Wuestengoetter_eCov.jpg

fs_Ebook_logo.psd

Autoren: Jens Lossau und Jens Schumacher

Lektorat: Kim Bührle und Oliver Hoffmann

Umschlaggestaltung und Satz: Oliver Graute

fslogo2005_SW.tif

© Feder&Schwert 2015

E-Book-Ausgabe 2015

ISBN 978-3-86762-226-4

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-86762-225-7

Die Wüstengötter ist ein Produkt der Feder&Schwert GmbH 2015.

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

www.feder-und-schwert.com

„Denn die Götter lehren uns ihr eigenstes Werk nachahmen; doch wissen wir nur, was wir tun, erkennen aber nicht, was wir nachahmen.“

– Johann Wolfgang von Goethe,

Wilhelm Meisters Wanderjahre

Prolog

Was lange schlief, muss wieder erweckt werden.

Die Stimme hallte so deutlich hinter Professor Corenjes Stirn wider, als stünde sein greiser Lehrmeister direkt neben ihm. Er hielt inne, den Blick auf die Spitze seines rechten Zeigefingers gerichtet, mit dem er soeben im Begriff gewesen war, eines der eingemeißelten Symbole zu berühren.

Mühelos erinnerte er sich an den Ursprung jener Worte. Es war ein Ausspruch, mit dem Meister Clottard vom Institut für Altertumsforschung in Nophelet über Jahrzehnte ganze Heerscharen von Studenten daran zu erinnern gepflegt hatte, worin ihre Pflicht später einmal bestünde: Dinge, die seit Jahrhunderten, manchmal Jahrtausenden in Vergessenheit geraten waren, wieder ans Tageslicht zu holen, sie aus ihrem Dämmerschlaf zu reißen und zurück ins Bewusstsein der Menschen zu heben.

Was lange schlief, muss wieder erweckt werden.

Corenje lächelte. Er wusste nicht, wie oft er diesen Satz während seiner Zeit an der Universität von Orthothep zu hören bekommen hatte. Mittlerweile war Meister Clottard längst tot, doch falls er seinen einstigen Schüler aus K’talmars Reich beobachtete, so war er mit Sicherheit stolz auf ihn. Denn in wenigen Augenblicken würde Corenje eines der am längsten schlummernden Geheimnisse ganz Lorgonias lüften.

Seine Fingerkuppe berührte das raue Mauerwerk. Behutsam, doch mit Nachdruck presste er seinen Finger auf den länglichen Schädel der dritten Figur des siebten Frieses, wie die uralte Inschrift in der Eingangshalle es vorschrieb. Mit einem leisen Knirschen gab der sonderbar geformte Kopf nach und versank in einer passgenauen Vertiefung. Ein nahezu unhörbares Klicken ertönte.

Corenje hielt den Atem an. Wenn er die Schriftzeichen korrekt entschlüsselt hatte, wäre er der erste Mensch, der seit mehr als drei Zyklen einen Fuß ins Innere des Grabmals setzte. Drei Jahre harter Arbeit würden sich schließlich auszahlen, die jahrtausendealte Frage nach Sinn und Zweck der mysteriösen Bauten würde endlich beantwortet. Eine derartige Entdeckung würde seinem Renommee als Wissenschaftler zu einem nie gekannten Höhenflug verhelfen, sein Name würde fürderhin in einem Atemzug mit den bedeutendsten Altertumsforschern Sdooms genannt werden – mit Koryphäen wie Meister Pirsson, der im fernen Enopacla das Rätsel um d’Cnat gelöst hatte, die älteste bekannte Sprache Lorgonias; mit Professor Dotleph, der die unterirdischen Türme der Drekkur in den Sümpfen Tribekas ausgegraben hatte; oder mit Meister Smannforth, dem Entdecker des Tempels von Zukcug.

Was lange schlief, muss wieder erweckt werden.

Voller Spannung hob der Professor die fast heruntergebrannte Pechfackel. Meister Pannwindt, der thaumaturgische Betreuer der kleinen Expedition, hatte zwar einen Glutglobulus in der Eingangshalle gewirkt, doch die Leuchtkugel schwebte gegenwärtig am anderen Ende des schlauchförmigen Raums. Corenje war nicht versiert, folglich vermochte er sie nicht von dort fortzubewegen.

Aus der Wand vor ihm drang ein dumpfes Schaben. Stein, der über Stein kratzte.

Corenje hielt den Atem an. Die Schatten in den Vertiefungen der fremdartigen Reliefs schienen im flackernden Licht der Fackel lebendig zu werden, wanden sich wie Würmer umeinander.

Unvermittelt fiel dem Professor eine schwarze Linie ins Auge, wo sich zuvor nichts als bräunlicher Stein befunden hatte. Waagerecht, schnurgerade, etwa drei Meter über dem Boden, ungefähr eineinhalb Meter breit. Der Spalt war rund zwei Finger dick … nein, drei Finger. Jetzt vier! Kein Zweifel: Ein fugenlos eingepasster Abschnitt der Wand versank vor seinen Augen vertikal im Boden.

Corenje hatte von ähnlichen Vorrichtungen in Tempeln jüngerer Kulturen gehört. Beim Bau der Anlagen wurden tonnenschwere, steinerne Portale auf sandgefüllte Reservoirs gebettet. Nach dem Auslösen eines bestimmten Mechanismus floss der Sand in tiefer gelegene Hohlräume ab, die Pforte senkte sich.

Der Spalt war jetzt breiter als ein Oberarm. Auf der anderen Seite herrschte undurchdringliche Schwärze.

Corenje konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte es tatsächlich geschafft. Er hatte den Zugang in eines der legendären Kegelgräber Yaget’pens entdeckt, und das, obwohl es nach menschlichem Ermessen gänzlich unwahrscheinlich anmutete, dass er überhaupt hier war.

Das letzte Mal, dass man einem ausländischen Wissenschaftler eine Forschungsreise in die Wüste Arât gestattet hatte, lag über 600 Jahre zurück. Im Jahre 2616 des Dritten Zyklus hatte die Regierung Yaget’pens einem ybraltischen Altertumsforscher namens Lerzipan erlaubt, eines der Kegelgräber zu untersuchen, jener weithin bekannten Nationalheiligtümer des Ostreiches. Um die Hintergründe für diesen ungewohnten Akt der Generosität rankten sich bis heute Gerüchte. Lerzipans Kollegen hatten seinerzeit vermutet, die damalige, als vielseitig interessiert geltende Herrscherin Yaget’pens, Kaiserin Tsyx, wäre eine Verehrerin von Lerzipans Fachpublikationen gewesen. Andere munkelten, die Monarchin hätte seit einem Besuch Lerzipans in Kôbai etwas ganz anderes verehrt und dem für einen Altertumsforscher ungewöhnlich virilen Ybralter deswegen die notwendige Erlaubnis erteilt. Fakt war, dass Lerzipan, als er nach vier Zeniten aus der Wüste zurückkehrte, keinen Zugang ins Innere der kolossalen Grabmale entdeckt hatte. Dafür rühmte er sich, erstmals eine sinnvolle Transkription der mysteriösen Bilderfriese der Eingangshalle verfertigt zu haben, jener Räumlichkeit, über die alle zwölf Kegelgräber verfügten und deren Name insofern blanker Hohn war, als die Hallen eben nicht ins Innere der Monumente führten, sondern lediglich prächtig ausgeschmückte Sackgassen waren.

Nach seiner Rückkehr hatte Lerzipan seine Ergebnisse in Kôbai der kaiserlichen Familie und der Öffentlichkeit präsentiert. Im Rahmen eines gut besuchten Vortrags beschäftigte er sich vorrangig mit einer besonders häufig wiederkehrenden Symbolgattung der Reliefs, den „Göttlichen Fürsten“ oder auch „Großen Uralten“ – Figuren, die ausnahmslos mit absonderlich lang gestrecktem Schädel dargestellt wurden. Laut Lerzipan resultierte diese physiognomische Entstellung aus einer endlosen Folge interfamiliären Geschlechtsverkehrs, die in den Bilderfolgen minutiös festgehalten seien, inklusive etlicher unzüchtiger Details, über die er sich ausführlich verbreitete.

Im Anschluss an diese aufsehenerregenden Enthüllungen hörte man längere Zeit nichts von Meister Lerzipan. Man nahm an, er verweile im Ostreich, um sich im Ruhm seiner Entdeckung zu sonnen. Mehrere Zenite darauf ging an der Universität von Elephatis, wo Lerzipan einen Lehrstuhl innehatte, eine kleine Packkiste aus Yaget’pen ein. Die Sendung enthielt Meister Lerzipans Kopf sowie seine sauber ausgelösten Testikel, die man ihm in den anschließend mit Garn vernähten Mund gestopft hatte.

Professor Corenje stieß bei der Erinnerung an dieses abschreckende Beispiel für die vorschnelle Publikation unbestätigter Forschungsergebnisse ein verächtliches Schnauben aus. Lerzipan war ein Narr gewesen, seine angebliche Transkription hatte sich im Nachhinein als hoffnungslos subjektive, von Erwartungen und Vorurteilen ihres Erzeugers gefärbte Interpretation herausgestellt.

Corenjes Eintrag in die Annalen der Altertumsforschung würde ungleich bedeutsamer ausfallen, so viel war bereits jetzt klar.

Der Spalt hatte sich mittlerweile zu einer Öffnung von nahezu anderthalb Metern Höhe verbreitert. Noch ragte der verbleibende Mauerrest zu weit empor, als dass der Professor hätte hoffen dürfen, seinen untersetzten, von Jahren sitzender Tätigkeit aufgedunsenen Körper hinüberzuhieven, und noch immer herrschte jenseits der sinkenden Barriere nichts als Schwärze.

Was lange schlief, muss wieder erweckt werden.

Ungeduldig verlagerte Corenje sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Die Fackel in seiner Hand würde es nicht mehr lange machen, aber er konnte jetzt unmöglich nach draußen laufen, um eine neue zu holen oder nach Meister Pannwindt zu suchen. Nicht auszudenken, wenn in der Zwischenzeit einer seiner Kollegen die Eingangshalle betreten und ihm seine Entdeckung streitig machen würde. Oder noch schlimmer: einer der stumpfsinnigen Kemalkartreiber, die die Forscher in der Funktion von Führern und Dienern begleiteten. Nein – er, Professor Corenje musste als Erster sehen, was sich hinter dem Durchgang verbarg. Er hatte nicht jahrelang geschuftet, um sich diesen Triumph in letzter Sekunde von einem anderen streitig machen zu lassen.

Seine Gedanken kehrten zu dem endlosen Papierkrieg zurück, der hinter ihm lag. Angesichts der miserablen diplomatischen Beziehungen zwischen Sdoom und Yaget’pen war sein Ansinnen, eine Expedition über die Landesgrenzen in die Wüste Arât zu führen, im Grunde ohne jede Aussicht auf Erfolg gewesen. Corenje hatte sich daher nie wirklich Hoffnungen gemacht, sein Schreiben an das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten in Kôbai könne positiv beantwortet werden.

Er hatte es dennoch abgeschickt, und dafür gab es einen guten Grund. Seit der Erringung seines akademischen Titels litt Corenje unter der Ungnade der späten Geburt. Alles, was die Vergangenheit Lorgonias je an Großem oder Interessantem hervorgebracht hatte, war längst erforscht und von klugen Köpfen in schenkeldicken Wälzern hinreichend dokumentiert worden.

Mit einer Ausnahme.

Als ihn anstelle einer unverblümten Absage mehrere Zenite später ein eher schwammig formuliertes Antwortschreiben erreichte, das den Entscheid über Corenjes Ansinnen auf einen späteren Zeitpunkt verschob, witterte er seine Chance. Eine vage Chance, aber immerhin eine Möglichkeit. Er blieb am Ball. Zwei Zenite später hakte er nach. Als man ihm erneut ausweichend antwortete, meldete er sich drei Zenite danach wieder. Und weitere drei später. Und vier darauf.

Fast drei Jahre zogen ins Land, eine schier endlose Zahl an Memoranden, Nachfragen und Listen mit Details zu der geplanten Expedition reisten zwischen Nophelet und Kôbai hin und her. Schließlich hatte Meister Jug’hort, der Außenminister Yaget’pens, die Nase voll. In einer pampig formulierten, nur wenige Zeilen langen Depesche erteilte er Corenje die Erlaubnis, für die Dauer von drei Zeniten mit einem Maximum von neun weiteren Wissenschaftlern eines der Kegelgräber in Augenschein zu nehmen. In Rekordzeit stellte der Professor eine zehnköpfige Expedition zusammen und koordinierte die mehrere tausend Meilen lange Reise ins Ostreich.

Die Nachricht verbreitete sich in der Fachwelt wie ein Lauffeuer. Professor Corenje war der erste westliche Wissenschaftler seit dem glücklosen Meister Lerzipan, der die Grenzen Yaget’pens mit Duldung der Regierung überschreiten durfte. Zwar gab es Gerüchte, Kaiser Anch’Enkameth höchstselbst habe nur wenige Jahre zuvor einem xamenischen Thaumaturgen Zutritt zu einem der Kegelgräber gewährt, doch was der Unbekannte dort gesucht und ob er es gefunden hatte, war Gegenstand unbestätigter Gerüchte. Die einzige Institution, die angeblich mehr darüber wusste, das Institut für angewandte investigative Thaumaturgie in Nophelet, hüllte sich in Schweigen.

Doch vergessen waren all diese Unbilden jetzt, da Corenje dem Mauerstück beim Versinken zusah. Vergessen waren die Mühen der Anreise, die unerträgliche Hitze der Wüste bei Tag und ihre unmenschliche Kälte bei Nacht. Vergessen waren die endlosen Diskussionen mit Meister Gottirist, dem Schriftgelehrten der Expedition, über die korrekte Deutung der fremdartigen Symbole in der Eingangshalle. Er hatte recht behalten, das war, was zählte. Er, Professor Corenje, hatte die Anleitung zur Öffnung des Zugangs ins innere Heiligtum des Grabmals korrekt entschlüsselt.

Mit einem dumpfen Rumoren, das in der weitläufigen Halle widerhallte wie Donnergrollen, versank das steinerne Portal vollständig im Boden. Stille senkte sich über den Raum. Die einzigen Geräusche, die Corenje vernahm, waren das wilde Stakkato seines Herzens, das von innen gegen seine Brust trommelte, und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren.

Was lange schlief, muss wieder erweckt werden.

Jawohl, bei Ubalthes! Gleich würde Corenje zu Gesicht bekommen, was seit Jahrtausenden kein menschliches Wesen mehr geschaut hatte.

Er schluckte, warf einen skeptischen Blick auf die nahezu heruntergebrannte Fackel in seiner Hand. Dann atmete er tief durch und trat vor die Öffnung.

Ein sonderbarer Geruch schlug ihm entgegen. Es war nicht der dumpfe Muff seit Jahrhunderten unbewegter Luft, wie ihn Corenje aus anderen Tempelanlagen kannte, nicht die staubige Trockenheit, die er im Innern eines versiegelten Grabmals im Herzen der Wüste erwartet hatte. Das, was sich wie ein hauchzarter Schleier über Corenjes Gesicht legte, roch … ungewohnt. Metallisch, mit einer gewissen ätherischen Schärfe. Der Duft weckte eine vage Assoziation irgendwo in seinem Unterbewusstsein, doch er vermochte sie nicht in Worte zu fassen.

Der Professor hob den Arm, sodass der mickrige Schein seiner Fackel über die Schwelle in den dahinterliegenden Raum fiel. Es schien sich um eine Halle von beträchtlichen Ausmaßen zu handeln; Corenje konnte weder Wände noch Decke ausmachen. Dafür erkannte er etwa zehn Schritte voraus eine Art Rampe, ein schmuckloses, gewundenes Band, breit genug für vier Männer. In einem flachen Winkel führte sie ohne Geländer oder Verzierungen empor zu einem Punkt jenseits des Lichtkreises.

Ehrfürchtig setzte Corenje einen Fuß über die Schwelle.

Der fremdartige Geruch wurde stärker. Der Professor bildete sich ein, das Kribbeln der Duftmoleküle in der Nase zu spüren. Noch immer vermochte er nicht zu sagen, woran ihn der Geruch erinnerte.

Schräg hinter der Rampe klaffte eine rechteckige Öffnung im Boden. Eine Flucht breiter Treppenstufen führte in noch tiefere Finsternis hinab.

Corenje ging weiter. Seine Fackel flackerte jetzt heftig, das letzte Aufbäumen einer nahezu aufgebrauchten Pechschicht. Instinktiv warf er einen Blick über die Schulter, vergewisserte sich, dass die Türöffnung hinter ihm als beruhigend helles Rechteck in der Dunkelheit zu erkennen war, Meister Pannwindts Glutglobulus sei Dank. Sollte sein Licht verlöschen, würde er mühelos den Weg zurück zur Eingangshalle finden.

Er näherte sich dem Fuß der Rampe. Sie war von einer dicken Staubschicht bedeckt und bestand nicht aus Stein, sondern aus Metall. Auf unbekannte Weise geglätteter, ganz und gar ebenmäßiger Stahl reflektierte die Zuckungen des ersterbenden Fackellichts.

Der Professor hob den Kopf, folgte dem Verlauf des Metallbandes mit den Augen. Einen Steinwurf entfernt konnte er jetzt eine Wand ausmachen. Sie wies eine sanfte Wölbung auf, wie die Außenhaut eines Turms, ihre exakten Abmessungen verloren sich jedoch im Dunkel. Sie schien aus demselben fugenlosen, matt schimmernden Metall gefertigt wie die Rampe, die in einer Höhe von etwa sechs Metern ohne Übergang mit der Wand verschmolz.

Corenjes Fackel flackerte ein letztes Mal, dann schrumpfte ihr Schein auf den eines Zündholzes zusammen. Der Professor stieß einen Fluch aus. Ohne die Augen von dem unerklärlichen Anblick vor sich abwenden zu können, schwenkte er den Arm in der Hoffnung, die Flamme so noch einige Augenblicke am Brennen zu halten.

Ein Knurren ließ ihn zusammenfahren. Das Geräusch schien von überallher und nirgends zu kommen, wurde rhythmisch lauter und leiser. Es dauerte ein halbes Dutzend hektische Herzschläge, bis Corenje begriff, dass es sich um das Echo seines eigenen Fluchens handelte. Die Halle schien erheblich größer zu sein, als er angenommen hatte.

Um die Probe aufs Exempel zu machen, zwang sich der Professor zu einem herausfordernden Lachen. Prompt schallte auch dieses zu ihm zurück, monströs verfremdet und in lauter und leiser werdenden Wellen. Die stählerne Wand musste sich über die ganze Länge der Halle hinziehen, anders war eine derartige Verzerrung des Schalls kaum zu erklären.

Das Schütteln schien der Fackelflamme Zugang zu einem letzten Rest Pech verschafft zu haben, ihr Schein war wieder hell und gleichmäßig. Corenje umrundete den Fuß der Rampe und näherte sich der nachtschwarzen Öffnung im Boden.

Die Stufen waren mit einer Präzision gefertigt, die für ein zehntausend Jahre altes Bauwerk mehr als erstaunlich anmutete. Beinahe erleichtert nahm der Professor zur Kenntnis, dass sie nicht aus Metall, sondern aus gewöhnlichem Basaltgestein bestanden, vermutlich demselben Basalt, aus dem auch die Außenwände der Kegelgräber zusammengefügt waren.

Er hielt inne. Der Geruch, den er beim Betreten des Raumes wahrgenommen hatte, war hier noch durchdringender. Er schien aus den Tiefen des unterirdischen Geschosses emporzusteigen. Es roch wie …

Es roch wie flüssige Macht!

Irritiert schüttelte Corenje den Kopf. Was waren das für dümmliche Gedanken? Die Aufregung schien ihm mehr zuzusetzen, als gut für ihn war. Flüssige Macht? Was für ein Unsinn!

Er senkte den Arm mit der Fackel, damit etwas von ihrem erstarkten Schein in die Öffnung fiel. Vielleicht reichte das Licht aus, damit er das Ende der Treppe erkennen konnte.

Corenjes Blick fiel auf seinen Arm – und er erschrak.

Die Fackel war verloschen. Das Licht, das es ihm ermöglichte, trotz der Dunkelheit Details seiner Umgebung wahrzunehmen, stammte von einer hühnereigroßen Kugel aus orangefarbenem Licht, die knapp oberhalb des abgebrannten Stumpfes in seiner Faust schwebte.

Ein Glutglobulus. Aber wie …?

Professor Corenje war nicht versiert, wie schätzungsweise neunzig Prozent aller Menschen und Elben in Lorgonia. Das hatte ein ministerialer Thaumaturg vor rund fünf Jahrzehnten bei der staatlich vorgeschriebenen Untersuchung in der Vorschule festgestellt. Aus diesem Grund hatte Corenje sich zeit seines Lebens nie mit der Alten Sprache befasst. Selbst wenn er es theoretisch vermocht hätte, er hätte die notwendigen Worte zum Erzeugen eines Glutglobulus nicht gekannt.

Dennoch: Wenn er den Arm nach links bewegte, folgte die orangefarbene Kugel ihm nach links, schwenkte er ihn nach rechts, schwebte sie dorthin. Niemand anders als er konnte das leuchtende Phänomen bewirkt haben.

Mit gerunzelter Stirn musterte der Professor den Glutglobulus. Er hatte davon gehört, dass es bei Menschen, deren Versiertheit unerkannt blieb – oder solchen, die es versäumten, die gesetzlich vorgeschriebene Ausbildung zu deren Beherrschung zu durchlaufen –, zuweilen zu unkontrollierten Ausbrüchen thaumaturgischer Energie kam. Nicht selten wurden dabei Menschen verletzt oder getötet, die das Pech hatten, sich in der Nähe aufzuhalten. Solche Unfälle waren oft erst nach minutiösen Untersuchungen von vorsätzlichen Angriffen zu unterscheiden, ein Umstand, der dem IAIT in Nophelet seine Ermittlungen oft unnötig erschwerte.

Erneut dröhnte Professor Corenjes Lachen durch die finsteren Weiten der Halle, diesmal jedoch klang es echt und erleichtert. Offenbar hatte der ministeriale Thaumaturg, der ihn als Fünfjährigen überprüft hatte, versagt. Offenbar war er sehr wohl versiert, hatte lediglich bis zum heutigen Tage nichts davon gewusst. Was für ein Glück! Einen besseren Augenblick, seine besondere Gabe zu entdecken, hätte Corenje sich kaum vorstellen können.

Was lange schlief, muss wieder erweckt werden.

Erfüllt von neuer Motivation, senkte der Professor den Arm. Die folgsame Lichtquelle erhellte eine Flucht abwärtsführender Stufen. Ihr Ende war nicht zu erkennen, das Untergeschoss schien tiefer zu liegen als ein gewöhnlicher Keller in der modernen Welt.

Corenje überlegte eben, ob er es wagen sollte, der Treppe in die Tiefe zu folgen, als ihn ein surrendes Geräusch herumfahren ließ.

Der mechanische, an das Werk eines Aufziehspielzeugs erinnernde Laut hatte seinen Ursprung am oberen Ende der Rampe. Mehr als drei Mannslängen über ihm tat sich eine rechteckige Öffnung in der gleichförmigen Wölbung der Metallwand auf. Grelles, farbloses Licht flutete heraus, blendete ihn. Der Professor riss die freie Hand in die Höhe, um seine Augen zu beschatten. Zwischen seinen Fingern hindurch erkannte er verschwommen den Umriss von etwas, das in dem neu entstandenen Durchgang aufgetaucht war, etwas Großes, Dürres, das auf zu vielen, sonderbar gebogenen Beinen stand …

Weitere Lichter flammten auf, verteilt über die endlos scheinende Fläche des matten Stahls. Grüne, gelbe und grellrote Lichtblitze, wie die Natur sie niemals hervorbringen konnte.

Thaumaturgie?

Corenje riss den Kopf in den Nacken. Schwindel erfasste ihn. Die höchsten Lichter blitzten fast hundert Meter hoch über seinem Kopf auf. Die gewölbte Wand musste bis zur Spitze des immensen steinernen Grabmals emporreichen.

Ein metallisches Scheppern ertönte. Das harte Stakkato schneller Schritte auf glattem Stahl.

Corenje spürte, wie sein Herz zu rasen begann.

Was eben noch im gleißenden Licht des Durchgangs gestanden hatte, war nicht mehr dort. Dafür taumelte jetzt ein grotesker, stelzenbeiniger Schemen die Rampe herunter.

Wie bei Ubalthes war das möglich? Das Innere des Kegelgrabs war über zehntausend Jahre von der Außenwelt abgeschottet gewesen. Nichts Lebendes aus der Zeit seiner Errichtung konnte bis heute überdauert haben, keine von Lorgons Kreaturen hatte eine derartige Lebensspanne.

Etwas, das sich wie Sandkörnchen anfühlte, rieselte von oben auf Corenjes Gesicht. Nach Luft schnappend, riss er den Arm mit dem Glutglobulus in die Höhe.

Der Schemen ragte unmittelbar über ihm auf. Nur war er jetzt kein Schemen mehr.

In einem Moment grässlicher Klarheit begriff Corenje, dass sich die Worte Meister Clottards, seines alten Lehrmeisters, erfüllt hatten, wenngleich anders als beabsichtigt.

Etwas, das lange geschlafen hatte, war erweckt worden.

Professor Corenje öffnete den Mund und schrie.