Luc. 7, 36-50. »Das Weib soll schweigen in der Gemeinde« und insofern nicht lehren – doch grade das Schweigen vor Gott gehört ja hauptsächlich mit zur wahren Frömmigkeit und das muß man also von dem »Weibe« lernen können.
Von einem Weibe lernst Du daher auch das Außerordentliche demütig glauben, demütig glauben wie Maria, die sagte »siehe ich bin des Herrn Magd« – sie sagte es, aber sieh', dies sagen ist recht eigentlich schweigen. Von einem Weibe lernst Du recht auf das Wort hören, von Maria, die obschon sie »nicht verstand das Wort, das gesagt wurde« es doch »behielt in ihrem Herzen«, also nicht verlangte zuerst zu verstehen, sondern schweigend das Wort an der rechten Stelle bewahrte; denn das ist ja die rechte Stelle, wenn das Wort, die gute Saat, »behalten wird in einem feinen und guten Herzen«. Von einem Weibe, lernst Du die stille, tiefe, gottesfürchtige Trauer die vor Gott schweigt; denn wol drang, wie vorausgesagt war, ein Schwert durch ihre Seele, aber sie verzweifelte nicht, weder über die Ankündigung noch da es geschah. Von einem Weibe lernst Du die Bekümmerung um das eine Notwendige, von Maria, der Schwester des Lazarus, die still zu Jesu Füßen saß und das Eine, was not ist, wählte.
So kannst Du auch von einem Weibe die rechte Sorge um die Sünde lernen, von der Sünderin, deren viele Sünden längst, längst vergessen sind, aber welche selbst ewig unvergessen bleibt.
So laß uns denn achten auf die Sünderin und darauf, was wir von ihr lernen können.
Zuerst können wir lernen: wie sie zu werden, gleichgiltig gegen alles Andere in unbedingter Sorge um unsere Sünden, doch so, daß Eins uns wichtig und zwar unbedingt wichtig ist, nämlich – Vergebung zu finden.
Mein Zuhörer! Bekümmerte Menschen sieht man oft genug im Leben, die bald über dies bald über Jenes sich bekümmern, zuweilen über Vielerlei zu gleicher Zeit; ja auch solche, die selbst nicht recht wissen, worüber sie bekümmert sind: aber schon selten sieht man Einen, der nur um Eins bekümmert ist und um dies Eine so unbedingt, daß alles Andere ihm unbedingt gleichgiltig wird.
Doch ist dies zu sehen, wenn auch nicht gewöhnlich; ich habe gesehen, und Du vielleicht auch, den der in Liebe unglücklich wurde und dem dann Alles für immer oder eine Zeit lang gleichgiltig wurde; aber das war ja nicht Sorge über seine Sünde. Ebenso den, dessen kühne Pläne in einem Nu an unerwartetem Hindernis strandeten, und dem dann Alles, eine Zeit lang oder für immer gleichgiltig war; aber das ist nicht Sorge über seine Sünde. Auch den, der mit der Länge der Zeit kämpfte und lange kämpfte; er hielt aus, noch gestern hielt er aus, heute blieb die Erneuerung im Innern aus, er sank zusammen, Alles wurde ihm gleichgiltig; aber das ist nicht Sorge über seine Sünde. Ich habe – und Du wol auch – den Schwermütigen gesehen und wie er Alles fremd und gleichgiltig betrachtet; Alles ist ihm zu leicht, weil sein Sinn so schwer ist; aber Sorge über seine Sünde ist das nicht. Und den, der mit schrecklicher Lebenslust Jahr um Jahr Verbrechen auf Verbrechen häufte, dessen meiste Zeit hingebracht wurde mit sündigen – bis er vernichtet dastand und Alles ihm gleichgiltig wurde aber wahrlich, Sorge über seine Sünde war es nicht – es waren Sünden genug, Sorge über die Sünde aber war nicht da. Es giebt Eins, das ist ganz allgemein, es findet sich bei Allen und bei Jedem, bei Dir wie ich es bei mir selbst finde: Sünde und Sünden; und es giebt Eins, das ist seltener: Sorge über seine Sünde.
Doch ich habe gesehen, und Du vielleicht auch – den, der unbedingt nur über Eins sorgte und über seine Sünde. Sie folgte ihm überall, ja, sie verfolgte ihn am Tage und im Traume in der Nacht, bei der Arbeit und nach der Arbeit wenn er vergebens Ruhe suchte, in der Einsamkeit und wenn er vergebens Zerstreuung suchte in der Gesellschaft Anderer. Sie verwundete ihn von hinten, wenn er sich zur Zukunft wendete, und von vorn, wenn er sich zur Vergangenheit wendete; sie lehrte ihn den Tod wünschen und das Leben fürchten und dann wieder den Tod fürchten und das Leben wünschen, sie tödtete ihn nicht, aber sie nahm ihm doch das Leben, sie machte ihn bangen vor sich selbst wie vor einem Gespenst, sie machte ihm Alles, Alles unendlich gleichgiltig – aber sieh, diese Sorge war Verzweiflung. Es giebt eben Eins, das ist ganz allgemein, Du kannst es finden bei Allen und bei Jedem, bei Dir selbst, wie ich es bei mir selbst finde: Sünde und Sünden; und es giebt Eins, das ist sehr selten: die wahre Sorge über seine Sünden, weshalb es wol nötig wäre, daß jeden Sonntag in der Kirche gebetet würde »daß wir lernen möchten um unsre Sünden zu sorgen«. Wohl dem, bei dem sich diese wahre Sorge über seine Sünde findet, dem alles Andere unendlich gleichgiltig geworden ist und nur Eins unbedingt wichtig. Wohl ihm, seine Gleichgiltigkeit gegen alles Andere ist wie die tödtliche Krankheit des Lazarus, die doch durchaus nicht zum Tode war, sondern grade zum Leben, weil das Leben in dem Einen ist, welches ihm unbedingt wichtig ist, nämlich in der Vergebung.
Achte daher auf die Sünderin, daß Du von ihr lernen mögest. Ihr war Alles gleichgiltig geworden, sie hatte keine Bekümmerung, nur die über ihre Sünde; jede andere Bekümmerung war als wäre sie nicht, weil jene Sorge ihr allein wichtig war. Diese Sorglosigkeit gegen alles Andre ist, wenn Du so willst, der Segen darüber, daß man nur um Eines sorgt und das Kennzeichen dafür, daß man nur eine Sorge hat.
So bei der Sünderin. Aber wie anders meist im Leben! Wenn ein Mensch, der doch nicht frei von Sünde und Schuld ist, zugleich andere Bekümmerungen hat und dadurch beschwert und gebeugt ist, da verwechselt er es vielleicht und will diese Bedrücktheit als Bekümmerung über seine Sünde gelten lassen, als würde bloß verlangt, daß der Mensch bekümmert sei, während gefordert wird, daß er über seine Sünde bekümmert sein soll und nicht über Anderes; aber er verwechselt das und merkt nicht, daß er die andern Bekümmerungen weniger oder gar nicht fühlen würde, wenn er um seine Sünde sorgte; daß grade das leichtere Tragen dieser andern Bekümmerungen der Ausdruck für die wahre Sorge über die Sünde wäre. Vielleicht versteht er es nicht so, sondern wünscht vielmehr von seinen andern Bekümmerungen frei zu sein und dann allein über seine Sünde zu sorgen. Ach da versteht er kaum recht, was er begehrt, denn dann würde ihm die Sache wol eher gar zu streng werden. Denn wenn Gott im strengen Gericht die Sünde eines Menschen heimsuchen will, da macht er es zuweilen so, daß er gleichsam sagt: ich will diesen Menschen von jeder andern Sorge frei machen, Alles soll ihm lächeln, Alles sich ihm fügen, Alles glücken, was er anrührt – um so weniger soll es ihm glücken zu vergessen, um so stärker soll er vernehmen, was nagt. So ist die Entschuldigung nicht wahr, die man öfter hört, daß man wegen der andern Sorgen nicht recht um seine Sünde sorgen könne. Nein »die andern Sorgen« sind grade eine Gelegenheit um wahre Sorge über die Sünde auszudrücken, indem man die andern Sorgen leichter trägt; diese andern Sorgen sind keine Verschärfung sondern eine Linderung; dann bleibt kein Raum zum Verirren und Verlaufen, sondern man hat gleich eine Aufgabe, wie man die Sorge über die Sünde ausdrücken soll, nämlich so, daß man die andern Bekümmerungen geduldiger, demütiger und leichter trägt.
Und der Sünderin war Alles gleichgiltig geworden; alles Zeitliche, Irdische, Weltliche, Ehre, gute Tage, ihre Zukunft, die Verwandten, die Freunde, das Urteil der Menschen; und alle Sorgen, wie sie auch heißen mögen, die hat sie leicht getragen fast wie Nichts, denn sie beschäftigte in Bekümmerung nur Eins unbedingt: ihre Sünde. Um diese sorgte sie und nicht um deren Folgen; nicht um Schande, Unehre, Demütigung, nein, sie verwechselte die Krankheit nicht mit dem Heilmittel. Ach, wie selten ist ein Mensch, der, auch wenn es die Vergebung der Sünden gilt, willig wäre zu leiden, daß er vor Menschen ganz offenbar würde, daß sie ihm in seine Seele hineinschauen und jede geheime Schuld sehen könnten. Ach, wie selten wird wol Einer so unbedingt gleichgiltig. Dieselbe Schuld, um derenwillen er sich selbst verdammt und für welche er Gott um Vergebung bittet, dieselbe Schuld verbirgt er vielleicht so ängstlich, wie ein Geiziger seine Schätze, daß keiner sie sehen soll.
Der Sünderin dagegen war Alles gleichgiltig geworden. Es war ein Gastmahl und im Haus der Pharisäer. Sie konnte die ganze Welt durchwandern und gewiß sein nirgends ein so strenges Urteil zu finden wie dort. Dort erwartete sie die kalte Vornehmheit der Pharisäer oder ihr grausamer Spott – ja die Stelle war ja wie eine uneinnehmbare Festung, grade so befestigt, daß ihr Eindringen unmöglich war, wenn ihr nicht alles Andere wäre gleichgiltig gewesen. Eine andere Frau, die sich nicht bewußt war eine Sünderin zu sein, die also weniger Gefahr lief, hätte es vielleicht nie gewagt; sie wagte es, sie, der Alles gleichgiltig geworden war.
Und doch nein, es ist nicht ganz so, sie wagte es, weil ihr Eins unbedingt wichtig war, nämlich: Vergebung zu finden. Und die war darinnen zu finden – deshalb wagte sie es; dies trieb sie auf und zog sie vorwärts, aber daß ihr alles Andre gleichgiltig geworden war, das machte, daß sie selbst kaum merkte, wie schwer es war. »Das ist der Mut der Verzweiflung« wirst Du sagen. Ja, aber wahrlich, sie ist weit entfernt von Verzweiflung. Oder ist etwa der verzweifelt, dem Eins unbedingt wichtig ist, wenn dies Eine das unbedingt Wichtige ist! Sie hat die Kräfte der Verzweiflung; die machen sie gleichgiltig gegen Alles und stärker als allen Widerstand, so stark, daß sie vor Scham nicht ermattet, vor Spott nicht flieht. Aber sie, die diese Kräfte hat, ist nicht verzweifelt sondern gläubig. Und so tritt sie ein, gleichgiltig gegen alles Andere. Doch erregt diese ihre unbedingte Gleichgiltigkeit kein Aufsehen, keinen Lärm, denn sie ist eine Gläubige und deshalb so still, so bescheiden, so demütig, so unbemerklich in ihrer unendlichen Gleichgiltigkeit gegen Alles, so daß sie durch ihr Eintreten keine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es war ihr ja auch nicht im mindesten wichtig, ihre Gleichgiltigkeit gegen Alles zu zeigen, aber Eins was ihr unendlich wichtig: Vergebung zu finden. Doch wäre ihr dies Eine nicht in dem Grade wichtig gewesen, daß alles Andere ihr unbedingt gleichgiltig wurde, so hätte sie nicht den Weg in jenes Pharisäerhaus gefunden – wo sie dann Vergebung fand.
Demnächst kannst Du von der Sünderin lernen, was sie verstand, daß sie selbst gar nichts zu thun vermag, um Vergebung zu finden.
Sollen wir ihr ganzes Benehmen von Anfang bis zuletzt bezeichnen, so müssen wir sagen: sie thut gar nichts. Sie zögert nicht in jenes Haus zu gehen, wo sie den Erlöser und die Erlösung finden wollte, sie wartete nicht, bis sie sich würdig fühlte. Nein, dann wäre sie lange ausgeblieben und vielleicht niemals dahingekommen. Sie beschließt gleich zu gehen in ihrer Unwürdigkeit; grade das Gefühl ihrer Unwürdigkeit treibt sie; sie versteht, daß sie selbst nichts zu thun vermag. Kann dies stärker ausgedrückt werden als so, daß grade das Gefühl der Unwürdigkeit sie bestimmt?
verschwendet