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Michael A. Hartenstein

Die Geschichte
der Oder-Neiße-Linie

»Westverschiebung« und »Umsiedlung« –
Kriegsziel der Alliierten oder Postulat
polnischer Politik?

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Bibliografische Information
der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

3. Auflage 2014
© Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek/München
Internet: www.lau-verlag.de
2. aktualisierte und überarbeitete Auflage 2007
© 2006 Olzog Verlag GmbH, München

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Umschlagentwurf: Atelier Versen, Bad Aibling
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

Inhalt

Vorwort

1.

Die Entstehung der Oder-Neiße-Linie

1.1

Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie

1.1.1

Entstehung und Charakter des polnischen Nationalismus

1.1.2

Die Entstehung polnischer Gebietsansprüche bis zum Ausgang des Ersten Weltkrieges

1.1.3

Die deutsch-polnische Grenzregelung nach dem Ersten Weltkrieg

1.1.4

Polnische Revisionsforderungen und Gedanken zur Westgrenze 1920 bis 1939

1.2

Die Zeit vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bis zur Konferenz von Teheran

1.2.1

Forderungen der polnischen Exilregierung

1.2.2

Die Entstehung der Kompensationstheorie

1.2.3

Die Atlantik-Charta

1.2.4

Die Konferenz von Teheran

1.3

Von Teheran nach Jalta

1.3.1

Die polnische Reaktion auf die Ergebnisse der Konferenz von Teheran

1.3.2

Die „innerkommunistische“ Festlegung auf die Nachkriegsgrenzen Polens

1.3.3

Abnehmende Bedeutung der Exilregierung in London

1.3.4

Das „Londoner Protokoll“ vom 12. September 1944

1.3.5

Amerikanische und britische Vorstellungen zur deutsch-polnischen Grenze vor der Konferenz von Jalta

1.4

Die Konferenz von Jalta

1.4.1

Die Schlußerklärung von Jalta

1.4.2

Die Bedeutung des Ergebnisses der Konferenz von Jalta

1.5

Von Jalta nach Potsdam

1.5.1

Polen und die Sowjetunion schaffen östlich von Oder und Lausitzer Neiße vollendete Tatsachen

1.5.2

Die Kapitulation des Deutschen Reiches und die „Berliner Erklärung“

1.5.3

Vorbereitungen zur Konferenz von Potsdam

1.5.3.1

Die amerikanische Ausgangsposition

1.5.3.2

Die britische Ausgangsposition

1.5.3.3

Die polnische Ausgangsposition

1.6

Die Potsdamer Konferenz

1.6.1

Der Verlauf der Potsdamer Konferenz – die Diskussionen über die deutsch-polnische Grenze

1.6.2

Zusammenfassung der Argumentation der Delegationen

1.6.3

Die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz

1.6.4

Das Potsdamer Protokoll und Stettin

1.6.5

Die politische und rechtliche Bedeutung des Potsdamer Protokolls

1.7

Begründungen für die Oder-Neiße-Linie als Grenze

1.7.1

Die Kompensationstheorie

1.7.2

„Rückkehr“ Polens in „urpolnisches Gebiet“?

1.8

Die Vertreibung und Deportation der deutschen Bevölkerung

2.

Die Oder-Neiße-Linie nach der Konferenz von Potsdam

2.1

Die Haltung der Westmächte

2.1.1

Die Haltung Frankreichs

2.1.2

Die Haltung Großbritanniens

2.1.3

Die Haltung der USA

2.1.4

Die Entstehung des „Kalten Krieges“ als Wendepunkt für die Haltung der Westmächte

2.1.5

Amerikanische und britische Revisionsvorstellungen der Jahre 1946/47

2.1.6

Die Gründung des „Weststaates“

2.2

Die Haltung der UdSSR

2.3

Die Haltung der Katholischen Kirche

2.4

Die Haltung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands bzw. in der Deutschen Demokratischen Republik und die Haltung in der Volksrepublik Polen

2.4.1

Polen 1945 bis 1949

2.4.2

Sowjetische Besatzungszone Deutschlands (SBZ) 1945 bis 1949

2.4.3

Die Haltung in der DDR und in Polen von 1949 bis 1989

2.5

Die Haltung in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands bzw. in der Bundesrepublik Deutschland

2.5.1

1945 bis 1949

2.5.2

Die Haltung der Regierungen Adenauer und Erhard (1949 bis 1966)

2.5.3

Die Haltung der Regierungen Kiesinger, Brandt, Schmidt und Kohl (1966 bis 1989)

2.6

Die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie im Zuge der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands

2.6.1

Deutschland: freiwillige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie oder Anerkennung als Folge von Druck?

2.6.2

Vertragliche Schritte zur völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie

2.6.2.1

Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands

2.6.2.2

Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland

2.6.2.3

Der deutsch-polnische Grenzbestätigungsvertrag vom 14. November 1990

2.7

Nach der Grenzanerkennung

2.7.1

Annexion und Vertreibung im Bewußtsein von Deutschen und Polen

2.7.2

Restitution von Eigentum

3.

Zusammenfassung und Bewertung

4.

Quellen und Literatur

I.

Quellenveröffentlichungen, Dokumentationen und Vertragstexte

II.

Literatur und Memoiren

Verzeichnis der Landkarten

Karte 1:

Polens Grenzen 1916–1939

Karte 2:

Die Grenzvorstellung der polnischen Exilregierung im Oktober 1939 und im Februar 1942

Karte 3:

Die Grenzvorstellung der polnischen Exilregierung vom 7. Dezember 1943 und des „Rates der Nationalen Einheit“ (RJN) vom 15. März 1944

Karte 4:

Der geheime sowjetisch-polnische Grenzvertrag vom 27. Juli 1944

Karte 5:

Die Grenzvorstellungen der Alliierten vor der Konferenz von Jalta

Karte 6:

Die deutsch-polnische Grenze auf der Konferenz von Potsdam

Karte 7:

Die Oder-Neiße-Linie bei Stettin

Karte 8:

Deutschland und Polen 1937 und 1945/90

Karte 9:

Amerikanische Revisionsvorstellungen der Jahre 1946/47

Karte 10:

Die Oder-Neiße-Grenze seit dem Abkommen von Görlitz 1950

Anmerkungen

Vorwort

Von Deutschland wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs etwa ein Viertel seines Staatsgebietes innerhalb der Grenzen vom 31. Dezember 1937, mithin also des Staatsgebietes der vormaligen „Weimarer Republik“, abgetrennt. Neue deutsch-polnische Grenze wurde eine willkürliche Linie an Oder und Lausitzer Neiße.

Das Thema „Oder-Neiße-Grenze“ scheint heute, zumal nach den deutsch-polnischen Verträgen der Jahre 1990/91, uninteressant geworden zu sein. Weite Teile der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland können sachlich oder emotional mit diesem Thema heute kaum noch etwas anfangen. Nach den politischen Umbrüchen in den sechziger und siebziger Jahren in Westdeutschland, der daraufhin dort folgenden weitgehenden Ausblendung der Thematik im Geschichtsunterricht sowie nach der jahrzehntelangen Tabuisierung der Problematik in der DDR assoziieren viele Deutsche mit den Begriffen Oder-Neiße, Pommern, Schlesien oder Ostpreußen diffus allenfalls etwas „Ewiggestriges“ bzw. „Heimattümelei“ – oder wittern gar immer noch „Revanchismus“. Für andere heutige Deutsche liegen Breslau, Stettin, Danzig, die Marienburg, Masuren, das Riesengebirge schlicht in „Polen“, ohne daß sie wissen, daß diese und andere Stätten jahrhundertelang von Deutschen bewohnt waren und zu Deutschland gehört haben. Die einseitige historische Erinnerungskultur in der Bundesrepublik Deutschland und die damit einhergehende notorische Geschichtsvergessenheit konnte, wie in Gesprächen manchmal festzustellen ist, sogar dazu führen, daß es heute Deutsche (darunter sogar Nachfahren von Ostvertriebenen) gibt, die ernsthaft glauben, die alten Ostgebiete Deutschlands seien 1939 von Hitler erobert worden – und 1945 mußten diese Gebiete nach solcher Auffassung eben gerechterweise wieder zurückgegeben werden. Die früher angewandte polnische Propagandaformel von den „wiedergewonnenen Gebieten“ mag dazu das Ihrige auch bei den Deutschen von heute beigetragen haben. Die verbreitete Tabuisierung, die in der deutschen Öffentlichkeit über den endgültigen Verlust der deutschen Ostgebiete nach wie vor vorherrscht, gehört wohl mit zu den eigenartigsten Phänomenen in der Bundesrepublik Deutschland. Daran haben auch Fernsehserien über die Vertreibung oder Günter Grass’ Buch „Im Krebsgang“ sowie die Diskussion um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ wenig geändert.

Entsprechend unbekannt sind heute in Deutschland (und übrigens auch in Polen!) die Umstände und Abläufe, die 1945 dazu führten, daß diese Grenze entstehen konnte, sowie die Folgen dieser Grenzziehung.

Das vorliegende Buch soll eine übersichtliche geschichtswissenschaftliche Darstellung der Vorgänge sein, die zur Faktizität der heutigen deutsch-polnischen Grenze führten.

Die Zeit der konkreten Entstehung der „Oder-Neiße-Grenze“ fällt eigentlich in den Zeitraum des Zweiten Weltkrieges. In dessen Endphase führten die Alliierten USA, Großbritannien und Sowjetunion auf „Kriegskonferenzen“ in Teheran, Jalta und Potsdam von 1943 bis 1945 intensive Verhandlungen zum Thema polnische Nachkriegsgrenzen, in die direkt und indirekt auch die polnische Exilregierung bzw. die von Moskau unterstützte kommunistische polnische Regierung einbezogen waren.

Die Entstehungsgeschichte der Oder-Neiße-Linie als Grenze war mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch noch nicht abgeschlossen, da es auch noch eine lange Geschichte der völkerrechtlichen Anerkennung dieser Grenze gab. Auch existierte ein polnischer „Drang nach Westen“ nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg, eine Tatsache, die bisher nicht genügend Aufmerksamkeit seitens der Historiographie erhalten hat.

In diesem Buch wird demzufolge die Geschichte der Oder-Neiße-Linie von ihrer „Vorgeschichte“ in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bis zu ihrer endgültigen völkerrechtlichen Anerkennung 1990/92 im Zuge der „abschließenden Regelung in bezug auf Deutschland“ erstmals in diesem Umfang zusammenfassend dargestellt. Ein eindeutiger Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei in der Zeit der schon erwähnten „Kriegskonferenzen“ von Teheran, Jalta und Potsdam, in der für die neue deutsch-polnische Grenze die Entscheidungen getroffen und verwirklicht wurden. Ferner werden jedoch ausführlicher die für die Entstehung dieser Grenze wichtige, lange vor dem Zweiten Weltkrieg entstandene polnische Ideologie des „Westgedankens“ behandelt, sowie für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg westliche Revisionsvorstellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit und die Haltung zur Oder-Neiße-Linie in den direkt davon betroffenen Staaten sowie bei den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges.

Die grobe Zweiteilung der vorliegenden Darstellung in die Zeit einer reinen Entstehungsgeschichte und die Zeit der „Anerkennungsgeschichte“ der Oder-Neiße-Linie soll den sachlichen Unterschied zwischen einerseits der eigentlichen Entstehungsgeschichte der Grenzlinie vor allem in der Zeit der „Anti-Hitler-Koalition“ und andererseits dem späteren politischen und völkerrechtlichen „Oder-Neiße-Konflikt“ verdeutlichen. Der zeitliche Schnitt wurde dabei an der Zeit nach der Potsdamer Konferenz angelegt, da schon kurz nach dem Ende dieses interalliierten Gipfeltreffens das die Niederringung des „Dritten Reiches“ und damit auch die Oder-Neiße-Linie ermöglichende Zweckbündnis „Anti-Hitler-Koalition“ im beginnenden „Kalten Krieg“ zerbrach, nachdem seine Hauptaufgabe erfüllt war.

Dieses Buch will im wesentlichen folgende Fragen beantworten: Wie kam es zur Oder-Neiße-Linie? Wer wollte diese Grenze seit wann und aus welchen Gründen? Wer hat die Oder-Neiße-Linie tatsächlich als Staatsgrenze durchgesetzt und verwirklicht? War im Grunde Hitler schuld an der Oder-Neiße-Grenze und damit an der Vertreibung der Ostdeutschen? Gab es je eine Möglichkeit der Revision dieser Grenze? Welche Bedeutung für die Entstehung der Oder-Neiße-Linie hatte eigentlich die Konferenz von Potsdam, die kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa stattfand, wirklich? War die neue deutsch-polnische Grenze tatsächlich als gemeinsamer Beschluß der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges eine Folge der Potsdamer Konferenz?

Da das Problem der Entstehung der Oder-Neiße-Linie sehr umfangreich ist, mußte für die Beantwortung dieser Fragen im Rahmen eines bewußt kurz und lesbar gehaltenen Buches eine Beschränkung auf das Wesentliche und Exemplarische erfolgen. Es wurde versucht, konkrete Entscheidungen, die Schritte in die Richtung der neuen deutsch-polnischen Grenze erbrachten, im Rahmen der teils auseinanderlaufenden, teils deckungsgleichen übergeordneten Interessen der Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges darzustellen, da zwar die Polenfrage für die Alliierten ein zentrales Problem der Nachkriegsordnung war, die Grenzfrage demgegenüber jedoch eine vergleichsweise untergeordnete Bedeutung besaß, Entscheidungen oder Kompromisse in der Grenzfrage also immer in Zusammenhang mit für die Sieger übergeordneten Interessen gesehen werden müssen.

Zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie ist seit Ende der 1940er Jahre bis heute eine sehr große Zahl an relevanten Quellenveröffentlichungen, Erinnerungsliteratur und wissenschaftlichen Darstellungen erschienen. Es sei diesbezüglich auf die Fußnoten sowie auf das Quellen- und Literaturverzeichnis verwiesen, in welchem alle für die Erarbeitung dieses Buches berücksichtigten Titel aufgeführt sind.

Jede in diesem Buch getroffene Aussage wird durch einen oder mehrere Fundstellennachweise belegt, wodurch nicht nur eine Überprüfbarkeit, sondern auch der Anreiz zu weiterem Nachlesen gegeben werden soll.

Mehrere Kartenskizzen verdeutlichen das im Text Dargestellte.

Diese Untersuchung möchte über die reine Darstellung historischer Tatsachen hinaus auch eine Auseinandersetzung mit der schwierigen und tragischen deutsch-polnischen jüngeren Vergangenheit leisten. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist jedoch nur möglich, wenn man diese auch kennt. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die nichts ausspart, auch keine unbequemen Wahrheiten, ist darüber hinaus eine wichtige Voraussetzung dafür, daß eine zukunftsweisende deutsch-polnische Verständigung, die diesen Namen verdient, überhaupt stattfinden kann. Auch hier gelten die Worte Richard von Weizsäckers, der im Zusammenhang mit der Ermordung der Juden durch das NS-Regime am 8. Mai 1985 ausführte, „daß es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann“.1 Anschließen möchte ich mich an dieser Stelle auch den Worten des Historikers Michael Wolffsohn, der zum Volkstrauertag 1996 in der Frankfurter Paulskirche u. a. ausführte, daß man seelische Abwehrreaktionen erzeuge, „wenn aufgrund der verbrecherischen Nationalgeschichte des sogenannten ‚Dritten Reiches‘ das millionenfache individuelle Leid von Deutschen, zum Beispiel Flucht, Vertreibung oder der Bombenhagel auf Zivilisten, tabuisiert, minimiert oder nicht ernstgenommen wird. Die Rache an Deutschen war nach dem Zivilisationsbruch von Deutschen ihrerseits ein Rückfall ins vorzivilisatorische Zeitalter der Selbst- und Lynchjustiz. Mit ‚Aufrechnung‘ oder gar Verharmlosung der vorangegangenen deutschen Verbrechen hat dies nichts zu tun, alles aber mit Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Vollständigkeit, Seele und Mitgefühl. Ohne Mitgefühl kein Miteinander, ohne Miteinander kein innerer, seelischer Frieden und neues Gegeneinander. Wer nicht die Toten des eigenen Volkes betrauert, wird erst recht nicht die Toten anderer Völker betrauern. Wer eigenes Leid kennt und öffentlich nennt, wird das Leid anderer eher nachfühlen können – und wollen. Ausschließlichkeit des nationalen oder individuellen Leids verhärtet Herz und Verstand den anderen gegenüber.“2

Möge dieses Buch ein wenig dabei mithelfen, daß ein besonders dunkles Kapitel der europäischen Geschichte – immerhin wurden infolge der Aufrichtung der Oder-Neiße-Grenze Millionen von Menschen getötet, vertrieben oder umgesiedelt – vor dem Vergessenwerden oder vor der Verharmlosung bewahrt bleibt.

1.Die Entstehung der Oder-Neiße-Linie

1.1Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie

„In den letzen Jahrhunderten war das deutsch-polnische Verhältnis immer wieder belastet, fast immer schwierig und in der jüngeren Vergangenheit von Grausamkeiten, Leiden und Schrecken geprägt, was jedoch allein den Deutschen angelastet wird, ohne den polnischen Beitrag dabei wahrnehmen zu wollen.“3 Diese Worte des Politikwissenschaftlers und Historikers Georg Strobel bringen ein Wahrnehmungsproblem der Geschichte der deutsch-polnischen Nachbarschaft bereits deutlich auf den Punkt. Die Verbrechen, die im Zuge der deutschen Besatzungsherrschaft während des Zweiten Weltkrieges geschehen sind, haben in der heutigen öffentlichen Wahrnehmung der historischen Dimension des deutsch-polnischen Verhältnisses fast alles überdeckt, was vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen ist.

Beide Seiten – Deutsche und Polen – haben jedoch gleichermaßen durch tradierte Bilder vom Nachbarn zu dem schlechten beiderseitigen Verhältnis beigetragen. Auf deutscher Seite war dies vor allem eine Geringschätzung Polens und der Polen, die am beredtesten in den Wendungen von der „polnischen Wirtschaft“ und – in der „Zwischenkriegszeit“ – vom „Saisonstaat“ Polen ihren Ausdruck fand. Auf polnischer Seite war dies ein tiefverwurzeltes „Deutschensyndrom“, auch als „Preußenkrankheit“ (Strobel) bezeichnet, gespeist aus einem kulturellen und politischen Unterlegenheitsgefühl, das seine tiefste Ausprägung mit Beginn der polnischen Teilungen und vor allem im 19. Jahrhundert gefunden hat und in einen extremen antideutschen Nationalismus mündete, der schon lange vor dem Ersten Weltkrieg zu ebenso extremen polnischen Territorialvorstellungen führte.

Der Sozialdemokrat Peter Glotz hat diesen Gedanken – unter Hinweis auf eine von ihm verfaßte Geschichte der Vertreibung der Sudetendeutschen – treffend so formuliert: Die Geschichte habe „nicht mit den Nazis angefangen“, man dürfe „die frühnationalen Erwecker, die nationalistischen Oberlehrer und Journalisten nicht aus der Verantwortung lassen.“ Wer „wirklich gegen Vertreibungen (und zwar zukünftige!) kämpfen“ wolle, müsse „die ganze Kette der Ursachen beleuchten.“ Der eigentliche Grund für Vertreibungen seien „übertriebene Identitätssucht, übersteigerte Loyalitätsgefühle zum eigenen Volk, Fremdenhaß, Nationalismus. Da können die meisten europäischen Völker kräftig vor der eigenen Tür kehren.“4

Zur ganzen „Kette der Ursachen“ der Entstehung der Oder-Neiße-Linie gehören somit nicht allein der deutsche Nationalismus oder der Nationalsozialismus mit Hitler, sondern auch der polnische Nationalismus. Im Zuge der Entwicklung des polnischen Nationalismus mischten sich spezifisch polnische Faktoren und Beweggründe mit allgemeineuropäischen Zeitströmungen und Denkmustern. Von den den polnischen Nationalismus tragenden nationalen Ideologien und Mythen sind dabei die polnischen territorialen Ansprüche, der „Drang“ nach Westen und zur Ostsee, nicht zu trennen. Ein „sowohl auf ethnische als auch auf ökonomische und geopolitische Kriterien abstellender integraler Nationalismus, wie er sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in ähnlicher Form in vielen Ländern Europas herausbildete, lieferte das ideologische Fundament, auf dem sich das schon vorher verschiedentlich geäußerte Interesse an den ‚Westgebieten‘ in ein Territorialprogramm verwandelte, dessen Verwirklichung für die polnische Nation zur Existenzfrage schlechthin hochstilisiert wurde.“5 Es erscheint vor diesem Hintergrund verfehlt, polnische Gebietsansprüche gegen Deutschland allein als Reaktion auf preußische, deutsche oder nationalsozialistische Polenpolitik zu deuten.

1.1.1Entstehung und Charakter des polnischen Nationalismus

Die Entstehung des „modernen“ polnischen Nationalismus fällt im wesentlichen in das 19. Jahrhundert, in die Zeit also, in der auch die meisten anderen europäischen Nationalismen entstanden sind, und gleichzeitig in die Zeit, in der Polen als Staat aufgeteilt, d. h. nicht existent war. Die polnische Teilung zeitigte bei weiten polnischen Kreisen selbstverständlich den Wunsch, einen polnischen Staat wiederherzustellen. Damit eng verbunden war auch die Frage, was Polen überhaupt sei und wer die Polen seien sowie die Frage, was früher einmal alles zu Polen gehört hat. Schnell stieß man, ebenso wie in anderen Ländern Europas, auf das Mittelalter, das in romantisierender Weise wiederentdeckt und verklärt wurde. Eine große Rolle spielten bei dem historischen Rückblick bis ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder die Zeit der Dynastie der polnischen Piasten (Ende 10. Jahrhundert bis 1370) und besonders die romantisch-mythisch verklärten „eisernen Grenzpfähle“, die der polnische piastische König Bolesław Chrobry (der Tapfere) zur Kennzeichnung der Westgrenze seines Reiches um das Jahr 1000 n. Chr. der Legende nach in die Oder habe rammen lassen. Mehrere polnische Historiker, Schriftsteller und Publizisten entwickelten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts großes Interesse an den früheren „piastischen Westgebieten“, zu denen u. a. auch Schlesien, die Lausitz, Ostbrandenburg (Neumark) und Pommern sowie West- und Ostpreußen gerechnet wurden. Sie wirkten durch eine populäre historische Publizistik maßgeblich an der Ausbildung eines weitverbreiteten national-mythisch-heroisch verklärten Geschichtsbildes mit, das dann später auf politischer Ebene zur Untermauerung polnischer Gebietsansprüche im Westen herangezogen wurde. Eine große Rolle bei der Entdeckung der aus dem Mittelalter herrührenden Identität spielte darüber hinaus auch in Polen das einfache Volk, insbesondere das Bauerntum, das als Träger wehrhaften, unverfälschten Polentums idealisiert wurde.

Der Staat, der einen Großteil dieser früher zeitweise piastischpolnischen Gebiete im Westen und Norden besaß, war Deutschland bzw. Preußen. Schlesien, die Lausitz, die Neumark, Pommern, Ostpreußen sowie Teile Westpreußens waren seit Jahrhunderten germanisiert, d.h. von Deutschen bewohnt. Von „piastisch“ inspirierten Schriftstellern und Historikern wurde polnischerseits aufgrund der territorialen und ethnischen Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts ein von Beginn an bestehender, gleichsam geschichtsnotwendiger polnisch-deutscher Antagonismus konstruiert, eine seit Jahrhunderten ungebrochene Kontinuität deutscher territorialer und ethnischer Expansion zulasten Polens, zusammengefaßt ausgedrückt im Schlagwort vom deutschen „ewigen Drang nach Osten“. Insbesondere Preußen wurde als ein ausschließlich durch Gewaltanwendung und Vertragsbruch auf nichtdeutschem Territorium installiertes künstliches Staatswesen, als „Raubstaat“, dargestellt. Im Polnischen wurde für diesen angeblichen Drang das Schlagwort „Zaborczość“ geprägt, das in etwa „räuberisches Streben nach Expansion und gewaltsamer Beherrschung anderer“ bedeutet. Die deutsche Geschichte in Ostmitteleuropa, insbesondere die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters, wurde so im polnischen Bewußtsein regelrecht kriminalisiert. Als Ergebnis dieser historischen Betrachtungsweise entstand ein klar definiertes Feindbild, das am prägnantesten durch das im 17. Jahrhundert entstandene und im 19. und 20. Jahrhundert populäre polnische Sprichwort „Solange die Welt sich dreht, wird der Deutsche dem Polen kein Bruder sein“ ausgedrückt wurde.

Der polnische Nationalismus war im 19. Jahrhundert am Ende dieser Entwicklung zu einem sogenannten „integralen“ Nationalismus geworden, der die eigene Nation zum Gegenstand höchster, quasireligiöser Verehrung machte, zum absoluten Wert an sich. Dieser Nationalismus wirkte, bezogen auf die „Kulturnation“, nach innen vereinheitlichend und nach außen strikt abgrenzend. Immanent war ihm das irredentistische Element, d. h. der Drang, unter Fremdherrschaft stehende „unerlöste“ Volksteile und Gebiete zu „befreien“, wobei die Kriterien dafür, was polnisch war und ist, eher großzügig zugunsten eines großen Polens ausgelegt wurden. Dieser, auf die polnische Kultur- und Sprachnation – das mythische Volk – und die piastische älteste Zeit Polens blickende Nationalismus wird überwiegend als „piastischer“ Nationalismus bezeichnet.

Politische Trägerin des solcherart entstandenen polnischen Nationalismus war seit Ende des 19. Jahrhunderts neben anderen vor allem die „Demokratisch-nationale Partei“ (Stronnictwo Demokratyczno-Narodowe), besser bekannt unter der Kurzbezeichnung „Nationaldemokratie“ (Narodowa Demokracja), nach deren Anfangsbuchstaben sich auch die Bezeichnung „Endecja“ einbürgerte, mit ihren einflußreichen Publikationsorganen.6 Führer und Vordenker der „Endecja“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert war Roman Dmowski, „für den sich die Menschheit ausschließlich in Nationen“ verwirklichte, „die ihrerseits dann Staaten bildeten“.7 Dmowski sollte am Ende des Ersten Weltkrieges für Polen noch eine herausragende Rolle spielen. Ein weiterer wichtiger Vordenker der polnischen Nationaldemokratie, der vor allem das einfache Volk als die polnische Nation der Zukunft propagierte, war der Publizist Jan Ludwik Popławski. Im Denken Dmowskis und Popławskis wurden neben den Gedanken vom „Volk“ die Begriffskategorien des „Kampfes“ und der „Expansion“ regelrecht zu Dogmen erhoben. Die Frage der Zugehörigkeit der von Preußen beherrschten „Westgebiete“ wurde von ihnen zu einer Frage von schlechthin existentieller Bedeutung stilisiert. An dieser Frage „mußte sich die Fähigkeit der polnischen Nation zur Expansion erweisen, hier mußte sie sich überhaupt erst das Recht erstreiten, in Zukunft wieder gleichberechtigt am Tisch der europäischen Nationen Platz zu nehmen“.8 Trotz ihrer territorialen Westfixierung wollte sich die Nationaldemokratie im Falle einer Wiedergeburt Polens jedoch nicht auf eine Westexpansion beschränken. Vielmehr versuchte sie, den in der polnischen Diskussion während der Zeit der Teilung vorhandenen Gegensatz zwischen denen, die die Wiederherstellung Polens vor der ersten Teilung (1772) und denen, die einen neues Polen auf ethnographischer Basis mit Westausdehnung wollten, aufzulösen. Die polnische Nationaldemokratie vertrat daher, wie der Historiker Roland Gehrke es formulierte, das „Ziel einer möglichst weitreichenden Expansion nach Ost und West“,9 wobei wahlweise ethnographische, geographische, historische oder kulturelle Argumente verwendet wurden – je nachdem, wo welche Art von Argument einen Expansionsanspruch begründen half. Der polnische Nationalismus, vertreten insbesondere durch die „Endecja“, propagierte und popularisierte eine Ideologie der Expansion, „die allein den ‚nationalen Egoismus‘ als oberste Handlungsmaxime anerkannte und sich an eine übergeordnete Moral nicht gebunden fühlte“. Bei dieser Handlungsmaxime „bedurfte es bei der Festlegung der künftigen Grenzen gar keiner objektiv plausiblen Begründung. Oberstes Ziel war schließlich die Schaffung eines möglichst starken – und das hieß vor allem: eines möglichst großen – Polen, ohne dabei irgendwelche Rücksichten auf andere zu nehmen.“10

Mit den politischen Bewegungen erwuchs die katholische Kirche in Polen im 19. Jahrhundert zum unangefochtenen nationalen und politischen Vorbild der polnischen Nation und wurde damit zur nationalkulturellen Klammer des aufgeteilten Landes. Sie machte sich die Wiederherstellung Polens uneingeschränkt zu eigen und stützte den polnischen Nationalismus stark durch die Hinzufügung einer nationalreligiös-katholischen Komponente.11

Die ablehnenden deutschen Reaktionen auf den polnischen Nationalismus, insbesondere die Niederschlagung polnischer Wiederherstellungsbestrebungen im 19. Jahrhundert, verstärkten den polnischen Nationalismus noch. Schon die Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche machte unmißverständlich klar, „daß ein wiedererstandenes Polen all jene Grenzgebiete an Deutschland abzutreten habe, in denen eine Mehrheit der Bevölkerung dies verlange, auf eine vollständige Wiederherstellung der Grenzen von 1772 also verzichten müsse“. Otto von Bismarck, preußischer Ministerpräsident und Kanzler des Deutschen Reiches, machte seine Ablehnung der Wiedererstehung Polens frühzeitig mit dem Argument deutlich, ein wiedererstandener polnischer Staat werde zwangsläufig nach den Grenzen von 1772 streben und darüber hinaus nach Ostpreußen sowie Teilen Schlesiens und Pommerns, womit „Preußens beste Sehnen durchschnitten“ würden. Gerade Otto von Bismarck waren die polnischen nationalen Bestrebungen und damit verbundene Gebietsansprüche wohlbekannt. Wiederholt äußerte sich Bismarck über die Gefahr für Danzig und Posen, für Schlesien und Ostpreußen im Falle einer Wiederherstellung Polens und die damit verbundene Gefahr polnischer Fremdherrschaft über Millionen von Deutschen. Bereits in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts wies Bismarck auf polnische Landkarten hin, „in welchen die Träume der polnischen Insurrektion ihren Ausdruck finden“ und die „Pommern bis an die Oder als polnische Provinz“ bezeichnen.12

Überlegungen, die von deutscher Seite im Hinblick auf die „polnische Frage“ angestellt wurden, waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert daher immer mit der Territorialfrage verknüpft und von der gerechtfertigten Sorge geprägt, „ein wiedererstandenes Polen müsse zwangsläufig zu einer Bedrohung der eigenen territorialen Integrität werden.“ Die Folge hiervon war eine von allen polnischen Teilungsmächten (Rußland, Österreich-Ungarn, Preußen/Deutschland) gleichermaßen betriebene „negative Polenpolitik“ (Klaus Zernack), deren Grundgedanke von Bismarck für Preußen/Deutschland so formuliert wurde, daß ein großes Polen stets ein unruhiger und rastloser Feind Preußens sein werde, während ein territorial gesättigtes Rußland jedoch ein vergleichsweise ruhiger Nachbar sei. Bismarcks Fazit: „Unsere geographische Lage und die Mischung beider Nationalitäten in den Ostprovinzen einschließlich Schlesiens nötigen uns, die Eröffnung der polnischen Frage nach Möglichkeit hintanzuhalten.“13

Eine besondere Betrachtung verdient an dieser Stelle die Polenpolitik Preußens, die oft als Ursache für die deutsch-polnische Feindschaft im allgemeinen und den polnischen Nationalismus im besonderen dargestellt wird. Als „Beelzebub“ der Polenpolitik galt den Polen vor allem der preußische Ministerpräsident und deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck sowie der „Deutsche Ostmarkenverein“. Besonderer Anstoß wurde polnischerseits an den Sprachgesetzen der 1870er Jahre (Unterrichts- und Amtssprachenregelungen) und der Tätigkeit der Ansiedlungskommission ab 1886 (Ansiedlung deutscher Landwirte in der Provinz Posen) genommen. Insgesamt wurde die polnischerseits als germanisierend und entnationalisierend verurteilte Polenpolitik Preußens bzw. Deutschlands jedoch mit wenig Nachdruck betrieben und hat das Gegenteil von dem erreicht, was ihr unterstellt wurde. Die Ansiedlungskommission schaffte es nicht, den Anteil deutschen Bodens in Posen zu erhöhen – im Gegenteil: Der polnische Bodenbesitz nahm seit Gründung der Ansiedlungskommission aufgrund der Selbsthilfe der polnischen Banken- und Sparkassenorganisation um mehr als 100 000 Hektar zu. Auch der deutsche Bevölkerungsanteil in der Provinz Posen ging in der Preußenzeit kontinuierlich zurück.

In die „Preußenzeit“ fällt – wohl als Auswirkung von Bismarcks „Kulturkampf“ gegen die katholische Kirche – auch die Entwicklung der polnischen Vorstellung von der preußischen Staatskirche als „protestantischer Herrenkirche“, welche die polnische katholische Kirche zu einer „Dienerkirche“ herabwürdige. Bis heute wirkt dieser Stereotyp von den Deutschen als „häretische Protestanten“ und den Polen als „gottgefällige Katholiken“ nach.14

Objektiv betrachtet entstand aufgrund gezielter preußischer und deutscher Entwicklungsmaßnahmen im preußischen Teilgebiet Polens – mit polnischer Beteiligung – jedoch eine moderne und hochproduktive Industrie- und Agrarwirtschaft. Unter preußisch-deutscher Herrschaft entwickelten sich die polnischsprachigen Gebiete Preußens zur „modernsten und reichsten, infrastrukturell bestentwickelten Region des ehemaligen und künftigen Polen“.15 Die polnische Sprache anzuwenden war keineswegs verboten. In der von der polnischen Propaganda so verteufelten Preußenzeit entstanden in der Provinz Posen auch zahlreiche polnischen Parteien, Organisationen, Vereine, Banken und Genossenschaften, Gewerkschaften etc., die polnische Interessen selbstbewußt vertreten haben. Ferner entstanden in dieser Zeit viele Romane, Geschichtswerke und Periodika, die polnisches National- und Geschichtsbewußtsein förderten und als antipolnisch empfundene Maßnahmen des (preußischen) Staates scharf kritisierten. In Preußen sowie im österreichischen Galizien konnte die polnische Presse weitgehend unbehelligt von staatlicher Zensur arbeiten. Auch die polnische Kirche war an dieser Publikationstätigkeit rege beteiligt. All diese Organisationen und Publikationen konnten in der angeblich so repressiven „Preußenzeit“ in der polnischsprachigen Bevölkerung, vom Staat zwar argwöhnisch beobachtet, aber doch weitgehend ungehindert, ein nationales Bewußtsein aufbauen, das sich eindeutig gegen die Interessen Preußens bzw. des Deutschen Reiches richtete und auch offen Gebietsforderungen vertrat.

Es ist aus polnischer Sicht verständlich, daß hinsichtlich der staatlichen Nichtexistenz Polens im 19. und frühen 20. Jahrhundert, für die auch Preußen verantwortlich war, gegenüber dem preußisch-deutschen Staat wenig bis keine Loyalität vorhanden war. Preußen bzw. Deutschland wollte und konnte die Wiederherstellung Polens nicht zulassen, und dies konnte in gewisser Hinsicht als Repression empfunden werden. Für diese Zeit jedoch von einer generellen „Unterdrückung“ der Polen zu sprechen, findet keine wirkliche Entsprechung in den Tatsachen.

1.1.2Die Entstehung polnischer Gebietsansprüche bis zum Ausgang des Ersten Weltkrieges

Polnische Politiker, Historiker, Schriftsteller und Leitartikler, vom „Westgedanken (myśl zachodnia) gefesselt, hatten von einer ‚Rückkehr urpolnischer Gebiete zum Mutterland‘ und von einer polnischen Westgrenze an Oder und Lausitzer Neiße seit Jahrzehnten geträumt – lange vor Hitler“.16 Auch panslawistische, eigentlich zunächst in Deutschland entwickelte und dann vor allem von Rußland aus vertretene Vorstellungen gefährdeten die deutsche/preußische Ostgrenze schon seit dem 19. Jahrhundert.17

Derartige Aspirationen und Vorstellungen können zwar nicht als kalkulierte Planungen zur Errichtung der Oder-Neiße-Grenze zwischen Deutschland und Polen angesehen werden – extreme Meinungen gab und gibt es überall. Letztendlich bereitete den Boden für die Möglichkeit der Errichtung der Oder-Neiße-Grenze der Ausgang des Zweiten Weltkrieges, der die Niederlage und bedingungslose Kapitulation Deutschlands brachte.

Dennoch dürfen expansionistische polnische Stimmen aus der Zeit vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg nicht ignoriert werden, zumal dann nicht, wenn sie einflußreichen Personen des öffentlichen Lebens – Publizisten, Schriftstellern, Wissenschaftlern, Geistlichen, Politikern – gehörten und eine große Popularität sowie den Anschein von wissenschaftlicher Fundiertheit gewannen. „Dies antizipierte so die Potsdamer Territoriallösung von 1945, was von polnischen wie deutschen Publizisten und Historikern entweder nicht wahrgenommen oder gar geleugnet wird.“18 Es muß eben bedacht werden, daß die Politik immer nur von wenigen Persönlichkeiten gestaltet wird, und daß diese Persönlichkeiten Ideen leicht rezipieren, weitertragen und im Falle einer „guten Gelegenheit“ verwirklichen können.

Mit den polnischen Teilungen der Jahre 1772, 1793 und 1795, vorgenommen von Rußland, Österreich und Preußen und modifiziert bestätigt durch den Wiener Kongreß 1815, verschwand Polen bis 1916/18 als eigenständiger Staat bekanntlich von der europäischen Landkarte. Es liegt, wie schon oben bemerkt, auf der Hand, daß ein polnisches Bestreben entstehen mußte, einen polnischen Staat wiederherzustellen. In diesem Bestreben entstanden zwei Hauptrichtungen polnischer Staatsgebietskonzepte, von denen die eine im wesentlichen die Wiederherstellung Polens in seinen Grenzen von 1772 vertrat, die eher antirussisch ausgerichtete sogenannte „jagellonische“ Richtung.

Genauerer Betrachtung unterzogen werden soll hier die zweite Richtung, gestützt vor allem durch den oben skizzierten strikt antideutsch ausgerichteten „piastischen“ Nationalismus, der den „Westgedanken“ (polska myśl zachodnia), gerichtet auf Schlesien, die Neumark und Pommern, und den „Meeresgedanken“ (polska myśl morska), gerichtet auf Danzig, Ostpreußen und ebenfalls auf Pommern, hervorbrachte.19

Einige wenige ausführlich wiedergegeben Beispiele aus polnischer Literatur, Wissenschaft und Publizistik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sollen zeigen, wie weitgehende Expansionsvorstellungen in Richtung auf Gebiete Deutschlands, die gar nicht von Menschen polnischer Nationalität, sondern seit Jahrhunderten von Deutschen bewohnt wurden, bereits damals – zum Teil offen, zum Teil recht subtil – ausgedrückt worden sind. Im Prinzip ist in diesen Gedanken schon fast alles wiedergegeben, was lange „vor Hitler“ und dem Zweiten Weltkrieg in Polens interessierten Kreisen populär war und dann 1945 zur Begründung der polnischen Westexpansion beitrug, alle Geschichtsklitterungen, Klischees und Vorurteile eingeschlossen. Berücksichtigt wurden im folgenden nur Ausprägungen des „West- und Meeresgedankens“, die Gebiete betrafen, die die Pariser Friedensordnung von 1919/20 aufgrund der zu fast 100 Prozent deutschen Nationalität der Bewohner und des Prinzips des Selbstbestimmungsrechtes der Völker (Abstimmungen) nach dem Ersten Weltkrieg bei Deutschland belassen hatte (Schlesien, Ostbrandenburg/Neumark, Pommern, Ostpreußen).

Zahlreiche polnische Dichter und Schriftsteller trugen zu einer „Wiederentdeckung“ früherer polnischer bzw. slawischer Westgebiete nicht unwesentlich bei und prägten durch ihre Arbeit auch das Bild vom deutschen Nachbarn und Mitbewohner. Teilweise wurden dabei auch Träume von der Ausdehnung eines wiedererstandenen Polens formuliert. Juliusz Tomaszewicz z.B. wollte ein Polen vom Dnjepr bis zur Elbemündung, Konstanty Gaszyński begnügte sich mit polnischen „eisernen Grenzpfählen in Dnjepr und Saale“, Wincenty Pol träumte von einem Polen, „das von dem für Slawen heiligen Rügen entlang der Oder und Neiße im Westen und bis zur Düna und Dnjepr im Osten reichen solle“.20 Pol, der eigentlich deutscher Abstammung war (Vinzenz Poll von Pollenburg), erdichtete in seinem Poem „Pieśń o ziemi naszej“ („Lied von unserem Lande“) ein solches Polen. Das romantische Poem wurde außerordentlich beliebt und avancierte nach 1918 zur schulischen Pflichtlektüre.21 Henryk Sienkiewicz lieferte mit seinem (später verfilmten) populären Roman „Krzyżacy“ („Kreuzritter“) das für die Beurteilung der Deutschen folgenreiche Bild vom angeblich eroberungssüchtigen und brutalen Deutschen Orden des Mittelalters.

Auch von der polnischen Geschichtsschreibung wurde, ähnlich den Schriftstellern, die frühe Piastenzeit, das polnische Mittelalter, verklärt dargestellt und die seitdem im Westen eingetretenen Veränderungen bedauert. Gebietsansprüche wurden damit zwar nicht verbunden, jedoch ein Zweifel am rechtmäßigen Besitz dieser Gebiete durch Deutschland suggeriert. So formulierte Professor Józef Szujski, Polen habe im Mittelalter „eine doppelte, offenkundig von Gott auferlegte Mission“ gehabt. „Es mußte die Christenheit vor den Stürmen des Ostens verteidigen und diesem Osten zugleich das Evangelium bringen; es mußte die slavischen Volksstämme, deren Muttervolk es war, zum Dienst an der christlichen Zivilisation erziehen und ihr nationales Eigentum gegen die räuberische Idee des Pangermanismus verteidigen. So wie allen göttlichen und Menschenrechten gemäß die Deutschen nicht das Recht haben, die Slaven ihrer Nationalität zu berauben, so hatte und hat Polen als christlich-katholische Macht des Ostens das heilige Recht einer zivilisatorischen und moralischen Vorherrschaft unter den slavischen Völkern. Dieser doppelten Mission wurde das piastische Polen durch fünf Jahrhunderte hindurch gerecht.“22

Der Historiker Michał Bobrzyński konstatierte, „Pommern zu halten und den großen und tapferen Stamm der Liutizen vor der deutschen Eroberung zu verteidigen, die nationalen und gesellschaftlichen Bindungen mit diesen westlichen Stämmen noch enger zu gestalten – das war für Polen die erstrangige und entscheidende Aufgabe. Man kann sie nicht gleichsetzen mit irgendeiner im Osten vollendeten Union oder Eroberung, die dem polnischen Staat fremde, schwer zu assimilierende Völkerschaften einverleibte. In Pommern und im Land der Liutizen galt es, dieselben Polen anzuschließen wie in Masowien, wie in Groß- oder Kleinpolen … Es galt, die große Grenzlinie an der Oder, wenn nicht an der Elbe zu halten, es galt, auf breiter Front den Zugang zur Ostsee zu sichern.“23

Während die mittelalterliche polnische Piastenzeit solcherart idealisiert wurde, wurden die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters sowie der Staat Preußen regelrecht kriminalisiert. So propagierte der nationaldemokratische Publizist Popławski: „Das Königreich Preußen entstand und entwickelte sich … durch Treubruch, Verrat, hinterlistigen Raub und die geschickte Ausnutzung günstiger Umstände.“24 Die Assimilierung slawischer Völkerschaften im Zuge der deutschen Ostsiedlungsbewegung wurde z. B. in der Endecja-Zeitung „Przegląd Narodowy“ (Nationale Umschau) als „Gewaltakt“ bezeichnet, „der selbst die elementarsten moralischen Maßstäbe mißachtet“. Diese Kriminalisierung fand ihren Ausdruck auch in dem beliebten Bild von den „slawischen Friedhöfen“, auf denen ein großer Teil Deutschlands und Preußens errichtet worden sei.25 Wacław Sobieski formulierte im Jahr 1904, die „Hälfte des deutschen Staates liegt auf den Ruinen des alten Slaventums. Die gesamte Welt der besonderen, heimatverbundenen Kultur der lechitischen Slaven, die in der Mitte des heutigen Europa erblühte, ist mit ihren Göttern, ihren ‚Delphis‘ und ihren mächtigen Burgen für immer verschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen.“26

Derartige Äußerungen polnischer Historiker, Sprachwissenschaftler und Volkskundler über die Piastenzeit und die historischen Elb- und Oderslawen sind eigentlich nicht als Gebietsansprüche zu verstehen, sondern entsprangen zunächst einem damals in ganz Mitteleuropa verbreiteten Bedürfnis, die Geschichte und Kultur des eigenen Volkes zu erforschen. „Gleichwohl schufen diese Disziplinen ein geistiges Umfeld, in dem die ethnisch-sprachlich-kulturelle Zugehörigkeit der ‚verlorenen‘ Völker zum Polentum zunehmend zu einem selbstverständlichen Faktum erhoben wurde und das die Formulierung entsprechender Gebietsansprüche beförderte. Die politische Publizistik und die Presse simplifizierten die gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse und sorgten so für deren Verbreitung und Popularisierung.“27

Direkt formuliert wurden polnische Gebietsansprüche auf Schlesien, Ostbrandenburg, Pommern, Danzig und Ostpreußen vor allem von Vertretern der Geographie und der Publizistik.

Der hoch angesehene polnische Geistliche, Staatsreformer, Mitautor der Verfassung von 1791 und Rektor der Krakauer Akademie Hugo Kołłątaj formulierte als erster bereits im Jahr 1808 in einem Traktat die Grenzvorstellung eines künftigen Polens, das im Westen wieder – wie zu Bolesław Chrobrys Zeiten – an Oder und Lausitzer Neiße grenzen solle. Ein neues Polen – Kołłątaj setze seine Hoffnungen hierfür auf Napoleon – müsse an die Oder grenzen, da dieser Fluß Slawen und Deutsche voneinander trenne und alle schlesischen Gebiete östlich der Oder von slawischen, polnisch sprechenden Menschen bewohnt seien. In diesem Sinne forderte Kołłątaj auch den Anschluß der brandenburgischen Neumark sowie Pommerellens und Preußens (Ostpreußens) an Polen. Er argumentierte ethnographisch-historisch und behauptete, Deutsche könne man schließlich nicht dort suchen, „wo es keine gibt und auch niemals welche gab“.28

Die Geographie war in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg das wichtigste wissenschaftliche Standbein für die Verfechter des „Westgedankens“. Die vermeintlich „natürliche“ Begrenzung Polens durch den Gebirgszug der Sudeten und Karpaten im Süden, die Ostsee im Norden sowie die Läufe von Oder und Neiße im Westen und Düna im Osten wurde seit dem 19. Jahrhundert zu einem weitverbreiteten Motiv.

Nałkowski verband mit seiner idealen Grenzvorstellung zwar keine konkrete politische Forderung, doch wurden seine Ideen später oft wieder aufgegriffen und als Argument zur Rechtfertigung der Oder-Neiße-Grenze herangezogen.