Rauchschiffe
Copyright: © 2015 Thomas Giehl
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I
Das kurze Gewitter hatte sich verzogen. Der warme Südwind blies die letzten dunklen Wolken gen Norden. Die Abendsonne tauchte die alte Römerstadt Colonia Agrippina in ein fahles rotes Licht. Eine Gruppe von Saatkrähen flog hoch über der Stadt Richtung Süden. Im Osten konnten sie die ersten Feuer auf den vereinzelten Höfen der Germanensiedlungen erblicken. Im Westen verebbte das geschäftige Treiben auf den Straßen der römischen Provinz nach und nach. Die Krähen setzten unter zänkischem Gekreische zum Landeanflug auf einer Mole an einem kleinen Flüsschen an.
Die letzten Sonnenstrahlen spiegelten sich im hohen Wasser der Avisa. Sie erhellten das tief gegerbte Gesicht von Lucius Cassianus Secundus. Die Hektik und Anstrengung der vorangegangenen Wochen fiel langsam von ihm ab. Er genoss die Ruhe und Wärme eines der ersten Frühlingsabende des Jahres alleine am Ufer der Avisa. Er atmete durch und legte sich die Befehle für den morgigen Tag zurecht, bevor er zum Kastell zurückging. Das gute Wetter kam gerade recht, Verzögerungen im Ablauf hätten für alle Beteiligten unangenehm werden können. Bislang aber, schien alles wie am Schnürchen zu laufen. Die Legionen des Kaisers, die sich in Confluentes sammelten, meldeten sich vollzählig. Sie würden morgen nach Colonia Agrippina aufbrechen, um sich mit Kaiser Septimius Severus’ Gefolge zu vereinigen.
Septimius weilte bereits einige Tage in der Provinzhauptstadt. Zusammen mit ihm zahlreiche Statthalter aus Britannien und Gallien, die Versorgungskommandeure, der unvermeidliche Hofstaat und Unmengen von Händlern, die Gewinn aus einem Feldzug erhofften. Die Bevölkerung der Colonia Agrippina schien sich bereits verdoppelt zu haben, das Heer für die Britannienoffensive nicht einmal mit eingerechnet. Seit Wochen rollte Fuhrwerk um Fuhrwerk über die holprigen Straßen der Germania Inferior in Richtung Stadt. Die lang gezogenen Gräberfelder an den Hauptausfallstraßen verwandelten sich in eine riesige Vorstadt. Überall standen Zelte und eilig gezimmerte Holzhäuser. Inmitten der eleganten Grabbauten entstanden Marktflecken, Bordelle sowie zahlreiche Schankstuben.
Am Morgen hatte Lucius Cassianus eine kurze Abschlussbesprechung mit dem Statthalter der Germania Inferior im Hauptquartier der Rheinflotte abgehalten. Das Legionslager der Flotte lag rund zehn Leugen von seinem Kastell, direkt vor den Toren der Colonia Agrippina. An einem normalen Tag schaffte er die Strecke per Pferd gemütlich in zwei bis drei Stunden. Heute hatte sich der Weg in einen wahren Albtraum verwandelt. Wagen um Wagen drängte über die verstopfte Straße Richtung Norden. Zwar hatte Lucius vor Wochen die Anweisung gegeben, die gesamte Straßenbreite für den Verkehr in Richtung Agrippina freizugeben, Ochsenkarren rechts und Pferdegespannte links, die Tafeln jedoch, die seine Benefiziarier-Garnison ein Vermögen gekostet hatten, lagen im Straßengraben oder wurden nicht beachtet. Dass alles resultierte in einem Wirrwarr aus Karren, Tieren und Menschen. Die wenigen Männer, die Lucius noch zur Verfügung hatte, wurden an den wichtigsten Straßenkreuzungen postiert, um zumindest den totalen Kollaps zu verhindern.
Lucius Cassianus, der gemächlich zum Kastell zurückschlenderte, hatte all dies hinter sich gelassen. Er genoss die Ruhe und freute sich, die Familie endlich vereint wiederzusehen. Seine geliebte Frau Ebrunia werkelte die letzten Tage in der Villa an den Vorbereitungen zu den Terminalien des Februars. Es wurde gebacken, gescheuert, der über den Winter vernachlässigte Garten instand gesetzt und die ehrwürdige Villa Rustica zu einem Schmuckstück hergerichtet.
Die Februar-Terminalien waren seit Urzeiten das Familienfest der Cassiani. Wenn man Lucius fragte, bereits seit 961 Jahren, seit der Gründung Roms. Die Terminalien waren insofern ein guter Termin, da es der Zeitpunkt war, an dem ein Schaltmonat oder ein paar Schalttage hinzugefügt wurden. Dies führte im günstigsten Fall dazu, dass man das Fest um einige Tage verlängern konnte, ohne seine Pflichten zu vernachlässigen.
In diesem Jahr würden die Feierlichkeiten jedoch etwas kleiner als sonst ausfallen müssen. Der Kaiser hatte Vorrang und Lucius alle Hände voll zu tun. Als Präfekt der Benefiziarier-Kohorte der Germania Inferior oblag ihm die Sicherheit des Straßenwesens in der gesamten Provinz. Die sonst eher geruhsame Aufgabe, Dieben und Räubern nachzustellen sowie Handgreiflichkeiten in den Raststätten zu schlichten, wandelte sich zu einer wahren Herkulesmission, seitdem klar war, dass Septimius Severus und sein Sohn Caracalla einen umfassenden Britannien-Feldzug starten würden. Die Germania Inferior war als Sammelplatz für ihren Heerzug auserkoren worden. Was per kaiserlichem Dekret mit einem Wort entschieden wurde, bedeutete für die jeweilige Provinz eine monumentale Herausforderung.
In den letzten Monaten hatte Lucius eine logistische Meisterleistung vollbracht. Der Präfekt hatte die Legaten der beteiligten Legionen davon überzeugt, das Heer erst in Confluentes zu sammeln, um es dann nach Colonia Agrippina einzuschiffen. Lucius Cassianus plante persönlich die temporäre Vorstadt, für den heerbegleitenden Tross, rund um Colonia Agrippina und er kümmerte sich um den Verkehr, der bis vor Tagen langsam aber kontinuierlich floss.
All dies funktioniere so reibungslos, dass dem Kaiser diese Leistung nicht entging. Er ließ Lucius seine ausdrückliche Anerkennung übermitteln. Lucius freute sich über die persönliche Botschaft des Herrschers und der Stolz erfüllte warm seine Adern. Viel mehr freute er sich jedoch darüber, dass der Feldzug ihm die Möglichkeit gab, seine Familie wiederzusehen. Sein ältester Sohn Gaius diente als Prätorianeroffizier in der kaiserlichen Garde. Der Jüngere, Varius, durchlief den Cursus Honorum, war Quästor in Rom und begleitete den Heerzug im Auftrag des Senats.
Nachdem Lucius ins Kastell getreten war, versank der letzte Sonnenstrahl am Horizont. Nun musste er sich beeilen, wenn er nicht Ärger mit Ebrunia bekommen wollte.
Lucius Cassianus Secundus ging in die Schreibstube im oberen Stockwerk, gab dem diensthabenden Decurio die letzten Anweisungen des Tages und warf sich den schweren roten Uniformmantel um. Normalerweise ging er die knappe Leuge zu seiner Villa am Osthang der Avisa zu Fuß, um den Tag noch einmal an sich vorüberziehen zu lassen. Heute jedoch schnappte er sich ein Pferd aus den Ställen, schlug lustvoll die Fersen in die Flanken des Rappen und jagte nach Hause.
Nach Minuten des Galopps stand er vor dem großen eisengeschmiedeten Tore zu seinem Anwesen. Helios, der junge griechische Sklave, der erst einige Monaten bei ihnen weilte, öffnete das Tor und sprintete über den schneeweißen Kies zum Haupthaus, um der Domina Bescheid zu geben.
Lucius spürte einen Anflug von Ärger, da er absitzen musste, um das Tor selber zu schließen. Er nahm sich vor, Helios eine Standpauke zu halten, wurde aber mit dem Lächeln seiner Frau versöhnt, die auf ihn zugelaufen kam.
»Es gibt Neuigkeiten, Lucius.«
»Das sieht man dir an, Liebste«, antworte er mit tiefer ruhiger Stimme und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Komm rein, Mann! Gaius soll es dir selbst erzählen.«
Lucius nahm den Mantel sowie seinen Brustharnisch im Gehen ab, legte beides auf die Anrichte im Durchgangsflur und schritt an den Empfangsräumen vorbei Richtung Küche. Die Kochstube des Hauses bildete seit jeher das Herz der Villa Cassiani. Wollte man die Herren des Hauses treffen, hatte man hier die besten Chancen.
Beinahe hätte er Helios umgelaufen, der ihm aus der Küche entgegengestürmt kam. »Darf ich deinen Gladius reinigen, Herr?
Biiittteee!«
»Du weißt«, entgegnete der Benefiziarier-Präfekt, »ein Soldat reinigt seinen Gladius immer selber. Das Schwert ist die Seele des Soldaten!«
»Dann wenigstens den Pugio«, quengelte Helios.
Ohne zu antworten, schritt Lucius in die Küche. Sein sowieso schon faltiges Gesicht verwandelte sich in eine freundliche Mondsichel mit zwei großen Krähenfüßen, nachdem er seine Kinder am Küchentisch beisammensitzen sah. »Gaius, Varius und Cassia, habt ihr nichts Besseres zu tun, als das Gesinde mit euren Geschichten zu unterhalten?« Bei der ersten Silbe, die Lucius sprach, drehten sich alle Anwesenden im Raum gleichzeitig um.
Cassia sprang als Erste auf und umarmte ihren Vater. Seit ihrer Heirat wohnte sie in der Ulpia Traiana. Sie war trotzdem das Nesthäkchen geblieben und verweilte in der elterlichen Villa, so oft es ihre Zeit zuließ.
Auch Varius umarmte seinen Vater herzlich, der sich sichtlich freute, seinen jüngsten Sohn nach langer Zeit wiederzusehen. Die Toga saß dem jungen Mann etwas zu weit und nahm dadurch ein wenig die Förmlichkeit, die sie ausstrahlen sollte.
»Muss der feine Herr Quästor das jetzt immer tragen?«, fragte Lucius lachend.
Varius wurde leicht rot und schüttelte den Kopf. »Ich bin vor einer halben Stunde aus Tolbiacum gekommen.«
»Aus Tolbiacum?«, sah ihn der Vater fragend an. »Ich dachte, man hätte den Hofstaat des Senats in der Villa Rustica des Statthalters untergebracht?«
»Dachten wir auch. Nachdem wir auspacken wollten, eröffnete man uns, dass Cæsar Caracalla sich mit dem Kaiser gestritten hätte und vorerst ein Plätzchen außerhalb der Colonia bevorzuge.«
»Und das Söhnchen benötigt die riesige Villa des Statthalters für sich alleine, nehme ich an? Ich könnte dort spielend dreihundert Soldaten unterbringen«, sagte Lucius zerknirscht. »Die Reise nach Tolbiacum und zurück war sicher auch kein Honigschlecken.«
»Wem sagst du das? Wer war noch mal für den Verkehr zuständig?«, bemerkte Varius grinsend.
In jenem Moment trat Gaius vor und reichte seinem Vater den Arm zur Begrüßung. Lucius nahm diesen und zog seinen ältesten Jungen ganz zu sich heran.
»Vater, ich komme Heim!«
»Du bist schon zu Hause!«, entgegnete der Dominus lächelnd.
»Nein, ich meine, ich ziehe zurück in die Colonia Agrippina.«
Nachdenklich nahm Lucius einen Schemel, um sich zu den anderen am großen viereckigen Holztisch zu gesellen. Er schenkte einen ordentlichen Becher Wein ein und schüttete aus reiner Etikette eine Winzigkeit Wasser hinzu.
Von hinten fragte Ebrunia, nicht ohne eine gewisse Euphorie durchklingen zu lassen: »Und, was sagst du?«
Die Antwort des Vaters nicht abwartend, legte Gaius seinen Plan dar. Er erklärte, wie ihm ein Vertrauter des Cæsars hatte zu Ohren kommen lassen, dass Caracalla gerne eine vertrauenswürdige Person in der Position des Prätorianer-Präfekten in der Germania Inferior sehen würde. Die Provinz besaß eine zu hohe Wichtigkeit, darum würde er gerne Leute, denen er vertraute, in den jeweiligen Schlüsselpositionen sehen.
»Du sollst künftig für Caracalla schnüffeln?«
»Für mich ist es die Gelegenheit, zurück an den Rhenus zu kommen. Trotzdem kann ich meine Karriere voranbringen.«
Lucius bohrte weiter nach: »Severus hat den Statthalter doch erst im letzten Jahr eingesetzt. Gibt es Zweifel an seiner Loyalität?«
»Sagen wir so, Vater: Cæsar Caracalla weilte im letzten Jahr auffallend häufig in der Colonia Agrippina. Über das Verhältnis zu seinem Vater brauche ich wohl nichts weiter zu sagen, das dürfte sich selbst bis hierhin herumgesprochen haben. Um es auf den Punkt zu bringen: Marcus Tullius ist nicht der Prätorianer-Präfekt, der das Vertrauen aller Mitglieder der kaiserlichen Familie besitzt.«
Vom festen Willen beseelt, sich nicht den Abend verderben zu lassen, schloss Lucius die Diskussion. »Lass es gut sein. Ich freue mich jedenfalls, wenn du künftig wieder im Lande bist.« Er stürzte noch schnell seinen Becher Wein hinunter und bat die versammelte Familie zu Tisch.
Der Speisesaal war festlich erleuchtet und duftete nach frisch gebratenem Wildschwein mit Äpfeln. Eines der Wandgemälde stellte passenderweise eine Wildschweinjagd dar. In der Mitte des Bildes sah man den Hausherrn hoch zu Ross, mit einem Speer im Anschlag, bereit einen kapitalen Keiler zu erlegen. Auf einem ausladend geschwungenen Ast sitzend, nur einem Hauch von Stoff mit ein bisschen Leder bekleidet, thronte Diane, die Göttin der Jagd und wachte über der Szene.
Lucius schmunzelte, während er auf die Wand schaute. Die Realität stellte sich in diesem Falle profaner dar: In der letzten Woche, nach einem Routinebesuch in der Aquae Granni, hatte sich Lucius mit einem kleinem Trupp Benefiziarier tief im Wald der Arduenna befunden, als sie von einem hungrigen Rudel Wölfe aufgeschreckt wurden. Glücklicherweise sahen es die Raubtiere nicht auf ihre Pferde ab, sondern verfolgen einen kapitalen Keiler über den Weg hoch zu einer nur mit Gras bewachsenen Kuppe. Die Männer zogen die Waffen und stieben hinterher. Nachdem sie die Lichtung erreicht hatten, machten sich die Wölfe, beeindruckt vom blitzenden Stahl der Schwerter, rasch aus dem Staub. Sie brauchten den frischen Wildschweinkadaver nur noch aufzuladen.
Dem Braten merkte man davon nun nichts an. Er mundete der Familie hervorragend und der weitere Abend gestaltete sich ganz nach den Vorstellungen des Patriarchen. Es wurde viel gelacht und die merkwürdigsten Geschichten ausgetauscht. Zu späterer Stunde bat man den Hausverwalter Marcus Gavius, einem gestandenen Veteranen aus den Feldzügen zu Zeiten des Commodus, und dessen Frau Mathilda mit an den Tisch.
Wie bei den Cassiani so üblich, ging der letzte Becher Wein an die Sklaven und Angestellten, bevor sie sich zur Nachtruhe betteten.
II
Der Morgen des 23. Februar war mild und viel zu warm für die Jahreszeit. Es ging ein leichter Südwind. Hinter der Hügelkette, dort wo die Wohlhabenden der Colonia Agrippina ihre weit ausladenden Villen besaßen, blinzelte bereits die Sonne hinter dem Rhenus.
Septimius Severus hatte angeordnet, die Überfahrt der Heere in einem Rutsch zu vollziehen. Aberhunderte Schiffe waren aus dem ganzen Reich an den Rhenus beordert worden und lagen nun hintereinander aufgereiht, wie eine prachtvolle Perlenkette am Ufer der Stadt. Der Schiffswurm zog sich vom Flottenlager im Süden bis zum nächsten Vicus nördlich der Colonia Agrippina hin. Die Legionen sollten am Morgen südlich des Flottenlagers mit den Schiffen der Rhenus-Flotte anlanden und kohortenweise zum großen Circus der Stadt im Norden marschieren. Hier wollte der Kaiser am Mittag ein Opfer darbringen und die Truppen auf den bevorstehenden Feldzug einschwören.
Lucius Cassianus hatte den Ablauf des Einschiffens nach Britannien minutiös geplant. Jeder Ausgang des Circus wurde auf eine andere Straße in der Colonia Agrippina geleitet. Die Wege vom Circus bis zu den jeweiligen Schiffen waren mit verschieden farbigen Bändern und Zahlen ausstaffiert. Jeder Mitreisende, ob Soldat oder Händler, bekam beim Einlass in den Circus ein Band mit der entsprechenden Farbe und Zahl um das Handgelenk gebunden. Nach Beendigung der Veranstaltung brauchte jeder nur dem entsprechend markierten Pfad zu folgen und kam so auf dem schnellsten Weg zu seinem Schiff.
In der Villa Cassiana duftete es nach Gewürzwein und frischem Brot. Varius hatte den Hof vor Sonnenaufgang verlassen, um die Senatsabordnung frühmorgens in die Colonia Agrippina zu begleiten. Helios, der die Tafel decken sollte, wärmte sich an der Wand, hinter der die heiße Heizungsluft aufstieg. Als Gaius den Raum betrat, schreckte der junge Grieche hoch. Gaius schlug ihm ohne Vorwarnung mit der flachen Hand kräftig auf den Kopf. Die Tränen aus Stolz unterdrückend, verfluchte er zum ersten Mal den Umstand, dass sein Vater ihn für sieben Jahre an die Casssiani verkauft hatte. Helios rückte verschämt das rot glänzende Geschirr zurecht und schlich in die Küche.
Gaius trug seine prächtige Prätorianer-Paradeuniform. Die blaue Tunika und der mit strahlend polierten Messingbeschlägen verzierte Lederwams unterstrichen seine imposante Gestalt. Ihm war es immer ein Dorn im Auge gewesen, wie leger sein Vater mit den Angestellten und Sklaven umging. Das war in Gaius Augen eines Vertreters des Adelstandes nicht würdig. Wenn die Oberschicht sich mit dem Plebs verbrüdert, ging jeglicher Führungsanspruch auf Dauer den Bach hinunter.
Ebrunia und Cassia betraten unter lautem Gekicher den Speiseraum. Gaius begrüßte die Mutter höflich und nickte seiner Schwester kurz zu. Die beiden Frauen tauschten einen kurzen Blick aus. Sie ließen sich daraufhin auf der Liege direkt an der Heizungswand nieder. Helios balancierte derweil zwei Silbertabletts mit Köstlichkeiten zur Mitte des Raumes und platzierte die Speisen kunstvoll auf dem Tisch.
Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis Lucius Cassianus endlich geruhte, der Gesellschaft beizuwohnen. »Ich möchte mit euch den Ablauf der nächsten Tage besprechen«, begann er ohne morgendliche Begrüßungsfloskeln und setzte sich auf die Liege am Kopfende des Karrees. »Nach dem Frühstück reite ich zum Kastell und werde mit meinen Tribunen aus Bonna, Belgica und der Ulpia Traiana eine Lagebesprechung halten. Direkt danach komme ich zu dir, liebe Ebrunia, und hole dich mit Cassia ab, um euch im Reisewagen in die Colonia Agrippina zu begleiten. Über deine Verpflichtungen hast du dich ja nicht ausgelassen, Gaius«, richtete Lucius die versteckte Frage an seinen ältesten Sohn.
Es war Lucius Cassianus anzumerken, dass er es noch nicht verdaut hatte, dass sein Sohn zum kaiserlichen Spitzel werden würde. Lucius hatte einige Ämter in Rom und Ägypten durchlaufen. Für ihn waren Loyalität und Ehrlichkeit gegenüber einem Vorgesetzten die Grundfesten der römischen Herrschaft. Es schien, als bröckelten diese Werte hin zu reiner Nomenklatur. Lucius, der unter Marcus Aurelius gedient hatte, kam sich heutzutage vor wie in einer anderen Welt. Normalerweise versuchte er nicht viel über Politik nachzudenken und sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren. Gelegentlich holte ihn das Gefühl ein, dass es mit dem Römischen Reich langsam aber stetig bergab ging.
»Ich melde mich am Mittag bei Cæsar Caracalla. Dort werde ich weitere Befehle erhalten«, sagte Gaius.
»Ich nehme an, du wirst beim Empfang des Kaisers heute Abend zugegen sein?«
»Nehme ich auch an, Vater. Wenn du erlaubst, breche ich sofort auf.«
Lucius Cassianus nickte. Gaius nahm ein Stück Brot und verließ umgehend den Raum.
Ebrunia warf Lucius einen strengen Blick zu. »Ich hatte mir das Wiedersehen anders vorgestellt, werter Gatte! Eure letzte Begegnung ist so lange her, aber der Zwist ist noch frisch wie der junge Morgen.«
Lucius Cassianus zog es vor nicht darauf zu antworten und nahm sich stattdessen ein paar Eier vom Tablett. Er wandte den Kopf zu Cassia. Die erklärte sich solidarisch mit ihrer Mutter und senkte ihren Blick. Viele Worte wurden an diesem Morgen nicht mehr gewechselt.
***
»Meine Herren«, sagte Lucius Cassianus, ohne die Augen von dem morgendlichen Bericht zu nehmen, »es kann nicht sein, dass meine Offiziere sich um jede kleine Schlägerei in den Schankstuben kümmern, die wichtigen Dinge aber außer Acht gelassen werden! Gestern Morgen wurde ein Tross mit Versorgungsbeamten an der Via Belgica direkt vor den Toren unserer Straßenstation überfallen und ausgeraubt. Ich finde das in diesem Bericht nur beiläufig erwähnt! Gibt es vielleicht sonst noch etwas, was ich eventuell wissen sollte?«
»Ähm, ja Herr«, säuselte der Tribun aus Bonna etwas verschämt, »heute Nacht setzte eine kleine Gruppe germanischer Krieger, circa ein Dutzend, am Legionskastell zwischen Bonna und der Colonia Agrippina über, wie der dortige Kommandant mir mitteilte.«
»Germanen«, entgegnete Lucius Cassianus nachdenklich. »Am Rhenus gibt es so viele Soldaten wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Warum sollten ausgerechnet jetzt Germanen übersetzen? Außerdem«, sein Ton wurde jetzt zunehmend ärgerlicher, »wieso nimmt der wachhabende Zenturio das einfach so hin? Hat er irgendetwas unternommen?«
»Er schickte noch vor Sonnenaufgang einen Reiter, der mich davon unterrichtete«, sagte der Tribun, dessen Unsicherheit in der Stimme mitschwang. »Auf dem Wege hierhin sprach ich kurz mit dem zuständigen Zenturio. Wir beide vertreten die Meinung, dass die Germanen keine Gefahr darstellen. Eine Einheit, die dem Vorfall nachging berichtete, dass sie auf Pferden nach Westen weiterzogen. Bestimmt nichts, was uns zu beunruhigen sollte, Herr.«
Lucius Cassianus schlug unvermittelt mit der Faust auf die aus schweren Eichenbohlen gefertigte Tischplatte. Der bronzene Wasserkrug in der Mitte des Tischs schwankte bedrohlich, fiel aber nicht um. »Bestimmt nichts, was uns zu beunruhigen hätte, Herr«, äffte er den Tribun nach. »In der Germania Inferior tummeln sich zurzeit die höchsten Würdenträger des Reiches. Glaubst du etwa, die fetten Liktoren der Senatoren könnten es mit einer Gruppe germanischer Krieger aufnehmen?«
»Nun mal den Teufel nicht an die Wand, Präfekt«, entgegnete der Tribun schuldbewusst. »Unsere Benefiziarier sind äußerst wachsam. Die zusätzlichen Patrouillen, die die erste Legion aus Bonna auf dein Geheiß kreuz und quer durchs Land schickt, sind auch nicht ohne.«
Lucius nickte und atmete tief durch, sodass sein Pulsschlag sich etwas verringerte. Im Grunde hatte der Tribun recht. Ein Dutzend unzivilisierter Germanen stellte wohl kaum eine Gefahr für die Sicherheit dar. »Dennoch«, sagte er nun wieder ruhiger, »bitte behaltet das Thema wachsam im Auge. Ich möchte, dass unverzüglich ein Trupp aufbricht, um diese Germanen aufzuspüren. Wir können uns zurzeit keine Nebenkriegsschauplätze erlauben! Außerdem, so kommt mir gerade in den Sinn«, Lucius Cassianus rieb sich dabei nachdenklich das Kinn, »müssen sie mit Sicherheit Komplizen gehabt haben, denn ein Dutzend Pferde fallen wohl kaum vom Himmel!«
»Jawoll, Präfekt! Ich werde mich persönlich um die Sache kümmern.« Der Tribun verließ daraufhin umgehend den Besprechungsraum, um alles Nötige zu veranlassen.
Während Lucius die Mannschaftseinteilung besprach, hörte man das Hufgetrappel des sich entfernenden Trupps.
Varius war wirklich spät dran. Obwohl er vor Sonnenaufgang das Haus verlassen hatte, um etwaigen Verkehr zu entgehen, nahm der Weg nach Tolbiacum kein Ende. Er schonte weder das Reittier noch sich selbst, um rechtzeitig zu den Senatoren zu stoßen. Die ungewöhnliche Wärme des Morgens sowie die unpraktische Reitkleidung – er trug die etwas zu groß geratene Quästoren-Toga – ließen den Schweiß an seinem Köper herunterrinnen.
Er hielt auf halbem Wege an und band das Pferd unweit eines Hohlweges an einem Baum. Er wollte sich der Toga entledigen, da er am Nachmittag nicht stinkend wie die Cloaca Maxima vor den Kaiser treten mochte. Als er das schwere Leinentuch aufrollte, hörte er gedämpfte Stimmen an sein Ohr dringen. Er schaute den Weg hinauf, sah aber nichts. Trotz des Zeitdrucks setzte sich die Neugierde durch. Er kletterte, so leise er konnte, die zehn Fuß an der rechten Flanke des Hohlweges hinauf und lugte vorsichtig über die Kuppe.
Etwa weitere zwanzig Schritte entfernt machte er schemenhaft mehrere Männer im Unterholz eines kleinen Wäldchens aus. Varius verharrte und beobachtete das Geschehen aufmerksam. Gedämpft drängten die Stimmen der Männer zu ihm. Bei Jupiter, dachte er, Sigamber!
Varius erkannte den sigambischen Germanendialekt. In seiner Kindheit hatte er viel Zeit mit Sigihold verbracht, dem Sohn der germanischen Sklaven auf dem Hof seines Vaters, der ihn auch einige Worte seiner Sprache lehrte. Varius merkte, wie sein Körper vor Aufregung zitterte. Er erblickte neun Männer und zwölf Pferde, die am Rand des Wäldchens angebunden waren. Er atmete flach und verfolgte gebannt, was dort oben vorging. Ein großer Blonder mit in untypischer Weise kurz geschorenen Haaren schien ihr Anführer zu sein. Zwar konnte Varius keines ihrer geflüsterten Worte verstehen, die ausladende Gestik wies den Hünen jedoch zweifelsohne als Kopf der Horde aus. – Eine Gruppe Germanen an einem Hohlweg auf der Via Agrippa. Nach einem gepflegten Männerausflug sah das wahrlich nicht aus.
Vorsichtig kletterte Varius herunter, band das Pferd los und führte es ein paar Hundert Schritte von der Straße und dem Germanentrupp weg. Nachdem er sicher sein konnte außer Hörweite zu sein, schwang er sich in den Sattel und preschte quer über die Felder Richtung Tolbiacum.
Die Herberge mit der Senatsabordnung ließ er links liegen und hielt direkt auf den Benefiziarier-Posten vor dem Stadttor zu. »Mein Name …«, Varius bekam kaum Luft, als er vor dem Soldaten stand, »mein Name ist Var…«
»Ich weiß, wer du bist Varius Cassianus Secundus«, unterbrach ihn der Soldat, »Zweitgeborener des Lucius Cassianus, unseres Kommandanten.«
»Ja, gut«, stammelte Varius, »unten am Hohlweg liegt eine Horde Sigamber im Unterholz. Ich fürchte, die führen nichts Gutes im Schilde.«
Der Soldat zog die Augenbrauen nach unten und lachte. »Germanen? Wie viele Tausende sind es denn? Eine Invasion?« Sichtlich amüsiert über den eigenen Witz sah er Varius mitleidig an.
Der starrte mit unverändert starrer Miene auf den Benefiziarier.
»Du weißt«, meinte der Soldat nun etwas ernster, »dass zurzeit mehr Truppen am Rhenus sind als Flöhe auf den Köpfen aller Germanen zusammen?«
Unbeeindruckt setzte Varius die Schilderung fort: »Zwölf Mann. Sie lagern direkt in dem kleinen Wäldchen oberhalb des Hohlweges. Schick sofort eine Zenturie los, um sie gefangen zu nehmen!«
»Also hör mal Junge …« Kaum hatte der Wachsoldat die Worte ausgesprochen, er mag gerade einmal ein paar Jahre älter als Varius gewesen sein, wurde ihm klar, dass Junge bei einem Vertreter des höheren Standes vollkommen unangemessen war. »Also, junger Herr«, fuhr er fort, »selbst wenn dort drüben die komplette auferstandene Armee des Arminius stünde, viel tun kann ich nicht. Wir sind hier zu zweit. Die anderen weilen in der Colonia Agrippina oder sind gerade damit beschäftigt, Fuhrwerken den Weg zu weisen.«
»Hör mir genau zu, Optio.« Varius sprach ihn förmlich mit dem Rang an. »Ich bekleide das Amt eines Quästors in Rom und bin mit einer Abordnung des römischen Senats hier, um am Feldzug unseres Imperators teilzunehmen. Die Senatoren werden noch in dieser Stunde mit ihrem Tross nach Colonia Agrippina aufbrechen. Wenn du nicht den Rest deines Lebens mit dem Schwamm die Cloaca Maxima schrubben willst, rate ich dir, aktiv zu werden.«
Dem Optio war jeglicher Humor aus dem Gesicht gewichen und man sah ihm an, wie verzweifelt er nach einer Lösung suchte. »Du sagtest Herberge, Quästor? Die unten, eine halbe Leuge von hier entfernt, an einem Flüsschen direkt neben der Straße des Agrippa?«
Varius nickte.
»Dort treiben sich oftmals Schläger und Tunichtgute rum. Wir könnten einige von ihnen zwangsrekrutieren und euch als Geleitschutz zur Verfügung stellen.«
Varius verzog das Gesicht. Die Vorstellung, dass ein Haufen Tagelöhner und Raufbolde die ehrenwerte Senatsabordnung begleiten und gegebenenfalls mit ihrem Leben verteidigen sollte, war ihm höchst zuwider. Es schien jedoch, als wäre dies die einzige Alternative. Er wies den Optio an, den anderen Wachsoldaten sofort zum Hauptquartier der Benefiziarier zu schicken, um Meldung zu erstatten. Leider war der Posten nur mit einem einzigen Kurierpferd ausgestattet, sodass Varius und der Optio sich seinen Rappen teilen mussten und gemeinsam Richtung Herberge ritten.
III
Ebrunias und Cassias Reisewagen hatte die Anhöhe erreicht, die einen wundervollen Blick auf die Colonia Agrippina gestattete, als Lucius Cassianus und sein Adjutant Publius zum Wagen aufschlossen.
»Du bist spät dran Lucius«, rief Ebrunia, halb aus dem Fenster des Reisewagens gelehnt.
»Es gibt einige Komplikationen, die meine Aufmerksamkeit erfordern, Liebste.« Lucius Cassianus beugte sich aus dem Sattel herunter, um seiner Frau einen Kuss auf die Wange zu hauchen. »Nichts Schlimmes hoffe ich«, schrie sie, um das Gepolter des Wagens zu übertönen.
»Nichts, was wir nicht in den Griff bekommen werden. Ich muss noch mal zur Villa des Statthalters und hole euch dann noch vor den Stadttoren wieder ein. Zur Sicherheit wird Publius euch begleiten.«
Publius Loreius, direkt neben dem Präfekten reitend, verzog keine Miene. Dennoch fluchte er innerlich über die Aussicht, alleine mit den Damen im Schneckentempo Richtung Colonia Agrippina zu reisen. Er überlegte kurz, das Pferd an den Wagen zu binden, um sich zum Kutscher zu gesellen, sobald der Präfekt außer Sichtweite war, verwarf den Gedanken aber umgehend und entschied sich, hinter der Kutsche herzureiten. Er bestätigte den Befehl des Vorgesetzten mir einem knappen »Ja, Herr.«
»Lass dir nicht zu viel Zeit, Liebster«, schrie Ebrunia ihrem Mann hinterher, der bereits auf einen Waldweg einschwenkte und dem Pferd die Sporen gab.
Lucius Besorgnis war deutlich größer, als er vorgab. Ein Trupp umherstreifender Germanen, in einer Provinz voller hochrangiger Würdenträger, war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Er wollte unbedingt mit Dictus, dem Verwalter der Villa des Statthalters sprechen. Erstens wusste Dictus um jedes Gerücht, welches durch die Provinz waberte, und zweitens beaufsichtige er die Stallungen des Statthalters. Die Pferde, die jemand den Germanen bereitgestellt hatte, kamen schließlich irgendwo her.
Die repräsentative Villa Rustica des Statthalters lag auf einem Hügel der Bergkette, die der Colonia Agrippina vorgelagert war. Die Ausmaße des Komplexes gestalteten sich riesig und konnten jedem Vicus im Umkreis Konkurrenz machen. Von hier hatte man einen prächtigen Blick auf die Provinzhauptstadt und das weite Umland. Deutlich sah man Hunderte von Rauchfahnen, die von der provisorischen Vorstadt kerzengerade gen Himmel stiegen.
Lucius hielt sein Pferd ein paar Schritte vor den beiden römischen Prätorianern an, die am schmiedeeisernen und reich verzierten Eingangstor wachten. »Präfekt Lucius Cassianus Secundus der Benefiziarier-Kohorte der Germania Inferior, wünscht den Verwalter Dictus zu sprechen.«
Der Prätorianer stand schweigend und mit steinernem Gesichtsausdruck da und schaute starr auf den Präfekten. Lucius hielt dem Blick einen Augenblick stand. Der Prätorianer drehte seinen Kopf zu der zweiten Wache und deutete mit einem kurzen Nicken an, den Präfekten durchzulassen.
Vom Tor bis zum Haupthaus der Villa lagen ungefähr 500 Schritte. Normalerweise schmückte ein gepflegter Ziergarten das Areal, kurz geschorenes Gras und kunstvoll geschnittene Büsche säumten den Weg. Von alledem war nichts mehr zu sehen, denn auf dem Rasen campierten vier Zenturien der Prätorianergarde. Zu allem Überfluss hatten sie noch einen Verteidigungsgraben um ihre Zeltreihen ausgehoben. Es würde Monate dauern, das Gelände wieder instand zu setzten.
Kurz vor dem Hauptgebäude bog Lucius zum Haus und den Werkstätten des Verwalters Dictus ab. Er band das Pferd an einen Apfelbaum, der noch einige gelbe Früchte des Vorjahres trug. »Lucius Cassianus, es wird aber auch Zeit, dass du auftauchst. Schau nur, was dieses …«, und Dictus sprach merklich leiser, »verzogene Söhnchen Cæsar Caracalla aus meiner wunderschönen Villa macht.«
»Wir waren auf einige Senatoren eingerichtet und wollten ihnen eine gepflegte Heimstätte bieten, bevor der Herr Thronfolger samt Privatarmee einfiel.«
»Lucius, du musst dem ein Ende bereiten.«
»Ich fürchte, die Hände sind mir genauso gebunden wie deine.« Lucius Cassianus ergriff Dictus’ Arm zur Begrüßung. »Ich stelle dir gerne ein paar Männer zum Aufräumen zur Verfügung, wenn die Horden abgezogen sind.«
»Ähm, danke.« Dictus war etwas enttäuscht, bat aber dennoch seinen Freund ins Haus. »Komm, trink erst einmal einen heißen Becher Gewürzwein mit mir. Das gibt Kraft für den Tag. Ich denke, die wirst du heute brauchen.«
Lucius Cassianus kannte Dictus seit Jahrzehnten. Als sie sich kennenlernten, diente Dictus gerade in der Position eines Zenturios der zweiten Kohorte in der I. Legion Minerva und Lucius war sein Tribun. Der Zenturio hatte eine tadellose Laufbahn hinter sich. Er geriet kurz vor seiner Pensionierung, während einer Patrouille in den Bergen von Pannonien, in einen Hinterhalt. Zwei Zenturien wurden aufgerieben. Dictus entkam mit nur einer Handvoll Männern knapp dem Tod. Obwohl er bis zum Ende für seine Soldaten gekämpft hatte und vollkommen unschuldig in die Falle geriet, wollte der Legat der Legion ein Exempel statuieren. Er entließ Dictus unehrenhaft aus dem Militärdienst. In der Folge erhielt Dictus nicht eine Sesterze an Rentenzahlungen und stand mit einem Male vor dem Nichts. Lucius Cassianus verschaffte ihm daraufhin den Verwalterposten in der Villa des Statthalters.
»Lass mich direkt zur Sache kommen, Freund.« Der Präfekt schilderte die Vorfälle der vergangenen Nacht so detailliert wie möglich.
Nachdenklich folgte Dictus den Ausführungen seines Freundes. »Hmm«, sagte er mit ernster Miene. »Ich habe nichts über irgendwelche geplanten Überfälle oder sonstige Raubzüge gehört. Jenseits des Rhenus ist es auffällig still. Soweit ich weiß, plant der Kaiser ein Abkommen mit den Sigambern, um während seines Feldzugs die Rheingrenze nicht zu gefährden. Es sollen wohl einige Talente Gold und Waffen im Spiel sein.«
Lucius versuchte erfolglos eine Verbindung zu den Vorfällen der vergangenen Nacht herzustellen.
»Eines ist merkwürdig«, fuhr Dictus fort. »Gestern Mittag kam ein weiterer Trupp Prätorianer in der Villa an. Der befehlshabende Offizier, im Übrigen ein arroganter Bursche, stand vor mir und verlangte ein anderes Zimmer im Nebengebäude, da ihm die Wandmalereien nicht passten.«
»Ja und?«, entgegnete Lucius, mehr den eigenen Gedanken als Dictus Ausführungen folgend.
»Der Offizier trug Lederhosen und ein Langschwert, die Spatha.« Lucius, wieder voll bei der Sache, zog eine Augenbraue hoch. »Reiteruniform? Hat Caracalla sogar eine Reiterstaffel mitgebracht?«
»Man munkelt eine Ala bei Bonna. Hier habe ich keinen einzigen Gaul zu Gesicht bekommen. Ich befürchte, sie wollen sich an den Stallungen des Statthalters gütlich tun. Bis dato gab es aber keine Anfrage dieser Art und alle Tiere sind vollzählig.«
»Das macht doch keinen Sinn«, entgegnete Lucius. »Warum sollte ein Offizier in voller Reitermontur ohne Pferd hier erscheinen?«
»Es sei denn …«, wollte Dictus den Satz beenden, als Lucius die Hand hob und ihm Schweigen gebot.
»Nichts, es sei denn. Sei vorsichtig Dictus, du begibst dich auf dünnes Eis. Du weißt, welche Strafe auf Hochverrat steht. Es muss eine andere Erklärung geben. Vielleicht traten sie die Pferde an eine weitere Einheit ab oder der Cæsar hatte Lust auf Pferdebraten oder was weiß ich. Ich denke nicht, dass es eine Verbindung mit den Germanen von heute Nacht gab. Du tust gut daran, deine Spekulationen für dich zu behalten, Dictus. Es wird sich alles aufklären.«
Beide Männer sahen sich eine Weile schweigend an, bevor Lucius Cassianus die Villa des Statthalters verließ.
Am mittleren Glasfenster des Haupthauses stand unterdessen Cæsar Caracalla und beobachtete, wie Lucius durch den Garten Richtung Tor ritt. Caracallas Gesichtszüge hatten etwas Diabolisches an sich. Sein gedrungenes Gesicht und seine afrikanische Nase passten so gar nicht in das Bild eines edlen Römers. Wenn er lachte oder fluchte, konnte man meinen, er sei direkt dem Hades entstiegen. Trotz seines Äußeren steckten in dem jungen Thronfolger und Mitregenten jedoch ein sehr wacher Geist und ein außerordentliches Gespür für Bedrohungen.
»Wer ist das?«, fragte er seinen Sekretär, der neben dem großen Schreibtisch aus Zedernholz stand.
»Das ist der Präfekt der Benefiziarier-Kohorte dieser Provinz, Hoheit. Der Vater von Gaius Cassianus.«
»Finde heraus was er wollte!«, herrschte der junge Cæsar seinen Sekretär an.