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Andreas Dresen

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Wilhelmstadt

Die Abenteuer der Johanne deJonker

BAND 1
DIE MASCHINEN DES SALADIN SANSIBAR

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Dresen, Andreas: Wilhelmstadt. Die Abenteuer der Johanne deJonker

Band 1: Die Maschinen des Saladin Sansibar

Hamburg, ACABUS Verlag 2014

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-275-1

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-276-8

Print: ISBN 978-3-86282-274-4

Lektorat: Roxanne König, ACABUS Verlag

Cover: © Marta Czerwinski, ACABUS Verlag

Bildnachweise: © Kanea - Fotolia.com; © Erica Guilane-Nachez - Fotolia.com; © http://pixabay.com; Public Domain Mark and CC0 images from British Library collections:

https://www.flickr.com/photos/britishlibrary/11126391165/;

https://www.flickr.com/photos/britishlibrary/11220109225/

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© ACABUS Verlag, Hamburg 2014

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Prolog

Die Juggernauth

Jedes Heim braucht eine Katze

Beunruhigende Nachrichten

Schloss Eyth

Die Kapelle

Verschwunden

Ein Einschub – Luftpost

Der Friedhof von Wilhelmstadt

Die Kaiserliche Geheimpolizei

Hauptmann Esser

Nadelspitzengespräche

Varieté

Zigaretten!

Die Hölle von Wilhelmstadt

Julius deJonker

Gedanken der Nacht

Wilhelms Abenteuer

Die ewigen Feuer von Wilhelmstadt

Nantucket

Das vollmechanische Faultier

Isambard

Die dunklen Straßen der Stadt

Die Gruft der Drab-Masi

Grabräuber

Unter den Straßen von Wilhelmstadt

Das Labor

Willems Wölfe

Kaiserball

Die Maschine des Saladin Sansibar

Nadelspitzengespräche

Beerdigung

Epilog

Für Kerstin

Prolog

Dampfend und zischend fuhr der Orient-Express in den Bahnhof von Wilhelmstadt ein. Schwarzgrauer Qualm sammelte sich unter dem gewölbten Glasdach und trübte die einfallenden Sonnenstrahlen. Der prunkvolle Elefantenkopf, der die Lokomotive wie eine Galionsfigur schmückte, schob sich über die Gleise, wurde immer langsamer und blieb schließlich prustend und keuchend am Ende des Bahnsteigs stehen. Die langen, stählernen Stoßzähne fegten alles, was sich dem Zug in den Weg stellte, von den Gleisen. Alles, was diesen Zähnen entkam, prallte gegen die wuchtige Stirn des eisernen Elefantenbullen. Er war nicht nur Zierat, sondern Schutz und Abwehr gegen alle Gefahren, die auf der gefahrvollen Reise quer über die Kontinente lauern mochten.

Die Türen des Zugs sprangen auf und Menschen quollen aus den Waggons. Einige steuerten auf die großen marmornen Treppen zu, um ihren Geschäften in Wilhelmstadt nachzugehen. Andere eilten über den Bahnsteig, um ihren Anschlusszug zu erreichen. Auf dem Nachbargleis wartete bereits der Braune Bär. Dieser Zug würde seine Passagiere von Wilhelmstadt über Frankfurt nach Berlin bringen, um von dort aus nach Moskau weiterzurasen.

„Es war schön, Sie kennengelernt zu haben, Fräulein deJonker.“ Der junge Mann mit dem Spitzbart verbeugte sich galant vor der jungen Dame, mit der er die letzten Stunden seiner Reise verbracht hatte.

„Wenn ich nicht mein Luftschiff erreichen müsste, wäre es mir eine Freude, Sie nach Hause zu begleiten. Aber leider ruft mich die Pflicht und ich reise weiter nach London, wo man mich bereits heute Abend im Club erwartet. Dringliche Geschäfte, Sie wissen, wie das ist.“

„Die Freude wäre ganz meinerseits, Herr Doktor“, antwortete Johanne kokett und stellte ihre Handtasche auf den Boden, um ihm die Hand zum Kuss hinzuhalten. Der Doktor ergriff sie und hauchte den Kuss auf ihre Finger.

Plötzlich bekam Johanne einen Stoß in den Rücken und stolperte. Im nächsten Moment war ihre Handtasche verschwunden.

„Hey“, rief Johanne. „Meine Papiere! Meine Handtasche! Haltet den Dieb!“

Sie zeigte auf einen kleinen, dreckigen Jungen, der sich die Beute an die Brust drückte und sofort die Beine in die Hand nahm.

„Verdammt, den kriegen Sie nicht mehr“, sagte der Doktor verdrossen und schüttelte den Kopf.

„Ach, Unsinn.“ Johanne packte ihren Schirm. Der Griff war ein aus Ebenholz geschnitzter Leopardenkopf, bespannt war das Accessoire mit hauchdünner chinesischer Seide, die am Rand mit feinster Spitze besetzt war. Johanne rief: „Aus dem Weg!“ Dann hob sie die Spitze des Schirms in Richtung des Jungen, der inzwischen den halben Bahnsteig überquert hatte. Johanne zielte, dann drückte sie auf einen versteckten Knopf im Griff des Schirms. Eine Feder entspannte sich mit einem Knacken, die Streben des Schirms lösten sich und flogen wie eine riesige Spinne durch die Luft. Kurz darauf lag der Junge auf der Erde, seine Beine im Drahtgeflecht des Schirms verheddert.

Johanne rannte zu ihm, schnappte sich die Handtasche und schaute dem Jungen in die Augen. Das Gesicht war dreckig, seine Kleidung zerrissen. Aus großen blauen Augen sah er Johanne verzweifelt an. Er wusste, was ihm nun blühte. Wenn er in die Hände der Kaiserlichen Geheimpolizei fiele, käme er erst ins Heim, dann in die Fabrik. Wenn er Glück hatte. Er würde wahrscheinlich schon lange erwachsen sein, bis er wieder frei wäre.

Johanne löste mit einem geschickten Griff die Drahtsperre von seinen Beinen.

„Hau bloß ab“, zischte sie ihm zu. Der Junge grinste und war schon in der Menge verschwunden, als sich Johanne wieder ihrem Begleiter zuwandte.

„Sie sind mir ja ein Kavalier“, sagte sie vorwurfsvoll, doch der Herr Doktor mit dem Bart war fort.

„Wahrscheinlich steckte er mit dem Jungen unter einer Decke“, sagte ein älterer Mann, der neben Johanne aufgetaucht war. „Bitte entschuldigt meine Verspätung, Fräulein Johanne.“

„Wohin bringst du mich, Joseph?“ Johanne saß neben dem Hausangestellten ihrer Familie auf dem Kutschbock, während er sie durch die Stadt fuhr. Wilhelmstadt war gewachsen, seitdem sie das letzte Mal hier gewesen war. Die Segmente schienen zum Teil neu bebaut worden zu sein. Der neue Reichtum der Stadt war unübersehbar, denn große Kaufmannshäuser reihten sich wie glänzend polierte Perlenketten entlang der Hauptstraßen. Die Männer waren elegant gekleidet mit ihren Gehröcken und steifen Hüten. An ihren Armen hingen die Damen, die die neueste Mode aus Berlin und Paris zur Schau trugen. Die Bürger Wilhelmstadts waren wohlhabend, was sie den Fabriken und den Bodenschätzen verdankten, genauso wie den Arbeitern, die unermüdlich für sie schufteten.

Auch das Warenangebot in den Schaufenstern war beeindruckend. Durch die Luftschiffroute Berlin-Bagdad, die in Wilhelmstadt einen Haltepunkt hatte, um das hier aus dem Æther raffinierte Hælium aufzunehmen, gelangten die Waren aus dem Orient zuerst in diese Stadt, bevor sie noch die Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs erreichten. Also schienen die Kolonialwarenläden nur so überzuquellen von erstaunlichen und fremdartigen Genüssen. Bananen, Pfeilwurzelmehl und Kokosnüsse wurden ebenso feil geboten wie Tigerbeere, Gummidrops und geröstete Affenfüße.

Haushaltswarenläden wurden in letzter Zeit besonders gut besucht, denn die findigen Ingenieure der Stadt hatten ihrem Ruf alle Ehre gemacht und den heimischen Markt mit innovativen Produkten überschwemmt, wie es sie noch nicht mal im fortschrittlichsten Land der Welt, der ehemaligen britischen Kolonie auf der anderen Seite des Atlantiks, zu kaufen gab. Die dampfbetriebene Spülmaschine war da nur der Anfang gewesen. Inzwischen konnte sich die Frau des Hauses über so elegante Gerätschaften wie den selbstreinigenden Teppich, den hundert Jahre haltbaren Hefeteig sowie die vollautomatische Kochmaschine freuen. Letztere musste nur einmal in der Woche von der Küchenhilfe mit Lebensmittelvorräten befüllt werden, danach schuf sie zu jeder Tages- und Nachtzeit die herrlichsten Gerichte, die die Hausherrin sich auf ihrem Speiseplan nur vorstellen konnte. Selbst überraschende Gäste waren kein Problem und konnten bewirtet werden. Meistens jedenfalls. Es gab allerdings auch Gerüchte darüber, dass diese Maschinen so empfindlich sein konnten wie eine menschliche Köchin. So soll eines Abends ein Gast eines noblen Hauses das Essen unangetastet zurück in die Küche gegeben haben. Am nächsten Morgen war das Haus abgebrannt und der Küchenapparat war spurlos verschwunden.

Neben diesem überbordenden Reichtum der Stadt fiel Johanne die erschreckende und unübersehbare Armut auf, die ihnen begegnete, als sie nun durch die kleineren Straßen des achten Segments fuhren. Dreckige Kinder spielten auf der Straße, dürre Frauen mit eingefallenen Gesichtern starrten sie aus dunklen Löchern an, die sie ihr Zuhause nannten.

„Das ist nicht der Weg zum Hause Schamal!“, sagte sie, mit wachsender Sorge. Der Rauch der Kamine der armseligen Ziegelhäuschen, die die Wege säumten, und der Qualm der riesigen Schlote der Fabriken, die in diesem Teil der Stadt das Bild prägten, legte sich wie ein öliger Film auf alles Leben. In einem Hauseingang lag ein alter Mann in Lumpen. Sein Blick ging ins Leere, nur seine Finger zuckten, als die Droschke vorbeifuhr. Johanne drehte sich erschrocken auf dem Kutschbock um, um den Mann im Blickfeld zu behalten.

„Joseph, ich glaube, dieser Mensch dort vorne stirbt! Wir müssen etwas tun!“

Der Hausdiener schüttelte traurig den Kopf.

„In dieser Straßen wird zu jeder Stunde gestorben, Herrin. Wir können nicht alle retten. Wir müssen sehen, dass wir überleben.“ Johanne starrte ihren Hausdiener einige Sekunden fragend, fast fassungslos an.

„Dann bring mich weg von hier. Bring mich nach Hause.“

„Das tue ich bereits, Fräulein Johanne.“

„Aber … Haus Schamal liegt im siebten Bezirk. Direkt am Park! Was wollen wir dann hier?“

„Fräulein Johanne, seitdem der Kaiser die Familie deJonker enteignet hat, leben wir hier. Graf Eyth war so freundlich, uns eine Wohnung in einem seiner Häuser zu überlassen. Als er hörte, dass das gnädige Fräulein heimkehrt, hat er sogar das ganze Haus räumen lassen.“

„Räumen lassen? Aber was ist mit den Menschen, die dort gelebt haben? Und warum wohnen wir nicht im Haus Schamal?“

„Fräulein Johanne, der Kaiser hat Haus Schamal konfisziert! Euch gehören nur noch die Sachen, die Ihr auf dem Leib tragt. Und die Vormieter unserer neuen Bleibe … nun, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich leben sie auf der Straße. Entweder sie oder wir.“

Johanne blickte ihren Hausdiener entsetzt an. Natürlich hatte sie von der Enteignung ihres Vaters durch den Kaiser gewusst. Allerdings konnte sie all das noch nicht in vollem Ausmaß erfassen.

„Ich dachte, dass es da vielleicht nur um Vaters Vermögen gegangen wäre“, sagte sie dann leise. „Als eine Art Strafe. Das allein hätte ja schon ausgereicht, um Mutters Herz zu brechen. Aber das Haus? Wie können sie uns das Haus nehmen? Vater hat es doch selbst gebaut! Es gehörte zur Familie, so wie du und Marianne. Man kann einer Familie doch nicht einfach das Haus entreißen!“ Ihre Stimme wurde laut und Joseph schaute betreten zu Boden.

„Der Kaiser kann alles“, sagte er vorsichtig. „Es kommt aber noch schlimmer. Das ganze Vermögen, das Eure Frau Mutter mit in die Ehe gebracht hat …“

„Das auch? Alles weg? Auch das Landgut in Pommern?“

Joseph schüttelte nur den Kopf. „Sie hat sich bis zum Schluss geweigert, Hilfe von ihren Schwestern anzunehmen, dazu war sie viel zu stolz. Sie war fest davon überzeugt, dass der Kaiser irgendwann zur Vernunft kommen musste. Graf Eyth …“

„Mein Patenonkel? Hat er denn nicht interveniert?“ Johanne wusste, dass der Graf dem Geheimbund der Rosenwegler angehörte, in dem der Kaiser als Großmeister diente. Es hieß, die großen Köpfe dieses Landes seien dort organisiert, um dem Kaiserreich zu neuem Glanz zu verhelfen, unabhängig von Kanzler und Volksvertretern. In diesem Bund sei die wahre Macht des Kaiserreichs konzentriert, hatte ihr Vater immer gesagt. Bis zu seinem Tod hatte er seiner Tochter nicht erzählt, ob er dieser Gesellschaft angehörte oder nicht. Graf Eyth jedoch trug das Zeichen der Rose ganz offen an seinem Revers.

„Was hat der Graf getan, um Wilhelm zur Umkehr zu bewegen?“

„Ich weiß es nicht, Fräulein Johanne, aber es hat nicht ausgereicht.“

Johanne versank in brütendes Schweigen, bis sie endlich vor einem kleinen Ziegelhaus hielten.

„Ich werde alles dafür tun, die Ehre unserer Familie wiederherzustellen“, brach es aus Johanne heraus. „Das lasse ich nicht auf mir sitzen. Nicht dieses himmelschreiende Unrecht!“

„Der Kaiser hat durch die Schuld Eures Vaters seinen Neffen verloren“, gab Joseph vorsichtig zu bedenken.

„Die Schuld meines Vaters wurde noch nicht festgestellt. Bislang gab es nur Indizien und Vorwürfe. Doch scheinbar reichte das bereits, um den Kaiser zu überzeugen. Ich werde beweisen, dass mein Vater nichts Unrechtes getan hat. Es kann gar nicht anders sein.“

Joseph kicherte kurz. „Vielleicht könnte ich Euch mit den Dunklen Künsten zu Diensten sein? Der gnädige Herr Julius hat sich in diesem Bereich immer auf mich verlassen.“

Johanne machte ein abfälliges Geräusch. „Lass mich damit in Ruhe! Was meinst du damit? Voodoo? Zauberkunst? Joseph, ich wünschte, du hättest deinen Aberglauben in deinem böhmischen Dorf gelassen, aus dem du mit Marianne gekommen bist. Es ist das Jahrhundert der Wissenschaften. Ich bin eine studierte Frau. Dieser Mumpitz hat von nun an keinen Platz mehr bei uns, verstanden?“

Joseph nickte enttäuscht. „Ich habe verstanden, Fräulein. Auch wenn ich glaube, dass Ihr …“

„Schluss jetzt. Ich will nichts mehr davon hören. Außerdem glaube ich einfach nicht, dass mein Vater sich damit befasst hat. Du musst dich täuschen.“

Sie stiegen aus. „Hier ist es also?“, fragte Johanne skeptisch.

„Hier ist es. Unser neues Zuhause.“

Johanne stand einige Momente regungslos dort und betrachtete das Haus, das ihre neue Bleibe werden sollte. Das Haus hatte zwei Stockwerke und ein marodes Dach. Wenn man bedachte, dass Wilhelmstadt erst rund dreißig Jahre alt war, befand sich dieses Gebäude in einem furchtbaren Zustand. Die Fensterscheiben waren gesprungen, die Ziegel vom täglichen Ruß der nahen Schlote fast schwarz geworden.

„Wir sollten hinein gehen“, sagte Joseph. „Die Straßen sind nicht sicher.“

Johanne nickte nur. In diesem Moment fiel etwas aus den Wolken, landete mit einem Krachen auf dem löchrigen Dach, rutschte hinunter und knallte mit ausgestreckten Armen und einem offensichtlich zermalmten Bein auf den Bürgersteig, wo es in einer sich schnell ausbreitenden Lache aus Blut liegen blieb. Auf den zweiten Blick erkannte Johanne, dass vor ihr eine junge Frau auf der Straße lag.

Die Juggernauth

Johanne wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Sie hatte alles dafür getan, um das zu verhindern. Und doch beschlichen sie nun Zweifel. Es war stockdunkel und sie musste schlucken. Immer schwerer ging ihr Atem, immer größer wurde der Druck, der auf ihrem zierlichen Körper lastete. Wieso hatte sie sich nur darauf eingelassen? Die ganze Aktion war verrückt. Aber sie hatte keine andere Wahl, sie musste es einfach tun. Ihre Hand verkrampfte sich um die Sicherungsleine und sie spürte, wie ihr Magen rebellierte, als die Panik erneut in ihr aufstieg.

Doch sie schluckte erneut und sank immer tiefer. Der Helm drückte auf ihre Schultern und sie merkte, dass an seinen Rändern langsam das Wasser hineintropfte. Bei aller Sorgfalt, die sie in den Bau ihrer Ausrüstung verwendet hatte, konnte man so etwas nicht ausschließen. Sie hoffte, dass die Konstruktion dem Druck standhalten würde. Rauschend kam ein Schwall Frischluft durch den langen Schlauch, der in dem metallenen Helm mündete. Langsam gewöhnten sich Johannes Augen an die Dunkelheit unter Wasser und sie begann Unterschiede wahrzunehmen. Sie sank weiter. Johanne hob den Arm vor den Helm und versuchte durch die dicken runden Glasscheiben, die als Sichtfenster dienten, den Tiefenmesser, den sie sich auf den linken Unterarm geschnallt hatte, zu erkennen. Ein großer roter Zeiger bewegte sich langsam auf der Armatur nach unten. Siebzehn Meter tief war sie nun schon in den Rhein gesunken und immer noch war kein Boden in Sicht. Zum Glück war die Strömung an dieser Stelle nicht so stark, die Felsen und die Flussschleife minderten den erbarmungslosen Sog des Wassers. Doch die Kälte war entsetzlich. Sie begann zu zittern.

Es hatte Wochen gedauert, ehe sie die nötige Ausrüstung zusammengestellt hatte. Das flüssige Gummi war extra aus Brasilien geliefert worden. Britischer Kautschuk aus den malaiischen Kolonien wäre zwar preiswerter gewesen, aber hätte auch die Aufmerksamkeit des kaiserlichen Geheimdienstes auf sie gezogen. Importe aus dem Empire waren mit Schutzzöllen und strengen Auflagen versehen. Johanne war es aber wichtig, ihre Vorbereitungen so geheim wie möglich zu halten. Daher hatte sie die Dienste des zwielichtigen Kaufmanns Dr. Victor Bovist und sein weitverzweigtes internationales Netzwerk genutzt, um an die Ware zu kommen.

Mit dem Kautschuk hatte sie einen Leinenanzug präpariert, so dass sie vor dem Schlimmsten geschützt war. Auch wollene Wäsche hatte sie sich angezogen, doch die Kälte des eisigen Flusswassers hatte ihren Körper fest im Griff. Sie hatte auf die Herstellung von Handschuhen verzichtet und sich die Finger dick mit Robbenfett eingeschmiert, damit sie im Notfall die Hände besser benutzen konnte. Besonders warm war aber auch das nicht.

Johanne spürte, dass ihr Atem nun schneller ging. Geriet sie in Panik? Fing ihr Körper an, sich selbstständig zu machen? Johanne atmete tief durch, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Panik konnte sie das Leben kosten, doch das würde sie nicht zulassen. Sie durfte nicht sterben, noch nicht. Das war sie ihrem Vater schuldig. Sie atmete noch einmal tief aus und die Angst legte sich ein wenig. Plötzlich kam Bewegung ins Wasser. Eine Tiefenströmung riss nun an ihr, wollte sie mit sich fortziehen, doch die Sicherungsleine hielt sie an Ort und Stelle. Kleine weiße und graue Partikel strömten an ihrem Gesichtfeld vorbei. Der Druck auf ihrer Brust nahm immer mehr zu. Sie hatte das Gefühl, nicht weiter als einen Meter sehen zu können. Und es wurde schlagartig noch kälter.

Sie würde das Schiff niemals finden, dachte sie. Was hatte sie sich dabei gedacht? Wenn sie noch lange hier unten blieb, dann würde sie sterben, das wurde ihr plötzlich klar. Johanne hob ihre Hand, um das vereinbarte Signal zum Aufstieg zu geben, an der Reißleine zu ziehen und sich nach oben hieven zu lassen. Doch in diesem Moment schob sich aus den gründunklen Tiefen ein Schatten in ihr Sichtfeld. War das der Grund des Flusses? Oder schwanden ihr bereits die Sinne? Hatte sie noch genug Sauerstoff? Johannes Herz begann vor Aufregung zu rasen. Sie hatte doch die Aufzeichnungen von Caisson und Paul Bert über die Taucherkrankheit studiert und in ihre Arbeit einfließen lassen. Es konnte nichts schief gehen. Sie blinzelte, doch der Schatten blieb.

Auch den Tauchautomaten hatten sie ausgiebig getestet. Solange Miao den dampfbetriebenen Kompressor aufmerksam beobachtete, sollte sie hier unten mit genügend frischem Sauerstoff versorgt sein. Sie atmete noch einmal tief ein, um sich zu beruhigen und entließ die verbrauchte Luft durch ein Ventil in der Helmwand. Die Luftblasen schossen sofort hinauf zur Oberfläche und Johanne blickte ihnen sehnsüchtig hinterher.

Der Schatten kam näher. Neunzehn Meter war sie nun tief. Johanne fühlte, wie ihre Gedanken langsamer wurden. War das jetzt ein Symptom der Taucherkrankheit? Hatte nicht ein Franzose neulich ein neues Buch darüber geschrieben? Sie hätte es doch kaufen sollen! Aber es war bereits teuer genug gewesen, die Ausrüstung zu bauen, sodass Johanne sich unnötige Ausgaben nicht erlauben konnte. Sollte sie das nun ihr Leben kosten?

Sie kniff die Augen zusammen. Dann erkannte sie plötzlich, was sie dort in der grünen Dunkelheit des Flusswassers erblickte. Groß und schwarz schälte sich der düstere Schatten aus der Finsternis. Das Schiff lag auf der Seite, soviel konnte Johanne erkennen. Die gewaltige Schiffsschraube ragte in die Höhe und das Boot schien beim Aufprall auseinander gebrochen zu sein. Sie sah undeutlich die Aufbauten, erkannte die Umrisse des Rumpfes. Aber keine Leichen.

Johanne atmete erleichtert auf. Sie hatte die Juggernauth gefunden und würde endlich ihren Vater rächen können. Seine Unschuld beweisen. Aber etwas fehlte dazu noch. Johanne zog kurz an der Signalisierungsleine, um das vereinbarte Zeichen zu geben, dass sie erfolgreich gewesen war. Sie wartete, bis Miao das Signal erwiderte.

Sanft landete Johanne auf dem Boden des Flusses, direkt neben dem Schiff. Ihre Füße, mit schweren Bleiplatten unter den Sohlen, sanken tief in den Schlick ein. Johanne schwankte, als sich ihre Beine im festen Schlamm nicht mehr bewegen ließen. Dann kippte sie nach vorne, in Zeitlupe, doch der Helm entwickelte eine Eigendynamik, der sie sich nur mit äußerster Willenskraft entgegenstemmen konnte. Sie kämpfte und ruderte mit den Armen, aber schließlich kam sie frei.

Sie brauchte Auftrieb, dachte sie. Ihre Hand griff an den Helm und drehte einen kleinen Verschluß, was dazu führte, dass das Rauschen darin leiser wurde und schließlich gänzlich verstummte. Johanne hatte sich die Luft, die durch den Schlauch kam, abgedreht. Schnell öffnete sie ein weiteres Ventil und spürte sofort, wie der Schlauch, den sie um ihren ganzen Körper gewickelt hatte, sich langsam aufblies. Der erhöhte Auftrieb zog sie aus dem Morast und ließ sie ein Stück über dem Boden schweben. Jetzt musste sie schnell reagieren, sonst würde sie wie eine Luftblase an die Wasseroberfläche schießen. Zügig schloss die das kleine Ventil wieder und öffnete erneut die Luftzufuhr ihres Helms. Mit ein paar kräftigen Schwimmbewegungen, die eher an einen ertrinkenden Hund als an einen Frosch erinnerten, näherte sie sich dem Wrack.

Sie konnte die Außenhülle erkennen. Die gewaltigen Stahlplatten, die mit unzähligen Nieten verschweißt worden waren. Unsinkbar war die Aussage der Werft in Königsberg gewesen. Johanne schwebte ein wenig in der trüben Brühe des Flusses, bis sie die großen Aufbauten an den Seiten entdeckte, die die einst neuartigen Maschinen beinhalteten. Sie war davon überzeugt, dass sie richtig funktioniert hatten. Ihr Vater hatte größte Sorgfalt und sein gesamtes Vermögen in den Bau dieses Schiffes gesetzt. Dass die Juggernauth auf ihrer Jungfernfahrt zusammen mit dem Neffen des Kaisers gesunken war, hatte für ihre Familie den Ruin bedeutet.

Johanne näherte sich dem Schiff. Die Maschinen schienen intakt zu sein. Auch das, was sie von der Außenhülle sehen konnte, war nicht beschädigt. Johanne runzelte die Stirn. Das konnte doch nicht sein. Die Zeitungen hatten berichtet, dass die Juggernauth trotz des modernen Schallwellen-Signalgebers von Julius deJonker in der Nacht auf einen Felsen aufgelaufen war und die Nachricht vom Tod des kaiserlichen Neffen, der sich ebenfalls an Bord befunden hatte, brachte das Thema im ganzen Reich in die Zeitungen. Nur ihr Vater hatte das Unglück überlebt.

Kurz nach der Katastrophe im Rhein war der Unternehmer und ewige Widersacher ihres Vaters, der Geheime Kommerzienrat Oppenhoff, mit einer Variante des Schallwellen-Signalgebers auf den Markt gekommen und hatte damit den Schiffsmarkt revolutioniert. Die Schiffe fuhren nun schneller und sicherer über und vor allem unter Wasser – mit der Erfindung ihres Vaters. Aber Johanne konnte nicht beweisen, dass Oppenhoff diese Schöpfung von Julius deJonker gestohlen hatte. Seit sie davon gehört hatte, zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie er das angestellt haben mochte. Man sagte, dass er in Wilhelmstadt nie einen Fuß vor die Tür setzte. Wenn er seinen Turm verließ, dann immer nur mit seinem Luftschiff, das ständig in Bereitschaft an der Spitze des dunklen, hohen Gebäudes auf ihn wartete.

Erschrocken blickte Johanne auf den Zeiger ihrer druckgesteuerten Tauchanzeige. War sie schon zu lange unter Wasser? Der Apparat berechnete durch ein ausgeklügeltes Zahnradsystem die optimale Tauchdauer. Wenn Johanne zu lange und zu tief tauchen würde, würden die kleinen Messinginstrumente Alarm schlagen. Doch die Anzeigen standen noch im grünen Bereich. Sie wusste nicht, was passieren würde, wenn sie hier unten einen Unfall hätte, wenn sie zu tief oder zu lange tauchen würde. Wahrscheinlich würde sie einfach sterben.

Sie schwebte weiter am Wrack entlang. Dann entdeckte sie das Loch im Rumpf. Ihr Herz schlug wieder schneller. Etwas stimmte nicht. Das konnte nicht sein! Mit ein paar hektischen Bewegungen schob sie ihren Körper näher an die Hülle heran, ihr Luftsack hielt sie gerade in der richtigen Höhe, so dass sie nicht abdriftete. Vorsichtig fuhr sie mit ihrer eiskalten, eingefetteten Hand über die aufgerissene, fast kreisrunde Stelle. Die Stahlplatten waren hier mit unglaublicher Gewalt wie Papier auseinander gerissen worden. Es gab keinen Zweifel!

Plötzlich ruckte die Sicherungsleine. Johanne drehte sich um, so schnell sie es in dem trüben Wasser vermochte. Instinktiv wollte sie den Kopf nach hinten beugen, doch stieß sie nur von innen gegen den Helm. So sehr sie sich auch drehte und wendete, es gelang ihr nicht, den Kopf in den Nacken zu legen, um etwas zu sehen, da der Helm fest auf ihre Schultern montiert war. Schließlich stieß sie sich vom Rumpf ab und ließ sich langsam auf den Rücken fallen, um nach oben zur Wasseroberfläche sehen zu können. Das graugrüne Wasser ließ jedoch kaum Licht bis in diese Tiefe vordringen. Doch plötzlich sah sie, wie langsam ihr Luftschlauch von oben herabsank wie eine Papiergierlande, die durch die Luft segelte. Als Johanne realisierte, was geschah, war es bereits zu spät. In diesem Moment schoss das Wasser mit unvermittelter Macht in ihren Helm. Geistesgegenwärtig pumpte sie ihre Lungen mit der verbleibenden Luft voll, so gut und so schnell es ging, bevor sie Augen und Mund schloss. Endlich schloss sich das Rückschlagventil, das weiteres Eindringen von Wasser und vor allem ein weiteres Absinken des Innendrucks verhinderte, doch der Helm war bereits soweit geflutet, dass ihre Nase und ihr Mund mit eiskaltem Rheinwasser bedeckt waren. Sie spürte, wie das Wasser in ihre Nase lief und in ihrem Hals den Reflex auslöste, atmen zu wollen. Jetzt keine Panik, dachte Johanne, sonst bist du tot. Der Gedanke schoss ihr wie ein Blitz am dunklen Nachthimmel durch den Kopf und brannte in ihrem Gehirn weiter, und half ihr, die aufsteigende Panik niederzukämpfen. Ihre Gedanken rasten.

Du hast vielleicht dreißig bis fünfzig Sekunden, um bis nach oben zu kommen, bevor du ertrinkst oder erstickst. Und du hast Blei an den Füßen. Sie war viel zu schwer, um von alleine oder mit Hilfe von Schwimmstößen an die Oberfläche zu gelangen. Der Helm, das ganze Blei, das sie benutzt hatte, um überhaupt abzusinken, drückten sie auf den Grund. Sie musste Gewicht loswerden und zwar sofort. Den Helm würde sie unter Wasser nicht alleine abgeschraubt bekommen. Blieben also die Bleischuhe. Sie zog die Beine an, um mit den Fingern die Schnallen zu erreichen, die die Stahlgamaschen an ihren Füßen hielten. Der gummierte Anzug wellte sich an ihrem Bauch, so dass sie kaum ihre Füße erreichte. Ihre Finger waren taub vor Kälte, sie fühlte kaum was sie berührte. Wertvolle Sekunden vergingen, dann hatte sie endlich die erste Schnalle aufgeklappt. Nach zwei weiteren Sekunden sank der erste Schuh zu Boden. Johanne spürte, wie der Luftsack ihrem Körper Auftrieb gab.

Doch nun setzte der Atemreflex ein. Sie schluckte, um ihre Lunge zu überlisten und fingerte panisch an dem zweiten Schuh herum. Inzwischen waren mindestens zwanzig Sekunden vergangen, seitdem der Luftschlauch, durch den die Maschine das lebensnotwendige Gas in ihren Helm gepumpt hatte, herabgesunken war.

Endlich fiel auch der zweite Schuh. Doch Johanne wurde nur wenige Zentimeter Richtung Wasseroberfläche gehoben. Der Wasserdruck war noch zu hoch, der Auftrieb zu gering. Mit der Kraft der Verzweiflung riss die junge Frau an der Sicherungsleine, zog sich daran in die Höhe, immer die eine Hand über die andere greifend. Sie öffnete die Augen, um zu sehen, wohin sie griff, doch das Wasser im Helm hinderte sie daran, etwas zu erkennen. Es schwappte durch ihre hektischen Bewegungen im Helm hin und her und brannte in ihren Augen, sobald sie diese öffnete. Das Wasser, das ihr in die Nase gelaufen war, rann ihren Rachen hinab, brannte in ihren Nebenhöhlen. Sie musste atmen! Sofort! Johanne schluckte im verzweifelten Versuch, erneut den Atemreflex auszutricksen. Doch sie wusste, es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis ihr Körper die Herrschaft übernehmen würde, dann würde sie versuchen, zu atmen, ob sie wollte oder nicht. Ein tiefer Atemzug und ihre Lungen würden sich mit kaltem Wasser füllen. Dann wäre es vorbei und die Gegner ihres Vaters hätten endlich, was sie sich wünschten. Am liebsten hätte sie jetzt geschrieen.

Plötzlich begann sich die Luft im Hebesack endlich auszudehnen, da der Umgebungsdruck nachließ, je weiter sie nach oben stieg. Johanne merkte, wie ihre Auftriebsgeschwindigkeit zunahm und sie schließlich wie ein Korken an die Oberfläche schoss.

Sie musste mit aller Kraft den Wunsch unterdrücken tief einzuatmen. Das Licht flutete auf sie ein, aber Luft bekam sie immer noch nicht, ihr Kopf war noch im Helm gefangen. Sie trieb hilflos auf der Oberfläche des Rheins, der Luftsack verhinderte, dass sie sich kontrolliert bewegen konnte, und ihr Helm war immer noch voller Wasser. Wie ein Käfer dümpelte sie auf dem Rücken an der Wasseroberfläche. Verzweifelt versuchte sie, an ihrem Helm zu reißen, als ihr jemand die Hände weg schlug.

Jetzt bringen sie mich endgültig um, dachte sie.

Doch mit einem Knirschen bewegte sich der Helm, das Wasser entwich rauschend und herrlich klare Sommerluft spülte um Johannes Gesicht. Japsend keuchte sie und rang nach Atem. Sie hustete das Wasser aus und röchelte. Wieder und wieder sog sie ihre Lungen voll Luft, bis sie endlich wieder klar denken konnte.

„Nicht bewegen, Herrin. Wir haben es fast geschafft!“ Eine junge Frau hatte sie am Kragen gepackt und zog sie schwimmend an Land.

„Miao!“, rief Johanne. „Wie kannst du schwimmen? Dein Bein?“

„Es geht schon, Herrin.“

Sie spürte, wie Miao versuchte, sie ans Ufer zu ziehen, eine Hand in Johannes Taucherkleidung gekrallt, die andere in der Sicherungsleine, an der sie sich ins flachere Wasser zog. „Wir sind da, Herrin.“

Johanne fühlte die Hand ihrer Assistentin am Luftschlauch und das Gas entwich pfeifend. Endlich konnte sie sich frei bewegen. Überrascht spürte sie die warmen Finger Miaos über ihr Gesicht streichen, nur kurz, aber nach der tödlichen Kälte des Flusses war die Berührung ihrer Assistentin wie eine süße Rückkehr ins Leben. Ein Versprechen, weiterleben zu dürfen, es diesmal noch geschafft zu haben.

Sie krochen gemeinsam an das flache Ufer, an dem sich eine Handvoll Schaulustiger eingefunden hatten. Der flache Kiesstrand, der das Rheinufer am Rand von Wilhelmstadt bildete, direkt an Segment eins gelegen, war von Büschen bewachsen. Hier spielten im Sommer die Kinder der Arbeiter und auch heute lümmelte ein halbes Dutzend von ihnen in der Nähe herum. Miao hatte alle Mühe gehabt, sie von den Maschinen fernzuhalten, doch nachdem sie ihr grimmiges Gesicht und das zischende Dampfbein gezeigt hatte, waren die Kinder in respektvollem Abstand geblieben.

Die große Dampfmaschine, die den Kompressor bediente und dafür auf der Ladefläche von Johannes Wagen aufgebaut war, arbeitete laut schnaufend weiter. Dann sah sie das zischende und zuckende Bein, das neben dem Kompressor lag.

„Miao, dein Bein! Was ist passiert?“, rief sie aufgeregt.

Ihre Assistentin lag auf dem Rücken und starrte in den Himmel. Ihre nassen schwarzen Haare klebten an ihrem Kopf. Das dünne, einfache Kleid hatte sich vollgesogen und triefte nur so vor Nässe. Unter dem Rock ragte ein bleicher Fuß hervor. Auf der anderen Seite endete das zweite Bein knapp unter der Hüfte in einem Stumpf, den das Kleid gnädigerweise verbarg, dessen Umrisse aber durch den nassen Stoff gut zu sehen waren.

Es war ein Wunder, dachte Johanne, dass Miao so hatte schwimmen können. Doch die Assistentin hatte breite Schultern und starke, fast männliche Oberarme, mit denen sie sich nun aufrichtete.

„Ich weiß es nicht, Herrin. In dem einen Moment stehe ich neben der Maschine. Und im nächsten liege ich ohne mein Bein am Ufer und sehe, wie der Schlauch im Wasser verschwindet.“

Johanne ging zu Miao, packte sie unter den Schultern und stützte sie. „Du hast mir das Leben gerettet“, sagte sie leise zu ihr.

„Wie du vorher mir“, kam die schüchterne leise Antwort, deren Ton so gar nicht zu der kräftigen Gestalt Miaos passen wollte. Sie stützte sich dankbar auf ihre Herrin und humpelte mit ihr zurück zum Wagen.

Die Lastkraftdroschke, die Johanne selbst konzipiert hatte, war schon ein gewöhnungsbedürftiger Anblick für die umherstehende Bevölkerung. Es gab nur wenige Autos in Wilhelmstadt, obwohl dies wohl der modernste Ort im ganzen Kaiserreich war. Meist gab es lediglich Pferdekutschen und ein paar Zweisitzer für die reichen Leute.

Aber Johannes Kraftdroschke war etwas Besonderes. Die große Ladefläche war mit den lebenserhaltenden Tauchsystemen beladen, dem Dampfkessel und dem Druckregulierer. Davor befand sich eine Fahrerkabine, die Platz für vier Personen bot. Aber angetrieben wurde das Fahrzeug von vier Dampfpferden, die Julius deJonker noch eigenhändig gebaut hatten. Diese Pferde warteten nun ungeduldig und scharrten unter dem Druck ihrer Kessel mit den Hufen. Aus ihren metallenen Nüstern stob weißer Wasserdampf. Ihr Schnaufen klang fast wie das echter Pferde, die gerade kilometerweit galoppiert waren. Die Bürger von Wilhelmstadt hatten sich bereits an diesen Anblick gewöhnt. Aber die beiden nassen, kaum bekleideten Frauen, die die Maschinen bedienten, sorgten für ungläubiges Staunen.

„So etwas gehört sich nicht“, kam ein Keifen aus der Menge. „Die Stadt verkommt. Als ob wir nicht genug Probleme hätten!“

Eine andere Stimme sagte: „Das ist ungehörig für Frauen. Ein solches Benehmen auf offener Straße. Dass der Kaiser nichts dagegen unternimmt!“

Ein kleiner Junge mit Zeitungen auf dem Arm tauchte auf. „Frauen verschwinden spurlos im Hafenviertel!“, rief er. „Nackte Menschen laufen nachts über unsere Dächer! Warum unternimmt die Polizei nichts?“

Die umherstehenden Menschen wandten sich murrend von Johanne ab und scharrten sich nun um den Zeitungsverkäufer. Johanne hörte nicht hin. Sie fror und war völlig durchnässt und außerdem nur knapp dem Tod von der Schippe gesprungen – was interessierte es sie, was die Leute dachten? Sie war Anfeindungen gewohnt, seitdem sie sich nach dem Verlust ihres Vaters entschieden hatte, selbstständig und ohne Mann zu leben. Auch wenn eine Heirat viele Dinge einfacher gemacht hätte. Und Angebote gab es schließlich genügend. Doch sie hatte ein anderes Ziel, als eine Dame der Gesellschaft zu sein, Klavier zu spielen, technische Literatur beim Lesen hinter stumpfsinnigen Frauenromanen zu verstecken und für ihren Mann hübsch zu sein. Dafür hatte sie nicht als eine der ersten Frauen überhaupt des deutschen Kaiserreiches eine Universität besucht.

Johanne öffnete die Tür zur Droschke und legte Miao auf die Rückbank und das mechanische Bein daneben.

„Ich bin ja eine tolle Leibwächterin“, sagte Miao leise. „Jetzt musst du mich schon wieder nach Hause bringen und zusammenflicken, Herrin.“

„Mach dir mal keine Gedanken, Miao“, sagte Johanne und versuchte, die Leute um sich herum zu ignorieren. „Wir haben jetzt ganz andere Probleme, um die wir uns Sorgen machen müssen.“

Sie hustete noch etwas Wasser aus, dann ging sie hinüber zu der Dampfmaschine und schaltete die Verbindung zum Luftverdichter ab. Der Kompressor keuchte ein letztes Mal, dann war er still. Johanne nahm das übriggebliebene Schlauchende in die Hand, das aus der Maschine ragte, und runzelte die Stirn.

Dann setzte sie sich ohne ein weiteres Wort hinter das Steuer des Wagens. Mit einem alten Lappen rieb sie sich die Finger trocken und entfernte einen Großteil des Robbenfetts. Nach einem kurzen, provozierenden Blick in die Runde Schaulustiger, nahm sie aus einem trockenen Korb eine türkische Zigarette und zündete sie in aller Ruhe mit einem Streichholz an. Sie zog daran und blies den Rauch aus. Die Menschen um sie herum stöhnten entsetzt auf. „Rauchende, fast nackte Frauen“, hörte sie einen Mann sagen. „Die Gesellschaft geht zu Grunde. Das ist kein Fortschritt, sage ich euch. Das ist der Untergang des Abendlandes. Ich verstehe nicht, dass der Kaiser nichts dagegen unternimmt.“

Mehrere Menschen stimmten ihm murmelnd zu und rückten dem Wagen mit bösen Blicken näher. Johanne lächelte nur grimmig. Diese Leute waren ihr egal. Es kam nicht darauf an, was sie über sie dachten. Sollten sie doch leben, wie sie wollten und sie in Ruhe lassen. Sie hatte gefunden, was sie gesucht hatte. Und nun würde sie Rache nehmen. Sie startete den Wagen, drehte eine kleine Kurbel an der rechten Seite des Armaturenbretts und gab über ein kleines Rad etwas mehr Luft in die Verbrennungsöfen der Pferde. Sie spürte förmlich, wie die Flammen in den Bäuchen unter den Kesseln aufloderten. Anhand der Bewegung des Zeigers in einer großen runden Anzeige konnte sie erkennen, wie sich langsam der Druck aufbaute. Während des Aufwärmens befand er sich in einem gelben Bereich. Erreichte er den grünen, so könnte sie losfahren und innerhalb des roten Bereichs sollte man schleunigst das Weite suchen, da einem nun aller Wahrscheinlichkeit nach der Wagen um die Ohren fliegen würde.

Die Pferde wurden unruhig, wollten bereits lostraben, aber Johanne wusste, dass sie den richtigen Zeitpunkt abwarten musste. Wenn sie den Dampfrössern zu schnell die Zügel hingab, hatten sie nicht genug Stärke, um den Wagen zu ziehen und würden den Startvorgang abwürgen. Sie mussten also noch warten, bis der Dampf in ihren Kesseln die richtige Temperatur erreichte. Langsam näherte sich das Zeigerchen dem grünen Bereich. Sie gab noch etwas Luft hinzu, die Temperatur stieg, als eines der Rösser ausscherte.

„Verdammt“, fluchte Johanne und legte einen Schalter um. Pfeifend entwich der Dampf aus den Pferden. Der Zeiger fiel sofort in gelben Bereich zurück.

„Du bist zu ungeduldig, Herrin“, sagte Miao von hinten. „Bist du sicher, dass ich nicht fahren soll?“

„Unsinn, ich habe den Wagen gebaut, dann werde ich ihn auch fahren können.“

Sie wartete kurz, bis das Pferd sich beruhigt hatte, dann schob die den Hebel wieder nach oben, gab vorsichtig Luft in die Kammer und wartete gespannt.

„Geduld, Herrin“, flüsterte Miao, als sie sah, dass Johanne erneut an der Luftzufuhr spielte.

„Die Leute um uns herum machen mich nervös, das ist alles.“

Der Zeiger schnellte plötzlich in den grünen Bereich und näherte sich unerwartet schnell dem roten Strich auf der Anzeige.

„Jetzt, Herrin, jetzt!“

Johanne stieß einen Hebel an der Seite des Sitzes nach unten, die Bremsen lösten sich und scheppernd und schnaufend setzte sich der Wagen in Bewegung. Die Pferde legten sich ins Geschirr und zogen. Laut krachend und unter starker Dampfentwicklung fuhr die Droschke los. Miao lag auf dem Rücksitz und lachte. Johanne wartete bis sie die Passanten hinter sich gelassen hatten, dann lachte auch sie.

Jedes Heim braucht eine Katze

Wilhelmstadt – kein anderer Name verkörperte den Fortschrittsglauben im Kaiserreich der bevorstehenden Jahrhundertwende so sehr wie diese Stadt. Die Zukunft schien strahlend und Wachstum ungehemmt möglich. Die qualmenden Schlote der Fabriken und das ewige Stampfen der Dampfmaschinen zeugten von der Vision des neuen Zeitalters. Wilhelmstadt war in den letzten zweiundzwanzig Jahren wie aus dem Nichts entstanden. Als Ingenieure und Geologen 1876 in der umliegenden Gegend Braunkohle entdeckt hatten, kam es zu einem richtiggehenden „Gold“rausch. Unternehmen wurden gegründet, Spieler, Arbeiter und Glücksritter strömten in den Ort. Geschäfte wurden abgeschlossen, die einem ehrgeizigen Mann an einem Tag ein Vermögen einbringen konnten. Nur um es vielleicht am nächsten Tag wieder zu verlieren. Alles war möglich.

Wie aus den amerikanischen Goldgräbersiedlungen hatte sich auch hier aus einer kleinen Ansammlung von Baracken in Windeseile eine pulsierende große und fortschrittliche Stadt entwickelt. Die Braunkohle, die mit großen Maschinen aus der Erde gerissen wurde, hatte ihre magische Anziehungskraft auf all jene Menschen und Unternehmer ausgeübt, die mutig und fortschrittsgläubig waren. In Scharen waren sie gekommen und hatten Wilhelmstadt innerhalb weniger Jahre in das verwandelt, was es heute war: eine immer noch wachsende Metropole, in der die Räder niemals stillstanden.

1877 war Wilhelmstadt offiziell vom Kaiser gegründet worden. Acht herausragende Ingenieure waren beteiligt gewesen, als die Stadt innerhalb kürzester Zeit auf dem Reißbrett entstanden war: Die Herren deJonker, Oppenhoff, Vandenvries, von Eyth, Barabas, Motte, Pilow und Hesse hatten ihre Vision eines modernen Lebens konstruiert und nach ihrem Kaiser Wilhelm, dem Großvater des heutigen Kaisers, benannt.

Zum Dank hatte man diese Ingenieure auch auf dem Stadtwappen verewigt. Acht Sterne prangten um das große „W“ im linken unteren Viertel des Schilds. Die anderen Viertel zeigten den Reichsadler, den Rhein mit dem Schloß Eyth, das schon lange vor der Errichtung Wilhelmstadts auf der Grafenhöhe gestanden hatte, sowie ein Zahnrad, das den ewigen Fortschritt in der Stadt symbolisierte.

Die ganze gewaltige Stadt, all ihre Wohnhäuser und Geschäftsgebäude und sogar die riesigen Fabriken und Manufakturen, all das ruhte auf massiven Stahlstützen. Kein Haus und keine Straße war auf den Boden der Rheinebene gebaut worden. Alles in dieser Stadt stand auf einer gigantischen Stahlplatte, die, in einzelne Segmente unterteilt, den Untergrund von Wilhelmstadt bildete. Die Konstruktion sollte dafür sorgen, dass Wilhelmstadt mobil blieb. Einzelne Segmente konnten ausgetauscht werden, ganze Stadtviertel verschoben und an die aktuellen Gegebenheiten angepasst werden. Entstand eine neue Fabrik, wurde daneben innerhalb weniger Tage eine ganze Arbeitersiedlung gesetzt, die man einfach aus einem anderen Teil der Stadt gerissen hatte, in dem vielleicht kurz zuvor eine andere Fabrik geschlossen worden war, weil sich ihr Inhaber verspekuliert oder seinen Besitz beim Glücksspiel verloren hatte. Und eines Tages, wenn das Braunkohlevorkommen aufgebraucht ist, werden kräftige Hebemaschinen Wilhelmstadt Stück für Stück forttragen, mit seinen Häusern, seinen Fabriken und seinen Menschen, dorthin, wo ein neues Flöz auf die Maschinen wartete und ein neues riesiges Geschäft gemacht werden kann. Außerdem wäre es im Kriegsfalle so viel einfacher, den verfeindeten Franzosen keine Infrastruktur zu hinterlassen, sollten sie mal wieder in das Kaiserreich einfallen. Schließlich waren sie nur einen Steinwurf voneinander entfernt.

Wilhelmstadt, das Venedig Mitteldeutschlands, ein Venedig ohne Wasser. Denn statt Wasser kochten Feuer und flüssiger Stahl in den Lebensadern dieser Metropole.

Das höchste Bauwerk von Wilhelmstadt, der Oppenhoffsche Turm, ragte hinauf in die Nacht, wie ein mahnender Zeigefinger, der die Bürger daran erinnern sollte, wer in dieser Stadt wirklich das Sagen hatte. Wie eine spindeldürre Pyramide aus Stahl, Nieten und Sandstein ragte dieser schimmernde Pylon über die anderen Gebäude. Oppenhoff hatte in den vergangenen Jahren die Segmente der Ingenieure Barabas, Pilow und Hesse übernommen. Ihre Paläste hatte er überbaut und zum Fundament dieses gewaltigen Bauwerks gemacht. Gekrönt wurde der Turm von der so genannten Nadel, einer Spitze, die einzig dazu konzipiert war, seinen Zeppelin zu halten, der es ihm ermöglichte, aus der luftigen Höhe heraus zu starten, ohne seinen Turm verlassen zu müssen.

An den Rändern der Stadt, nahe bei den riesigen Maschinen, die die Kohle aus der Erde rissen und sie an die gewaltigen Förderanlagen weitergaben, drängten sich die Mietskasernen der Arbeiter. Lange Straßenreihen voll gleichartiger, ursprünglich roter, doch nun bereits rußschwarzer Backsteinbauten fanden sich in perfekt ausgemessenen Quadraten wieder. Weiter innen, näher am Zentrum änderten sich die Fassaden, wurden abgelöst durch Kaufmannshäuser, die zur Straße hin mit Stuck verziert waren, in den trostlosen Hinterhöfen jedoch ihr hässliches graues Gesicht zeigten. Am Markt allerdings standen die Paläste der Ingenieure, die Wilhelmstadt gebaut hatten. Acht Stadtväter hatte Wilhelmstadt, acht Stadtpalais waren einst am Markt von Wilhelmstadt zu sehen gewesen. Das Haus Schamal der Familie deJonker stand noch. Graf Eyth hatte ein schmuckes Haus, das aussah wie eine kleinere Variante seines Schlosses. Vandenvries hatte sich den Traum einer römischen Villa erfüllt, umgeben von Zypressen und einem kleinen Bach, der aus dem Haus auf den Markt floss und dort in einem Brunnen mündete. Der Ingenieur, dem man im Volk den Namen der irre Motte gegeben hatte, war in seiner Jugend zu oft mit den Genüssen des Orients und den Giften der Kolonien in Berührung gekommen. Sein Stadthaus war ein unpassender Alptraum aus gedrehten Türmen aus schwarzem Glas, in dem sich die Sonne fing und verwirrende Muster auf die umliegenden Häuser und den angrenzenden Markt warf. Ein Haus ohne Haus, nur aus Türmchen und Drehungen, aus Glas und dunklen Farben bestehend, das war das Haus des irren Motte. Die Herren Barabas, Pilow und Hesse hatten ihre Stadtbezirke und damit ihre Häuser entweder durch Spekulationen verloren, oder sie waren, nachdem einige ihrer technischen Errungenschaften unvorhersehbare Nebenwirkungen zeigten, bis aufs letzte Hemd verklagt worden. Der Geheime Kommerzienrat Oppenhoff, dessen Nadel zu Beginn auch nur auf seiner eigenen Parzelle stand, hatte die Grundstücke der Bankrotteure gekauft und seinen Palast auf diese Bereiche ausgedehnt. Im Moment stand der Oppenhoffsche Turm also auf vier Füßen, die Bürger munkelten jedoch, das der Kommerzienrat nicht ruhen würde, bis alle Häuser am Markt diesem wachsenden Koloss einverleibt worden wären. Es hieß, er habe dem Kaiser bereits ein Angebot gemacht für das Haus Schamal, dass nun unter kaiserlicher Protektion stand, doch wollte dieser sich erst bei seinem nächsten Besuch in Wilhelmstadt dazu äußern, wie mit dem Anwesen verfahren werden soll. Da Johanne nun nicht mehr in ihr Elternhaus zurück konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als mit der Droschke zu dem einfachen Haus im Randbezirk zu fahren, in dem sie untergekommen war. Laut schnaufend ruckelte der Wagen, als Johanne ungeschickt den Antrieb abwürgte. Die Pferde tänzelten kurz zur Seite, dann blieben sie ruhig stehen, dampften aber stetig vor sich hin.

„Das nächste Mal fährst du wieder, Miao. Das ist einfach nichts für mich“, stöhnte sie.

„Ja, Herrin. Ich lasse mich auch nicht gerne kutschieren. Sobald ich mein Bein wieder habe, übernehme ich das Steuer.“

„Eine interessante Gegend“, sagte Miao, als sie vorsichtig aus dem Wagen stieg.

Die wenigen Bäume und Büsche, die einen kleinen Platz zwischen zwei Häusern säumten, waren grau und staubig und ließen müde die Blätter hängen, was ihnen ein kränkliches Aussehen verlieh. Die Luft war stickig und der Rauch, der ununterbrochen aus den zahllosen Kaminen quoll, legte sich dicht und schwer über die Alfred-Nobel-Gasse, eine kleine Straße im Segment 8, zwischen der siebten und achten Allee. Irgendwo schrien sich ein paar Betrunkene gegenseitig an.

Zwei alte Frauen in der traditionellen schwarzen Witwentracht der Landbevölkerung gingen auf dem Trottoir an ihnen vorbei. Die langen schwarzen Röcke waren voller unterschiedlichster Flecken, die der Haushalt mit sich brachte und die dunklen Wolljacken, in die sie sich hüllten, waren an mehreren Stellen so gut es ging geflickt, an anderen Stellen noch immer eingerissen. Unter den schwarzen Tüchern, die die Alten um ihre Köpfe geschlungen hatten, blickten sie mit runzeligen Gesichtern feindselig zu ihnen hinüber. Johanne wurde plötzlich wieder bewusst, dass sie noch in dem nassen, gummierten Anzug steckte.

In dem benachbarten Hauseingang lungerte eine Gruppe Jungs, die in kurzen Hosen und zerlumpten Schuhen auf den Stufen saß und begehrliche Blicke auf die Ladefläche des Wagens warf. Einer pfiff ihr frech hinterher. Johanne war sicher, dass sie sich sofort auf den Wagen stürzen würde, sobald sie selbst außer Sichtweite waren.

Sie stützte Miao, indem sie ihr einen Arm unter die Achsel schob. „Ich habe auf meinen Reisen schon schlimmere Gegenden erlebt“, sagte sie aufmunternd. „Und du wohl auch, oder nicht? Als ich dich gefunden habe …“