HANS KOLLHOFF
Architektur
Schein und Wirklichkeit
Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Hans Kollhoff,
Jahrgang 1946, gehört zu den profiliertesten Architekten weltweit. Er studierte von 1968 bis 1975 Architektur an der Universität Karlsruhe. Nach dem Diplom lehrte er an der Cornell University, New York. 1978 gründete er sein Büro in Berlin, das er seit 1984 in Partnerschaft mit Helga Timmermann unterhält. Von 1990 bis 2012 war er Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich. Er hat Büros in Rotkreuz/Schweiz, in Rotterdam und in Florenz etabliert und ist seit 2004 Präsident der Internationalen Bauakademie Berlin. Zuletzt sind von ihm erschienen »Das architektonische Argument« (2010, herausgegeben von Fritz Neumeyer) und »Architekturlehre« (2012).
Cover
Titel
Zum Autor
Widmung
Vorwort
Hausbau statt PR-Spektakel
Die Stadt ist
kein Mangelwesen
Wir und Ich
Zur architektonischen Autorschaft
Wie wir unsere Städte
ruiniert haben
Was ist zeitgemäßes Bauen?
Beflissene Arroganz
Stolz – eine urbane Tugend
Sehn Se, det is Berlin!
Cittadini!
Nachweise
Impressum
Fußnoten
Für Helga
Hausbau statt PR-Spektakel
WER wissen will, warum allerorts rekonstruiert wird, sollte zur Kenntnis nehmen, wie es um unsere Architektur bestellt ist. Wenn Architektur das ist, was die Wertschätzung des Feuilletons oder der Hochglanzgazetten erfährt und dort seine Bildkraft unter Beweis stellen darf, wenn es das ist, was für preiswürdig gehalten wird in prestigeträchtigen Konkurrenzen, dem Pritzker-Preis oder dem BDA-Preis; oder wenn es gar das ist, womit die Banken, die Versicherungen, die Autokonzerne Aufmerksamkeit zu gewinnen trachten – wenn das also unsere Architektur sein soll, dann dürfte das Bedürfnis nach Rekonstruktion nichts weniger sein als die allzu verständliche Sehnsucht nach etwas, was man in all diesen Beispielen vergeblich sucht: einen Ort, der einem das Gefühl gibt, gut aufgehoben zu sein.
Denn die Kehrseite dieses marktschreierischen Architekturbildes ist ja die um sich greifende Zersiedlung der Landschaft mit Fertighäusern, die einander ebenso gleichen in ihrer kleinbürgerlichen Konventionalität wie die »Kunstobjekte« eines globalisierten Mainstream. Und weil weder die Fertighaussiedlungen auf Gemeinschaft aus sind noch die Aufmerksamkeitsarchitekturen, weil beide im Grunde Gemeinschaft fliehen, um exklusives Glück und exklusiven Profit zu sichern, bringen sie keinen urbanen Raum mehr zustande. Sie symbolisieren Abwendung statt Zuwendung, und damit das Gegenteil von Stadt, einen Egoismus, der schmerzhaft die Erinnerung wachruft an Zeiten einer gemeinsamen gesellschaftlichen Anstrengung.
Es ist der Zwang zur Einzigartigkeit, der den Konsum beflügelt und der sich mit der Architektensehnsucht nach Genialität verbrüdert und damit abkoppelt vom Prinzip gesellschaftlicher Übereinkunft und vom Prozess architektonischer Erfahrung, also von Wertsetzungen, die sich nicht Einzelleistungen verdanken, sondern dem kollektiven Streben nach Verbesserung und Verfeinerung. Der Unternehmer habe sich um den Shareholder-Value zu kümmern und sonst gar nichts, gab mir kürzlich ein Banker zu verstehen, denn was darüber hinausgehe, sei Sache der Gesellschaft, sprich: der öffentlichen Hand. Aber was soll man von einer öffentlichen Hand halten, die Geld ausgibt für das Glasmonster der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main, das in seiner Großspurigkeit nicht zu übertreffen ist?
Die heute entstehenden baulichen Absurditäten werden allzugern mit den verfügbaren technischen Möglichkeiten gerechtfertigt. Aber nicht alles, was technisch möglich ist, ergibt architektonisch Sinn, ja das meiste hat mit Architektur nicht im geringsten zu tun. Dieser schlichten Erkenntnis versucht man heute, nicht ohne Erfolg, abzuhelfen durch allerlei Augenwischerei in Sachen Nachhaltigkeit, Ökologie, »Green« Building. Warten wir’s ab, wie die Bilanz der so überschwenglich zertifizierten Glaswunder über die Jahre aussehen wird, wenn die Neuvermietung nach den ersten fünf oder zehn Jahren ansteht, die Neuartigkeit verflogen ist und alles, was so einzigartig schien, in einer großen Melange aufgeht, die ihre Entstehungszeit nicht leugnen kann.
Technologischer Fortschritt ist eben etwas anderes als Zunahme an Lebensqualität. Ja bisweilen nimmt letztere in dem Maße zu, wie sie sich ersterem widersetzt. Jedem Begriff von Nachhaltigkeit hohnsprechend, dürfen die baulichen Machwerke ja heute nach der Abschreibungszeit ruhig zusammenbrechen. Für die wirtschaftliche Dynamik sei dies das beste. Nun haben die Menschen aber das Bedürfnis, auf dieser Erde etwas Bleibendes zustande zu bringen, etwas, das auch die Wertschätzung kommender Generationen erfährt. Das ist seit jeher der Antrieb für den Hausbau gewesen. Und eben das will uns heute nicht mehr gelingen im Rahmen eines globalisierten Denkens, das Profite erwirtschaften will, die denen des Finanzmarktes nicht nachstehen sollen. Weil das aber nur in aufstrebenden Volkswirtschaften mit wachsender Bevölkerung möglich erscheint, wird hierzulande der Standard heruntergeschraubt, bis das Elend durch alle Ritzen blickt. Und dann fangen die Menschen an, zu rekonstruieren und ihre Altstädte wiederaufzubauen. Wer wollte es ihnen verübeln?
An Strukturen, die im Generationenrhythmus entsorgt werden, kann sich keine Erinnerung knüpfen. Und auch mit der Gesichtslosigkeit abstrakter Kompositionen, wie sie der zeitgeistige Rationalismus hervorbringt, lassen sich nur mühsam emotionale Bindungen herstellen. Offenbar ist eine gewisse Komplexität innerhalb eines festen Rahmens von Regeln notwendig, um Wiedererkennbarkeit und Identifikation zu ermöglichen. Eben das war das Verdienst einer bürgerlichen Architektur, die bis ins frühe 20. Jahrhundert wirksam war: gesellschaftliche Konventionalität und Singularität gleichermaßen.
Wenn das »Ich« des kapitalistischen Wettbewerbs kein Korrektiv mehr findet in einer bewussten Gemeinsamkeit, wenn also die Masse kommerzieller Ausrufezeichen und standardisierter Rückzugsorte keine Stadtsubstanz mehr hergibt, ja dazu angetan ist, eine solche aufzulösen und zu zerstören, ist der Zeitpunkt vielleicht nicht allzufern, da sich die Prioritäten wieder zugunsten eines bürgerlichen Selbstverständnisses verschieben und Häuser wieder so beschaffen sein könnten, dass daraus ein großes Ganzes, eine Stadt erwachsen kann.
Solange nach althergebrachter Tradition gebaut wurde, hat man auch rekonstruiert. Ganz selbstverständlich wurde ein baufälliges Dach repariert oder so ersetzt, wie es war. Eine abgebrannte Kirche hat man ebenso wiedererrichtet, es sei denn, es gab Bedarf und die Mittel für eine größere und selbstverständlich auch schönere Kirche. Und manchmal wurde dabei einem neuen Schönheitsideal nachgegeben, etwa im Italien des ausgehenden 13. Jahrhunderts, als man begann, in den Trümmern Roms eine Modernität zu entdecken, die der aufkeimenden Gotik bald den Rang ablief und als Wiedergeburt der Architektur, als Renaissance nicht nur zum dominanten Stil, sondern zum Prinzip der europäischen Architektur überhaupt avancierte.
Aufbauend auf dem typologischen und tektonischen Repertoire der römischen und hellenischen Antike, entwickelte sich ein ebenso komplexes wie elastisches Architektursystem, von der Florentiner Protorenaissance bis hin zur Rokokoarchitektur und darüber hinaus zum Klassizismus nördlich der Alpen. Ja, die Entwicklung brach erst nach dem Ersten Weltkrieg ab, nach Alfred Messel und Peter Behrens, und selbst in Mies van der Rohes Stahl- und Glasarchitektur lassen sich Spuren dieser auf die Antike zurückgehenden Baukunst verfolgen.
Natürlich war das einfache profane Bauen, das weiter zurückging und lokale Bautraditionen hervorgebracht hat, vor allem im ländlichen Raum nach wie vor dominierend. Es gehorchte ja ohnehin Prinzipien, denen auch die monumentale Architektur folgte, ganz unabhängig von der jeweiligen stilistischen Präferenz: Das Bauen auf der Parzelle, das Respektieren der Bauflucht, die Gliederung in Sockel, Wohngeschosse und Dach waren selbstverständlich, ob beim Stein-, Holz- oder Fachwerkbau. Der wesentliche Unterschied bestand im Grad der Verdichtung und Urbanisierung.
So wie die Nachbarn sich übertrumpfen wollten beim Hausbau, so haben sie sich auch gegenseitig beobachtet, um zu verhindern, dass ihrem Gemeinwesen Schaden zugefügt wird. Architektonische Qualität zeigte sich dabei als minimale Abweichung von der Norm. Ganz selbstverständlich haben auch die Architekten einander auf die Finger geschaut, und Kopieren war kein Sakrileg. Ganz im Gegenteil, es wurden Musterbücher vorgelegt, die zunächst der Masse anonymen Bauens zum Vorbild dienen sollten, die aber auch die Architektenschaft motiviert haben, ihr möglichstes zu geben. Heute scheint die Kopie als solche ein Problem zu sein. Man will es vorbildlos und »zeitgemäß«, obwohl man ein, zwei Generationen später deutlich erkennen wird, welcher Entstehungszeit die Replik ihr Dasein verdankt. Wozu die Aufregung, denn selbstverständlich begibt man sich beim Kopieren auf eigene Wege, die das Vorbild bald hinter sich lassen. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, aus dem Nichts lasse sich Großes schöpfen. Es mag schon sein, dass wir dabei unversehens der Unzulänglichkeit unseres Beitrages gewahr werden und schockartig die Hoffnung fahren lassen, auf den gewohnten Pfaden weitergehen zu können, und uns stattdessen einer Zeit zuwenden, die es einmal besser gemacht hat, um dort anzuknüpfen und, im Rückgriff auf das Alte, Neuland zu betreten. Die italienische Renaissance liefert dafür ein grandioses Beispiel. Aus einer vorbildlichen Architektur und ihrer Rekonstruktion heraus stabilen Boden für eine zukünftige Baukultur zu gewinnen, die diese Bezeichnung verdient, darin ist heute die Herausforderung zu sehen.
WENN wir in alten Städten aus dem Wagen steigen und ganz selbstverständlich den Bürgersteig hinuntergehen – ja, es heißt heute immer noch Bürgersteig, obwohl der bürgerlichen Gesellschaft nach dem Kriege das Leben nicht eben leichtgemacht wurde, und dies nicht nur im Osten Deutschlands –, dann kommen wir in den Genuss einer der größten zivilisatorischen Leistungen der Menschheit.
Sie mögen lachen. Ich meine das tatsächlich ernst. Sind Sie jemals zu Fuß in Los Angeles unterwegs gewesen? Wenn Sie dort das Zentrum verlassen, sich am Straßenrand entlangbewegen müssen, um den Autos auszuweichen, kann es sein, dass spätestens nach zehn Minuten eine Polizeistreife anhält und fragt, was Sie hier tun. Dann werden Sie beginnen, mich zu verstehen.
Aber Sie müssen gar nicht so weit reisen: Bewegen Sie sich einmal in der sogenannten Agglomeration zwischen Zürich und Basel, so werden Sie ebenso vergeblich den Bürgersteig suchen wie in einer Plattensiedlung. Da war man in Pompeji schon weiter. Die Furchen von den Ochsenkarren in den Granitplatten können Sie heute noch sehen, und wenn Sie die Straße überqueren wollen von Bordsteinkante zu Bordsteinkante, schreiten Sie über Quader, die wie massive Zebrastreifen aus der Straße herausragen, freilich so, dass für Gespann und Räder eine Trasse ausgespart wurde. Dort, wo sich heute die Touristenmassen bewegen, konnte der Pompejaner flanieren, an Läden, Schenken und Bordellen vorbei, und die Häuser hatten eine Adresse, Straßennamen und Hausnummern.
Der Bürgersteig mit Bordsteinkante auf der einen und die Bauflucht auf der anderen Seite – diese Regel ist heute für Architekten und Städtebauer nicht mehr selbstverständlich. Dass es da einen Bereich gibt, der dem Fußgänger vorbehalten ist, entlang einer Hausreihe mit oder ohne Vorgarten, stets sauber getrennt vom Fahrverkehr (denn auch der Radfahrer hat hier nichts zu suchen) und breit genug, dass Menschen einander begegnen können, das beginnen wir vielleicht erst heute wieder zu schätzen – dank einer aufkommenden Sehnsucht danach, die Stadt nicht nur aus dem Auto wahrzunehmen.
Mir ist das wichtig, weil darin auch eine Trennung zwischen Architektur und Stadtbau angelegt ist – ich sage bewusst nicht Stadtplanung und auch nicht Städtebau, sondern Stadtbau –, ganz nach dem bewährten Prinzip, das bis in die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein wirksam war. Ein ausgesprochen leistungsfähiges Prinzip, demzufolge James Hobrecht im Berlin des 19. Jahrhunderts innerhalb atemraubend kurzer Zeit einen Ring neuer Stadtquartiere als Zentrumserweiterung ausbilden konnte, um dem Bevölkerungsansturm Rechnung zu tragen. Diese Strukturen lassen sich im eigentlichen Sinne als Stadt bezeichnen. Vielleicht nicht in der Art, wie es Camillo Sitte vorschwebte, aber immerhin so, wie es heute von Bewohnern und Besuchern im Prenzlauer Berg oder in Kreuzberg geschätzt wird – so dass sich dort ein wahrer Verdrängungsprozess abspielt, weil diese Stadtstrukturen inzwischen als attraktive Wohnquartiere erkannt werden, so geringschätzig sie auch seinerzeit betrachtet worden sein mögen. Denn das war keine Architektur. Das war reine Spekulantenangelegenheit. Die Protagonisten der Nachkriegsmoderne wollten deshalb alles abreißen, um ihre gleißenden Städte zu verwirklichen. In diesen Quartieren also funktioniert die Stadt auf wunderbare Weise wie eh und je.
Und was war Hobrechts Geheimnis? Er hat sich nicht für Architektur interessiert, sondern um die Infrastruktur gekümmert, um Straßen, Baufluchten und Bürgersteige, vor allen Dingen aber um die Abwassertechnologie. Er hat nämlich die Fäkalien nicht einfach in den Fluss, die Spree fließen lassen, wie man das seinerzeit noch in Paris und in London tat, sondern das sogenannte Radialsystem eingeführt, d. h., Straßen nach draußen bauen lassen und unter den Straßen die Kanalisation angeordnet. All das, was zur Infrastruktur gehörte – Elektrizität, Gas und Wasser –, wurde unter dem Bürgersteig verlegt, mit Granitplatten und Kleinpflaster abgedeckt, so dass zwecks Revision, Reparatur und Erweiterung immer wieder bequem heranzukommen ist und der öffentliche Raum dennoch nicht unansehnlich wird, wie das heute der Fall ist, wenn jeder seine Gerätschaften oberirdisch abstellt, wo und wie es ihm gerade passt. Nein, Hobrecht hat alles unterirdisch verstaut und darüber sauber seinen Bürgersteig gebaut, bis hinaus in die Randbezirke und Vororte. Die Abwässer wurden hinausgepumpt auf die Felder, und darauf wuchsen dann die berühmten heute wieder als Delikatesse gehandelten Teltower Rübchen.
Durch das Radialsystem wurden viele Grundstücke dieser parzellierten Blöcke schräg angeschnitten, es gab Ecken, die schwer zu bebauen waren. Aber ihre Größe hielt sich in Grenzen. Als Fußgänger konnte man die Blöcke bequem umrunden, ohne müde zu werden. Auf den Parzellen galt es, individuelle Häuser zu bauen, mehr oder weniger ambitionierte Häuser