagte, es wäre sexy. Er fuhr sich über die Nase. Sie war zu groß und außerdem krumm. Wenn sie nicht wäre, könnte er zufrieden mit sich sein. Doch sie war nun mal da.
Der Kühlschrank war brav. Er kühlte sein Bier. Es zischte lockend, als Martin es öffnete. Er trat nach draußen auf die Terrasse und nahm einen gierigen Schluck.
Die dicke Kugel hinterm Zaun drehte sich ihm zu, griff zu einer Flasche, die neben ihrer Liege stand, und prostete ihm zu.
»Prost, Nachbar«, rief Martin und setzte sich in einen Stuhl.
Die Sonne brannte. Im Garten lag ein altes Wildwasserkajak. Es war sein erstes. Er wollte es reparieren, lange schon. Wegwerfen konnte er es nicht, zu sehr hing er an diesem Boot. Das Kajak war an mehreren Stellen undicht geworden. Wer sich damit aufs Wasser wagte, würde nach wenigen Metern gluckernd untergehen.
Sabine war geschafft. Sie sah müde und hundeelend aus. Wie nach jedem Wochenende, an dem sie gearbeitet hatte. Dennoch erzählte sie munter von dem, was sie alles erreicht hatten. Martin saß am Steuer. Er hörte »Berlin«, »Millionen«, »Verhandlung« und »Knallhart«, mehr bekam er von ihrem Bericht nicht mit. War in Gedanken ganz woanders.
»Wie findest du das?«, fragte Sabine.
Martin reagierte nicht.
»Wie du das findest, habe ich gefragt!«, sagte Sabine mit Nachdruck.
»Äh… Wa… was?«
»Du hast mir gar nicht zugehört, oder?« Sabines Stimme zitterte.
»Doch, hab ich. Klar«, wehrte sich Martin.
»So?« Nun wurde ihre Stimme bedrohlich. »Was habe ich gerade erzählt?«
»Na, von Berlin und wie es war«, brummte Martin.
»Ja, und was genau?«
Martin schwieg und verdrehte die Augen. »Also gut«, gab er sich geschlagen. »Ich habe dir nicht zugehört. War gerade irgendwo mit meinen Gedanken. Weiß auch nicht, wo.«
Sabine verschränkte die Arme, presste sich in ihren Sitz und schaute zum Beifahrerfenster hinaus. »Traurig. Ich bin das ganze Wochenende weg und dich interessiert es nicht einmal, wie es mir ging.«
Martin kaute auf der Unterlippe. Sabine hatte recht. Es interessierte ihn nicht. Es war wieder einmal eine Geschichte über ihren Erfolg, über ihre Karriereleiter, auf der sie eine weitere Sprosse nach oben geklettert war. Konnte sie nicht verstehen, wie demütigend das war, wo er nie einen Schritt nach vorn machte und stets fürchten musste, viele zurück zu machen? Sabine war erfolgreich, sehr erfolgreich. Doch Martin hatte keinen richtigen Einblick, was sie eigentlich arbeitete. Er wollte mit diesen schnöseligen Marketing-Fuzzis nichts zu tun haben. Geleckt. Alle. Und dabei aber so furchtbar alternativ. Total unkonventionell in engsten Konventionsschranken. Sabine zog Aufträge an Land. Aufträge, die ziemlich hoch dotiert sein mussten, denn sie hielten eine Agentur mit zehn oder noch mehr Mitarbeitern am Laufen, und das gut. Dafür arbeitete sie allerdings über jegliches Maß, und er war der Leidtragende. Kinder hatten sie keine, nun war sie bereits 40. Die biologische Uhr tickte nicht mehr, sie schrie. Doch nur Martin konnte sie hören. Sabine war dafür taub. Alle lobten Sabine in höchsten Tönen, sogar sein eigener Chef. Auch er war Kunde von Sabines Agentur. Er schwärmte regelrecht von ihr und ihrem Können. Für Martin hingegen hatte er ab und zu lediglich einen warmen Händedruck übrig.
»Du weißt, was mein Problem ist«, murmelte Martin. Er wollte nicht wieder darüber streiten. Wie oft waren sie sich deswegen schon in den Haaren gelegen?
»Weil ich das Doppelte von dir verdiene, willst du nicht über meinen Job reden«, äffte Sabine ihren Mann nach. »Weil ich Erfolg im Beruf habe, interessiert es dich nicht, was ich erlebe.«
Böse funkelte sie ihn an. »Immerhin macht die Arbeit einen Großteil meines Lebens aus. Und sie erfüllt mich zufälligerweise. Wenn du dich nicht für meine Arbeit interessierst, dann interessierst du dich nicht für mich, Martin. Die Arbeit ist mein Leben!«
»Ja, du, du, du und dein Leben! Aber was ist mit meinem Leben?«, schrie Martin wütend.
»Dein Leben?« Verachtung in ihrer Stimme. »Dein Leben findet im Kajak statt. Und nun denk mal darüber nach, wem du es zu verdanken hast, dass du dir alle paar Monate ein neues Boot kaufen kannst, wegen wem du es dir leisten kannst, mit deinen Kumpels ständig in die Alpen, nach Kroatien zu fahren oder sogar nach Korsika zu fliegen, um dort zu paddeln? Mir hast du das zu verdanken. Mir und meinem Job!«
Martin biss sich auf die Zunge. Der ewig gleiche Streit. Der ewig gleiche Vorwurf. Jetzt nichts sagen. Es würde alles nur noch schlimmer machen. Schluck den Ärger runter. Die ganze Wut.
»Ich will mich nicht streiten«, sagte Martin mit gespielter Ruhe. »Ich liebe dich doch.«
Schweigend fuhren sie heim.