Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik
Herausgegeben von Michael Ermann
U. T. Egle/B. Zentgraf: Psychosomatische Schmerztherapie (2014)
M. Ermann: Herz und Seele (2005)
M. Ermann: Träume und Träumen (2005/2014)
M. Ermann: Freud und die Psychoanalyse (2008/2015)
M. Ermann: Psychoanalyse in den Jahren nach Freud (2009/2012)
M. Ermann: Psychoanalyse heute (2010/2012)
M. Ermann: Angst und Angststörungen (2012)
M. Ermann: Der Andere in der Psychoanalyse (2014)
U. Gast/P. Wabnitz: Dissoziative Störungen erkennen und behandeln (2014)
R. Gross: Der Psychotherapeut im Film (2012)
O. F. Kernberg: Hass, Wut, Gewalt und Narzissmus (2012)
J. Körner: Abwehr und Persönlichkeit (2013)
J. Körner: Die Deutung in der Psychoanalyse (2015)
R. Kreische: Paarbeziehungen und Paartherapie (2012)
W. Machleidt: Migration, Kultur und psychische Gesundheit (2013)
L. Reddemann: Kontexte von Achtsamkeit in der Psychotherapie (2011)
A. Riehl-Emde: Wenn alte Liebe doch mal rostet (2014)
C. Stadler: Traum und Märchen (2015)
U. Streeck: Gestik und die therapeutische Beziehung (2009)
R. T. Vogel: Das Dunkle im Menschen (2015)
R. T. Vogel: Existenzielle Themen in der Psychotherapie (2013)
L. Wurmser: Scham und der böse Blick (2011/2014)
H. Znoj: Trauer und Trauerbewältigung (2012)
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Dieses Buch stellt eine grundlegend überarbeitete und erweiterte Fassung der Vorlesungen dar, die der Autor zum gleichen Thema im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen 2014 gehalten hat. Unter www.auditorium-netzwerk.de ist eine Übersicht aller Aufnahmen der Lindauer Psychotherapiewochen einzusehen, die unter info@auditorium-netzwerk.de angefordert werden kann.
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1. Auflage 2015
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-023064-4
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-026787-9
epub: ISBN 978-3-17-026788-6
mobi: ISBN 978-3-17-026789-3
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»Die Realität ist für diejenigen, die ihre Träume nicht aushalten« (Themenplakat des Residenztheaters München)
»Träume und Wünsche sind unsterblich«
Auguste Rodin
Für Simon und Hannah
Das Buch stellt einen ersten Überblick zum Thema Traum und Märchen in der handlungsorientierten Psychotherapie dar. Es bezieht sich auf Einführungsveranstaltungen, die ich während der Lindauer Psychotherapiewochen gehalten habe. Mein therapeutischer Hintergrund ist die psychodynamische Psychotherapie und das Psychodrama. Im vorliegenden Band wird vor allem das Psychodrama zu Wort kommen, da es den Aspekt der Handlung wie kein zweites Psychotherapieverfahren in den Vordergrund stellt. Gleichwohl wird beim Lesen deutlich werden, dass die psychodynamische Psychotherapie beim Umgang mit Träumen und Märchen nicht außen vor bleiben kann.
Das Umgehen mit Träumen hat in der Tradition der Psychologie und besonders der Psychotherapie eine lange Geschichte, von hermeneutischdeutendem Verstehen und Analysieren bis hin zur Verneinung jeglichen verstehbaren Inhalts, von objekt- sowie subjektstufiger Lesart bis zu den luziden Träumen.
Auf der Grundlage psychodynamischer Theorie überlässt der szenisch-handelnde Zugang des Psychodramas das Verstehen der Traumbotschaft allein dem Träumer. Dies geschieht durch die Inszenierung eines »zweiten Träumens«. Die Traumbotschaft entschlüsselt sich damit im nachspielenden Handeln bzw. im Weiterspielen des Traums oder eines Traumfragments.
Das Märchen hat sich in der Psychotherapie nicht in gleichem Ausmaß durchsetzen können wie der Traum, kann aber ebenso einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis innerer Rollen, unbewusster Konflikte und anstehender Lebensaufgaben darstellen.
Besonders der Einsatz im gruppentherapeutischen Setting bietet eine Fülle an Möglichkeiten, Märchen therapeutisch zu nutzen. Angefangen vom reinen szenischen Nachspiel des Märchens mit einer strukturierten Nachbesprechung, die Bezüge zum Alltagsleben herstellt, über das Spiel verschiedener Märchenvarianten bis hin zum eigenständigen Verfassen von Bewältigungs- und Gruppenmärchen reicht das Spektrum, wie sich Patienten handlungsorientiert und spielerisch dem eigenen und dem gemeinsamen Unbewussten nähern können.
Das szenische und handlungsorientierte Vorgehen lässt sich sehr gut mit Narrativen, Imaginationen und Tagträumen oder mit einem kunsttherapeutischem Vorgehen kombinieren.
In diesem Band beschreibe ich konkrete Vorgehensweisen und erläutere sie an Fallbeispielen, so dass sie für die Leserinnen und Leser leicht in die eigene Praxis umsetzbar sind.
Im Text wurde aus Gründen flüssigerer Lesbarkeit meist die männliche Schreibform gewählt. Selbstverständlich schließt dies die weibliche Form ein.
Der Autor dankt an dieser Stelle besonders den Patientinnen und Patienten, sowie den Weiterbildungskandidatinnen und -kandidaten. Sie sind die wesentlichen aktiven und passiven Ideengeber für diesen Band. Daneben sind sowohl der kollegiale Austausch als auch die gegenseitige Anregung durch (nicht nur Psychodrama-)Kolleginnen und Kollegen für mich wichtig gewesen bei der Entstehung dieses Bandes. Ideen entstehen nicht in einem einzelnen Kopf, sondern nur in gemeinsamen geistigen Systemen und sozialen Netzwerken. Ohne die Verbindung zu meinen Freundinnen und Freunden sowie meiner Familie könnte ich solche Projekte nicht realisieren. Allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt.
München, im Januar 2015 |
Christian Stadler |
Traum und Märchen in der handlungsorientierten Psychotherapie erfordert zunächst ein paar Worte zur Handlungsorientierung in der Psychotherapie. Lange Zeit galt Handeln vor allem in den psychodynamischen Verfahren als therapeutisch nicht hilfreich, im ungünstigen Fall als schädliches »Agieren« statt dem hilfreichen Durcharbeiten. In einigen humanistischen Psychotherapieformen wie dem Psychodrama, der Gestalttherapie und Verfahren der Körpertherapie wurde die konkrete Handlung dagegen auch im therapeutischen Kontext als sinnvoll oder sogar notwendig erachtet. So konstatierte Moreno1 (2008, 77), der Gründervater des Psychodramas – oder in der ursprünglichen Langform der triadischen Methode Psychodrama, Soziometrie, Gruppenpsychotherapie: »Psychodrama kann als diejenige Methode bezeichnet werden, welche die Wahrheit der Seele durch Handeln ergründet«. Psychodrama, wörtlich übersetzt die handelnde Darstellung seelischen Erlebens, sieht also vor, dass neben dem Sprechen gehandelt wird, um die Psychodynamik einer Person einerseits besser zu verstehen, andererseits nachhaltiger zu verändern.
Moreno wurde in eine Zeit hineingeboren, in der Psychologie und Psychotherapie in den Kinderschuhen steckten, und konnte so mit seinen Ideen maßgeblich an der Entwicklung letzterer mitwirken. Als Arzt
Abb. 1: Jakob Levy Moreno (1889–1974)2
verstand er sich als Sozialmediziner, Psychiater, Einzel- und Gruppenpsychotherapeut sowie als Forscher. Er war ein Mann vieler Ideen, der aufgrund seiner Persönlichkeit auch andere mit diesen anstecken konnte. Obwohl er sich unzweifelhaft viele Verdienste bei der Professionalisierung psychotherapeutischen Handelns erworben hat (z. B. Gründer der Gruppenpsychotherapie und Gründer soziometrischer Forschungsansätze), gelang es ihm nicht, seine Ideen so stringent vorzutragen wie z. B. Freud, von dem er sich gern in rivalisierender Form abgrenzte.
18. Mai 1889 Geburt Jakob Levy Morenos in Bukarest
Tab. 1: Jakob Levy Morenos Lebenslauf
Humanistische Psychotherapie zeichnet sich nach Kriz3 dadurch aus, dass es »um die Förderung von Selbstregulations- und Organisations-prozessen auf körperlichen, psychischen und sozialen Prozessebenen« gehe, […] die auf diese Weise wieder an die jeweiligen Entwicklungsaufgaben der biopsychosozialen Umwelt re-adaptierbar werden; wobei aber der zentrale Fokus die Sinnorientierung, Selbstdefinition und Intentionalität des Subjekts ist.«
Die von Moreno entwickelte Psychodrama-Therapie ist in diesem Sinn ein humanistisches Psychotherapieverfahren, welches durch eine handelnde und szenische, dabei subjektiv organisierte Darstellung innerpsychischen Erlebens einer oder mehrerer Personen deren Selbststeuerungs- und Selbstheilungskräfte aktiviert. Dabei werden soziale wie ökologische Bedingungen einbezogen. Das Ziel ist, in einer dargestellten oder gespielten Hier-und-Jetzt-Situation (Surplus-Realität), die eigenen innerpsychischen wie interaktionellen Prozesse erlebend zu verstehen (Mentalisierung) sowie gegebenenfalls zu verändern4.
Wollte man die Kernpunkte des Psychodramas auf einige knappe Punkte reduzieren, könnte es in Ergänzung zu obiger Definition so beschrieben werden:
• Im Psychodrama werden seelische Sachverhalte handelnd gezeigt und es wird über sie gesprochen; Psychodrama ist Mentalisieren.
• Psychodrama fokussiert durch Spiel und Handlung die Kreativität der Person und fördert damit deren Selbstheilungskräfte.
• Im Psychodrama werden Innenwelten auf einer »Bühne « in Szene gesetzt, bearbeitet und verändert.
• Im Psychodrama wird der Mensch in seinen verschiedenen Rollen und in seinem sozialen Umfeld gesehen.
• In authentischen, psychodramatischen Hier-und-Jetzt-Begegnungen mit anderen Menschen (Mitspieler, Therapeut, Gruppe) entsteht ein »wahres zweites Mal« bzw. ein »neues erstes Mal« einer Situation.
• Die psychodramatische, szenische Handlung hilft dem Patienten dabei, sein Leben authentisch, symptomfrei und situationsadäquat zu gestalten.
Krüger sieht das Psychodrama als erlebnisorientiertes Verfahren, welches neben Handlung und Szene die Förderung der Kreativität oder Selbstheilungskräfte als Markenzeichen aufweist: »Das Psychodrama geht aus von einem positiven Menschenbild, dem Bild des kreativen Menschen. Kreativsein ist eine zentrale Fähigkeit lebendiger Systeme. Der kreative Prozess verbindet die funktionellen, körperlichen, energetischen und interaktionellen Aktivitäten miteinander untrennbar und integriert sie. Kreativität ist Ausdruck des Lebens, mehr oder weniger in jeder Lebenssituation vorhanden und wird in Konflikten oder inneren Konfliktspannungen als Bedürfnis spürbar und als Fähigkeit aktiviert. Kreativität ist die Grundlage angemessenen Selbstausdrucks und angemessener Anpassung in der Welt. Sie ist jedem Menschen eigen, kann aber beim Einzelnen verschiedenen ausgeprägt sein. Sie kann in ihrer Arbeit blockiert und dadurch gebunden sein oder aber auch frei sein.«5
Das Psychodrama unterscheidet sich hierin am stärksten von anderen Verfahren und Methoden, die hauptsächlich auf die sprachliche Bearbeitung psychischer Fragestellungen zurückgreifen.
Abb. 2: Moreno (links) arbeitet mit einem Paar. Die kreisrunde Psychodramabühne Beacons ist erkennbar6
In der schlagwortartigen Zusammenfassung oben wurden bereits einige Gesichtspunkte benannt, auf die anhand eines konkreten Beispiels an dieser Stelle noch einmal eingegangen werden soll.
Fallbeispiel: Szene und Handlung in einer psychodramatischen Gruppentherapiesitzung
Frau Kant (31 Jahre alt; verheiratet) arbeitet bei einem großen Reiseveranstalter. Sie nimmt seit einem halben Jahr an der Psychodramatherapiegruppe teil, da sie unter depressiven Stimmungseinbrüchen leidet. Bei den ersten Sitzungen hatte sie erzählt, dass sie nach einem heftigen Konflikt mit ihrem Vater zu diesem ein sehr schwieriges Verhältnis habe. Darunter leide sie sehr, habe aber das Gefühl nichts ändern zu können. Sie konnte genug Vertrauen in die Gruppe fassen, und meldet in der aktuellen Sitzung den Konflikt mit ihrem Vater als Thema an.
Frau Kant: »Ich möchte das einfach nicht aufgeben, aber ich habe Angst, mit ihm offen zu sprechen. Vielleicht kann ich das ja einmal ausprobieren, wie ich mit ihm reden könnte, aber zuerst möchte ich die Szene, die zum Streit geführt hat noch einmal anschauen …«.
Die Gruppe unterstützt ihr Anliegen und sie wird vom Therapeuten gebeten, aus dem Kreis der Gruppenteilnehmer eine Person für ihren Vater zu wählen. Auf Nachfrage des Therapeuten, wer noch in der Szene anwesend gewesen sei, sagt Frau Kant, dass sie alleine gewesen seien, aber ihre Mutter und ihre Schwester sich im oberen Stock aufhielten. Sie wählt noch zwei Personen für die Rolle der Mutter und die der eineinhalb Jahre jüngeren Schwester.
Therapeut: »Können Sie uns bitte nun einmal zeigen, wie der Raum ausgesehen hat, in dem Sie und Ihr Vater damals waren, und wer sich wo befunden hat?«
Nachdem die Patientin dies gemacht hat, erzählt sie den Rollenträgern noch etwas über die Personen (Vater, Mutter, Schwester) und den Zusammenhang der Szene (Familientreffen an einem Freitagabend; die Patientin macht zu dem Zeitpunkt in einer 600 km entfernten Stadt eine Ausbildung und kommt mit dem Zug zu Besuch nach Hause). Als die vier Rollenträger auf ihren zugewiesenen Plätzen stehen, befragt der Therapeut noch die Patientin zu ihren Beziehungen zu den drei anderen Personen. Frau Kant beginnt und erzählt mit wenigen Worten etwas zu ihrer damaligen Beziehung zu ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrer Schwester. Das Gespräch beginnt nun.
Frau Kant zu ihrem Vater: »Ich gehe bald schlafen, ich bin müde von der Fahrt und von der ganzen Arbeitswoche …«
Der Therapeut bittet nun Frau Kant, mit dem Vater die Rolle zu tauschen. Der Rollenspieler, welcher den Vater verkörpert, tauscht mit Frau Kant die Rolle und damit auch den Platz. Frau Kant antwortet nun in der Rolle des Vaters.
Vater mit leicht genervtem Unterton: »Was? Es ist doch nicht spät … Hast du nicht im Zug geschlafen? [wendet sich ab und grummelt] Früher bin ich beruflich so viel herumgefahren, und dann musste ich mich auch zusammenreißen, wenn ich daheim ankam.«
Danach wechseln die beiden wieder in ihre ursprünglichen Rollen zurück. Der Vater wiederholt die Sätze, die Frau Kant in seiner Rolle gesagt hat.
Frau Kant antwortet: »Ich bin eben müde …, und ich weiß schon, dass niemand so viel arbeitet wie du …, und vielleicht noch Moni [ihre Schwester], die neben ihren ›tollen‹ Schulleistungen auch noch einen waahnsinnig anstrengenden Job im Squash-Center hat …«
Nach einem erneuten Tausch sagt Frau Kant als Vater mit Verachtung in der Stimme: »Du bist wie deine Mutter, du nimmst immer alles persönlich. Bei dir muss man jedes Wort auf die Goldwaage legen. Die Oma hat schon recht gehabt, dass es besser ist, wenn das erstgeborene Kind ein Sohn ist, die zicken nicht so rum. Und im Übrigen finde ich es tatsächlich toll, wie deine Schwester, ohne zu klagen, Schule und Arbeit hinbekommt!«
Die beiden tauschen in ihre Ursprungsrolle zurück. Frau Kant weint und erzählt, dass sie damals so enttäuscht und verletzt gewesen sei, dass sie ihre Sachen gepackt habe und zu einer Freundin gegangen sei. Als sie am anderen Tag die Mutter angerufen habe, habe diese vom Vater ausgerichtet, dass sie sich wie eine »Wildsau« benehme und besser erst dann wiederkomme, wenn sie sich benehmen könne. Sie habe daraufhin die Familie zwei Jahre lang nicht mehr besucht und sei zum ersten Mal wieder dort gewesen, als ihre Mutter wegen einer Operation ins Krankenhaus musste.
Im Rollenfeedback zu dieser Szene sagt der Rollenträger des Vaters, dass er eine schwierige Mischung aus eigener Bedürftigkeit, Sehnsucht, Wut und Schuldgefühl in sich gespürt habe, als er den Vater gespielt habe. Er habe aber unmöglich etwas anderes sagen können. Die Rollenträgerin der Mutter äußert, dass sie vor allem Trauer gespürt habe, aber auch Angst, was jetzt passieren werde. Und die Rollenträgerin der Schwester fühlt sich als heimliche Gewinnerin, was sie aber in der Szene habe verheimlichen müssen. Frau Kant sagt, dass sie sich wünsche, sie wäre damals nicht weggerannt, sondern hätte ihrem Vater die Meinung gesagt.
Der Therapeut regt daher als einen zweiten Schritt an, dass Frau Kant ihrem Wunsch nachgeht, entweder die Begegnung mit dem Vater noch einmal neu zu spielen, und zwar so, dass die Szene für sie einen guten Ausgang nehme, oder aber ein Gespräch heute mit dem Vater zu führen, wie sie es ursprünglich selbst als Idee hatte. Frau Kant entscheidet sich für die Variante 1, das damalige Gespräch noch einmal neu zu spielen (die Szene, als sie 20 Jahre alt war). In der Szene ist die heute 31-jährige Frau Kant mit dabei, die ihrem jüngeren Alter Ego (der 20-Jährigen) beratend und unterstützend zur Seite steht7. Sie verändert den Ablauf dahingehend, dass sie als 20-Jährige nicht fliehen muss, sondern sich mit Unterstützung der 31-Jährigen zur Wehr setzen kann. Im nun neu gespielten Gespräch, dem wahren zweiten Mal, kann sie die Verletzung zurückweisen und verändert die Szene dahingehend, dass ihre Mutter zu dem Streit dazukommt und den Vater in seiner Dynamik einbremst. Nach dem Spiel sagt Frau Kant, dass sie in der Szene jetzt für sich bemerkt habe, dass sie sich auch ihre Schwester noch an ihrer Seite wünsche; aber das sei noch ein anderer Schritt. Es sei ihr ja auch klar, dass das Leben kein »Wunschkonzert« sei. Gerade könne sie sich aber gut vorstellen, dass sie sich einmal mit ihrem Vater trifft, um mit ihm über ihre Beziehung und über damals zu sprechen.
Über die Problemaktualisierung durch die szenische Handlung konnte Frau Kant an eine auslösende Konfliktlage in ihren Objektbeziehungen kommen. In der Surplus-Realität des Rollenspiels auf der Bühne brachte sie ihre innere Welt nach außen (»inner world outside«8) und konnte sie dort verändern. Ihr wahres, zweites Mal im Rahmen einer Hier-und-Jetzt-Begegnung half ihr, einerseits eine stärkende eigene Rolle zu aktivieren (die 31-Jährige hilft der 20-Jährigen) und andererseits eine Konflikt- oder Beziehungsklärung auf der Realebene ins Auge zu fassen (Gespräch mit dem Vater). Über den Wunsch nach der Mutter und der Schwester verstand sie, warum sie in ihrem beruflichen Alltag häufig das Gefühl hat, die Chefin und die Kolleginnen würden sie nicht genug unterstützen (Mentalisierung von erkannten Übertragungsbeziehungen). Ihre innere Konfliktlage hat sich stimmungsmäßig verändert: Sie war danach weniger depressiv, sondern eher aggressiv gestimmt und konnte damit ihre Konflikte aktiver angehen (kreativer Impuls).
Moreno nannte die Wirklichkeit beim Bühnenhandeln Semi-Realität; durch das Nachspielen einer Situation im Hier-und-Jetzt, im »Als-ob-Modus« wird ein Selbstheilungsprozess9 innerhalb des Patienten in Gang gebracht10. Die Bühnenwirklichkeit und ihre Sicherheit erlauben dem Patienten sich heute einer Situation ein zweites Mal zu stellen, ohne dass der negative emotionale Gehalt von damals übermächtig wird und den kreativen Prozess des Patienten behindert. Die Patienten spielen die Szene. Sie tun dabei so, »als ob« es die echte erste Szene wäre, und machen dies so authentisch wie möglich. Je besser diese emotionale und kognitive Problemaktualisierung gelingt, desto heilsamer kann der Vorgang auf der Bühne sein. Gerade diese Distanz, einerseits das Gefühl, in der Situation zu sein, sie möglichst real zu empfinden, und andererseits das Wissen, dass die Situation »nur gespielt« ist, hilft bei der Verarbeitung.
»Die Zuschauer waren meine Mitwirkenden. Die Menschen im Publikum waren wie Tausende unbewusste Bühnenautoren. Das Stück war die Situation, in die sie durch die historischen Ereignisse hineingeworfen worden waren, in der jeder von ihnen einen wirklichen Part spielen musste. […] Wenn es mir gelänge, das Publikum in Akteure zu verwandeln, in Akteure ihres eigenen kollektiven Dramas, des kollektiven Dramas sozialer Konflikte, in das sie in der Tat täglich verwickelt waren, dann würde meine Kühnheit belohnt werden.«11
In dem Zitat wird deutlich, dass Moreno in seinen Anfängen die Psychodramatherapie als Gruppenbehandlung konzeptualisierte. Seinen eigentlichen Durchbruch als Psychotherapeut hatte er somit auch erst 1932 in den USA als Gründer der Gruppenpsychotherapie. Er verstand darunter die Therapie in der Gruppe, mit der Gruppe und eine Therapie der Gruppe. Jeder dieser Aspekte war zu seiner Zeit ein Novum12.
Damals wurden Psychotherapiepatientinnen und -patienten in der Dyade Therapeut–Patient behandelt, während Moreno in seiner Privatklinik Beacon (NY) seine Patienten in der Gruppe behandelte. Dabei fungierten die Mitarbeiter Morenos zunächst als Gruppe für den jeweiligen Patienten13, welche auch Rollen in der szenischen Darstellung des Patienten einnahmen: Das ist der Aspekt mit der Gruppe. So spielte z. B. ein Mitarbeiter Morenos für einen Patienten, der sich im Wahn für Hitler hielt, Goebbels. Schließlich beobachtete Moreno, dass sich auch die Gruppe selbst durch die therapeutischen Prozesse in der Gruppe und durch die szenischen Aktionen, welche die Gruppe gemeinsam durchführte, veränderte. Sowohl der einzelne Patient als auch der »Patient Gruppe«, wie es Horst Eberhard Richter14 später nannte, verändern sich. Dies bezieht sich nicht nur auf die handelnden Personen auf der Bühne, sondern auch auf die Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Forschungsergebnisse der Gruppe um Rizzolatti15 lieferten dafür im Rahmen ihrer Untersuchungen zu den so genannten Spiegelneuronen Belege hierfür: Bei Zuschauern zielgerichteter Handlungen werden die gleichen Hirnareale aktiviert und damit in Handlungsbereitschaft versetzt, wie bei den Handelnden selbst.
Die Gruppentherapie nach Moreno fokussiert die Begegnung. Er vertrat das Konzept nicht im Rahmen einer Zwei-Personen-Psychotherapie, sondern er bezog größere Gruppen, das soziale Umfeld bis hin zur gesamten Gesellschaft, in sein Konzept ein. Auf letztere bezog er sich, wenn er nicht die Psyche des Einzelnen als seinen Hauptfokus sah, sondern das ganze System, sprich die Interaktionen zwischen den Menschen, die Gruppe und die Menschheit als Ganze (Begegnungsaspekt). Mit diesem Konzept brachte Moreno die systemische Sicht in die Psychotherapie ein16.
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