Libba Bray

The Diviners

Aller Anfang ist böse

Roman

Aus dem Englischen
von Barbara Lehnerer

Deutscher Taschenbuch Verlag

And what rough beast, its hour come round at last,

Slouches towards Bethlehem to be born?

William Butler Yeats: ›The Second Coming‹

Für meine Mutter, Nancy Bray, die mir durch ihr Beispiel die Liebe zum Lesen vermittelt hat

EIN SPÄTSOMMERABEND

In einem vornehmen Stadthaus in der gefragten Upper East Side von Manhattan herrscht Festbeleuchtung. Man feiert eine Party, die letzte in diesem Sommer. Draußen auf der Terrasse, von der man auf die hell erleuchtete Skyline der Stadt blickt, legt das Orchester gerade eine wohlverdiente Pause ein. Es ist halb elf, die Party läuft seit acht, aber schon jetzt sind die Gäste gelangweilt. Debütantinnen in modischen Abendkleidern aus pastellfarbenem Chiffon liegen wie hingegossen in den Ledersesseln, ja, wie glasierte Petits Fours, die in der Julisonne vor sich hin schmelzen. Ein großspuriger Princeton-Student will eben seine Freunde dazu überreden, mit ihm ins Greenwich Village in eine der Flüsterkneipen zu fahren, von der ihm der Freund eines Freundes erzählt hat.

Die Gastgeberin, ein hübsches und verwöhntes junges Ding, beobachtet die nervöse Unruhe ihrer Gäste mit einiger Besorgnis. Sie feiert heute ihren achtzehnten Geburtstag, und wenn sie nicht schnellstens etwas unternimmt, um diese Party von den Toten zu erwecken, wird man sich tagelang den Mund darüber zerreißen, dass es bei ihr so eintönig wie bei einem Kirchentreff gewesen ist.

Von den Toten erwecken.

Ein Wochenende zuvor hatte ihre Mutter sie genötigt, mit ihr aufs Land zu fahren und dort alle möglichen Antiquitätenläden abzuklappern – eine absolut grauenhafte Pflichtübung, allerdings nur so lange, bis sie in einem der Geschäfte auf ein altes Ouijabrett gestoßen waren. Ouijabretter sind zurzeit der letzte Schrei und Leute, die sich Medium nennen, behaupten, damit Botschaften und Warnungen von der anderen Seite empfangen zu können. Der Antiquitätenhändler hatte ihrer Mutter einen Bären aufgebunden, als er ihr erzählte, unter welch mysteriösen Umständen er an das Brett gelangt war.

»Anscheinend wird das Brett immer noch von rastlosen Geistern heimgesucht. Aber vielleicht gelingt es ja Ihnen und Ihrer Schwester, sie zu bändigen«, hatte er ihr in maßloser Übertreibung geschmeichelt, was ihrer Mutter runter wie Öl gegangen war, letztlich aber dazu geführt hatte, dass sie dem Händler bei Weitem zu viel für das Teil bezahlt hatte. Nun, für diesen Fehler ihrer Mutter würde sie jetzt entschädigt werden.

Die Gastgeberin läuft eilig zum Wandschrank in der Empfangshalle und winkt das Dienstmädchen heran: »Komm, sei ein Schatz und hol das Brett da oben für mich runter.«

Kopfschüttelnd tut das Mädchen, wie man ihr befiehlt. »Mit diesem Brett da sollten Sie sich lieber nicht einlassen, Miss.«

»Ach, sei doch nicht albern.«

Und mit einer schwungvollen Drehung eilt die Gastgeberin mit dem Brett in der Hand zurück in den Salon. »Wer von euch hat Lust, mit den Geistern in Verbindung zu treten?« Sie sagt es kichernd, um zu demonstrieren, dass sie die Sache nicht im Mindesten ernst nimmt. Schließlich ist sie ein modernes Mädchen – ein Flapper durch und durch.

Die ermatteten jungen Damen springen von ihren Sesseln auf. »Was hast du denn da? Ist das etwa ein Hexenbrett?«, fragt eine von ihnen.

»Ja, ist es nicht grandios? Meine Mutter hat es mir gekauft. Angeblich wird es von Geistern heimgesucht«, erwidert die Gastgeberin. Sie lacht. »Nicht, dass ich daran glauben würde.« Sie platziert die herzförmige Planchette in der Mitte des Bretts. »Los, kommt, lasst uns zum Spaß etwas heraufbeschwören, ja?«

Alle scharen sich jetzt um sie. George, Studienanfänger in Yale, schiebt sich auf den Platz neben ihr. Wie oft hat sie nachts wach gelegen und sich eine Zukunft mit ihm ausgemalt. »Wer will anfangen?«, fragt sie. Sie lässt ihre Finger dicht neben seine gleiten.

»Ich«, verkündet ein Junge mit einem etwas albern wirkenden Fes auf dem Kopf.

Sein Name fällt ihr nicht mehr ein, aber sie hat gehört, dass er gern Mädels auf den Notsitz seines Automobils einlädt, um dort mit ihnen herumzuknutschen. Er schließt die Augen und legt seine Finger auf die Planchette. »Seit Ewigkeiten stell ich mir schon diese Frage: Ist die Lady zu meiner Rechten unsterblich in mich verliebt?«

Die Mädchen kreischen vor Vergnügen und die jungen Männer lachen, als die Planchette langsam die Buchstaben J-A ansteuert.

»Lügner!«, beschimpft besagte junge Dame das herzförmige Glasorakel auf dem Brett.

»Streit es doch nicht ab, Schätzchen. Mich könntest du ganz billig haben«, sagt der Junge.

Jetzt wird die Stimmung ausgelassen; die Fragen werden gewagter. Die Runde ist beschwipst vom Gin, vom Spaß und von der kindischen Wahrsagerei, mit der sie sich zerstreuen.

»Und wenn wir mal einen echten Geist beschwören?«, schlägt George frech vor. Die Gastgeberin muss schlucken. Sie ist erregt, doch auch ein wenig unsicher. Genau davor hat der Antiquitätenhändler sie nämlich gewarnt. Und sie ermahnt, dass man die Geister, die man weckt, auch wieder ruhigstellen muss – mit einem Abschiedsgruß auf dem Brett. Aber natürlich war er darauf aus gewesen, schnelles Geld mit seiner Story zu machen, und außerdem schreibt man das Jahr 1926 – wer glaubt schon noch an Heimsuchungen und Gespenster, wenn es längst Automobile, Flugzeuge, den Cotton Club und Männer wie Jake Marlowe gibt, die Amerika zur führenden Industrienation machen?

»Nun sagt bloß, ihr habt Angst!« George grinst. Er hat einen grausamen Mund, was ihn umso begehrenswerter macht.

»Angst? Wovor?«

»Dass uns der Gin ausgeht«, flachst der Junge mit dem Fes und alle lachen.

»Ich beschütze dich«, flüstert George ihr leise ins Ohr. Seine Hand liegt auf ihrem Rücken.

Oh, das ist ohne Frage die wundervollste Nacht in ihrem ganzen bisherigen Leben!

»Wir beschwören jetzt den Geist in diesem Brett … möge er unseren Ruf erhören und uns unser Schicksal wahrhaft vorhersagen!«, deklamiert die Gastgeberin mit eindrücklicher Betonung, wobei sie selber kichern muss. »Gehorche, Geist!«

Einen Moment lang herrscht Stille, dann beginnt die Planchette ihre langsame Wanderung über das Alphabet in schwarzer gotischer Schrift auf dem schon leicht zerkratzten Brett und buchstabiert tatsächlich einen Gruß.

I-C-H-G-R-Ü-S-S-E-E-U-C-H

»Das ist der Geist«, scherzt einer aus der Runde.

»Wie heißt du, großer Geist?«, will die Gastgeberin wissen.

Die Planchette bewegt sich jetzt schneller.

N-A-U-G-H-T-Y-J-O-H-N

Belustigt zieht George eine Augenbraue hoch. »Das klingt doch schon mal gut. Was macht dich denn so böse, alter Freund?«

D-A-S-W-E-R-D-E-T-I-H-R-S-C-H-O-N-B-A-L-D-E-R-L-E-B-E-N

»Was werden wir erleben? Was führst du im Schilde, böser Geist?«

Stille.

»Ich will jetzt sofort tanzen gehen! Lasst uns nach Moonglow fahren«, lallt ein betrunkenes Mädchen mit Schmollmund. »Wann spielt die Band denn endlich wieder?«

»Gleich, gleich, ruhig Blut«, antwortet die Gastgeberin mit einem Lachen, aber es liegt eine Warnung darin verborgen. »Versuchen wir es erst noch mal mit einer anderen Frage. Kannst du uns etwas prophezeien, Naughty John? Uns etwas über unser Schicksal offenbaren?« Sie wirft einen verstohlenen Blick auf George.

Die Planchette rührt sich nicht.

»Verrat uns doch noch irgendwas!«

Schließlich erwacht das Brett wieder zum Leben. »Ich … werde … euch … das … Fürchten … lehren«, liest die Gastgeberin laut vor.

»Der klingt ja wie der Schuldirektor in Choate«, frotzelt der Junge mit dem Fes. »Wie willst du das denn anstellen, Sportsfreund?«

I-C-H-W-E-R-D-E-A-N-E-U-R-E-T-Ü-R-E-N-K-L-O-P-F-E-N

I-C-H-B-I-N-D-I-E-B-E-S-T-I-E

D-E-R-D-R-A-C-H-E-A-U-S-V-E-R-G-A-N-G-E-N-E-N-Z-E-I-T-E-N

»Was meint er nur damit?«, flüstert das beschwipste Mädchen. Sie weicht einen Schritt zurück.

»Nichts, gar nichts. Das ist nichts als Geschwätz«, weist die Gastgeberin sie zurecht, aber auch sie fürchtet sich jetzt. Sie wendet sich dem Jungen mit dem zweifelhaften Ruf zu. »Du hast die Planchette manipuliert!«

»Nein, ehrlich nicht. Das schwöre ich!«, sagt er. Er legt einen Zeigefinger auf sein Herz.

»Und warum bist du hier, Sportsfreund?«, fragt George das Brett.

Die Planchette bewegt sich jetzt so rasch, dass die Runde kaum folgen kann.

I-C-H-H-A-B-E-D-E-N-S-C-H-L-Ü-S-S-E-L-Z-U-R-H-Ö-L-L-E-U-N-D-Z-U-M-T-O-D

D-E-R-T-A-G-D-E-S-Z-O-R-N-S-I-S-T-G-E-K-O-M-M-E-N-D-A-S-J-Ü-N-G-S-T-E-G-E-R-I-C-H-T-D-I-E-H-U-R-E-B-A-B-Y-L-O-N

»Schluss jetzt, sofort!«, ruft die Gastgeberin.

H-U-R-E-H-U-R-E-H-U-R-E wiederholt die Planchette.

Die smarten jungen Dinger ziehen hastig ihre Finger vom Brett zurück, aber die Planchette rückt unbeirrt weiter.

»Es soll aufhören! Sag, dass es aufhören soll«, kreischt eines der Mädchen, und selbst die abgebrühten jungen Männer werden blass und weichen von dem Brett zurück.

»Hör auf, oh Geist. Schluss, habe ich gesagt!«, ruft die Gastgeberin mit erhobener Stimme.

Die Planchette bleibt stehen. Mit verstörtem Blick sehen sich die Partygäste an. Nebenan kehrt die Band zu ihren Instrumenten zurück und stimmt eine heiße Tanznummer an.

»Oh, halleluja! Los komm, Baby, ich zeig dir, wie man den Black Bottom tanzt.« Das beschwipste Mädchen rappelt sich ein wenig mühsam hoch und zieht den Jungen mit dem Fes hinter sich her.

»Wartet! Erst müssen wir noch unseren Abschiedsgruß buchstabieren! Das ist das Ritual, dem muss man folgen!«, sagt die Gastgeberin in flehendem Ton, als einer ihrer Gäste nach dem anderen abzieht.

George legt den Arm um ihre Taille. »Sag bloß, du fürchtest dich vor Naughty John?«

»Ich … ich …«

»Du weißt doch auch, dass es der Knabe mit dem Fes gewesen ist«, sagt er und sein Atem kitzelt sie sanft am Ohr. »Der hat so seine Tricks. Du kennst doch diese Kerle.«

Ja, diese Kerle kennt sie. Und wahrscheinlich hat dieser Tunichtgut sie alle von Anfang an zum Narren gehalten. Nun, sie lässt sich nicht für dumm verkaufen. Sie ist jetzt achtzehn. Und von nun an wird das Leben für sie aus einem einzigen Strudel von Partys und Tanzvergnügen bestehen. Night or daytime, it’s all playtime. Ain’t we got fun? Ihre Angst von vorhin ist begraben. Ihre Party wird die ganze Nacht über toben. Jemand hat die Teppiche zusammengerollt und ihre Gäste tanzen wie im Rausch. Lange Perlenstränge schwingen von Kleidern mit tief sitzenden Taillen. Gamaschen schlagen herausfordernd gegen den Boden. Arme strecken sich, schieben Luft beiseite – ganz so, als wäre ein wildes dadaistisches Gemälde zum Leben erwacht.

Die Gastgeberin verstaut das Brett wieder im Schrank, wo es bald vergessen sein wird, läuft eilends in den Tanzraum mit seinen hellen elektrischen Lampen und feiert sorglos mit den anderen die letzte Party dieses Sommers.

***

Draußen verweilt der Wind einen Augenblick lang vor den erleuchteten Fenstern; dann empfiehlt er sich mit einer plötzlichen energischen Bö und weht eilig die Trottoire hinunter. Er rankt sich flüchtig um die glockenförmigen Hüte zweier mondäner junger Damen, die am Ufer des East River einen Pudel spazieren führen und über den tragischen Tod von Rudolph Valentino plaudern. Dann setzt er seinen Weg fort, weht tief in neonlichtdurchflutete Häuserschluchten hinab und über die Hochbahn hinweg, die ratternd die Schienen über der Second Avenue entlangfährt und die Fenster der armen Seelen zum Beben bringt, die zu schlafen versuchen, bevor der Morgen sie einholt – der Morgen mit seinen hupenden Taxis, seinen Straßenbahnen und Zügen; mit seinen Stiefelputzern, die auf dem Union Square die Budapester der Geschäftsleute polieren; seinen Zeitungsjungen, die auf dem Times Square die Schlagzeilen des Tages verhökern; seinen Telefonistinnen, die sehnsüchtig auf die neuen Schalkragenmäntel starren, die sie von den Schaufenstern aus in Versuchung führen; mit seinen majestätischen Wolkenkratzern, die sich wie gleißende Stahl-, Ziegel- und Glasgötter über allem erheben.

Der Wind trödelt ein wenig vor einem Jazzclub herum und lauscht der neuen Musik, die die Nacht untermalt. Er lässt sich von dem blechernen Klang der Hörner elektrisieren, von den synkopierten Rhythmen des Stride-Pianos, die aus dem Blues und dem Ragtime entstanden sind und die zerklüfteten Umrisse der Skyline dieser Stadt spiegeln.

Auf der Bowery schleppt sich in dem Relikt eines ehemals imposanten, prunkvollen Varietétheaters ein Tanzmarathon dahin. Die völlig erschöpften Teilnehmer, junge Mädchen und ihre Partner, stützen sich gegenseitig, wild entschlossen, sich bei diesem Wettbewerb hervorzutun und sich die Träume aus Radio und Zeitungsreklamen zu erfüllen. Sie haben Blasen an den Füßen, aber ihre Augen strahlen. Weiter oben, im nördlichen Teil von Manhattan, leert sich schon der Great White Way, benannt nach den grell leuchtenden Lichtern seiner Theater. In den Gassen vor den Künstlereingängen warten junge Kerle, die sich einen Blick auf die glamourösen Revuetänzerinnen oder ein Autogramm von einem der zahlreichen Broadwaystars erhoffen. Es ist die Zeit der Stars, des Ruhms, des Reichtums und der Habgier, und die jungen Leute brennen vor Ehrgeiz.

Der Wind nimmt all die Eindrücke mit Gleichmut auf. Er ist ja nur der Wind. Aus ihm wird nie ein Radiostar und auch kein Großindustrieller. Er wird nie für ein Amt kandidieren, sich nicht in Douglas Fairbanks verlieben oder die Songs der Tin Pan Alley singen, Lieder, die von Verlangen, Kummer und Vergnügungen erzählen – ain’t we got fun? Und so weht er ein Stückchen weiter, vorbei an den Schlachthöfen auf der 14th Street und den bedauernswerten Kreaturen, die ihren Körper in finsteren Seitengassen anbieten. Nicht weit davon entfernt im Hafen reckt Lady Liberty die Fackel in die Höhe, Signalfeuer für alle, die hier an dieser Küste stranden, um der Verfolgung zu entkommen, den Hungersnöten und der Hoffnungslosigkeit. Denn hier beginnt das Land der Träume.

Im Tiefflug geht es weiter über Mietskasernen in der Orchard Street, in denen so manche Träume von einem besseren Leben längst erstorben sind und doch in all dem Dreck und Elend immer wieder neu geboren werden – und eine mühevolle Wanderung vor sich haben. Der Wind klatscht gegen Wäsche, die sich hoch oben über schmutzigen, kaputten Straßen auf zwischen Haus und Haus gespannten Leinen reiht; in diesen Straßen suchen Kinder, halb verhungert, die Mülltonnen nach etwas ab, das sie ernähren könnte. Der Wind ist immer schon gewesen. Er hat so viel gesehen in diesem Land der Träume und der Seifenopernwerbung, der alten Gräueltaten und des Blutvergießens. Als stummer Zeuge hat er mitverfolgt, wie man einst Hexen hier verbrannt hat, ist auf dem Pfad der Tränen mitgewandert; er hat gesehen, wie Sklavenschiffe ihre Menschenfracht entladen haben, Menschen, die voller Angst ins helle Tageslicht des Hafens blinzeln – mit nichts als ihrem lebenslangen Leid. Der Wind war da, als Präsident Lincoln fiel, getroffen von der Kugel eines Attentäters. Er roch nach Schießpulver am Antietam. Er sauste mit dem Büffel um die Wette und tippte tastend, grüßend an die hohen schwarzen Hüte der alten Puritaner. Er hat die lusterfüllten Schreie Liebender mit sich genommen und durch die Luft getragen und hat die Tränen auf weit mehr Gesichtern, als er nennen könnte, zu Salzspuren erstarren lassen.

Jetzt jagt der Wind die Bowery hinunter, schießt dann hinauf zur West Side, wo irischstämmige Banden wie die Dummy Boys zu Hause sind, die hoch zu Ross die Neunte Avenue entlangpreschen, um Schwarzhändler zu warnen. Er weht am Ufer des mächtigen Hudson River entlang, vorbei am wild pulsierenden Nachtleben von Harlem mit seinen großen Denkern, Musikern und Schriftstellern, bis er vor der Ruine eines alten Herrenhauses schließlich zur Ruhe kommt. Die Fenster sind mit schon halb zerfallenen Brettern zugenagelt, die Gosse vor dem Haus verstopft mit Abfall. Hier hat sich einst, vor langer Zeit, unsäglich Grauenhaftes abgespielt. Jetzt ist das Haus nur noch Relikt aus einer längst vergangenen Ära, vergessen steht es da im Schatten dieser ständig wachsenden, florierenden Stadt.

Die Tür quietscht in den Angeln und der Wind verschafft sich zaghaft Einlass. Er kriecht entlang der engen Korridore, die sich in alle Richtungen drehen und winden, dass einen schwindeln könnte. Auf beiden Seiten davon liegen Räume, verwahrlost, vor sich hin modernd. Er sieht hier Türen, die auf Backsteinmauern führen, und eine Falltür gibt den Blick auf eine breite Rinne frei: sie mündet unterirdisch in eine riesige Schreckenskammer und einen weiteren Raum, der noch viel furchterregender ist. Noch immer sind die Räume von Gestank erfüllt: Gestank von Blut, Urin, von Bösem und von einer Angst, so abgrundtief, dass er genauso wie das Holz, die Nägel und die Fäulnis Bestandteil dieses Hauses hier geworden ist.

Da rührt sich etwas in den finsteren Schatten, es rührt sich etwas Furchtbares, und selbst der Wind, dem alles Böse wohl vertraut ist, weicht jetzt zurück von diesem Ort. Er flieht, saust auf die prächtigen Wolkenkratzer zu, die Luftschlösser versprechen – nothing but blue skies – und Sinnbild sind für grenzenlose Fantasien von Zukunft, Fortschritt und von Wohlstand; von einer Zukunft, die nicht mehr an die Übeltaten aus vergangenen Tagen denkt. Und wäre der Wind ein Wächter, jetzt würde er Alarm schlagen. Er würde heulend vor den künftigen Schrecken warnen. Doch er ist nur der Wind, und er weiß sehr genau, dass niemand auf sein Rufen hört.

Tief unten in den Kellern der baufälligen Villa erwacht ein Schmelzofen zu neuem Leben; er tut es rasselnd, heiser röchelnd wie ein Sterbender, der seinem Schicksal höhnisch ins Gesicht lacht. Ein matter Schimmer steigt empor aus dieser dunklen, faulig riechenden, irdenen Gruft. Ja, etwas rührt sich wieder in den dunklen Schatten. Ein Vorbote von etwas Künftigem, das noch viel böser sein wird als je zuvor. Denn Naughty John ist heimgekehrt. Und auf ihn wartet Arbeit.

EVIE O’NEILL, ZENITH, OHIO

Evie presste den schlaffen Eisbeutel an ihre pochende Stirn. Es war bereits Mittag, doch dem Hämmern in ihrem Schädel nach zu urteilen hätte es ebenso gut sechs Uhr morgens sein können. Seit zwanzig Minuten redete ihr Vater nun schon wegen der Party gestern im Zenith Hotel auf sie ein. Mehrmals war er dabei auf ihren betrunkenen Zustand zu sprechen gekommen und auf das peinliche Herumtollen im Stadtbrunnen. Ganz zu schweigen natürlich von dem Ärger, den sie zwischen Party und Brunnenbad verursacht hatte. Dieser Tag würde grausam werden, so viel stand fest. Ihr Kopf hämmerte einen schmerzhaften Rhythmus: Wasser! Aspirin! Sprecht mich nicht an!

»Deine Mutter und ich billigen den Genuss von Alkohol ganz und gar nicht. Hast du noch nie von dem achtzehnten Zusatzartikel unserer Verfassung gehört?«

»Der Prohibition? Ich trinke auf ihr Wohl, wann immer ich nur kann.«

»Evangeline Mary O’Neill!«, warf ihre Mutter schneidend ein.

»Wie du weißt, ist deine Mutter Schriftführerin der Frauentemperenzvereinigung Zenith. Hast du das nur eine Sekunde in Betracht gezogen? Hast du bedacht, welchen Eindruck es hinterlässt, wenn man ihre betrunkene Tochter auf einer Zechtour in den Straßen unserer Stadt antrifft?«

Evie ließ die rot unterlaufenen Augäpfel zu ihrer Mutter hinüberwandern. Die saß schmallippig und mit unerbittlich starrem Rücken da, das lange Haar im Nacken zu einer Schnecke aufgerollt. Auf ihrer Nasenspitze trug sie eine Brille – ein Glotzophon, wie es die Flapper nannten.

»Nun?«, donnerte Evies Vater. »Hast du dazu etwas zu sagen?«

»Ach herrje, ich hoffe nur, ich werde eines Tages nicht auch mal ein Glotzophon tragen müssen«, murmelte Evie.

Ihre Mutter reagierte auf diese Äußerung mit einem schweren Seufzer. Seit James’ Tod wirkte sie kleiner und verhärmter als früher, so als hätte sie das Telegramm, das sie vor langer Zeit aus dem Kriegsministerium erhalten hatten, ihrer Seele in dem Moment beraubt, in dem sie es geöffnet hatte.

»Für euch jungen Leute ist wohl alles nur ein Scherz.« Ihr Vater war jetzt nicht mehr aufzuhalten und ließ sich über Themen wie Verantwortungsbewusstsein, Bürgerpflicht, altersgemäßes Benehmen und Über-den-Tag-hinaus-Denken aus – Evie kannte die Leier nur zur Genüge. Wie dringend hätte sie jetzt einen Schluck gebraucht, um ihren Kater zu verjagen, doch ihre Eltern hatten ihren Flachmann konfisziert. Einen wunderschönen Flachmann übrigens – er war aus Silber, und Charles Warrens hatte seine Initialen darin eingravieren lassen. Der gute alte Charlie, treue Seele. Sie hatte ihm versprochen, sein Mädchen zu sein. Eine Woche lang hatte sie durchgehalten. Charlie war ein Schätzchen, aber eben auch ein quälender Langweiler. Einem Mädchen seine Hand auf ihre Brust zu pressen, so steif und hölzern, als wäre sie ein gestärktes Zierdeckchen auf dem Beistelltisch einer unverheirateten Tante, und dabei mit seinen Lippen wie ein Vogel auf ihrem Mund herumzupicken – das war’s, was er sich unter Fummelei vorstellte. Quelle tragédie.

»Evie, hörst du mir überhaupt zu?« Ihr Vater sah sie verärgert an.

Evie rang sich ein Lächeln ab. »Immer doch, Vater.«

»Warum hast du diese schlimmen Dinge über Harold Brodie verbreitet?«

Jetzt verzog Evie empört das Gesicht. »Er hatte es verdient.«

»Du hast ihn beschuldigt … ein … ein …« Ihr Vater verhaspelte sich und errötete auch noch dabei.

»Dieses arme Mädchen vernascht zu haben?«

»Evangeline!« Ihre Mutter rang nach Luft.

»Oh Verzeihung, ich meine natürlich, ihre Unschuld ausgenutzt und sie in anderen Umständen sitzen gelassen zu haben.«

»Warum nur kannst du nicht …« Die Stimme ihrer Mutter verebbte, aber Evie kannte die Fortsetzung des Satzes: Warum nur kannst du nicht James ein wenig mehr ähneln?

»Einfach tot sein, meinst du?«, schoss sie zurück.

Das Gesicht ihrer Mutter verzog sich schmerzlich und in diesem Augenblick verachtete sich Evie selbst ein wenig.

»Es reicht, Evangeline«, warnte ihr Vater.

Evie senkte den brummenden Kopf. »Es tut mir leid.«

»Ich denke, du solltest wissen, dass die Brodies mit einer Beleidigungsklage gedroht haben, falls du nicht bereit bist, dich öffentlich zu entschuldigen.«

»Was? Ich werde mich auf keinen Fall entschuldigen!« Evie erhob sich so abrupt, dass sich das Hämmern in ihrem Kopf noch verstärkte und sie sich wieder setzen musste. »Ich habe nur die Wahrheit gesagt.«

»Du hast ein Spiel gespielt …«

»Es war kein Spiel!«

»Ein Spiel, das dich in Schwierigkeiten gebracht hat.«

»Harold Brodie ist ein Lump und ein Schürzenjäger, der beim Kartenspielen schummelt und jede Woche ein anderes Mädchen auf dem Notsitz seines Automobils verführt. Sein Coupé ist ein Fummelpalast, ganz eindeutig. Und noch dazu ist er ein lausiger Küsser.«

Evies Eltern starrten sie sprachlos an.

»Das habe ich jedenfalls gehört.«

»Kannst du deine Anwürfe denn beweisen?«, fragte ihr Vater drängend.

Das konnte Evie nicht. Nicht ohne den Eltern von ihrem Geheimnis zu erzählen, und das wollte sie keinesfalls riskieren. »Ich werde mich nicht entschuldigen.«

Evies Mutter räusperte sich. »Es gäbe da wohl einen Ausweg.«

Evie sah ihre Eltern nacheinander an. »Und auf die Militärschule kriegt ihr mich auch nicht.«

»Keine Militärschule würde dich aufnehmen«, brummte ihr Vater. »Aber wie wäre es, wenn du für eine Weile nach New York zögest und bei deinem Onkel Will wohntest?«

»Ich … äh … du meinst, in Manhattan?«

»Wir haben vermutet, dass du eine Entschuldigung ablehnen würdest«, sagte ihre Mutter und spielte ihren letzten Trumpf aus. »Ich habe deshalb heute Morgen mit meinem Bruder gesprochen. Er wäre bereit, dich aufzunehmen.«

Dich aufzunehmen. Wie eine Last. Ein Akt der Barmherzigkeit. Onkel Will war dem Gejammer ihrer Mutter vermutlich wehrlos ausgeliefert gewesen.

»Es ist ja nur für ein paar Monate«, fuhr ihr Vater fort. »Bis die Aufregung sich gelegt hat.«

New York City. Flüsterkneipen und Einkaufsbummel. Broadwaytheater, Filmpaläste. Nachts würde sie im Cotton Club tanzen. Die Tage würde sie mit Mabel, der lieben alten Mabesie, zubringen, die im gleichen Haus wie ihr Onkel wohnte. Sie und Mabel kannten sich, seit sie beide neun Jahre alt waren und Evie und ihre Mutter einige Tage in New York verbracht hatten. Seit dieser Zeit waren sie Brieffreundinnen. In den letzten Jahren waren Evies Briefe allerdings seltener geworden, bestanden aus nicht viel mehr als ein paar Zeilen, obgleich ihr Mabel weiterhin in regelmäßigen Abständen schrieb. Meist handelten ihre Briefe von Onkel Wills gut aussehendem Assistenten Jericho, den sie wechselweise als »eine von Engeln gemalte Gestalt« und »ein fernes Ufer, an dem ich zu stranden hoffe« beschrieb. Ja, Mabel brauchte sie. Und Evie brauchte New York. In New York konnte sie sich neu erfinden. Sie konnte jemand sein.

Fast hätte sie ein hastiges Ja hervorgesprudelt, doch sie kannte ihre Mutter nur zu gut. Gab Evie sich nicht den Anschein, als empfinde sie den Vorschlag ihrer Eltern als Strafe, dann würde sie weiterhin in Zenith festsitzen und sich am Ende doch noch bei Harold Brodie entschuldigen.

Sie stieß einen Seufzer aus und presste genau die richtige Anzahl Tränen hervor – zu viele und die Eltern würden womöglich einlenken. »Vermutlich ist das die beste Lösung. Obwohl ich wirklich nicht weiß, was ich in New York mit einem alten Junggesellen als Anstandswauwau und ohne meine lieben Freunde hier aus Zenith anfangen soll.«

»Darüber hättest du dir vorher Gedanken machen sollen«, entgegnete ihre Mutter mit schadenfrohem Lächeln, das ihren moralischen Triumph spiegelte.

Evie unterdrückte ein Grinsen. Das war gerade eine meiner leichtesten Übungen, dachte sie.

Ihr Vater sah prüfend auf seine Uhr. »Um fünf Uhr geht ein Zug nach New York. Du solltest dich ans Packen machen.«

***

Schweigend fuhren Evie und ihr Vater zum Bahnhof. Normalerweise erfüllte sie eine Fahrt in dem Lincoln Boattail Roadster mit einem gewissen Stolz, war er doch das einzige Cabriolet in Zenith – das beste Pferd im Stall ihres Vaters, der mit Automobilen handelte. Doch heute wollte sie von niemandem gesehen werden und wünschte sich, sie wäre genauso belanglos wie die Geister in ihren Träumen. Dasselbe Gefühl beschlich sie manchmal, wenn sie getrunken hatte – dann mischte sich die Scham über ihren jüngsten Auftritt mit dem heftig unterdrückten Ärger über die Empfindungen, die diese engstirnigen Kleinstädter um sie herum in ihr auslösten. »Ach, Evie, du überforderst uns«, sagten sie dann meist mit einem höflichen Lächeln. Als Kompliment war das nicht gemeint.

Sie war tatsächlich eine Herausforderung – zumindest für Zenith, Ohio. Sie hatte verschiedentlich versucht, sich unauffälliger zu verhalten, der normierten Erwartungshaltung zu entsprechen. Doch aus irgendeinem Grunde gelang es ihr immer wieder, etwas Empörendes von sich zu geben oder anzustellen – ließ sich auf eine Mutprobe ein und kletterte einen Fahnenmast empor, gab einen nicht ganz salonfähigen Witz zum Besten oder ging mit irgendwelchen Knaben in deren Automobilen auf Spritztour –, und schon war sie wieder »dieses fürchterliche O’Neill-Mädchen«.

Instinktiv wanderten ihre Finger zu der Münze, die sie um den Hals trug – eine Halbdollarmünze, die ihr Bruder ihr während des Krieges zu ihrem neunten Geburtstag »von drüben« geschickt hatte. Dem Tag, an dem er gestorben war. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie ihnen Mr Smith vom Telegrafenamt das Telegramm aus dem Kriegsministerium überbracht hatte; er hatte etwas Entschuldigendes gemurmelt, als er es überreichte. Auch an den kaum hörbaren, erstickten Schrei ihrer Mutter erinnerte sie sich, bevor die zu Boden sank, das Blatt Papier mit den herzlosen schwarzen Lettern noch immer fest umklammernd. Und auch ihren Vater sah sie vor sich, wie er in seinem Arbeitszimmer gesessen hatte, lange nach seiner Schlafenszeit; vor ihm auf dem Schreibtisch eine offene Flasche des verbotenen Scotch. Evie hatte das Telegramm erst später gelesen: BEDAUERN IHNEN MITTEILEN ZU MÜSSEN … SOLDAT JAMES XAVIER O’NEILL … IM DEUTSCHEN FELDE GEFALLEN … ÜBERRASCHENDER ANGRIFF IN DEN FRÜHEN MORGENSTUNDEN … HAT SEIN LEBEN FÜR UNSER VATERLAND GEOPFERRT … SPRECHE IHNEN IM NAMEN UNSERES KRIEGSMINISTERS MEIN AUFRICHTIGES MITGEFÜHL ZUM VERLUST IHRES SOHNES AUS …

Sie überholten ein Pferdegespann, das unterwegs zu einer der Farmen am Rande der Stadt war. Evie kam es altmodisch und fehl am Platz vor. Aber vielleicht war auch sie diejenige, die nicht mehr hierhergehörte.

»Evie«, hörte sie jetzt ihren Vater mit seiner leisen Stimme sagen. »Was hat sich wirklich auf der Party abgespielt, Liebling?«

Die Party. Anfangs war die Stimmung noch fantastisch gewesen. Louise, Dottie und sie waren in vollem Staat erschienen. Dottie hatte Evie ihr Strassstirnband geliehen, es sah unendlich elegant auf ihren seidigen Locken aus. Sie hatten sich ein lebhaftes, wenngleich recht inhaltsleeres Wortgefecht über den Prozess von Mr Scopes aus Tennessee im letzten Jahr geliefert sowie über die Theorie, dass die gesamte Menschheit von den Affen abstamme. »Es fällt mir nicht im Mindesten schwer, das zu glauben«, hatte Evie verkündet und ihre Augen kokett zu den Collegejungen hinüberblitzen lassen, die gerade zum zwölften Mal enthusiastisch den Song The Sweetheart of Sigma Chi zum Besten gaben. Alle waren betrunken und ausgelassen gewesen. Und dann hatte ihr Harold schöne Augen gemacht.

»Hello, my baby; hello, my honey; hello, my Evie girl«, sang er und fiel vor ihr auf die Knie.

Harry war ein hübscher Junge, von bestrickendem Charme und, entgegen ihrer Aussage von vorhin, ein wundervoller Küsser. Wenn Harry ein Mädchen gefiel, dann rückte es in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Und Evie gefiel es, im Mittelpunkt zu stehen, besonders, wenn sie etwas trank. Doch Harry war so gut wie verlobt mit Norma Wallingford. Er war zwar nicht in sie verliebt – das wusste Evie –, sehr wohl aber in ihr Bankkonto, und alle rechneten damit, dass die beiden heiraten würden, wenn er seinen Collegeabschluss hatte. Aber noch war er nicht verheiratet.

»Hab ich dir je erzählt, dass ich besondere Kräfte habe?«, hatte Evie ihn nach ihrem dritten Drink gefragt.

Harry lächelte. »Das ist schwer zu übersehen.«

»Nein, nein, ich meine es ernst«, sagte sie lallend, zu beschwipst, um seine Provokation zu ignorieren. »Ich kann all deine Geheimnisse erraten, wenn ich einen Gegenstand, der dir am Herzen liegt, in der Hand halte und mich auf ihn konzentriere.« Von den Partygästen war hier und da ein unterdrücktes Kichern zu vernehmen. Evie fixierte sie mit herausforderndem Blick und ihre blauen Augen funkelten unter den pechschwarz getuschten Wimpern. »Ich meine es absolut und hundertprozentig ernst.«

»Du bist absolut und hundertprozentig angetrunken, das bist du, Evie O’Neill«, rief Dottie dazwischen.

»Ich beweise es euch. Norma, gib mir was von dir – Schal, Hutnadel, Handschuh, irgendetwas.«

»Ich werde dir gar nichts geben, Evie. Sonst bekomme ich es womöglich nicht mehr zurück.« Norma lachte.

Evie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Ja, wie schlau du bist, Norma. Ich werde mir eine Sammlung rechter Handschuhe zulegen. Es ist ja so bourgeois, zwei zueinander passende zu besitzen.«

»Nun, ganz sicher würdest du niemals etwas tun, das einfach nur normal ist, richtig, Evie?«, sagte Norma kampflustig. Alle lachten und Evies Wangen fingen an zu glühen.

»Richtig, Norma, das überlasse ich dir.« Evie strich sich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn, aber sie fiel ihr sogleich wieder in die Augen. »Und wenn ich es mir recht überlege, würden deine Geheimnisse vermutlich auch die Wirkung einer Schlaftablette auf uns haben.«

»Na schön«, warf Harold ein, ehe sich die Situation weiter zuspitzen konnte. »Da hast du meinen Collegering. Verraten Sie mir doch meine tiefsten und dunkelsten Geheimnisse, Madame O’Neill.«

»Mutig von dir, einem Mädchen wie Evie deinen Ring zu überlassen«, rief einer von den Gästen.

»Ruhe, s’il vous plaÎt!«, befahl Evie theatralisch. Sie begann, sich auf den Ring zu konzentrieren, und wartete darauf, dass er sich in ihren Händen erwärmte. Manchmal geschah es, manchmal aber auch nicht, und sie hoffte inständig und bei der Seele von Rudolph Valentino, dass es diesmal der Fall sein würde. Der Preis für die Anstrengung waren die sich später einstellenden Kopfschmerzen – die Schattenseite ihres bescheidenen Talents –, aber dagegen half schließlich der Gin. Immerhin hatte sie sich vorbeugend bereits ein wenig betäubt. Evie öffnete ein Auge nur einen Spaltbreit. Alle beobachteten sie. Alle beobachteten sie, aber rein gar nichts geschah.

Harold lachte leise in sich hinein und streckte die Hand nach seinem Ring aus. »Na gut, Schätzchen. Du hattest deinen Spaß. Und jetzt solltest du erst mal ein wenig ausnüchtern.«

Aber Evie entzog ihm ihre Hände. »Ich werde deine Geheimnisse enthüllen, wart du nur ab!« Nach Evies Auffassung war kaum etwas unerträglicher, als durchschnittlich zu sein. Das überließ sie den Langweilern. Außergewöhnlich wollte sie leben und sein, das war es, wonach sie strebte. Ein leuchtender Stern am Himmel. Auch wenn sie das scheußlichste Kopfweh ihres Lebens bekam. Sie schloss die Augen und presste den Ring nochmals fest gegen die Innenseite ihrer Handflächen. Dieses Mal erwärmte er sich stärker und gab schließlich seine Geheimnisse preis. Ein Lächeln breitete sich über Evies Gesicht aus und sie öffnete die Augen.

»Harry, du schlimmer Junge, du …«

Mit neu erwachtem Interesse drängten die Partygäste näher an sie heran.

Harold lachte sichtlich verlegen. »Was willst du damit sagen?«

»Hotelzimmer zweiundzwanzig. Das hübsche Zimmermädchen … L … El…Ella! Ella! Du hast ihr ein dickes Bündel Bares in die Hand gedrückt und ihr gesagt, sie solle sorgsam damit umgehen.«

Norma trat näher auf die beiden zu. »Worum geht es hier, Harry?«

Harrys Lippen wurden schmal. »Ich weiß wirklich nicht, was du da redest, Evangeline. Die Vorstellung ist beendet. Ich hätte jetzt gerne meinen Ring zurück.«

In nüchternem Zustand hätte Evie an dieser Stelle vielleicht nachgegeben. Aber der Gin machte sie übermütig. Sie drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger vor seinem Gesicht. »Du hast ihr ein Kind gemacht, du böser Junge.«

»Harold, ist das wahr?«

Harold schoss die Röte ins Gesicht. »Genug, Evie. Das ist nicht mehr lustig.«

»Harold?« Die Frage kam von Norma Wallingford.

»Sie lügt, Liebling«, sagte Harold beschwichtigend.

Evie erhob sich, stieg auf den Tisch und legte eine kleine Charlestonnummer hin. »Mein Freund, dein Ring spricht eine andere Sprache.«

Harold streckte den Arm nach Evie aus, doch sie wich quiekend aus und schnappte sich ein Glas von einem der Umstehenden. »Himmel hilf! Das ist eine Attacke! Eine Attacke von Harold Brodie! Lauft um euer Leben!«

Inzwischen hatte Dottie den Ring an sich gebracht und Harry zurückgegeben. Danach hatten Louise und sie Evie mehr oder weniger aus dem Raum und an die frische Luft geschleift. »Süße, du bist sternhagelvoll. Wir gehen.«

»Ooh, wir gehen! Huiii! Wohin gehen wir denn?«

»Wir nüchtern dich jetzt erst mal aus«, sagte Dottie und beförderte sie in das eiskalte Brunnenwasser.

Etwas später und nach etlichen Tassen Kaffee lag Evie in ihrem nassen Ballkleid zitternd unter einer Decke in einem abgedunkelten Winkel des Damenzimmers. Dottie und Louise waren losgezogen, um ein Aspirin für sie aufzutreiben, und Evie war unbemerkt Ohrenzeugin zweier Mädchen geworden, die vor den goldgerahmten Spiegeln standen und sich über den Streit unterhielten, in den Harold und Norma nach dem Vorfall eben geraten waren.

»An allem ist nur diese fürchterliche Evie O’Neill schuld. Man weiß ja, wie sie ist.«

»Nie kann sie sich zurückhalten.«

»Nun, dieses Mal hat sie es wirklich übertrieben. In dieser Stadt ist sie erledigt. Dafür wird Norma sorgen.«

Evie wartete ab, bis die beiden den Raum verlassen hatten, und ging dann hinüber zu einem der Spiegel. Ihre Wimperntusche war unter den Augen zu dicken schwarzen Klecksen zerronnen und ihre feuchten Locken hingen schlaff herab. Erbärmliches Kopfweh hämmerte wütend auf sie ein, und sie sah ebenso aufgelöst aus, wie sie sich fühlte. Am liebsten hätte sie geweint, aber das half auch nicht weiter.

Da platzte Harry ins Damenzimmer, schloss die Tür hinter sich und hielt sie zu. »Wie hast du es herausgefunden?«, knurrte er und packte sie am Arm.

»Ich hab … ich hab dir’s doch gesagt. Dein Ring hat’s mir …«

Harrys Griff um ihren Arm wurde fester. »Red keinen Unfug und sag mir jetzt sofort, woher du’s weißt! Dank deines hübschen kleinen Partystreichs hat Norma mir gedroht, mich zu verlassen. Ich verlange von dir, dass du meinen guten Ruf wiederherstellst und dich öffentlich entschuldigst.«

Evie fühlte sich wie benebelt und ihr war flau im Magen – die Nachwirkungen ihrer telepathischen Séance, schlimmer als der übelste aller Kater nach einem ganz ordinären Besäufnis. Harold Brodie war alles andere als ein charmanter Lebemann, das wurde ihr jetzt bewusst. Er war ein Schuft. Ein Feigling. Das Letzte, was sie tun würde, war, sich bei einem solchen Mann zu entschuldigen.

»Scher dich zum Teufel, Harry.«

Jemand hämmerte von außen gegen die Tür. Es waren Dottie und Louise.

»Evie? Evie! Mach auf!«

Harold ließ ihren Arm los und Evie spürte geradezu, wie dort ein blauer Fleck aufblühte. »In dieser Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, Evangeline. Dein Vater hat sein Unternehmen meinem Vater zu verdanken. Das mag dich dazu bewegen, noch einmal über eine Entschuldigung nachzudenken.«

Zur Antwort bedachte Evie Harold Brodie mit einem Schwall Erbrochenem.

***

»Evie?«, holte ihr Vater sie in die Gegenwart zurück.

Evie rieb sich den schmerzenden Kopf. »Da war nichts, Pop. Es tut mir leid, dass du deswegen in Teufels Küche gekommen bist.«

Er verlor kein Wort des Tadels darüber, dass sie das Wort Teufel in den Mund genommen hatte.

Am Bahnhof ließ ihr Vater den Wagen im Leerlauf stehen und begleitete Evie zum Bahnsteig. Dem Gepäckträger, der ihr die Koffer zum Abteil tragen und dafür sorgen sollte, dass sie in New York in die Wohnung ihres Onkels befördert wurden, gab er ein Trinkgeld. Evie hatte nur ihre kleine karierte Reisetasche und eine perlenbestickte Handtasche bei sich.

»So«, sagte ihr Vater und blickte zu seinem Cabriolet hinüber. Dann reichte er Evie einen Zehner, den sie sofort hinter das Hutband ihres glockenförmigen Filzhutes steckte. »Hier ist ein bisschen Taschengeld für dich.«

»Danke, Pop.«

»Ich bin nicht gut im Abschiednehmen, das weißt du ja.«

Evie zwang sich zu einem unbekümmerten Lächeln. »Schon in Ordnung, Pop. Ich bin siebzehn, nicht sieben. Ich komme schon zurecht.«

»Nun denn.«

Leicht betreten standen sie auf der hölzernen Plattform.

»Gib acht, dass das Cabrio nicht ohne dich losfährt«, sagte Evie und deutete mit dem Kinn auf das Automobil. Ihr Vater küsste sie leicht auf die Stirn und erteilte dem Gepäckträger letzte Anweisungen. Dann fuhr er los.

Als der Lincoln am Ende der Straße nur noch als winziger Punkt wahrnehmbar war, verspürte Evie einen Anflug von Traurigkeit, doch auch noch eine zweite, andersgeartete Empfindung. Furcht, das war das Wort dafür. Eine nicht auszumachende, unsagbare Furcht. Dieses Gefühl peinigte sie nun schon seit Monaten, seit dem Zeitpunkt, an dem die Träume eingesetzt hatten.

»Mein Gott, ich krieg den Heebie Jeebie Blues«, sagte Evie leise und spürte, wie sie zitterte.

Ein prüde aussehendes Paar auf der Bank neben ihrer warf missbilligende Blicke auf ihren knielangen Rock, und Evie beschloss, den beiden eine richtige Schau zu bieten.

Sie zog den Rock hoch, fing an, munter vor sich hin zu summen, und rollte die Strümpfe nach unten, bis beide Beine vollständig entblößt waren. Das hatte die erwünschte Wirkung auf die zwei, sie begaben sich sofort ans hintere Ende des Bahnsteigs, nicht ohne lautstark ihrem Unmut über die »Schamlosigkeit der Jugend« Luft zu machen. Eine Stadt mit solchen Menschen würde Evie ganz bestimmt nicht fehlen.

Ein cremefarbenes Coupé fuhr gefährlich schlingernd die Straße herauf und kam gerade noch vor dem Bahnsteig zum Stehen. Zwei schick gekleidete Mädchen kletterten aus ihm heraus. Evie grinste und winkte ihnen stürmisch zu. »Dottie! Louise!«

»Wir haben gehört, dass du uns verlässt, und sind gekommen, um dich zu verabschieden«, sagte Louise, während sie kurzerhand über das Bahnsteiggeländer kletterte.

»Gute Nachrichten verbreiten sich schnell.«

»In dieser Stadt? Wie ein Blitz.«

»Es ist einfach fantastisch! Ich bin ohnehin eine Nummer zu groß für diesen Ort. In New York wird man mich verstehen. Ich werde in allen Zeitungen genannt und bei den Fitzgeralds zum Cocktail eingeladen werden. Schließlich ist meine Mutter eine Fitzgerald. Irgendwie müssen wir verwandt sein.«

»Da wir gerade von Cocktails sprechen …« Grinsend zog Dottie etwas aus ihrer Handtasche, das wie ein unschuldiges Aspirinfläschchen aussah. Es war zur Hälfte mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt. »Hier, ein bisschen Fusel für dich, um dir über den Anfang hinwegzuhelfen. Tut mir leid, dass es nicht mehr ist, aber mein Vater markiert seine Flaschen jetzt immer. Ach ja, und ein Exemplar von Photoplay haben wir auch noch im Schönheitssalon für dich ergattert«, fügte Louise hinzu.

Evie spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Macht es euch denn nichts aus, mit dem verstoßenen Mädchen gesehen zu werden?«

Louise und Dotty brachten ein schwaches Lächeln zustande – es bestätigte, dass Evie tatsächlich eine Verstoßene war, sie beide aber dennoch gekommen waren.

»Ihr seid einfach zwei Engel. Wäre ich der Papst, ich würde euch kanonisieren lassen!«

»Während der Papst auf dich bestimmt am liebsten eine Kanone abfeuern lassen würde!«

»New York City!« Louise zwirbelte die langen Perlenstränge um ihren Hals. »Norma Wallingford wird vor Neid platzen. Sie ist höllisch wütend über deinen Auftritt.« Dottie kicherte. »Raus mit der Sprache: Wie hast du das mit Harold und dem Zimmermädchen nun wirklich rausgefunden?«

Evies Lächeln wurde eine Spur schmaler. »Ein reiner Zufallstreffer.«

»Aber …«

»Ach, seht mal, da kommt mein Zug«, sagte Evie und unterband damit sämtliche weiteren Nachfragen. Sie umarmte ihre Freundinnen herzlich und voller Dankbarkeit. »Wenn wir uns das nächste Mal sehen, dann bin ich schon berühmt! Und mein Chauffeur wird uns in meiner Limousine durch ganz Zenith kutschieren.«

»Wenn wir uns das nächste Mal sehen, wirst du wegen irgendeines genialen Verbrechens vor Gericht stehen!«, sagte Dottie lachend.

Evie grinste. »Dann müssen sie aber erst herausfinden, wie ich heiße.« Ein Schaffner in blauer Uniform hielt die Reisenden an, in den Zug einzusteigen. Evie ließ sich in ihrem Abteil nieder. Es war stickig darin und so stieg sie mit ihren grünen Spangenschuhen aus Satin auf einen der Sitze, um das Fenster zu öffnen.

»Lassen Sie mich das machen, Miss«, bot ein anderer, jüngerer Schaffner an.

Evie warf ihm durch die Wimpern, die sie zu Hause noch getuscht hatte, einen Blick zu und bedachte ihn mit einem entwaffnenden Lächeln ihres rot bemalten Mundes. »Ach, Sie wären ein Schatz, wenn Sie mir das abnehmen würden.«

»Sie sind auf dem Weg nach New York, Miss?«

»Ja, das ist richtig. Ich habe einen Badenixenwettbewerb gewonnen und nun will man mich in New York für Vanity Fair fotografieren.«

»Wenn das nichts ist!«

»Ja wirklich, nicht?« Evie ließ ihre Wimpern klimpern. »Das Fenster?«

Der junge Mann löste die Verriegelung und schob das Fenster mühelos herunter. »Bitte sehr!«

»Oh, besten Dank«, säuselte Evie. Ja, sie war auf dem richtigen Weg. In New York konnte sie sein, wer immer sie wollte. Es war eine große Stadt – ein Ort für jeden, der davon träumte, ein glänzender Star zu werden.

Evie reckte den Kopf aus dem Abteilfenster und winkte Louise und Dottie zu. Ihre zu einem Bob gestutzten Locken wehten ihr ums Gesicht, während das verschlafene Städtchen hinter ihr langsam in der Ferne verschwand. Sekundenlang wünschte sie sich, sie könnte in die Sicherheit ihres Elternhaus zurückeilen. Aber darum war es bestellt wie um den Nebel in ihren Träumen. In Wirklichkeit war es eine Gruft – seit Jahren schon. Nein. Sie würde nicht traurig sein. Sie würde strahlen und glänzen wie ein richtiger Star. Würde eines der funkelnden Lichter von New York sein. »Auf bald!«, schrie sie den beiden schwindenden Gestalten zu.

»Worauf du dich verlassen kannst!«

Ihre Freundinnen schrumpften in der rauchverschleierten Ferne zu kleinen Farbtupfern zusammen. Evie warf ihnen Kusshände zu und bemühte sich, die aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Bedächtig winkte sie den vorbeiziehenden Dächern von Zenith, Ohio, nach, wo die Menschen ihr sattes, sicheres und selbstzufriedenes Leben liebten, ihren Geschäften nachgingen und niemals auch nur einen winzigen Einblick in die verborgenen Geheimnisse der anderen bekamen oder erschreckende Albträume von toten Brüdern zu ertragen hatten. Einen Moment lang beneidete Evie sie fast.

»Wollen Sie die ganze Fahrt da oben stehen bleiben, Miss?«, fragte der Schaffner.

»Ich will nur richtig Abschied nehmen«, antwortete Evie. Sie hob die Hand und wie eine Königin winkte sie den Häusern einen letzten Segensgruß zu.

»Bis dann, ihr Narren! Ihr habt ja keine Ahnung!«

MEMPHIS CAMPBELL, HARLEM, NEW YORK

Es war Morgen in Harlem und der Morgen gehörte den Zahlenlotto-Läufern. Von der nördlichen 130th bis hoch zur 160th Street und von der Amsterdam Avenue auf der West Side bis hinüber zur Park Avenue im östlichen Teil von Harlem waren ganze Scharen von ihnen unterwegs, um die Wettscheine für ihre Kunden auszufüllen und anschließend die hoffnungsbeladenen Zahlenkombinationen in rasendem Tempo zu ihren Bankhaltern in die Hinterzimmer der Zigarren- und Friseurläden, die Flüsterkneipen und die Souterrains der Stadthäuser zurückzutragen. Das Ganze musste vor zehn Uhr morgens abgewickelt werden, denn dann gab die Lottogesellschaft unten in der Wall Street die Gewinnzahlen des Tages bekannt, und es stellte sich heraus, wer es trotz der geringen Chance geschafft hatte und plötzlich reich geworden oder wer – sehr viel wahrscheinlicher – leer ausgegangen war. Nur selten endete die Sache zu Harlems Gunsten, aber seine Bewohner spielten trotzdem unverdrossen weiter: Ihr Glück konnte sich ja schließlich eines Tages wenden.

Der siebzehnjährige Memphis bezog an seinem Stammplatz Ecke Lenox Avenue und 135th Street unter der Straßenlaterne unweit des U-Bahn-Eingangs Stellung, um seine Kunden auf dem Weg zur Arbeit abzupassen. Wachsam hielt er nach Polizisten Ausschau, während er Tippschein für Tippschein ausfüllte: »Ja, Miss Jackson, fünfzehn Cent auf die 4-11-44.« – »44, 11, 22. Hab’s notiert.« – »Na, wenn Sie diese Zahl im Traum gesehen haben, Sir, dann wären Sie ja dumm, wenn Sie nicht auf sie setzen würden.«

Überall lagen Zahlen in der Luft – in Gesangbüchern und auf Anschlagtafeln, bei Hochzeiten, Begräbnissen und Geburten, bei Boxkämpfen und Pferderennen, in den Zügen, bei der Arbeit, in den Bruderschaften und in Träumen – und wollten in Reichtum verwandelt werden. Insbesondere in den Träumen.

Memphis dachte nicht gerne über seine Träume nach. Nicht letzthin jedenfalls.

Nach der morgendlichen Hauptverkehrszeit nahm er Wetten in den Foyers der Mehrfamilienhäuser entgegen und verstaute die Tippscheine in einem kleinen Lederbeutel, den er – für den Fall, dass man ihn mal durchsuchte – in seinem Socken versteckt bei sich trug. Dann sah er noch im DeLuxe Beauty Shop vorbei, wo es nicht nur die neuesten Frisuren, sondern auch den neuesten Klatsch gab.

»Und da hab ich ihr gesagt, ich kenn mich ja vielleicht mit Glatzen aus, aber Wunder, die kann ich nicht vollbringen«, gab Mrs Jordan, die Besitzerin des Ladens, gerade vor ihren schmunzelnden Kundinnen zum Besten. »Tag, Memphis. Na, wie geht’s so?«

Die Damen setzten sich in Positur.

»Mein Gott, der Junge da is ja so schön wie ’n Pharao«, sagte eine der jungen Frauen im Laden glucksend. Sie fächelte sich mit einer Zeitschrift etwas Luft zu. »Haste denn schon ein Mädchen, Süßer?«

»An jeder Ecke eines!«, sagte Mrs Jordan lachend.

Memphis wusste, dass er gut aussah. Er war einen Meter achtzig groß, breitschultrig und hatte hohe Wangenknochen, die er seinen jamaikanischen Vorfahren aus grauer Vorzeit zu verdanken hatte. Floyd aus Floyd’s Barbershop sorgte dafür, dass seine Haare immer kurz geschoren und schön geölt waren, und Mr Levine, der Schneider, kümmerte sich darum, dass seine Anzüge perfekt saßen. Als Erstes aber stach jedermann Memphis’ Lächeln ins Auge. Wenn Memphis Campbell sich entschloss, das ganze Ausmaß seines Charmes zu entfalten, dann zeigte er zunächst sein Lächeln: anfangs scheu, dann breiter, schließlich strahlend, beinahe blendend. Dazu kam noch sein Blick aus Augen, wie sie sonst nur ein junger Hund besaß; selbst seine Tante Octavia brachte er damit gelegentlich zum Schmelzen.

Jetzt setzte Memphis dieses Lächeln ein. »’s wird Zeit, Ladys.«

Aunt Sally’s Policy Players Dream Book