JUTTA RICHTER

HELDEN

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24458-0

© 2013 Carl Hanser Verlag München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Marion Blomeyer/Lowlypaper, München

unter Verwendung eines Fotos von plainpicture

und einer Illustration von istockphoto

Satz im Verlag

Erscheint als Hörbuch bei Igel-Records,

gelesen von der Autorin

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Für Lili, Joshua, Ayşhe,

Said und Emma

und alle Kinder,

die auf ein Wunder warten.

1

Am schlimmsten war, dass niemand die Wahrheit herausfand und wir den ganzen Sommer lang mit diesem flauen Gefühl im Bauch herumlaufen mussten.

Schuld an allem war nicht unsere Ausrede gewesen, sondern Fräulein Fontana.

Denn Fräulein Fontana hat es allen erzählt, obwohl sie nur die Hälfte mitgekriegt hatte. Wahrscheinlich hatte sie unter der Dusche gestanden, und das Badezimmerfenster war wie immer weit offen gewesen. Wenigstens meinte Felix Vorhelm das. Mit Seife in den Augen kann man nicht gut gucken.

Und zwei Tage später war dann das Foto in der Zeitung gewesen und diese Überschrift: »Die kleinen Helden vom Flussweg.«

Auf dem Foto steht Felix Vorhelm rechts, Mia Besler, das bin ich, in der Mitte und Corinna Thiemann links, und wir grinsen alle drei verlegen in die Kamera, und hinter uns ist die schwarze, verkohlte Bahndammwüste zu sehen.

Zeitungsartikel

Die mutigen Kinder, das sind wir, jetzt und für alle Zeiten, und Mama hat den Zeitungsausschnitt an die Küchenpinnwand gesteckt, und ich muss dieses Foto jeden Morgen ansehen und wieder und wieder den Text lesen.

FEUER

Die Sommerferien waren so lang wie die Ewigkeit.

Die Sonne brannte, wir hatten einen Höllendurst, unsere Nasen pellten sich, unsere Köpfe glühten, und der Schweiß tropfte uns von der Stirn.

Lukas Trietsch war mit seinen Eltern ins Allgäu gefahren. Er schickte uns eine Postkarte mit Schneebergen drauf, und wir beneideten ihn.

Felix Vorhelm, Corinna Thiemann und ich saßen auf der Bordsteinkante und zählten die Ameisen, die in einer langen Reihe den Rinnstein entlangmarschierten. Wenn Felix Vorhelm eine Ameise zerquetschte, nahmen die anderen Ameisen den Leichnam mit. Wir fragten uns, ob Ameisen auch schwitzten. Felix Vorhelm meinte, eher nicht, denn die hätten ja Ameisensäure im Blut. Dann zerquetschte er noch eine.

»Das ist eklig«, sagte Corinna Thiemann.

»Die spüren das nicht«, sagte Felix.

»Mir ist langweilig«, sagte ich und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Straße.

Über dem Asphalt flirrte die Luft und machte die Bäume auf der anderen Straßenseite unscharf.

Uns allen war langweilig. Der Eismann kam immer um vier, aber bis vier waren es noch drei Stunden oder drei Wochen oder drei Monate. Die Zeit kroch langsamer als eine rote Nacktschnecke, die Mauersegler flogen ganz hoch, nur wenn sie zum Nest flogen, kreischten ihre Jungen, alles andere war still. Irgendwo weit weg heulte ein Martinshorn.

»Hitzschlag«, sagte Felix Vorhelm.

Er kramte in seiner Hosentasche und zog eine Schachtel Streichhölzer heraus.

»Kommt, wir machen was«, sagte er und sprang auf.

»Was denn?«, fragte Corinna Thiemann.

»Schröggeln«, sagte Felix.

»Dürfen wir nicht«, sagten Corinna und ich.

»Feiglinge«, sagte Felix und spuckte durch seine Zahnlücke. »Typisch Weiber.«

Corinna Thiemann und ich sahen uns an.

»Sieht doch keiner«, sagte Felix.

Wir liefen zum Bahndamm. Das Gras an der Bahndammböschung war gelb und knochentrocken. Die Grillen zirpten. Felix Vorhelm zog das Streichholz über die Zündfläche. Hell flammte der Schwefelkopf auf.

Felix ließ das Streichholz fallen. Die Flammen züngelten an einem Grasbüschel. Weißer Aschestaub flog hoch. Das Feuer breitete sich aus. Sechs, sieben, acht Grasbüschel brannten. Die Flammen leckten schon an einer Heckenrose. Überall knisterte und knackte es. Die Grillen hatten aufgehört zu zirpen. Eine Amsel flatterte laut schimpfend aus dem Gebüsch.

»Austreten!«, rief Felix Vorhelm.

Wir traten mit unseren Sandalen in die brennenden Grasbüschel.

»Schneller!«, keuchte Felix. Der Qualm brannte in meinen Lungen.

»Das schaffen wir nicht!«, kreischte Corinna Thiemann. »O Gott, was sollen wir bloß machen!«

Felix riss einen Ast von der Trauerweide gegenüber. Er schlug in die Flammen, aber das Feuer wirbelte nur auf und breitete sich umso schneller aus. Meine Füße waren schwarz vom Ruß, und meine Sandalen rochen nach geschmolzenem Gummi.

»Rückzug!«, rief Felix. »Abhauen!«

Der ganze Bahndamm stand in Flammen.

Wir versteckten uns in Thiemanns Garage. Ich spuckte auf meine Füße. Überall hatte ich Brandblasen. Corinna Thiemann saß auf dem Boden und weinte.

»Hör bloß auf zu heulen«, sagte Felix, und seine Stimme zitterte ein bisschen.

Auch mir war ganz schlecht vor Angst.

»Wenn das rauskommt, stecken die mich wieder ins Kinderheim«, sagte Felix. Er war ganz blass geworden. »Wehe, ihr verratet was.«

»Tun wir nicht«, heulte Corinna.

»Geschworen?«

»Geschworen«, sagte ich.

»Richtig schwören«, sagte Felix.

Corinna und ich hielten die Schwurfinger hoch.

»Ich schwöre beim Leben meiner Mutter«, sagte Felix.

»Ich schwöre beim Leben meiner Mutter«, sagten Corinna und ich.

Draußen heulten die Martinshörner, das Heulen kam immer näher.

»Feuerwehr«, sagte Felix Vorhelm und spuckte durch seine Zahnlücke.

Wir hörten, wie das Feuerwehrauto mit quietschenden Reifen zum Stehen kam.

Zwei Autotüren knallten zu.

»Absitzen!«, bellte eine heisere Männerstimme.

Felix Vorhelm lag auf dem Bauch und spähte durch den Spalt zwischen Boden und Garagentor. Ich legte mich neben ihn.

»Könnt ihr was sehen?«, fragte Corinna.

»Sie rollen den Schlauch ab«, sagte Felix. Mein Herz klopfte bis in die Zungenspitze. Ich sah die schwarzen Stiefel der Feuerwehrleute und den großen grauen Schlauch, der wie eine tote Riesenschlange auf der Straße lag.

»Wasser marsch!«, brüllte die Männerstimme. Die Riesenschlange wurde lebendig. Sie blähte sich auf und fing an zu zucken. Und dann hörten wir nur noch das laute Zischen des Wasserstrahls, der auf die Flammen traf.

Eine Ewigkeit später war alles vorbei. Die Feuerwehrleute rollten den Schlauch wieder ein.

»Aufsitzen!«, bellte die Männerstimme. »Abrücken!«

Die Türen des Feuerwehrautos knallten zu. Der Motor sprang an. Das Feuerwehrauto fuhr los. Ohne Tatütata, ohne Blaulicht. Nur ein säuerlich beißender Brandgeruch lag noch in der Luft.

Vorsichtig öffnete Felix Vorhelm das Garagentor. Wir blinzelten in das helle Sonnenlicht. Gegenüber lag die Bahndammböschung verkohlt und verbrannt wie eine schwarze Wüste.

»O Gott«, flüsterte Corinna Thiemann. »Das ist unsere Schuld. Das haben wir getan.«

»Wenn du nicht dichthältst, bring ich dich um«, zischte Felix. »Und vergiss nicht, du hast geschworen.«

Corinna Thiemann schlug die Hände vors Gesicht.

»Beim Leben deiner Mutter«, sagte Felix.

»Und die Brandblasen an unseren Füßen?«, fragte ich. »Und die angekokelten Sandalen? Wie willst du das denn erklären?«

Felix zuckte die Achseln. »Meine merkt das nicht.«

»Aber meine. Und Frau Thiemann sowieso. Die merkt doch immer alles.«

Corinna fing an zu schluchzen. Ich legte den Arm um ihre Schulter.

»Dann sagen wir eben, dass wir geholfen haben. Wir wollten das Feuer austreten. Wollten wir ja auch. Ist nicht mal gelogen.« Felix sah mich triumphierend an. »Gib’s zu, das ist genial.«

»Und wenn sie fragt, wer das Feuer angesteckt hat?«, schluchzte Corinna. »Meine Mutter fragt das.«

»Glasscherbe«, sagte Felix. »Passiert doch jeden Tag. Wirkt wie ein Brennglas bei der Hitze. Die Sonne scheint drauf und schon brennt alles.« Er streckte Corinna und mir die Hand entgegen. »Abgemacht?«

»Abgemacht«, sagten wir und schlugen ein.

2

Donnerwetter«, sagt Lukas Trietsch.