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Für den Konfidenten des Pöts
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 3. Auflage 2015
ISBN 978-3-492-96668-9
© Piper Verlag GmbH, München 2014
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: Valentino Sani/Trevillion Images, Bertrand
Benoit/cg textures
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Macht hoch die Tür, die Tor macht weit.
Haben wir Weihnachten gesungen. Alle zusammen. Leise. Aber immerhin.
Jetzt marschieren wir.
Wohin auch das Auge blicket.
Moor und Heide nur ringsum.
Vogelsang uns nicht erquicket,
Eichen stehen kahl und krumm.
Wir sind die Moorsoldaten
und ziehen mit dem Spaten ins Moor!
Haben wir immer gesungen, auch wenn wir nicht die Moorsoldaten sind. Und jetzt kann ich nicht mehr singen. Mein Schädel dröhnt, der Fuß pocht, und ich weiß nicht, weshalb mir gerade dieses Lied im Kopf herumschwirrt. Den Takt geben meine Schritte vor. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Füße dem Kopf als Taktstock dienen oder ob das Lied die Beine dazu antreibt weiterzulaufen.
Seit drei Tagen heißt es nun schon marschieren. Warum, das weiß keiner von uns. Es geht nach Nordosten, das zeigt die Sonne, die mir jetzt von hinten genau in den Nacken scheint. Wenigstens Sonne. Mit Regen wäre es noch unerträglicher.
Heute Morgen, da haben beide Füße höllisch wehgetan. Jetzt geht es mir besser, jetzt spüre ich wenigstens den linken nicht mehr. Die eine Stelle rechts ist offen. Hat sich offenbar entzündet. Die Ränder sind rot und heiß. Das wäre dann eine dieser Kapriolen des Schicksals. Habe fünf Jahre Steine schleppend als Sklave überlebt, sogar den Armbruch, ohne Schiene. Um dann an so einer kleinen, offenen Wunde zu krepieren, wie es aussieht.
Keine Ahnung, wie lange wir noch laufen werden. Keine Ahnung, wohin. Keine Ahnung, wie lange ich noch laufen will. Mein Kopf dröhnt, manchmal wird mir schwindelig.
Aber immerhin, wir marschieren. Langsam. Aber wir bewegen uns. Weiter. Immer weiter.
Laufen – das heißt leben.
Denn die, die nicht mehr können, hinterlassen als Abschied nur noch ein Geräusch. Den Knall des Schusses ins Genick.
Dass wir den Tod hinter uns gelassen haben, heißt aber nicht, dass wir ihm entkommen sind.
Es kann auch sein, dass wir genau auf ihn zumarschieren.
Marschieren.
Marschieren.
Marschieren.
Nein.
Das Wort schoss durch ihr Gehirn wie ein Flummi mit eigenem Antrieb. Dong, dong, dong, und bei jedem Abprall schmerzte es. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel, so etwas Bescheuertes fiel ihr dazu ein.
Das Nein, die Kopfschmerzen, die so was von irrelevanten Erkenntnisse der Physik, sie sorgten dafür, dass sie das, was sie sah, zunächst nur durch einen Nebel wahrnahm. Sie sorgten dafür, dass sie nicht einfach zusammenklappte.
»Ricarda.«
Sie spürte die Hand ihres Kollegen Werner Berghold auf ihrer Schulter. Er war wie sie Hauptkommissar bei der Kripo in Mainz, Kommissariat 11, Tötungsdelikte. Ricarda war nicht imstande, sich umzudrehen. Die Szenerie, die sie vor sich sah, hielt den Blick gefangen. Sie war grausam klar und dennoch in ihrer Brutalität so unfassbar, dass Ricarda sich fragte, ob sie nicht Geisel eines Albtraums war.
»Ricarda!«
Berghold fasste sie nun fester an der Schulter, ein klein wenig nur – Druck ist Kraft durch Fläche –, sodass sie sich umdrehen musste.
»Geht’s?«
Ricarda Zöller nickte. »Ja. Scheißjob.«
»Hmm.« Berghold nahm die Hand von ihrer Schulter.
Ricarda wandte sich wieder dem Tatort zu.
Das Opfer: weiblich. In der Stirn ein Loch, ein dunkler Kreis darum. Ein aufgesetzter Kopfschuss. Sie musste nicht erst den Befund des Rechtsmedizinischen Instituts abwarten, um zu wissen, dass diese Wunde todesursächlich war, wie es in dem Bericht stehen würde.
Das Opfer lag im Lennebergwald, hinter einer Kiefer, vom zwanzig Meter entfernten Waldweg aus nicht zu sehen. Herbert Räuser war mit seiner Frau spazieren gegangen an diesem Donnerstag, weil beide Urlaub hatten und die Kinder bei der Oma waren. Zuvor waren sie im Biergarten beim Lennebergturm eingekehrt. Räuser hatte zwei Halbe getrunken, deshalb wollte er kurz hinter den Bäumen verschwinden, um den Flüssigkeitshaushalt wieder in Ordnung zu bringen. Dabei hatte er die Leiche entdeckt.
Die Tote trug ein T-Shirt, den Temperaturen entsprechend: Über 30 Grad hatte das Thermometer in den vergangenen Tagen angezeigt. »Mia« war in roten Buchstaben auf das weiße Shirt gedruckt, das leuchtende Rot ein Kontrast zu dem Braun der Blutlache, die sich unter ihrem Kopf gebildet hatte.
Sie lag auf einer weißen Decke, deren obere Fläche stellenweise braunrot von Blut getränkt war. Dort waren die kleinen in Blau aufgedruckten Anker und die kleinen Boote kaum mehr zu erkennen.
Zumdecker, der Rechtsmediziner, hatte grob geschätzt, dass das Mädchen zwischen drei und fünf Stunden tot war. Den Anblick der Austrittswunde hatte er Ricarda erspart. Sie hatte nur gehört, was er in sein Diktiergerät gesprochen hatte. Sie versuchte, die Worte zu verdrängen.
Ricarda hatte in ihrem Berufsleben schon Leichen gesehen, die schlimmer zugerichtet gewesen waren. Vor zwei Jahren etwa das Ehepaar, das vier Wochen unentdeckt im Haus gelegen hatte, beide erschlagen mit einem Golfschläger. Oder vor sechs Monaten der Mann, den vermutlich die russische Mafia über mehrere Tage lang in die Mangel genommen hatte, bevor man ihm den Gnadenschuss verpasst hatte.
Dennoch war Ricarda sicher, dass die Leiche vor ihr diejenige sein würde, deren Anblick in ihrem ganzen Berufsleben der schlimmste war und bleiben würde.
Eine ähnliche Decke hatte ihre Tochter Esther gehabt, als sie ein Baby und später Kleinkind gewesen war. Es war ihre Lieblingsdecke gewesen. Esther hatte darauf bestanden, dass die Decke stets in ihrem Bett lag, auch im Sommer, wenn sie sich bei zwanzig Grad Nachttemperatur nur mit einem Laken zugedeckt hatte. Ihr Lieblingsonkel Ingo – Kunststück, sie hatte nur diesen einen – hatte ihr die Decke zur Geburt geschenkt. Als Esther acht war, war die Decke an zwei Stellen zerschlissen. Esther hatte bittere Tränen geweint. Ihre Trauer hatte erst ein Ende gefunden, als Ingo ihr eine neue Bootsdecke geschenkt hatte. Die war groß genug gewesen, dass sie nicht mehr nur die Beine, sondern ihren ganzen Körper darin einmummeln konnte.
Ricarda kannte den Namen der Toten. Mia. Mia Oloniak. Sie hatte gelächelt, als der Schütze ihr die Waffe auf die Stirn aufgesetzt hatte. Mia hatte keine Ahnung gehabt, was sich da abgespielt hatte. Denn Mia Oloniak war nicht alt geworden.
»Scheiße.« Ricarda ging in die Hocke, um sich die unmittelbare Umgebung um das tote Mädchen herum anzusehen.
Gut, dass die Spurensicherung schon durch war. Denn sie kontaminierte gerade den Tatort: Tränen rannen ihre Wangen hinab und tropften auf einen der Anker der Decke.
Ricarda blinzelte. Sie schämte sich der Tränen nicht.
Das Nein in ihrem Kopf verebbte langsam, als ob die Tränen es hinfortspülten. Dafür machten sich zwei andere Gedanken breit. Zum einen hatte sie das Gefühl, dass jemand mit diesem feigen Mord nicht nur einen Menschen namens Mia Oloniak getötet hatte. Sie hatte vielmehr den Eindruck, dass hier jemand in ihre ureigenste Privatsphäre eindrang, indem er das Mädchen auf diese Decke gelegt hatte, die doch eigentlich die Decke ihrer Tochter war. Der Gedanke war absurd, das wusste sie. Der zweite Gedanke hingegen war es nicht. Ricarda hatte so eine Top-Ten-Liste der Fernsehkrimiklischees, die sie am schlimmsten fand. Etwa diesen Gedanken, den sie jetzt hegte, wohl wissend, dass sie ihn als Polizistin nicht haben sollte. Und sie war überrascht, dass das Klischee offenbar doch nicht nur ein solches war. »Wer immer dir das angetan hat – ich krieg dieses Dreckschwein.«
Wie auch zu ihren Tränen stand sie zu diesen Worten.
»Was hast du gesagt?« Berghold stand immer noch hinter ihr.
»Nichts, schon gut.« Ricarda hatte es anscheinend laut ausgesprochen.
Sie sah auf den leblosen Körper. Sie hatte in ihrer ganzen Polizeilaufbahn nur einmal den Tod eines Kindes aufklären müssen. Aber dieses Kind war zwölf gewesen.
Mia Oloniak war nicht einmal vier geworden.
Nicht einmal vier Tage.
Der Kleiderschrank, auf den er blickte, war nicht sein Kleiderschrank, das erkannte Lorenz Rasper sofort. Er hätte niemals einen Schrank aus dunkler Eiche gekauft. Und er hätte schon gar keinen Kleiderschrank gekauft, an dem nicht wenigstens an einer Tür ein Ganzkörperspiegel montiert gewesen wäre.
Als er sich nur leicht bewegte, hörte er den Rost des Bettes vernehmlich quietschen. Nicht sein Bett. Denn er hasste quietschende oder knarrende Bettenroste. Und er mochte auch keine zu weichen Matratzen. Also auch nicht die, auf der er gerade lag. Das Kissen war auch zu klein. Und er mochte Bettbezüge aus Satin. Und keinen Biberbettbezug.
Alles in diesem Hotelzimmer war für ihn nicht zufriedenstellend. Sein Blick fiel auf die andere Seite des Bettes. Nun gut, er durfte nicht generalisieren. Die junge Dame neben ihm, sie war … Das Wort »zufriedenstellend« wäre abwertend gewesen. Attraktiv.
Wie war noch gleich ihr Name? Marie? Maria? Mary? Irgend so was. Und wie war sie noch mal in sein Bett gekommen? Er erinnerte sich an Cabernet Sauvignon. Zu viel Cabernet Sauvignon.
Er hatte am Vorabend einen Vortrag über die Abteilung SB des Bundeskriminalamts gehalten, vor Studenten und Studentinnen an der »Deutschen Hochschule der Polizei« hier in Münster. Die Abteilung SB, das war sein Baby, seine Abteilung, seine Idee. Und er war immer noch überzeugt davon, dass die Idee gut war. Uwe Lennart, Vizepräsident des BKA, wie alle das Bundeskriminalamt abkürzten, hatte ihn zu dem Vortrag verdonnert. So was tat er in letzter Zeit immer öfter.
Lorenz Rasper hatte sich schon vor Jahren starkgemacht für die Idee einer schnellen Eingreiftruppe auf Bundesebene. Eine der Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs bekam die Polizei ja tagtäglich zu spüren: Polizeiarbeit war Sache des jeweiligen Bundeslandes. Und schwere Verbrechen, die vom selben Täter in verschiedenen Bundesländern verübt wurden, wurden oft erst nach Monaten oder Jahren in Zusammenhang gebracht. Innenminister auf Landesebene sperrten sich auch zu oft dagegen, Kompetenzen in großen Fällen abzugeben. Der Öffentlichkeit bekannt waren die Morde des »Nationalsozialistischen Untergrunds«. Zwei der Täter hatten sich erschossen, der noch verbliebenen Täterin wurde derzeit der Prozess gemacht. Schnell wurde klar, dass die Kollegen der Polizei und die Nichtkollegen der Geheimdienste gemeinsam dem Trio deutlich früher hätten auf die Schliche kommen können. Doch die Spur des Terrors hatte sich mit neun Mordopfern durch neun Städte gezogen, verteilt über fünf Bundesländer, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Lorenz hatte schon viel früher die Idee zu solch einer »Schnellen Eingreiftruppe« gehabt, die frühzeitig Fälle übernahm, die Bundeslandgrenzen überschritten, um diese dann effizient zu lösen, als Koordinator mit den jeweiligen Beamten vor Ort. Seine Chefs hatten der Idee skeptisch gegenübergestanden.
Der BKA-Vize hatte sich dann aber dafür eingesetzt und schließlich das Bundeskriminalamt bewogen, eine solche Zelle einzurichten, die blitzschnell reagieren konnte, wenn schwere Serienstraftaten in mehreren Bundesländern ermittelt werden mussten. Solch eine Abteilung zu gründen, das war schon eine Herkulesaufgabe gewesen. Herkules’ ganze Sippe musste hingegen hinzugezogen werden, damit die Innenministerkonferenz dieser Abteilung die Kompetenz zubilligte, Fälle an sich nehmen zu dürfen. Der Kompromiss war, dass der Präsident Lorenz zum Eingreifen ermächtigen musste.
Und nun hatte er gestern wieder seinen Standardvortrag über die Abteilung SB gehalten. Das Kürzel war willkürlich gewählt. »Schnelle Buben« gefiel Lorenz am besten, wurde aber den weiblichen Mitgliedern nicht gerecht. Die Vorträge hielt er gern. Besonders da im Moment kein aktueller Fall zu bearbeiten war.
»’n Morgen«, raunte die Dame neben ihm. Obwohl gerade erst aufgewacht, sah sie überhaupt nicht verschlafen aus. Lorenz dachte mit Grausen daran, wie sein Gesicht aussehen musste nach zu viel Alkohol am Abend zuvor. Seine Gesichtszüge erinnerten dann immer eher an eine zerknüllte Papiertüte als an Adonis. Zum Glück musste er sich nicht im Spiegel sehen, sondern konnte in die hübschen Augen von Maria, Marie oder wie auch immer schauen. Der Gedächtnisverlust war wohl dem Alter geschuldet. Und der Papiertüteneffekt ebenfalls. Ein unangenehmer Gedanke. Aber im zarten Alter von nicht einmal fünfundzwanzig, so alt, wie die Dame neben ihm war, da war er auch noch ohne Papiertütentarnung aufgewacht.
»Gut geschlafen, Lorenz?«
»Hmm«, brummte er. Verflixt, ihr Name war weder Maria noch Marie. Aber er war nah dran. Es war lauwarm, nicht ganz kalt. Vielleicht würde er mit dem mentalen Kochlöffel doch noch den Topf treffen, druntergucken und den richtigen Namen finden, bevor es peinlich wurde.
»Ich geh duschen«, sagte Jane Doe – so nannte Lorenz sie im Stillen, wie unbekannte Frauenleichen in Amerika. Sie schälte sich unter der Decke hervor und stand auf. Lorenz fuhr mit seinen Blicken ihre Kurven nach. Sehr weibliche, sehr runde Kurven.
Eine halbe Stunde später saßen sie im Frühstücksraum des Hotels. Auch diesen hätte Lorenz anders eingerichtet. Offenbar hatte der Hausherr oder die Dame des Hauses einen ausgeprägten Hang zu Eiche rustikal.
Mrs Unbekannt – ihr Name begann mit M und A, dessen war sich Lorenz inzwischen sicher – trug wieder das rote Kleid, das sie am vorigen Abend angehabt hatte.
Sie hatte in der ersten Reihe gesessen. Nach seinem Vortrag war sie auf ihn zugetreten. Bereits während des Vortrags hatte er sie bemerkt und via Blickpost mit ihr geflirtet. Als er geendet hatte, war sie aufgestanden, hatte aber noch mit einem Kommilitonen geredet. Und sich erst danach in die Schlange derer eingereiht, die noch eine Frage hatte. Sie war die Letzte gewesen.
»Wann hatten Sie zum ersten Mal die Idee, so eine Abteilung wie die SB aufzubauen?«, fragte sie.
Die Reaktion seines Körpers auf Stimme, Augen und Dekolleté war eindeutig gewesen. Daher beantwortete er die Frage mit einer Gegenfrage: »Gehen Sie mit mir etwas essen? Ich habe großen Hunger.«
»Ich auch«, hatte sie nur gesagt. Und Lorenz hatte schon verstanden, dass sie damit nicht die Nahrungsaufnahme gemeint hatte. Dementsprechend hatte sie einen kleinen Salat mit Putenstreifen nur zur Hälfte aufgegessen, während er sich ein Schnitzel mit Pommes gegönnt hatte. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.
Sie tranken fast zwei Flaschen Wein. Und das Hotel war nur einen Häuserblock vom Restaurant entfernt. Es war zwei Uhr gewesen, bevor er eingeschlafen war. Es gab sicher Gäste im angrenzenden Zimmer, die seine Freude an der Entwicklung der Nacht nicht geteilt hatten. Aber er würde ja auch nie wieder hierherkommen.
Mrs M-A plapperte noch ein bisschen über ihre Familie – er hatte schon erfahren, dass sie einen Hund hatte, dass ihre Eltern eine große Villa in Irgendwo hatten und ihr Bruder ein hohes Tier da und dort war.
»Und du?«, fragte sie nun. »Hast du Familie?«
Automatisch tastete er zu seinem linken Ringfinger. Er trug seinen Ehering nicht. Nicht mehr. Vor sechs Jahren war er einem Bankräuber hinterhergerannt. Der war über einen Maschendrahtzaun geflüchtet. Lorenz war ihm hinterhergeklettert. Und beim Absprung mit dem Ehering in einer Spitze hängen geblieben. Er hatte sich den Finger aufgerissen und sich das zweite Gelenk gebrochen – und das war noch der bestmögliche Ausgang gewesen. Es hätte nicht viel gefehlt, und sein Finger wäre einfach abgerissen worden. Immer noch konnte er das Gelenk nicht vollständig beugen. Seitdem trug er den Ring nur noch in seinem Herzen, wie er es seiner Frau Jolene erklärt hatte.
Lorenz registrierte, wie der Blick der Frau ohne Namen dem seinen gefolgt war. Bevor er etwas sagen konnte, klingelte zum Glück sein Telefon. Das Display zeigte den Namen »Adriana«. Aber bereits der Klingelton – »Telephone« von Lady Gaga, Erinnerung an ihr erstes gemeinsames Konzert vor drei Jahren – ließ ihn erkennen, dass seine Tochter anrief. Es zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht.
»Hi, Paps«, meldete sie sich.
»Hallo, mein Sonnenschein.« Er nickte der Dame ohne Namen zu, stand auf und verließ den Frühstücksraum.
»Na, wie war dein Vortrag gestern Abend? Haben sie an deinen Lippen geklebt?«
»Ja, durchaus.«
»Wie ist das Wetter?«
»Durchwachsen. Und zu Hause?« Lorenz Rasper arbeitete zwar beim BKA in Wiesbaden, aber das Haus hatten sie in Darmstadt gekauft, zu der Zeit, als er noch bei der Mordkommission im Polizeipräsidium Südhessen gearbeitet hatte. Das Kleinod in der Damaschkestraße lag so günstig an der Autobahn, dass ein Umzug nicht nötig gewesen war. Und sein Alfa Romeo Giulietta 1.8 TBi 16V – besser bekannt unter dem Namen »Quadrifoglio Verde« – ließ ihn die fünfzig Kilometer in weniger als einer halben Stunde überwinden.
»Wann kommst du nach Hause? Mama fragt, ob du zum Mittagessen wieder da bist. Wenn, dann will sie sogar was Leckeres kochen.«
Lorenz überschlug knapp die Fahrzeit. Dreihundert Kilometer – das sollte bis ein Uhr zu schaffen sein. »Ja. Sag ihr, dass ich pünktlich um eins zu Hause bin.«
Er plauderte noch ein paar Minuten mit Adriana. Er genoss es, dass er einen so guten Draht zu ihr hatte. Als er das Gespräch beendete, hatte er immer noch ein Lächeln auf dem Gesicht. Das Leben kann richtig schön sein, dachte er für einen Moment. Er freute sich auf zu Hause. Und ihn überkam das schlechte Gewissen. Er hatte während seiner Ehe nicht oft mit anderen Frauen geschlafen. Drei One-Night-Stands, auf die er nicht stolz war, die seine Ehe jedoch auch nie hatten gefährden können. Das war zumindest seine Meinung.
Als er an den Frühstückstisch zurückkehrte, schmollte Marla. Marla, genau, das war ihr Name.
»Meine Tochter.«
»Aha«, sagte sie nur, und jeder Laut aus ihrem Mund unterstrich klar, dass sie ihm nicht glaubte. Was ihm letztlich egal war. Er sah Marla an, und so nah sie ihm in der vergangenen Nacht gewesen war, so fremd war sie ihm jetzt. Zwei seiner drei One-Night-Stands hatten mit einem Frühstück geendet. Und beide Male war dieses Frühstück alles andere als entspannt verlaufen.
»Wie lange bist du denn schon verheiratet?«, fragte ihn Marla.
Lorenz wollte sich mit Marla ganz bestimmt nicht über sein Privatleben unterhalten. Wieder klingelte das Handy. Für gewöhnlich ging er nicht an den Apparat, wenn er mit jemandem am Tisch saß. Er hatte die Melodie auch ganz leise gestellt. Guns N’ Roses röhrten »Paradise City«, die Musik, die all jenen zugedacht war, denen Lorenz keinen individuellen Erkennungston zugeordnet hatte. »Ricarda« zeigte das Display. Er musste überlegen, wer sich hinter diesem Namen verbarg. Und er musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte. Aber alles war besser, als sich von einer schmollenden Marla über die Familie ausfragen zu lassen.
»Rasper«, meldete er sich.
»Hallo, Lorenz. Hier ist Ricarda.«
»Einen Moment, bitte«, sagte Lorenz. Er hielt die Hand vor das Mikro und sagte: »Dienstlich.« Dabei zuckte er mit den Schultern und erhob sich wieder, verließ den Frühstücksraum erneut und blieb im Vorraum vor der unbesetzten Rezeption stehen. »So, da bin ich wieder. Hallo – Ricarda.«
»Hallo, Lorenz.«
Lorenz Rasper schwieg. Binnen weniger Sekunden lieferte ihm sein Gehirn eine Kurzanalyse. Stimme: sympathisch. Aber zunächst mal unbekannt. Doch sie hatte seine Handynummer und nannte ihn beim Vornamen. Also waren sie sich offenbar bereits persönlich begegnet. In den hintersten Regionen seines Gehirns meldete sich der Protokollant, der mitteilte, dass es eine vage Erinnerung an den Namen gab, flüchtig wie ein Tropfen auf der Herdplatte.
»Äh … Hallo, Ricarda.« Er gab Damen nie seine Handynummer. Nie. Er notierte auch selten eine Nummer in seinem Handy. Das war weniger dem Misstrauen gegenüber anderen geschuldet – sein Motorola hatte einen Fingerabdruckscanner – als vielmehr der Tatsache, dass er vermied, Datenmüll auf dem kleinen Begleiter anzusammeln.
Die Dame am anderen Ende lachte auf. »Gut, dass wir damals jeder in sein eigenes Zimmer gegangen sind.«
Ah, der Protokollant bekam neue Indizien: offenbar keine körperliche Vereinigung mit Ricarda. Aber eine Begegnung in einem Hotel, wenn sie von getrennten Zimmern sprach. Aber warum, zur Hölle, zeigte das Handy nicht nur ihre Nummer, sondern auch ihren Namen an? Leider war auf dem Display nur der Vorname erschienen und weder der Nachname noch ein Bild. Verdammt. »Ja. Vielleicht hast du recht.« Ein unverfänglicher Satz. Ob der ihn retten würde?
»Lorenz, Lorenz, du hast keine Ahnung, mit wem du gerade sprichst, nicht wahr?«
»Ricarda«, sagte er noch mal, um Zeit zu gewinnen.
»Ich hatte es prophezeit. Ich hab dir gesagt, wenn ich dich mal anrufen sollte, dann wirst du dich nicht erinnern.«
Lorenz zog es vor, dieses Statement nicht zu kommentieren. Manchmal wusste er, wann es besser war, die Klappe zu halten.
»Berlin. Anfang letztes Jahr. Du hast deine Abteilung vorgestellt, wir waren im selben Hotel und haben die halbe Nacht an der Bar gesessen.«
Ricarda. Natürlich! Die Ricarda! »Ricarda, natürlich. Mojito ohne Pfefferminz.« War wieder so ein Vortrag gewesen, zu dem Lennart ihn verdonnert hatte.
»Schön, dass du zumindest das richtige Getränk zum Namen weißt.«
»Und das richtige Gesicht. Dunkelblonde Haare, damals schulterlang, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eins fünfundsechzig groß, blaue Augen, keine Brille. Ricarda, was kann ich für dich tun?«
Als er diesen Satz sagte, ging Marla an ihm vorbei und verließ das Hotel. Er hätte sich einen freundlicheren Abschied gewünscht. Aber vielleicht war diese Art des Abschieds die freundlichste, die noch möglich war.
Ricarda fuhr fort. »Einiges, wenn du kannst.« Dann erzählte sie.
Gut sah er aus, dachte Ricarda Zöller. Der Mann, der durch die Glastür ins Präsidium trat, war rund einen Meter neunzig groß, durchtrainiert und hatte ein kantiges Gesicht. Obwohl Ricarda für gewöhnlich Männer mit Bart nicht mochte, fand sie, dass ihm der Dreitagebart gut stand. Das Haar war kurz geschnitten und dunkel. Kurzum, er sah genau so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Auch seine Kleidung war wie damals: ein anthrazitfarbener Anzug, dunkle Schuhe, aber keine Krawatte.
Als er sie sah, wandelte sich der etwas mürrische Gesichtsausdruck in ein Strahlen. »Ricarda! Schön, dich wiederzusehen.«
Stimmt, sie waren zum Du übergegangen an jenem Abend an der Bar, den sie nicht vergessen hatte. »Hallo, Lorenz. Bin ich ja doch beruhigt, dass du mich wiedererkennst.«
Er ging nicht so weit, ihr ein Küsschen auf die Wange geben zu wollen. Vielmehr reichte er ihr die Hand, und Ricarda erwiderte Lorenz’ kräftigen Händedruck. »Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte: Wie wär es, wenn wir die erste Besprechung in einem Restaurant abhalten? Ich habe einen Bärenhunger.«
Ricarda war ebenfalls hungrig. Sie hatte die Zeit nach dem Anruf damit verbracht, alle Unterlagen zu den Fällen so aufzubereiten, dass sie Lorenz einen fundierten Überblick vermitteln konnte. Das erste Frühstück hatte aus einem Apfel bestanden, das zweite und das dritte jeweils aus Kaffee. »Klingt gut.«
»Fahren wir ins Port & Sherry.«
»Wiesbaden?«
»Ja. Ist mein Stammlokal.«
Ricarda kannte das Restaurant und fand die Speisen lecker. In der warmen Jahreszeit konnte man auch draußen sitzen.
»Ich würde gern guten Fisch essen. Und du? Magst du immer noch eine gute Paella? Hast du mir an der Bar damals auf jeden Fall erzählt.«
Okay, er hatte die Begegnung wirklich nicht ganz vergessen. Das freute sie, aber nicht zu sehr. So, wie man mit Genugtuung feststellt, dass ein Teil von einem Spuren hinterlassen hat. Etwa ihr Magnet mit dem Abbild von Bruce Springsteen, der auch nach fünfzehn Jahren noch am Kühlschrank ihrer alten Abteilung hing, wie sie immer wieder feststellen durfte, wenn sie bei den ehemaligen Kollegen vorbeischaute.
»Paella ist prima«, antwortete Ricarda.
Wenig später hielt Lorenz ihr die Beifahrertür auf. Ricarda stieg ein. »Auch ein Quadrifoglio Verde?«, fragte sie, als Lorenz sich gerade anschnallte.
»Wieso auch?«
Ricarda ließ die Tür sanft zufallen. »Weil ich auch einen fahre. Aber keine Giulietta, sondern den Mito.«
»Auch in Alfa-Rot?«
»Ist der Papst katholisch?«
Sie musste längst den Wackeldackel auf der Mitte des Armaturenbretts wahrgenommen haben. Aber sie gab keinen Kommentar dazu ab. Wofür Lorenz ihr in diesem Moment dankbar war.
Auf der kurzen Fahrt von Mainz nach Wiesbaden fragte Lorenz sie dann, wie es ihr gehe.
»Na ja. Geht so.«
»Was Neues seit vergangenem Jahr? Du hast mir erzählt, dass deine Tochter nicht zu dir ziehen will.«
»Ich glaube nicht, dass ich darüber jetzt reden will. Vielleicht magst du mir ja erzählen, ob du dich von deiner Frau getrennt hast.«
»Ich? Von meiner Frau trennen? Über so was habe ich nie geredet.«
Warum wirst du dann rot wie nach vier Stunden Solarium?, dachte Ricarda, erwiderte aber nichts. Sie wusste noch ziemlich genau, was er alles gesagt hatte. Und was er nicht gesagt hatte.
War eine seltsame Nacht gewesen, die sie an dieser Bar verbracht hatten. Zuerst war es Flirten gewesen. Dann ein so offenes Gespräch, wie sie es nie mit einem Mann zuvor geführt hatte. Ihren Ex eingeschlossen. Aber jetzt saßen sie nicht mehr an dieser Bar. Jetzt hatte Ricarda einen Fall an der Backe, den sie allein nicht lösen konnte.
»Cheers«, sagte Lorenz.
»Cheers«, antwortete Ricarda.
Lorenz hatte eine Flasche Mineralwasser bestellt. Auch Ricarda hatte sich gegen Alkohol entschieden. Also stießen sie mit Wasser an.
»Erzähl«, forderte Lorenz sie auf.
Sie sah sich um. Das Restaurant war gediegen, holzlastig. Ricarda mochte es eher luftig und hell. Aber Lorenz’ Wahl hatte einen großen Vorteil: Ihr kleiner Tisch war in einer Nische, und niemand konnte das Gespräch belauschen. »Ich habe dir ja am Telefon schon erzählt, dass wir diese neue Spur haben, die uns die Abteilung Tatortmunition geliefert hat.«
»Nein, erzähl’s mir einfach noch mal chronologisch. Dann kann ich mir ein besseres Bild davon machen.«
Lorenz’ Gesichtsausdruck hatte sich verändert. So hatte sie ihn erlebt, als er den Vortrag gehalten hatte. Professionell. Immer noch attraktiv, aber professionell. Wie später an jenem Abend an der Bar spürte sie auch diesmal bei seinem Anblick ein angenehmes Ziehen in der Körpermitte. Sie ignorierte es. Wie damals. Professionell konnte sie auch. Also berichtete sie: »Am Donnerstag, dem ersten August, also heute vor gut fünf Wochen, da fanden wir die Leiche von Mia Oloniak. Ihre Mutter, Monika Oloniak, hatte das kleine Mädchen in der Nacht von Sonntag auf Montag zuvor auf die Welt gebracht. Es war eine schwere Geburt gewesen. Kurz bevor sie einen Kaiserschnitt gemacht hätten, hat sich das Mädchen doch noch entschieden, den Körper der Mutter auf natürliche Weise zu verlassen. Um dreiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig durchtrennte der Arzt die Nabelschnur.«
Ricarda spürte, wie ihr wieder Tränen in die Augen stiegen. Nein, sie würde nicht weinen, so wie in der Nacht, nachdem sie die Leiche von Mia Oloniak gefunden hatten. Abends, in ihrem Bett, in ihren eigenen Kissen – und sie schlief meistens mit dreien auf einmal –, da konnte sie sich gehen lassen, es war der einzige Ort, wo sie sich das erlaubte. Aber hier, vor Lorenz, da wollte sie nicht weinen. Also bemühte sie sich weiterhin um einen sachlichen Ton, der ihr bis dahin ja auch gelungen war.
»Am Donnerstagnachmittag kam der Notruf von einem Mann, der ein totes Baby im Wald gefunden hatte. Mia Oloniak war mit einem aufgesetzten Kopfschuss getötet worden. Kaliber neun Millimeter Parabellum. Jemand hatte ihr die Pistole auf die Stirn gesetzt und abgedrückt.« Ricarda machte eine Pause.
»War der Fundort auch der Tatort?«
»Ja. Wir haben das Projektil im Waldboden unter ihr gefunden. Die Hülse hat der Täter auch liegen lassen.«
»Irgendeine Ahnung, wer dafür hätte verantwortlich sein können?«
»Nun, Geld scheidet aus. Rache an der Getöteten auch. Ich meine, wer will sich wofür an einem Menschen rächen, der noch keine vier Tage gelebt hat. Es gibt eigentlich nur zwei plausible Motive: Jemand aus der Familie wollte sich des Mädchens entledigen. Oder jemand übte Rache an der Familie oder an einem Familienmitglied.« Wieder machte Ricarda eine Pause, die Lorenz erneut für eine Frage nutzte.
»Ihr habt die Eltern abgeklopft, das ganze soziale Umfeld?«
»Klar. Alles. Die Mutter lag im Krankenhaus, als ihre Tochter ermordet wurde. Um dreizehn Uhr bemerkte eine Schwester auf der Säuglingsstation, dass Mia nicht mehr da war. Sie muss in einem Zeitfenster von zehn Minuten geraubt worden sein.«
»Kameras?«
»Nein. ›Wir sind ein Krankenhaus, kein Hochsicherheitstrakt.‹ Zitat Stationsarzt. Bilder gibt’s von der Lobby und am Haupteingang. Nach der Auswertung hatten wir zumindest die Gewissheit, dass das Baby nicht durch den Haupteingang entführt worden ist. Was den Schluss zulässt, dass der Mörder – wenn er auch der Kindesdieb ist – sich ausgekannt haben muss. Also ein Mitarbeiter. Oder jemand, der sich schlaugemacht hat.«
»Die Mutter?«
»Die stand unter Schmerzmitteln. Die Geburt war brutal. Sie hatte einen Dammriss und eine Verletzung an der Schambeinfuge. Ziemlich schmerzhaft. Sie scheidet als Täterin aus. Zumal sie in einem Zweibettzimmer lag. Man hätte ihr Verschwinden bemerkt.«
»Okay. Der Vater?«
»Pjotr Oloniak. Geboren in Russland. Fünf Jahre älter als seine Frau, also sechsundzwanzig. Lebt in Deutschland, seit er zehn ist. Mehrere Jugendstrafen. Die letzte vor sieben Jahren. Hauptschule geschafft. Lehre als Kfz-Mechaniker abgebrochen. Blieb den Autos treu. Erst Taxifahrer, seit drei Jahren Lkw-Fahrer. War am ersten August nach Münster in Westfalen unterwegs, kam erst am frühen Abend zurück. Scheidet also auch als Täter aus. Sein Chef und der Fahrtenschreiber bezeugen das.«
»Oma? Opa? Family?«
»Pjotrs Eltern leben ebenfalls in Mainz. Sprechen nicht wirklich gut Deutsch. Er sitzt im Rollstuhl, sie arbeitet halbtags in einem Lebensmittelladen. Die Überwachungskameras hatten sie im Blickfeld, als sie an der Kasse saß. Sie waren kaum zu beruhigen, als sie vom Tod ihrer Enkelin erfahren haben. Monika Oloniaks Eltern leben in Stettin. Auch da war überhaupt kein Hinweis, der uns irgendwie weitergebracht hätte. Monika Oloniak selbst hat bis kurz vor der Geburt in einer Gaststätte gearbeitet, Vierhundert-Euro-Job. Auch da keine Auffälligkeiten. Wir haben die Konten unter die Lupe genommen, aber es kam nichts dabei raus. Nach einer Woche hatte unsere SoKo hundertzwanzig Überstunden zusammen, aber wir waren keinen Schritt weiter. Wir sind an die Öffentlichkeit gegangen – zweihundert weitere Überstunden, aber nur die üblichen Wichtigtuer und Idioten. Keine einzige Spur hat uns irgendwie weitergebracht.«
Lorenz nickte. »Ja. Kenn ich, solche Fälle.«
»Schon nach zwei Wochen haben sie die SoKo zurückgeschraubt, weil es einfach keinen Ansatz mehr gab. Das gesamte persönliche Umfeld liefert keine Spur, um weiterzuermitteln.«
»Was habt ihr gemacht?«
»Ich hab mir die Eltern von dem Baby noch mal vorgenommen. Bin sogar nach Stettin gefahren, um persönlich mit den Eltern von der Mutter zu reden. Ich hatte den Eindruck, dass der Vater von Monika nicht alles sagt. Aber auch da nichts Konkretes, und als Täter scheidet er aus. Er war in Begleitung seiner Frau beim Arzt, was der Arzt und auch die Arzthelferinnen bestätigt haben. Das war es dann auch. Bis ich dann gestern diese Nachricht von deinen Kollegen aus der Tatmunitionssammlung gelesen habe.«
Die Bedienung brachte das Essen, den Fisch für Lorenz und die Paella für Ricarda.
»Was haben die Kollegen von der Tatmunition dir gesagt?«, fragte Lorenz.
»Die haben sich gestern gemeldet, nachdem sie das Projektil von unserem Landeskriminalamt bekommen hatten. Deshalb hat’s auch ein bisschen gedauert. In unserem LKA konnten sie das Projektil keiner bekannten Waffe zuordnen. Erst das BKA hat herausgefunden, dass es zu einer Waffe gehört, die bei einem weiteren Mord benutzt worden ist. Aber eben nicht bei uns in Rheinland-Pfalz, sondern in Baden-Württemberg. Freitag haben sie das Ergebnis geschickt, gestern habe ich es gelesen und dich gleich angerufen.«
»Was für eine Waffe war das?«
»Eine Walther P38. Ein Modell, das im Zweiten Weltkrieg benutzt wurde. War damals die Pistole der Wehrmacht. Wurde mit einem Schalldämpfer abgefeuert.«
»Und wann ist diese Waffe schon mal benutzt worden?«
»Ein gutes Jahr zuvor. In Heidelberg. Der Tote war Reinhard Hollster. Damals einunddreißig Jahre alt. Er war schwul. Die Kollegen in Heidelberg haben damals seinen Lebensgefährten festgenommen. Ihm wurde auch der Prozess gemacht.«
»Und?«
»Freispruch. Aus Mangel an Beweisen.«
»Hast du mit den Kollegen gesprochen?«
»Ja. Kurz. Reppert, so heißt der damals leitende Ermittler, er hielt den Lebensgefährten für den Schuldigen.«
»Und die Waffe?«
»Wurde nicht gefunden. Die Kollegen in Heidelberg sind davon ausgegangen, dass er sie einfach in den Neckar geworfen hat. Plausibel. Bis zum Mord an Mia Oloniak.«
»Also?«
»Also gibt es jetzt genau zwei Möglichkeiten. Die erste: Jemand hat die Waffe benutzt und dann weiterverscherbelt, und sie ist jetzt hier in Mainz gelandet. Vielleicht hat er sie auch einfach weggeworfen, und jemand anderes hat sie gefunden und benutzt.«
»Und die zweite Möglichkeit: Es gibt nur einen einzigen Täter, der sowohl diesen …?«
»Hollster.«
»… der sowohl diesen Hollster in Heidelberg als auch das Baby in Mainz auf dem Gewissen hat.«
»Genau. Und das ist der Grund, weshalb ich dich angerufen hab. Denn das Vorgehen ist bei beiden identisch: ein aufgesetzter Kopfschuss. Hollster saß in seinem Sessel, als er erschossen wurde. Mia lag auf dem Boden. Das sieht in beiden Fällen nach ’ner Hinrichtung aus.«
»Ein schwuler Einunddreißigjähriger und ein vier Tage altes Baby – wo soll da der Zusammenhang bestehen? Das wirkt in der Kombination mindestens genauso sinnlos wie der Mord an der kleinen Mia für sich allein betrachtet.«
»Ja. Wir sind auch keinen Schritt weitergekommen, als wir den Mord an Mia Oloniak untersucht haben. Es gab rein gar nichts, was uns in irgendeine Richtung weitergebracht hätte. Es gab nirgendwo auch nur den Ansatz eines Motivs. Aber das hab ich ja schon gesagt.« Ricardas Tonfall war müde, und das entsprach dem, wie sie sich fühlte. Seit fünf Wochen hatte sie in die unterschiedlichsten Richtungen ermittelt. Sie war nicht einmal gegen Wände gelaufen. Sie war immer nur jeweils in immer dichteren Nebel gelangt, bis nichts mehr zu sehen gewesen war. Und dann war sie umgekehrt. »Und nun stellt sich raus, dass mit dieser Waffe schon einmal ein Mord verübt worden ist. Vielleicht ist das ja ein neuer Ansatz. Wenn ich auch noch keine Idee habe, wie das zusammenhängen soll.«
Lorenz sah auf den Tisch, dann Ricarda direkt in die Augen. »Du weißt, dass wir von deinem Chef hinzugezogen werden müssen. Im ersten Schritt.«
»Ja.« Ricarda seufzte. Der kleine Dienstweg, den sie genommen hatte, war anders als der Weg, der durch Jürgen Hähnlein, den Präsidiumsleiter, vorgegeben war. Hähnlein war für Ricarda eindeutig ein »Trotzdem«. In der Therapie, die sie seit zwei Jahren machte, hatte ihr Therapeut ihr nahegelegt, für alles, was sie tat, eine Liste zu machen. Dann sollte sie herausfinden, ob sie das aus einem bestimmten Grund tat oder aus Trotz, weil da ein Widerstand war, gegen den sie sich wehrte. Das sorgte für Klarheit, auch wenn die Situation nicht immer gleich zu ändern war. Sie hatte vor nicht allzu langer Zeit eine Liste gemacht hinsichtlich ihres Jobs. Es gab eine ganze Menge »Weils«, doch in der Sparte der »Trotzdems« tauchte immer wieder der Name Jürgen Hähnlein auf. Er war ein Mensch, der einfache Dinge verkomplizierte und dies kraft seines Amtes auch durchsetzen konnte.
»Es gibt auch die Option, dass sich mein Chef einschaltet. Aber dafür brauchen wir einfach mehr. Ich schlage dir Folgendes vor: Du besuchst noch einmal die Eltern von dem toten Baby …«
»… von Mia Oloniak.«
»Genau, von Mia Oloniak. Und ich fahre nach Heidelberg und unterhalte mich mit diesem Kollegen Reppert. Und dann sehen wir, ob und wie wir zusammenkommen. Deal?«
»Aber wann machst du dich mit dem Fall vertraut? Ich meine, bislang weißt du nur, was ich dir erzählt habe.«
»Das mache ich jetzt. Fahren wir wieder in dein Präsidium?«