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Das Buch

In Descartes’ Irrtum widerlegte Antonio R. Damasio die Theorie vom Dualismus von Gefühl und Verstand. Nun geht er einen Schritt weiter und entschlüsselt eines der letzten Geheimnisse der Psychologie: das Bewusstsein. Jenseits gängiger Theorien zeigt er, wie im Gehirn neuronale Signale zu Mustern verarbeitet und wie Vorstellungen gebildet werden, und stellt die entscheidende Frage nach der Entstehung unseres Selbst-Sinns. Damasios These: Die Grundvoraussetzung für die Entwicklung eines Bewusstseins sind Emotionen und Gefühle. So haben alle höher entwickelten Organismen ein Kernbewusstsein, das evolutionsgeschichtlich viel älter ist als bisher angenommen. Das erweiterte Bewusstsein des Menschen indes setzt Sprache und Erinnerung voraus. Aber Damasio belässt es nicht bei theoretischen Ansätzen oder philosophischen Spekulationen, sondern stützt seine Thesen auf Fallstudien an Menschen, deren Gehirn geschädigt wurde – und überrascht immer wieder mit erstaunlichen Beobachtungen. Ein provokantes Werk, an dem die Fachwelt nicht vorbeikommt, und eine Fundgrube unerwarteter Erkenntnisse für den interessierten Laien.

Der Autor

Antonio R. Damasio ist David Dornsife, Professor für Neurowissenschaften, Neurologie und Psychologie und Direktor am Brain und Creativity Institute an der University of Southern California. Er ist außerdem außerordentlicher Professor am Salk Institute und an der University of Iowa. Er wurde vielfach (oft gemeinsam mit seiner Frau, der Neurologin und Neurowissenschaftlerin Hanna Damasio) für sein Werk ausgezeichnet, zuletzt mit dem Price of Austrias Prize für Wissenschaft und Technologie. Damasio ist Mitglied des Institute of Medicine of the National Academy of Sciences und der American Academy of Arts and Science. Seine Bücher wurden in über dreißig Sprachen übersetzt.

Von Antonio R. Damasio sind in unserem Hause außerdem erschienen:

Descartes’ Irrtum

Der Spinoza-Effekt

Antonio R. Damasio

Ich fühle, also bin ich

Die Entschlüsselung des Bewusstseins

Aus dem Englischen

von Hainer Kober

List Taschenbuch

Für Hanna

Den Wasserfall oder Musik, so innig gehört,
Daß sie nicht gehört wird, weil man selbst die Musik ist,
Solange sie forttönt. Das sind nur Winke und Ahnungen,
Winke, denen Ahnungen folgen; alles Weitere aber
Ist Gebet, Ehrerbietung, Selbstzucht, Denken und Tun.
Der halb erahnte Wink, die halb verstandene Gabe ist
Inkarnation.

T. S. ELIOT, aus »Die Dry Salvages«
in: Gesammelte Gedichte,
Frankfurt: Suhrkamp 1988, S. 317

Die Frage, wer ich sei, trieb mich um.
Schließlich war ich überzeugt davon, dass ich das Bild
nicht finden solle der Person,
die ich war: Sekunden verstrichen. Was in mir an die
Oberfläche stieg,
geriet wieder außer Sicht. Und doch fühlte ich:
Der Augenblick meiner ersten Investitur
war der Augenblick, da ich mich selbst vorzustellen begann – der
Augenblick, da ich zu leben begann – nach und nach – Sekunde
um Sekunde – unaufhaltsam – Oh,
Geist, was tust du! –

Möchtest du verborgen sein oder sichtbar? –

Und das Gewand – wie es zu dir wird! – strahlend
mit den Augen
anderer,
weinend –
JORIE GRAHAM, »Notes on the Reality of the Self«
aus Materialism

INHALT

I. TEIL EINLEITUNG

ERSTES KAPITEL INS LICHT TRETEN

Ins Licht treten

Abwesend, ohne fort zu sein

Das Problem des Bewusstseins

Annäherungen an das Bewusstsein

Geist, Verhalten und Gehirn

Überlegungen zur neurologischen und neuropsychologischen Evidenz

Auf der Suche nach dem Selbst

Warum wir Bewusstsein brauchen

Anfänge des Bewusstseins

Umgang mit Mysterien

Versteckspielen

II. TEIL FÜHLEN UND ERKENNEN

ZWEITES KAPITEL EMOTION UND GEFÜHL

Noch einmal mit Emotion

Ein historischer Exkurs

Das Gehirn weiß mehr, als das Bewusstsein offenbart

Ein Exkurs über die Kunst, das Unkontrollierbare zu kontrollieren

Was sind Emotionen?

Die biologische Funktion von Emotionen

Wie Emotionen ausgelöst werden

Die Mechanismen der Emotion

Sei ohne Furcht

Wie alles funktioniert

Zur Präzisierung der Definition von Emotion – ein Exkurs

Das Substrat der Repräsentation von Emotionen und Gefühlen

DRITTES KAPITEL KERNBEWUSSTSEIN

Bewusstseinsforschung

Verhaltensmusik und äußere Bewusstseinsmanifestationen

Wachsein

Aufmerksamkeit und zielgerichtetes Verhalten

Untersuchung des Bewusstseins an Personen, bei denen es ausgeschaltet ist

VIERTES KAPITEL DER HALB ERAHNTE WINK

Sprache und Bewusstsein

Wenn Sie so viel Geld hätten: ein Kommentar zum Problem von Sprache und Bewusstsein

Gedächtnis und Bewusstsein

Gar nichts kommt in den Sinn

Davids Bewusstsein

Zusammenfassung einiger Fakten

Der halb erahnte Wink

III. TEIL EINE BIOLOGIE DES ERKENNENS

FÜNFTES KAPITEL DER ORGANISMUS UND DAS OBJEKT

Der Körper hinter dem Selbst

Die Notwendigkeit von Stabilität

Das innere Milieu als Vorläufer des Selbst

Mehr über das innere Milieu

Unter dem Mikroskop

Organisation des Lebens

Warum bringen Körperrepräsentationen so viel Stabilität zum Ausdruck?

Ein Körper, eine Person: die Wurzeln der Singularität des Selbst

Die Unveränderlichkeit des Organismus und die Unbeständigkeit der Dauer

Ursprünge von individueller Perspektive, Besitzanspruch und Urheberschaft

Kartierung von Körpersignalen

Das neuronale Selbst

Gehirnstrukturen, die für die Konstituierung des Proto-Selbst erforderlich sind

Gehirnstrukturen, die für die Konstituierung des Proto-Selbst nicht erforderlich sind

Das Zu-Erkennende

Eine Anmerkung zu Störungen des Zu-Erkennenden

Ich muss es sein, weil ich hier bin

SECHSTES KAPITEL ENTSTEHUNG DES KERNBEWUSSTSEINS

Geburt des Bewusstseins

Du bist selbst die Musik, solange sie forttönt: das flüchtige Kernselbst

Jenseits des flüchtigen Kernselbst: das autobiografische Selbst

Aufbau des Kernbewusstseins

Die Notwendigkeit für ein neuronales Muster zweiter Ordnung

Wo ist das neuronale Muster zweiter Ordnung?

Die Vorstellungen vom Erkennen

Bewusstsein durch wahrgenommene Objekte und durch die Erinnerung an frühere Wahrnehmungen

Die nichtsprachliche Beschaffenheit des Kernbewusstseins

Von der Natürlichkeit wortlosen Geschichtenerzählens

Ein letztes Wort über den Homunkulus

Bestandsaufnahme

SIEBTES KAPITEL ERWEITERTES BEWUSSTSEIN

Erweitertes Bewusstsein

Untersuchung des erweiterten Bewusstseins

Störungen des erweiterten Bewusstseins

Transiente globale Amnesie

Anosognosie

Asomatognosie

Das Vergängliche und das Dauerhafte

Die neuroanatomische Basis des autobiografischen Selbst

Autobiografisches Selbst, Identität und Personalität

Das autobiografische Selbst und das Unbewusste

Natur-Selbst und Kultur-Selbst

Jenseits des erweiterten Bewusstseins

ACHTES KAPITEL DIE NEUROLOGIE DES BEWUSSTSEINS

Prüfung der ersten Aussage: Evidenz für die Rolle von Proto-Selbst-Strukturen im Bewusstsein

Es sieht aus wie Schlaf

Es sieht vielleicht wie Koma aus

Überlegungen zu den neuronalen Korrelaten von Koma und apallischem Syndrom

Die Formatio reticularis gestern und heute

Ein stummes Geheimnis

Die Anatomie des Proto-Selbst auf der Grundlage klassischer Experimente

Interpretationen, die den Fakten Rechnung tragen

Prüfung der zweiten Aussage: Evidenz der Rolle von Strukturen zweiter Ordnung im Bewusstsein

Prüfung der anderen Aussagen

Schlussfolgerungen

Eine bemerkenswerte Überlappung von Funktionen

Ein neuer Kontext für Formatio reticularis und Thalamus

Ein kontraintuitiver Tatbestand?

IV. TEIL ZUM ERKENNEN VERDAMMT

NEUNTES KAPITEL GEFÜHLE FÜHLEN

Gefühle fühlen

Das Substrat für das Fühlen von Emotionen

Von der Emotion zum bewussten Gefühl

Wozu dienen Gefühle?

Eine Anmerkung zu Hintergrundgefühlen

Die zwangsläufige Körperbezogenheit des Fühlens

Emotion und Gefühl bei Querschnittslähmungen

Ergebnisse bei durchtrenntem Vagusnerv und Rückenmark

Erkenntnisse aus dem Locked-in-Syndrom

Durch Emotionen mit Hilfe des Körpers lernen

ZEHNTES KAPITEL BEWUSSTSEIN NUTZEN

Das Unbewusste und seine Grenzen

Verdienste des Bewusstseins

Werden wir jemals das Bewusstsein eines anderen erleben?

Das Bewusstsein und sein Rang in der Ordnung der Dinge

ELFTES KAPITEL IM LICHT

Durch Fühlen und durch Licht

Im Licht

ANHANG ANMERKUNGEN ZU GEIST UND GEHIRN

Glossar

Was ist eine Vorstellung und was ist ein neuronales Muster?

Vorstellungen sind nicht nur visuell

Bildung von Vorstellungen

Repräsentationen

Karten

Rätsel und Erkenntnislücken bei der Entstehung von Vorstellungen

Neue Begriffe

Hinweise zur Anatomie des Nervensystems

Die Hirnsysteme, die dem Geist zu Grunde liegen

Anmerkungen

Danksagung

Der Autor

I. TEIL
EINLEITUNG

Vorbemerkung des Übersetzers und des Fachlektors

Zur Übersetzung von »emotion and feeling«:

Anders als bei Descartes’ Irrtum haben wir »emotion and feeling« mit »Emotion und Gefühl« übersetzt, da der hier weiterentwickelte Begriff »emotion« innovativ ist und sich deshalb ein im Deutschen historisch kaum geprägter Begriff wie »Emotion« anbietet.

Zur Übersetzung von »to know/knowing«:

To »know/knowing« wurde bevorzugt mit »Erkennen« und vereinzelt mit »Wissen« übersetzt. Gemeint ist ein wissendes Erkennen – im Unterschied zum philosophischen Begriff »Erkenntnis«.

ERSTES KAPITEL

Ins Licht treten

Ins Licht treten

Seit jeher fasziniert mich der Augenblick, da wir voller Erwartung im Zuschauerraum sitzen, die Tür zur Bühne sich öffnet und der Künstler ins Licht tritt. Oder, aus dem anderen Blickwinkel, der Augenblick, da der Künstler, der im Halbdunkel wartet, dieselbe Tür aufgehen sieht und die Lichter, die Bühne und das Publikum erblickt.

Vor einigen Jahren wurde mir klar, dass die Faszinationskraft dieses Moments, egal, aus welcher Perspektive man ihn erlebt, daher rührt, dass er einen Augenblick der Geburt verkörpert, das Überschreiten einer Schwelle, die einen schützenden, aber auch einengenden Zufluchtsort vor den Möglichkeiten und Risiken einer sich dahinter auftuenden Welt trennt. Doch während ich mich anschicke, die Einleitung zu diesem Buch zu schreiben, und die vorstehenden Zeilen überdenke, wird mir klar, dass das Hinaustreten ins Licht auch eine ausdrucksvolle Metapher für das Bewusstsein ist, für die Geburt des erkennenden Geistes, für den einfachen und doch so folgenreichen Eintritt des Selbst-Sinns in die Welt des Geistes. Wie wir in das Licht des Bewusstseins treten – genau das ist Thema des vorliegenden Buches. Ich schreibe über den Selbst-Sinn und über den Übergang aus dem Stand der Unschuld und des Unwissens in den des Wissens und des Selbst. Insbesondere geht es mir um die biologischen Voraussetzungen, die diesen entscheidenen Übergang erlauben.

Kein Aspekt des menschlichen Geistes ist leicht zu erforschen, und bei den Wissenschaftlern, die sich bemühen, die biologischen Grundlagen des Geistes zu verstehen, gilt das Bewusstsein im Allgemeinen als besonders schwieriges Feld, obwohl sich die Definition des Problems von Forscher zu Forscher erheblich unterscheiden mag. Wenn die Erforschung des Geistes die letzte Grenze in den Wissenschaften vom Leben ist, so erscheint das Bewusstsein oft als das schwierigste Rätsel, das die Erforschung des Geistes aufgibt. Einige halten es für unlösbar.

Trotzdem lässt sich kaum eine faszinierendere Herausforderung für die theoretische und praktische Forschungsarbeit vorstellen. Am Geist im Allgemeinen und am Bewusstsein im Besonderen können sich unser Verlangen nach Verständnis und unsere Lust am Staunen, die nach Aristoteles unverwechselbare menschliche Eigenschaften sind, nach »Herzenslust« betätigen. Was wäre schwerer zu erkennen, als zu erkennen, wie wir erkennen? Was wäre verwirrender als der Gedanke, dass es unser Bewusstsein ist, welches unsere Fragen nach dem Bewusstsein möglich und sogar unvermeidlich macht?

Zwar bildet das Bewusstsein für mich nicht den Gipfel der biologischen Evolution, aber ich sehe es doch als Wendepunkt in der langen Geschichte des Lebens. Selbst wenn wir uns an die einfache und stereotype Definition des Wörterbuchs halten – die Kenntnis, die ein Organismus von sich und seiner Umgebung hat –, so lässt sich doch leicht ausmalen, in welcher Weise das Bewusstsein die menschliche Evolution beeinflusst und zu Hervorbringungen ganz neuer Art geführt hat, die sonst nicht möglich gewesen wären: Moral, Religion, soziale und politische Organisationen, Kunst, Wissenschaft und Technik. Vielleicht noch bedeutsamer ist der Umstand, dass Bewusstsein die entscheidende biologische Funktion ist, die uns ermöglicht, Kummer oder Freude zu fühlen, Leid oder Lust, Verlegenheit oder Stolz, Trauer über den Verlust eines Menschen oder die Vergänglichkeit des Lebens. Ob subjektiv erfahren oder beobachtet, das Mitleid ist ebenso ein Nebenprodukt des Bewusstseins wie das Verlangen. Niemand von uns würde ohne Bewusstsein von diesen persönlichen Zuständen Kenntnis erlangen. Werfen Sie nicht Eva vor, dass Ihnen Erkenntnis zuteil wurde, werfen Sie es dem Bewusstsein vor – und danken Sie ihm auch.

Ich schreibe dies in der Innenstadt von Stockholm, während ich aus dem Fenster blicke und einen gebrechlichen alten Mann beobachtete, wie er einer Fähre zustrebt, die gerade ablegen will. Die Zeit ist knapp, aber er kommt nur langsam voran; arthritische Schmerzen lassen ihn beim Gehen in den Knöcheln einknicken; sein Haar ist weiß, sein Mantel abgetragen. Es regnet unablässig, und er stemmt sich gegen den Wind, so dass er gebeugt ist wie ein einsamer Baum auf offenem Feld. Schließlich erreicht er das Schiff. Mühsam erklimmt er die hohe Stufe, die zur Gangway führt, und geht vorsichtig abwärts, voller Angst, er könnte auf der Schräge zuviel Schwung bekommen. Dabei bewegt er den Kopf hastig hin und her und mustert die Umgebung, um sich zu vergewissern. Sein ganzer Körper scheint zu sagen: Ist es hier? Bin ich richtig? Wohin muss ich jetzt? Und dann helfen ihm die beiden Männer an Deck, stützen ihn bei seinem letzten Schritt, führen ihn mit freundlichen Gesten in die Kajüte, und er scheint in Sicherheit und dort zu sein, wo er hinwollte. Ich bin beruhigt, und das Schiff fährt ab.

Nun malen Sie sich aus, wie es ohne Bewusstsein gewesen wäre. Der alte Mann hätte von dem Unbehagen und der Befangenheit nichts bemerkt. Ohne Bewusstsein wären die beiden Männer an Deck nicht so freundlich auf ihn eingegangen. Ohne Bewusstsein hätte ich mir keine Sorgen gemacht und nicht daran gedacht, dass es mir eines Tages wie ihm ergehen könnte, dass ich mit der gleichen arthritischen Beschwerlichkeit gehen und das gleiche Unbehagen empfinden könnte. Das Bewusstsein verstärkt die Wirkung dieser Gefühle im Geist der an dieser Szene beteiligten Menschen.

Bewusstsein ist in der Tat der Schlüssel zum besichtigten Leben – ob wir es wollen oder nicht –, unsere Lizenz, alles in Erfahrung zu bringen, was ins uns vorgeht – den Hunger und den Durst, die Sexualität, die Tränen, das Lachen, die Hochs und Tiefs, den Strom der Vorstellung, den wir Denken nennen, die Gefühle, die Wörter, die Geschichten, die Überzeugungen, die Musik und die Poesie, das Glück und den Überschwang. Auf seiner einfachsten und grundlegendsten Ebene vermittelt uns das Bewusstsein den unwiderstehlichen Drang, am Leben zu bleiben und ein Interesse am Selbst zu entwickeln. Auf einer sehr hohen und komplexen Ebene hilft uns das Bewusstsein, Interesse am Selbst anderer zu entwickeln und die Kunst des Lebens zu verfeinern.

Abwesend, ohne fort zu sein

Vor 32 Jahren saß ich in einem seltsamen kreisförmigen, grau gestrichenen Untersuchungszimmer einem Mann gegenüber. Durch ein Oberlicht fiel die Sonne auf uns, während wir ruhig miteinander sprachen. Plötzlich hielt der Mann mitten im Satz inne, und sein Gesicht wurde vollkommen ausdruckslos. Sein Mund stand halb offen und seine Augen starrten blicklos auf eine Stelle an der Wand hinter mir. Einen Augenblick verharrte er regungslos. Ich sprach ihn mit seinem Namen an, aber er reagierte nicht. Dann begann er, sich ein bisschen zu bewegen, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und richtete den Blick auf den zwischen uns stehenden Tisch. Offenbar sah er die Tasse Kaffee und die kleine Metallvase mit Blumen, die dort standen, denn er ergriff die Tasse und trank daraus. Wieder und wieder sprach ich ihn an, aber er antwortete nicht. Er berührte die Vase. Ich fragte ihn, was los sei, ohne eine Antwort zu erhalten. Sein Gesicht war noch immer völlig ausdruckslos. Er schaute mich nicht an. Dann stand er plötzlich auf und ich wurde unruhig. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich rief seinen Namen und er reagierte nicht. Wann würde dieser Spuk vorbei sein? Nun machte er kehrt und ging langsam zur Tür. Ich stand auf und rief ihn erneut an. Er blieb stehen, blickte mich an, und allmählich kehrte das Leben in sein Gesicht zurück – er sah verwirrt aus. Ich sprach ihn abermals an, und er sagte: »Was?«

Einen kurzen Moment lang, der mir wie eine Ewigkeit vorgekommen war, hatte dieser Mann unter einem Bewusstseinsausfall gelitten. Neurologisch gesprochen, hatte er einen Absence-Anfall gehabt, gefolgt von einem Absence-Automatismus, Symptome, die durch eine epileptische Störung der Gehirnfunktion verursacht werden. Das war zwar nicht die erste Bewusstseinsstörung, deren Zeuge ich wurde, aber es war die eindrucksvollste. Ich wusste aus eigener Anschauung wie es ist, das Bewusstsein zu verlieren und wiederzufinden – als Kind war ich infolge eines Autounfalls bewusstlos gewesen und als Jugendlicher hatte ich einmal eine Vollnarkose erhalten. Ich hatte auch Patienten im Koma erlebt und wusste also, wie der Zustand der Bewusstlosigkeit, von außen betrachtet, aussieht. In allen diesen Fällen jedoch war, wie beim Einschlafen oder Aufwachen, der Verlust des Bewusstseins radikal gewesen, etwa so wie ein totaler Stromausfall. Was ich aber an diesem Nachmittag in dem grauen, kreisrunden Raum beobachtet hatte, war weit verblüffender. Weder war der Mann im Koma zusammengebrochen noch eingeschlafen. Er war zugleich da und nicht da, sicher wach, teilweise aufmerksam, ließ augenscheinlich ein bestimmtes Verhalten erkennen, er war körperlich anwesend, aber geistig nicht zugegen, war abwesend, ohne fort zu sein.

Diesen Vorfall habe ich nie vergessen und es war ein gutes Gefühl, als ich eines Tages den Eindruck hatte, seine Bedeutung zu verstehen. Heute denke ich – im Unterschied zu damals, wo ich mir gar keinen Reim darauf machen konnte –, dass ich den messerscharfen Übergang erlebt habe zwischen einem vollständig bewussten Geist und einem Geist, dem der Selbst-Sinn abhanden gekommen war. Während das Bewusstsein des Mannes eingeschränkt war, blieb sein Wachsein, seine grundlegende Fähigkeit, auf Objekte zu reagieren und sich im Raum zu bewegen, erhalten. Die geistigen Prozesse, soweit sie die Objekte in seiner Umgebung betrafen, waren wahrscheinlich nicht beeinträchtigt, doch sein Selbst-Sinn und seine Erkenntnisfähigkeit waren aufgehoben. Wahrscheinlich begann ich an diesem Tag, an meinem Bewusstseinsbegriff zu arbeiten, ohne es zu merken. Die Idee, dass dieser Selbst-Sinn ein unverzichtbarer Teil des Bewusstseins sei, begann erst konkrete Gestalt anzunehmen, als ich vergleichbare Fälle sah.

Im Laufe der Jahre blieb mein Interesse an den Fragen des Bewusstseins zwar ungebrochen – mich lockten die wissenschaftlichen Herausforderungen der Bewusstseinsforschung –, trotzdem verhielt ich mich abwartend, denn mich machten die Auswirkungen betroffen, die solche Bewusstseinsbeeinträchtigungen bei neurologischen Patienten hervorrufen. Der Tragik von Situationen, wo Hirnschädigungen im Koma oder im apallischen Syndrom enden – jenen Zuständen, in denen das Bewusstsein am nachhaltigsten beeinträchtigt ist –, wäre ich lieber aus dem Wege gegangen, wenn ich die Wahl gehabt hätte. Wenige Dinge sind so traurig wie der plötzliche und unaufhaltsame Bewusstseinsausfall bei einem Patienten, der am Leben bleibt, und wenige Dinge lassen sich den Angehörigen so schwer erklären. Wie blickt man jemandem in die Augen und erklärt ihm, dass der reglose Zustand seines Lebensgefährten aussieht wie Schlaf, aber kein Schlaf ist, dass an dieser Art des Ruhens nichts Gutartiges und Erholsames ist, dass dieser einst empfindungsfähige Mensch möglicherweise nie wieder das sein wird, was er einmal war? Doch selbst wenn ich als Neurologe das Bewusstseinsproblem kaum hätte umgehen können, als Neurowissenschaftler hätte ich sicherlich einen großen Bogen um das Problem gemacht. Von der Bewusstseinsforschung ließ man besser die Finger, bevor man eine feste Stellung hatte, und selbst danach musste man sich noch auf Argwohn und Verwunderung gefasst machen. Erst in den letzten Jahren ist das Bewusstsein ein etwas angeseheneres Forschungsfeld geworden.1

Doch der Grund, warum ich mich schließlich doch mit dem Bewusstsein befasste, hatte wenig zu tun mit der Soziologie der Bewusstseinsforschung. Ich hatte keineswegs die Absicht gehabt, mich diesem Problem zu widmen, bevor ich nicht in eine Sackgasse geriet, die mich zwang, meine Meinung zu ändern. Die Sackgasse hatte mit meiner Arbeit über Emotionen zu tun. Eigentlich sind also die Leidenschaften der Seele für alles Weitere verantwortlich.2

Die Situation war folgende: Ich konnte relativ gut nachvollziehen, wie verschiedene Emotionen im Gehirn hervorgerufen und im Theater des Körpers ausgespielt werden. Ich konnte mir auch vorstellen, wie die Auslösung von Emotionen und die anschließenden Körperveränderungen, die im Wesentlichen einen emotionalen Zustand konstituieren, von verschiedenen Gehirnstrukturen signalisiert werden, so dass diese die Veränderungen angemessen kartieren und damit das Substrat für das Fühlen einer Emotion bilden. Doch ich konnte keine befriedigende Erklärung dafür entwickeln, wie das, was wir bei bewussten Lebewesen eine Emotion nennen, zur Kenntnis des empfindenden Organismus gelangt. Welchem zusätzlichen Mechanismus verdanken wir die Erkenntnis, dass eine Emotion in den Grenzen unseres eigenen Organismus stattfindet? Was geschieht sonst noch in dem Organismus und vor allem, was geschieht sonst noch im Gehirn, wenn wir erkennen, dass wir eine Emotion oder einen Schmerz fühlen, oder überhaupt etwas erkennen? Damit war ich auf das Hindernis des Selbst gestoßen, denn irgendeine Form des Selbst-Sinns ist erforderlich, um die Signale, die das Empfinden einer Emotion konstituieren, dem Organismus, der die Emotion hat, zur Kenntnis zu bringen.

Wenn ich das Hindernis des Selbst überwand, was aus meiner Sicht hieß, dass ich seine neuronalen Grundlagen verstand, dann war ich möglicherweise in der Lage, die unterschiedlichen biologischen Auswirkungen dreier verschiedener, wenn auch eng verwandter Phänomene zu verstehen: einer Emotion, des Fühlens dieser Emotion und des Erkennens, dass wir ein Gefühl dieser Emotion haben. Nicht weniger wichtig: Wenn es mir gelang, das Hindernis des Selbst zu überwinden, konnte ich möglicherweise auch Klarheit über das neuronale Substrat des Bewusstseins im Allgemeinen gewinnen.

Das Problem des Bewusstseins

Worin liegt also das Problem des Bewusstseins aus der Perspektive der Neurobiologie? Zwar bin ich der Meinung, dass die Frage des Selbst sehr wichtig für das Verständnis des Bewusstseins ist, doch lege ich auch großen Wert auf die Feststellung, dass sich das Problem des Bewusstseins nicht auf die Frage des Selbst einengen läßt. Auf den einfachsten Nenner gebracht, halte ich das Bewusstseinsproblem für eine Kombination aus zwei miteinander verknüpften Problemen. Das erste ist die Frage, wie das Gehirn im menschlichen Organismus die mentalen Muster erzeugt, die wir mangels eines besseren Begriffs als die Vorstellungen von einem Objekt bezeichnen. Unter Objekt verstehe ich Phänomene ganz verschiedener Art – einen Menschen, einen Ort, eine Melodie, einen Zahnschmerz, einen Zustand der Glückseligkeit. Mit Vorstellung meine ich mentale Muster in jeder Sinnesmodalität, also eine Lautvorstellung, eine taktile Vorstellung, die Vorstellung von einem Zustand des Wohlgefühls. Solche Vorstellungen vermitteln Aspekte der physischen Objektmerkmale, möglicherweise auch die Neigung oder Abneigung, die wir für ein Objekt empfinden, die Pläne, die wir mit ihm haben, und das Beziehungsnetz, das dieses Objekt mit anderen verbindet. Dieses erste Problem des Bewusstseins läuft im Prinzip auf die Frage hinaus, wie der »Film-im-Gehirn« entsteht, vorausgesetzt, wir machen uns klar, dass dieser Film ebenso viele sensorische Spuren hat wie unser Nervensystem Sinneseingänge – Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten, innere Sinnesempfindungen und so fort (vgl. das Glossar im Anhang zur Verwendung von Begriffen wie Vorstellung, Repräsentation und Karte).

Aus der Sicht der Neurobiologie besteht die Lösung dieses ersten Problems darin, dass man entdeckt, wie das Gehirn neuronale Muster in den Schaltkreisen seiner Nervenzellen herstellt und wie es ihm gelingt, diese in die expliziten mentalen Muster zu verwandeln, welche die höchste Ebene biologischer Phänomene bilden, in jene mentalen Muster also, die ich gerne Vorstellungen nenne. Zur Lösung dieser Frage gehört notwendig, dass wir uns auch mit der philosophischen Frage der Qualia auseinandersetzen. Qualia sind die einfachen sensorischen Eigenschaften, die durch das Blau des Himmels oder den Klang eines Cellos hervorgerufen werden. Die Grundelemente der Vorstellungen oder Bilder unserer Filmmetapher bestehen also aus Qualia. Ich glaube, diese Eigenschaften werden sich irgendwann neurobiologisch erklären lassen, wenn die neurobiologische Darstellung im Augenblick auch noch unvollständig ist und eine Erklärungslücke aufweist.3

Wenden wir uns nun dem zweiten Bewusstseinsproblem zu, der Frage, wie das Gehirn im Akt des Erkennens parallel zu den mentalen Mustern für ein Objekt auch den Selbst-Sinn erzeugt. Zur Klärung dessen, was ich unter Selbst und Erkennen verstehe, bitte ich Sie, ihr Vorhandensein zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Ihrem eigenen Geist zu überprüfen.

Sie betrachten diese Seite, lesen den Text und konstruieren die Bedeutung meiner Worte, während Sie in Ihrer Lektüre fortfahren. Doch die Beschäftigung mit dem Text und seiner Bedeutung ist beileibe nicht alles, was in Ihrem Geist vorgeht. Abgesehen davon, dass er die gedruckten Wörter repräsentiert und das begriffliche Wissen verfügbar macht, das zum Verständnis dessen, was ich geschrieben habe, erforderlich ist, macht er Ihnen auch fortlaufend deutlich, dass Sie es sind und nicht jemand anders, der den Text liest und versteht. Die sensorischen Abbildungen dessen, was Sie in der Außenwelt wahrnehmen, und die verwandten Vorstellungen, die Sie aus dem Gedächtnis abrufen, nehmen den größten Teil Ihres geistigen Horizontes ein, jedoch nicht ganz. Neben diesen Vorstellungen gibt es noch diese andere Präsenz, die Sie selbst bezeichnet, als Beobachter der vorgestellten Dinge, als Eigentümer der vorgestellten Dinge, als potentiellen Urheber der Handlungen, die an den vorgestellten Dingen vorgenommen werden können. Es gibt eine Präsenz Ihrer selbst in einer bestimmten Beziehung zu einem Objekt. Wenn es eine solche Präsenz nicht gäbe, wie könnten Ihre Gedanken dann Ihnen gehören? Wer könnte es entscheiden? Die Präsenz ist stumm und diskret, und manchmal ist sie nur ein »halb erahnter Wink«, um mit T. S. Eliot zu sprechen. Später werde ich die These vorschlagen, dass die einfachste Form einer solchen Präsenz ebenfalls eine Vorstellung ist, und zwar die Art von Vorstellung, die ein Gefühl darstellt. So gesehen, ist Ihre Präsenz das Fühlen dessen, was geschieht, wenn Ihr Sein durch einen Wahrnehmungsakt verändert wird. Die Präsenz verlässt Sie nie, sie begleitet Sie von dem Augenblick, da Sie erwachen, bis zu dem Moment, wo Sie einschlafen. Die Präsenz muss vorhanden sein, oder Sie sind nicht da.

Die Lösung dieses zweiten Problems setzt voraus, dass wir verstehen, warum ich, während ich schreibe, mich selbst fühle, und dass Sie, während Sie jetzt lesen, sich selbst fühlen, und warum wir fühlen, dass das private Wissen, das wir in diesem Augenblick vor unserem geistigen Auge sehen, von einer bestimmten Perspektive geprägt ist – derjenigen des Individuums, in dem sie sich formt – und nicht von einer allgemeinen Allerweltsperspektive. Die Lösung setzt weiterhin voraus, dass wir verstehen, warum die Vorstellungen von einem Objekt und von der komplexen Matrix aus Beziehungen, Reaktionen und Plänen, in die es eingebunden ist, als die unverkennbaren geistigen Eigenschaften eines automatischen Eigentümers empfunden werden, der immer ein Beobachter, ein Wahrnehmender, ein Erkennender, ein Denkender und ein potentiell Handelnder ist. Besonders schwierig ist das zweite Problem, da der Vorschlag, der herkömmlicherweise zu seiner Lösung unterbreitet wird – ein Homunkulus, der für die Erkenntnis zuständig ist –, offenkundig falsch ist. Es gibt keinen Homunkulus, weder metaphysisch noch im Gehirn, der als Zuschauer im cartesianischen Theater sitzt und darauf wartet, dass die Objekte ins Licht treten.4 Mit anderen Worten, um das zweite Problem des Bewusstseins zu lösen, müssen wir die biologischen Grundlagen der merkwürdigen Fähigkeit entdecken, über die wir Menschen verfügen, der Fähigkeit, nicht nur die mentalen Muster eines Objekts zu konstruieren – die Vorstellungen von Personen, Orten, Melodien und von ihren Beziehungen, kurz, die zeitlich und räumlich integrierten Vorstellungen des Zu-Erkennenden –, sondern auch die geistigen Muster, die wir automatisch und natürlich erzeugen, den Selbst-Sinn im Akt des Erkennens. Bewusstsein im üblichen Sinn ist von der basalen bis zur kompliziertesten Ebene das vereinheitlichte mentale Muster, durch welches das Objekt und das Selbst zusammengeführt werden.

So sieht sich die Neurobiologie des Bewusstseins zumindest zwei Problemen gegenüber: der Frage, wie der Film-im-Gehirn erzeugt wird, und der Frage, wie das Gehirn das Gefühl erzeugt, dass es einen Eigentümer und Beobachter dieses Films gibt. Diese beiden Fragen sind so eng miteinander verwandt, dass dieses in jenem enthalten ist. Tatsächlich läuft die zweite Frage darauf hinaus, wie das Auftreten eines Eigentümers und Beobachters des Films innerhalb des Films bewerkstelligt wird. Dabei beeinflussen die physiologischen Mechanismen, die dem zweiten Problem zugrunde liegen, die Mechanismen, die für das erste zuständig sind. Obwohl die Probleme so eng miteinander zusammenhängen, empfiehlt es sich, sie zu trennen, um das Feld der Bewusstseinsforschung überschaubar zu machen.5

Dieses Buch ist der Versuch, das Forschungshindernis Bewusstsein durch die Konzentration auf das Problem des Selbst zu überwinden, ohne deshalb jedoch das »andere« Problem des Bewusstseins zu vernachlässigen und herunterzuspielen. Notwendig wurde der Versuch, weil ich mit meiner Arbeit über Emotionen in eine Sackgasse geraten war – wie zuvor beschrieben –, doch er greift über dieses besondere Problem hinaus. Das Buch beschäftigt sich mit der Frage, wie sich mein Bewusstseinsbegriff auf mentaler Ebene darstellt und wie Bewusstsein vom menschlichen Gehirn konstruiert wird. Ich behaupte indessen nicht, das Problem des Bewusstseins gelöst zu haben. Im gegenwärtigen Stadium der Kognitions- und Neurowissenschaft beurteile ich die Möglichkeit, das Bewusstseinsproblem zu lösen, ohnehin skeptisch. Ich hoffe einfach, dass die hier vorgelegten Überlegungen dazu beitragen, die Frage nach dem Selbst aus biologischer Perspektive etwas zu erhellen.6

Der Text resultiert aus einem fortlaufenden Forschungsprogramm, das verschiedene Untersuchungsgebiete beinhaltet: die Befunde aus der mehrjährigen Beobachtung neurologischer Patienten mit kognitiven und Verhaltensstörungen, die Ergebnisse aus experimentellen neuropsychologischen Studien an solchen Patienten, die theoretischen Überlegungen zu normalen Bewusstseinsprozessen, Daten aus der allgemeinen Biologie, Neuroanatomie und Neurophysiologie, schließlich die Ausarbeitung überprüfbarer Hypothesen aus den Theorien über die neuroanatomischen Grundlagen des Bewusstseins, die das Ergebnis von Reflexion und theoretischer Arbeit darstellen.

Annäherungen an das Bewusstsein

Bevor wir in unseren Überlegungen fortfahren, will ich kurz erläutern, wie ich das Problem, das wir definiert haben, anzugehen gedenke. Es wäre natürlich wunderbar, wenn die Inhalte unseres Geistes noch vielschichtiger angeordnet wären, als sie es ohnehin schon sind, so dass ich dieses Buch in parallelen Spalten schreiben könnte – so wie etwa die Tonspuren auf einem Film angelegt sind –, dann könnten Sie alles, was es über theoretische Annahmen, wissenschaftliche Methoden und grundlegende Fakten zu berichten gibt, gleichzeitig lesen. Doch wir bewegen uns in einer Welt der klassischen Physik, daher muss ich auf die Mittel des elisabethanischen Zeitalters zurückgreifen und mit Exkursen und Abschweifungen arbeiten. Ich verspreche, mich kurz zu fassen und mich auf das Wesentliche zu beschränken.

Geist, Verhalten und Gehirn

Bewusstsein ist ein rein privates Phänomen, das ganz auf die Perspektive der ersten Person beschränkt bleibt, auf jenen privaten Prozess in der ersten Person, den wir Geist nennen.7 Bewusstsein und Geist sind jedoch eng an äußere Verhaltensweisen geknüpft, die sich aus der Perspektive der dritten Person beobachten lassen. Wir haben alle teil an diesen Phänomenen – dem Geist, dem Bewusstsein im Geist und dem Verhalten – und wir wissen genau, wie sie miteinander verknüpft sind, erstens dank unserer Selbstbeobachtung und zweitens dank unserer natürlichen Neigung, andere zu beobachten. Sowohl unser natürliches Wissen als auch die Wissenschaft vom menschlichen Geist und Verhalten beruhen auf dieser unbestreitbaren Beziehung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen – Erste-Person-Geist auf der einen Seite und Dritte-Person-Verhalten auf der anderen. Zum Glück für diejenigen unter uns, die den Wunsch haben, den Mechanismus hinter Geist und Verhalten zu verstehen, will es der Zufall, dass Geist und Verhalten ebenfalls eng mit den Funktionen lebender Organismen verknüpft sind, vor allem mit den Funktionen des Gehirns in diesen Organismen.8 Wie wirkungsvoll diese Triangulation von Geist, Verhalten und Gehirn ist, wissen wir seit anderthalb Jahrhunderten – seit die Neurologen Paul Broca und Carl Wernicke einen Zusammenhang zwischen Sprache und bestimmten Regionen der linken Großhirnhemisphäre entdeckten. Diese Triangulation hat eine höchst glückliche Entwicklung eingeleitet: Die traditionellen Welten der Philosophie und Psychologie haben nach und nach ihre Kräfte mit der Welt der Biologie vereinigt und eine seltsame, aber produktive Allianz begründet. Mit der losen Vereinigung wissenschaftlicher Ansätze, die man unter der Bezeichnung kognitive Neurowissenschaft zusammenfasst, sind beispielsweise neue Fortschritte im Verständnis von Sehen, Gedächtnis und Sprache möglich geworden. Daher gibt es gute Gründe für die Annahme, dass die Allianz auch ihren Beitrag zum Verständnis des Bewusstseins liefern wird.

In den letzten zwanzig Jahren ist die Arbeit in der kognitiven Neurowissenschaft zu einem besonders dankbaren Geschäft geworden, weil wir heute der Entwicklung neuer Techniken zur Beobachtung von Hirnstrukturen und -funktionen die Möglichkeit verdanken, bestimmte Verhaltensweisen, die wir aus klinischen oder experimentellen Beobachtungen kennen, nicht nur zu vermuteten geistigen Korrelaten dieses Verhaltens in Beziehung zu setzen, sondern auch zu spezifischen Indizes von Hirnstrukturen oder -aktivitäten.

Ich möchte einige Beispiele nennen. Eng umschriebene Hirnschädigungen, die durch neurologische Krankheiten hervorgerufen werden, sogenannte Läsionen, sind seit langem ein wichtiges Forschungsfeld für die Wissenschaftler, die sich mit dem neuronalen Substrat des Geistes beschäftigen. Früher ließen sich solche Läsionen nur durch Autopsie feststellen, oft erst viele Jahre, nachdem die Untersuchung des Patienten beendet worden war. Diese Verzögerung verlangsamte den Analyseprozess und verschleierte die Korrelation zwischen Anatomie und Verhalten. Dank neuer technischer Entwicklungen sind wir jedoch in der Lage, zur gleichen Zeit, da wir die Verhaltensstörungen und die kognitiven Ausfälle eines Patienten beobachten, seine Hirnläsionen dreidimensional zu rekonstruieren und zu analysieren. Die Rekonstruktion erscheint auf einem Computerbildschirm und beruht auf der komplizierten elektronischen Verarbeitung von Rohdaten, die ein Kernspintomograph liefert. Er bildet neuronale Strukturen mit großer Genauigkeit ab und erlaubt eine Obduktion im virtuellen Raum statt in der Pathologie. Damit schafft diese Technik die Möglichkeit, Läsionen sofort und detailliert zu untersuchen, so dass sich Hypothesen überprüfen lassen, die deutlich machen, in welcher Weise ein Hirnsystem für bestimmte geistige Funktionen oder Verhaltensweisen zuständig ist. Beispielsweise könnten wir postulieren, dass ein System, das aus den vier miteinander verbundenen Hirnregionen A, B, C und D besteht, in einer bestimmten Weise arbeitet. Daraus ließe sich voraussagen, welche Veränderungen auftreten müssten, wenn, sagen wir, Region C zerstört würde. Um die Gültigkeit dieser Vorhersage zu überprüfen, untersuchen wir, wie Patienten mit einer Läsion im Areal C sich verhalten, während sie eine bestimmte Aufgabe erledigen. Nebenbei bemerkt wird das gleiche Verfahren in einem anderen, erst kürzlich entwickelten Bereich der Neurowissenschaft verwendet, der molekularen Neurobiologie. Beispielsweise wird in einer Maus ein bestimmtes Gen inaktiviert und auf diese Weise eine »Läsion« hervorgerufen (im wissenschaftlichen Jargon nennt man das einen »Knockout«). Die Forscher können dann bestimmen, ob die Konsequenzen des »Knockouts« der Voraussage entsprechen.9

Ein weiteres Beispiel für eine neue Form von Hirn-Index ist ein Areal erhöhter oder verringerter Hirnaktivität, das durch bildgebende Verfahren wie Positronenemissionstomographie (PET) oder funktionelle Kernspintomographie sichtbar gemacht wird. Solche Techniken lassen sich nicht nur bei neurologischen Patienten einsetzen, sondern auch bei Menschen ohne Hirnerkrankungen. Abermals wird anhand einer konkreten Vorhersage über die Aktivität einer bestimmten Region während der Ausführung einer geistigen Aufgabe die Gültigkeit der Hypothese überprüft.

Andere Indizes sind die in der Haut gemessenen Veränderungen der elektrischen Leitfähigkeitsreaktion, Veränderungen der elektrischen Potentiale oder der entsprechenden Magnetfelder, die an der Kopfhaut gemessen werden, oder Veränderungen der elektrischen Potentiale, die während chirurgischer Eingriffe an Epilepsiepatienten direkt an der Hirnoberfläche abgeleitet werden. Bemerkenswerterweise sind mit der Anwendung dieser neuen Techniken die Möglichkeiten, enge Verknüpfungen zwischen privatem Geist, öffentlichem Verhalten und Hirnfunktion herzustellen, noch nicht erschöpft. Weitere Querverbindungen liefern Wissenschaftler, die auf neuen Forschungsgebieten zur Anatomie und Funktion des Nervensystems tätig sind – experimentelle Neuroanatomen, Neurophysiologen, Neuropharmakologen und Neurobiologen, die Molekularereignisse in einzelnen Nervenzellen untersuchen und diese Ereignisse wiederum mit der Beschaffenheit und Wirkungsweise spezifischer Gene in Zusammenhang bringen können. Mit Hilfe der Daten, die in letzter Zeit auf diesen Feldern zusammengetragen wurden, können wir immer genauere Theorien über die Beziehung zwischen bestimmten Aspekten des Geistes, des Verhaltens und des Gehirns entwickeln. So lassen sich der private Geist des Organismus, sein öffentliches Verhalten und sein im Schädel verborgenes Gehirn durch das Abenteuer der Theorie zusammenfügen, und aus dem Abenteuer entwickeln sich Hypothesen, die sich experimentell überprüfen und hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit bewerten lassen, um anschließend akzeptiert, verworfen oder verändert zu werden. (Vgl. »Einige Hinweise zur Anatomie des Nervensystems« im Anhang.)

Überlegungen zur neurologischen und neuropsychologischen Evidenz

Die Ergebnisse der neurologischen Beobachtungen und neuropsychologischen Experimente dienten in vielen Fällen als Ausgangspunkte für die hier vorgelegten Ideen. Da ist zunächst die Tatsache, dass einige Aspekte des Bewusstseinsprozesses mit der Funktion bestimmter Hirnregionen und -systeme in Zusammenhang gebracht werden können und damit Hinweise liefern auf die neuronale Architektur, die dem Bewusstsein als Grundlage dient. Die betreffenden Regionen und Systeme konzentrieren sich in wenigen Hirngebieten, daher wird wohl auch eine bestimmte Anatomie des Bewusstseins – nicht anders als für Funktionen wie Gedächtnis und Sprache – zuständig sein. Unter anderem hat das vorliegende Buch das Ziel, überprüfbare anatomische Hypothesen für einige Aspekte des Bewusstseinsprozesses vorzuschlagen.

Der zweite interessante Gesichtspunkt ist, dass sich Bewusstsein und Wachzustand sowie Bewusstsein und basale Aufmerksamkeit trennen lassen. Es gibt Belege dafür, dass Patienten wach und aufmerksam sein können, ohne ein normales Bewusstsein zu besitzen, wie es das Beispiel des Mannes in dem kreisförmigen Raum gezeigt hat. In den Kapiteln drei und vier werde ich mich eingehender mit solchen Patienten beschäftigen und die theoretische Bedeutung ihrer Störungen erörtern.

Der dritte und vielleicht aufschlussreichste Befund ist der Umstand, dass Bewusstsein und Emotion nicht zu trennen sind. Wie ich in den Kapiteln zwei, drei und vier darlegen werde, ist bei eingeschränktem Bewusstsein gewöhnlich auch die Emotion beeinträchtigt. Tatsächlich bildet die Verknüpfung zwischen Emotion und Bewusstsein auf der einen Seite und zwischen diesen beiden und dem Körper auf der anderen ein zentrales Thema des vorliegenden Buches.

Viertens hat sich herausgestellt, dass das Bewusstsein nicht monolithisch ist, zumindest nicht beim Menschen: Es lassen sich einfache und komplexe Formen unterscheiden, und die neurologischen Befunde lassen diese Unterscheidung transparent werden. Die einfachste Form, die ich Kernbewusstsein nenne, stattet den Organismus mit einem Selbst-Sinn aus, der für einen Augenblick – jetzt – und einen Ort – hier – gilt. Der Zuständigkeitsbereich des Kernbewusstseins ist also das Hier und Jetzt. Das Kernbewusstsein eröffnet keinen Ausblick auf die Zukunft und berücksichtigt die Vergangenheit nur insoweit, als es die Ereignisse einbezieht, die sich unmittelbar zuvor zugetragen haben. Es gibt weder ein Anderswo noch ein Vorher oder Nachher. Dagegen vermittelt die komplexe Form des Bewusstseins, die ich erweitertes Bewusstsein nenne und die viele Ebenen und Abstufungen kennt, dem Organismus einen höheren Selbst-Sinn – Identität und Personalität, ein Sie oder Ich – und verortet ihn an einem bestimmten Punkt in der individuellen historischen Zeit. So ist er in der Lage, sich die gelebte Vergangenheit in vielen Einzelheiten zu vergegenwärtigen, die Zukunft zu antizipieren und die Welt, in der er lebt, seinem rastlosen Erkenntnisdrang zu unterwerfen.

Kurzum, das Kernbewusstsein ist ein einfaches, biologisches Phänomen; es hat nur eine einzige Organisationsebene, es verändert sich nicht, solange der Organismus lebt, es kommt nicht nur beim Menschen vor und hängt nicht von konventionellem Gedächtnis, Arbeitsgedächtnis, Denken oder Sprache ab. Hingegen ist das erweiterte Bewusstsein ein komplexes biologisches Phänomen, hat verschiedene Organisationsebenen und entwickelt sich im Laufe des Lebens. Zwar glaube ich, dass auch einige andere Tierarten ein erweitertes Bewusstsein einfacher Art besitzen, doch erreicht es seine höheren Formen nur beim Menschen. Es hängt vom konventionellen Gedächtnis und Arbeitsgedächtnis ab. Auf seiner höchsten Entwicklungsstufe, beim Menschen, wird es noch durch die Sprache bereichert.

Das Kernbewusstsein ist der erste Schritt ins Licht der Erkenntnis, rückt aber noch nicht das vollständige Sein in den Blick. Erst dem erweiterten Bewusstsein erschließt sich das Sein in seiner ganzen Fülle. Im erweiterten Bewusstsein werden die Vergangenheit und die antizipierte Zukunft zusammen mit dem Hier und Jetzt in einer umfassenden Perspektive, gewissermaßen in epischer Breite, erfasst.

Wenn demnach das Kernbewusstsein ein Übergangsritus ist, der den Zugang zur Erkenntnis eröffnet, dann gilt auch, dass die Erkenntnisstufen, die menschliche Kreativität ermöglichen, erst mit dem erweiterten Bewusstsein zugänglich werden. Vielleicht kann man sich das Bewusstsein als einen Glanzpunkt der Evolution und eine Besonderheit des Menschen vorstellen – dann wäre das erweiterte Bewusstsein der Gipfelpunkt. Und doch ist, wie wir sehen werden, das erweiterte Bewusstsein keine unabhängige Spielart des Bewusstseins – ganz im Gegenteil, es baut auf dem Kernbewusstsein auf. Wie ein scharfes Skalpell zeigt die neurologische Erkrankung, dass bei Beeinträchtigungen des erweiterten Bewusstseins nicht unbedingt Schädigungen des Kernbewusstseins vorliegen müssen. Hingegen wird bei Störungen auf der Ebene des Kernbewusstseins das ganze Bewusstseinsgebäude in Mitleidenschaft gezogen: Auch das erweiterte Bewusstsein bricht zusammen. Erst beide Bewusstseinsarten zusammen machen dieses Wunder möglich, das wir Bewusstsein nennen. Doch wenn wir diese prächtige Kombination verstehen wollen, sind wir gut beraten, mit der Untersuchung der einfacheren, grundlegenderen Form zu beginnen: der des Kernbewusstseins.10

Übrigens entsprechen die beiden Bewusstseinsformen zwei Arten des Selbst. Der Selbst-Sinn, der aus dem Kernbewusstsein erwächst, ist das Kernselbst, ein flüchtiges Phänomen, das für jedes Objekt, mit dem das Gehirn interagiert, neu erschaffen wird. Unser traditioneller Selbstbegriff ist jedoch mit der Idee der Identität verknüpft und entspricht einem dauerhaften Bestand von besonderen Fakten, Verhaltens- und Existenzweisen, die einen Menschen charakterisieren. Dieses Gebilde bezeichne ich als autobiografisches Selbst. Das autobiografische Selbst beruht auf den systematischen Erinnerungen an Situationen, in denen dem Kernselbst die grundlegenden Ereignisse im Leben des Organismus zur Kenntnis gelangt sind – wer Sie geboren hat, wo und wann, was Sie mögen und nicht mögen, wie Sie im Allgemeinen auf ein Problem oder einen Konflikt reagieren und so fort. Als autobiografisches Gedächtnis bezeichne ich die organisierte Aufzeichnung der vielen Aspekte in der Biografie eines Organismus. Die beiden Formen des Selbst sind miteinander verknüpft, und im sechsten Kapitel werde ich erklären, wie das autobiografische Selbst aus dem Kernselbst entsteht.

Ein fünfter Aspekt: Nicht selten wird Bewusstsein nur mit Hilfe anderer kognitiver Funktionen erklärt – Sprache, Gedächtnis, Denken, Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis. Zwar sind diese Funktionen tatsächlich erforderlich, damit die höchsten Stufen des erweiterten Bewusstseins normal arbeiten, doch aus Studien an neurologischen Patienten geht hervor, dass sie für das Kernbewusstsein nicht erforderlich sind. Daher sollte das Ziel einer Bewusstseinstheorie nicht